Kapitel 11

Frank riss die Augen auf — eine mörderische Art, den Tag zu beginnen. »Wie spät ist es?«, fragte sie den verschwommenen Umriss, der über ihrem Kopf schwebte.

»Ungefähr fünf«, sagte eine Stimme, die sie als die ihrer Schwester identifizierte. »Tut mir Leid, dass ich dich geweckt habe.«

»Ja, man hört dir richtig an, wie Leid es dir tut«, stichelte Frank. Sie blinzelte einige Male, bis die Konturen allmählich deutlich wurden. Selbst vor dem Morgengrauen sah ihre Schwester noch aus wie Miss America. Wäre sie nicht ihre Schwester, Frank würde schwören, sie wäre Claudia Schiffer.

Sie ächzte und setzte sich in ihrem antiken Ahornbett auf. »Was ist los? Hast du schlecht geträumt?« Sie bemerkte Amandas Outfit. »Schon angezogen? Habe ich etwas verpasst?«

»Wir müssen uns unterhalten. Matt wartet im Wohnzimmer«, antwortete Amanda.

»Matt wer?«, fragte Frank.

»Du weißt schon. Matt Schemerhorn. Der Aushilfskellner. Er hat in unserem Keller genächtigt.«

Frank rieb sich die Stirn. »Und deshalb hast du mich geweckt?«

»Das ist noch nicht alles«, fuhr Amanda fort. »Chick Peterson hat auch da unten geschlafen.«

»Vielleicht sollten wir Miete verlangen — so kommt wenigstens etwas Geld ins Haus.« Frank schlug ihre Decken zurück. Sie angelte sich ihre ausgebeulte Hose vom Schlafzimmerboden und zog sie an. »Okay, okay. Ich bin ja schon auf.«

»Du solltest dir Jeans kaufen, die passen, Frank.«

»Ich brauche einen starken Kaffee.«

»Ich könnte etwas essen.«

»Frühstück?«

»Gehen wir.«

Wenig später brachen Matt, Frank und Amanda zu einem Café auf, das sechs Blocks entfernt war und ruhig dalag. Sie passten sich der morgendlichen Stille an. Die Stadt fing an, sich langsam zu beleben, als sie sich dem Restaurant näherten. Es befand sich in der Straße gegenüber der Cadman Plaza, einem Fleckchen Grün außerhalb der Auffahrtsrampe zur Brooklyn Bridge, das die Stadt als »Park« be-zeichnete.

Bevor es Restaurant wurde, war das »Park Plaza Diner« ein Supermarkt gewesen. Die Regale wurden noch genutzt, um darin Küchenvorräte zu lagern. An den Wänden hingen Spiegel mit abgeschliffenen Kanten, der Teppich, ungewöhnlich für Restaurants so weit entfernt von Long Island, war kastanienbraun mit einem flirrenden orangen Muster. Die Tische waren so dick mit Lack überzogen, dass man mit seiner Gabel stundenlang an der Oberfläche kratzen konnte, ohne auf echtes Holz zu stoßen. Das rote Vinyl auf den Sitzpolstern war mit kleinen Nägeln befestigt. Die Nischen waren ebenfalls mit rotem Vinyl und Lacktischen ausgestattet und in jeder hing eine kleine Jukebox an der Wand. Für einen Dollar konnte man zwei Lieder auswählen, die Palette reichte von Whitney Houston bis zu den späten Doobie Brothers. Die Lautstärkeregler funktionierten nicht. Wenn in dem Restaurant von der Größe eines Fußballfeldes ein Gast das Verlangen verspürte, »The Greatest Love of All« zu hören, nahm jeder andere Gast — in Dezibel, die es mit der Lautstärke in einer Flugzeughalle aufnehmen konnten — an dem Vergnügen teil. Trotz des großen Angebots an Restaurants in ihrem Viertel kamen Frank und Amanda mindestens ein- bis zweimal in der Woche zum Essen ins Park Plaza. Das gemeinsame Essen war das Zeichen für Waffenstillstand, das Restaurant neutraler Boden.

Harry, der Sohn des Besitzers, war noch nicht eingetroffen. Ein Mann, den sie noch nie gesehen hatten, führte sie zu einer Nische, die zur Court Street hinausging. Selbst zu dieser Tageszeit war der Verkehr Richtung Brücke wegen der vielen Trucks und Taxis beachtlich. Das Restaurant, das rund um die Uhr geöffnet hatte, war mit vielleicht dreißig Frühaufstehern zu einem Viertel besetzt. Frank konnte kaum fassen, dass um diese Zeit schon so viele Leute auf den Beinen waren. Die eigentliche Bedienung war auch noch nicht da. Eine müde aussehende Frau mit einem Mopp schwarz gefärbter Haare verteilte Speisekarten.

»Das ist eine total andere Welt um halb sechs. Da fragst du dich, ob du bisher vielleicht etwas verpasst hast«, sagte Amanda.

»Vielleicht fragst du dich ja, ob du bisher nicht etwas verpasst hast«, bemerkte Frank.

»Sage ich ja.«

»Du hast gesagt, >Da fragst du dich<, und unterstellst dabei die Frage mir. Wenn du von dir geredet hättest, hättest du >da frage ich mich< gesagt.«

»Ich habe das kollektive >du< gemeint.«

»Halt mich aus dem Kollektiven heraus«, knurrte Frank.

»Mit Vergnügen«, gab Amanda zurück. »Unglaublich, wie eklig du bist, bevor du Kaffee bekommen hast.«

»Menschenskinder, so sind also Schwestern?«, mischte sich Matt ein. »Ihr werft euch die gemeinsten und gehässigsten Dinge an den Kopf, ohne mit der Wimper zu zucken, und erwartet dann von der anderen noch bedingungslose Liebe?«

Amanda und Frank tauschten Blicke aus. Die jüngere Schwester antwortete: »Ja, so ähnlich.«

»Cool«, bemerkte er.

»Du hast also bei uns kampiert«, sagte Frank zu Matt. »Ich verabscheue es, nicht zu wissen, was in meinem Laden geschieht. Stell dir vor, dir wäre da unten etwas passiert, Matt. Wildcamper sind bei uns nicht mitversichert. Du könntest uns anzeigen und wir würden alles verlieren. Nicht dass wir noch viel zu verlieren hätten.«

»Jetzt ist es vielleicht an der Zeit, dir von Patsie Stromboli zu erzählen«, sagte Amanda und ergänzte die Vorkommnisse des Morgens: »Der Bäcker hat heute Morgen dort unten einen Schlag auf den Kopf bekommen.«

Das Spannungsknötchen unterhalb von Franks linker Augenbraue pulsierte. »Großartig. Jetzt werden wir angezeigt. Immer wenn es so ausschaut, als ob es bergauf geht, passiert etwas Unerwartetes. Habe ich das nicht schon mindestens zehnmal innerhalb der letzten Tage gesagt? Mit diesem Café komme ich mir vor wie Sisyphus.«

»Wie wer?«, fragte Amanda.

»Du meinst den mit dem Felsbrocken, richtig?«, sagte Matt.

Frank schaute wie von Dick zu Doof. Dann fragte sie: »Hat Patsie gesagt, dass er Anzeige erstattet?«

»Er hat ausdrücklich bemerkt, dass er dergleichen nicht zu tun gedenkt.« Amanda hatte wieder das Wort ergriffen.

Frank nickte. »Matt, du kannst nicht in dem Keller bleiben. Tut mir Leid, aber du musst dich woanders einquartieren. Du kannst« — sie machte eine Pause, da sie selbst nicht wusste, warum sie so großzügig war — »dich notfalls auf unserer Couch einquartieren, wenn dir gar nichts anderes einfällt.«

»Du schmeißt mich nicht raus?«, fragte er.

»Noch nicht.«

Die Bedienung kam zurück, und sie bestellten alle das Frühstück Spezial Nummer eins für zwei Dollar fünfzig: zwei Eier, Bratkartoffeln, Toast, Saft, Kaffee.

»Warum hat Chick sich im Keller versteckt, wo er doch eine eigene Wohnung hatte?«, fragte Frank.

Amanda presste ihr Buttermesser derart in die Tischdecke, dass kleine Schnittspuren zurückblieben. »Ich glaube nicht, dass Chick wirklich eine Wohnung hatte«, sagte sie. »Ich glaube, er hat bei Benji Morton gewohnt.«

»Benji?«, wiederholte Frank.

»Ich habe gestern Nacht Benji Morton aus Chicks Haus kommen sehen. Chicks angeblichem Haus«, korrigierte sich Amanda.

»Gut beobachtet, Amanda«, bemerkte Matt. »Vielleicht sollten wir irgendwann einmal etwas zusammen unternehmen. Außerhalb der Arbeit, meine ich. Keine übliche Verabredung. Eine Verabredung ist nur wieder ein von der Gesellschaft zelebriertes Ritual, bei dem sich die Menschen anhand oberflächlicher Begriffe von fragwürdiger Bedeutung gegenseitig beurteilen. Also zum Beispiel nach der von den Medien aufgezwungenen Definition von Attraktivität oder der Fähigkeit, leicht zu verdauende Plattitüden auszutauschen, die nichts damit zu tun haben, was jemand wirklich denkt oder fühlt.«

»Werde ich verrückt, oder ergibt das wirklich einen Sinn, was er sagt?«, bemerkte Frank. Natürlich führte jede Kette von Ereignissen unausweichlich zu einer Verabredung für Amanda. Bilder von Walter tauchten vor Franks Augen auf.

»Viele Leute überrascht das, aber die Wahrheit ergibt nun mal einen Sinn«, erklärte Matt. »Und noch öfter verursacht die Wahrheit Schmerzen.«

»O Gott«, stöhnte Frank.

»Du kannst stöhnen, so viel du willst. Aber du weißt genau, was ich meine. Heutzutage ist es schwer, einer Sache zu trauen. Man kann kaum noch dem trauen, was man direkt vor Augen hat. Ich verdächtige alles und jeden, denn jeder hat sich irgendetwas vorzuwerfen.«

»Jeder?«, fragte Frank. Wenn Clarissa sie für paranoid hielt, dann sollte sie erst einmal Matt zuhören.

»Richtig«, fuhr er fort. »Ich habe mir vorzuwerfen, dass ich mir eure Gastfreundschaft erschlichen habe. Und ich bin bereit, die Folgen zu verantworten. Aber anscheinend gibt es ja keine.«

»Noch nicht«, sagte Frank.

»Und was habe ich mir vorzuwerfen?«, mischte sich Amanda ein.

Matt lächelte. »Nichts. Du, Amanda, bist rein.«

»Du, Matt, bist auch rein — reiner Mist«, sagte Frank. Ihr fielen Millionen Dinge ein, die Amanda sich vorzuwerfen hätte: Impulsivität, Selbstsucht, Eitelkeit, Geltungssucht, um nur einige anzuführen.

»Was hast du dir vorzuwerfen, Frank?«, fragte Matt. »Ich habe da so eine Ahnung.«

»Welche?«

»Dass du dein eigenes Urteil zurücksteckst und dich vollkommen von Clarissa unterbuttern lässt, nur damit sie deine Freundin wird. Das ist Selbstvernichtung.«

Frank rang nach Atem. Sah es wirklich so aus? »Clarissa will meine Freundin sein. Und ich stecke nicht zurück. Ich füge mich ihrer professionellen Meinung.« Wie demütigend, dass es für jemanden so aussah, als würde sie nach Clarissas Pfeife tanzen. Es war beleidigend. Sie weigerte sich, Matts Interpretation gelten zu lassen. Sie warf dem gammelig wirkenden Kellner einen prüfenden Blick zu. In seiner Gegenwart fühlte sie sich alles andere als selbstbewusst. Seltsam, er war ein Mann. Noch dazu ein junger.

»Ich sehe schon, du hast sehr großes Vertrauen zu Clarissa«, sagte Matt. »Aber solange du kein Vertrauen zu dir selbst hast, wirst du nie bekommen, was du wirklich willst. Du wirst nicht einmal wissen, was du wirklich möchtest. «

Einen sehr jungen Mann, dachte Frank.

Amanda spielte noch immer mit ihrem Besteck. »Ich will etwas über Chick hören. Du hast mehr Zeit mit ihm verbracht als sonst irgendwer, Matt. Wie war er?«

»Er war ein Nomade«, erklärte Matt. »Hatte keine Wurzeln. Keinerlei Bindungen. Er erzählte mir, er habe keine Familie oder engen Freunde. Ich glaube, er ist in Kalifornien aufgewachsen.«

»Hat er je über mich gesprochen?«, wollte Amanda wissen.

»O ja. Er bewunderte deine Schönheit.«

Immer kam man letztlich darauf zu sprechen, wie schön Amanda war. Frank betrachtete Amanda, die dank des Kompliments erstrahlte. Wie oft konnte sie das hören?

»Ja«, sagte Frank, »Chick reagierte, wie vorherzusehen war, anthropologisch auf Amandas symmetrische Züge und ihre verführerische Taille. Hat er irgendetwas verlauten lassen, warum er vielleicht hätte getötet werden können?«

In diesem Moment kam das Essen. Das Trio aß und dachte nach. »Wie viele Nächte war Chick im Keller?«, fragte Amanda.

»Nur am Donnerstag, in der Nacht vor dem Wettbewerb«, antwortete Matt.

Frank fasste es kaum, dass es so lange gedauert hatte, bis Matt aufgeflogen war. Da hätte jederzeit sonst wer hinuntergehen und sich tagelang verstecken, sie ausrauben oder angreifen können. »Warum hast du uns nicht vorher gefragt?«, wandte sie sich erneut an Matt.

»Ihr hättet vielleicht ja gesagt. Mit der Erlaubnis wäre der Kick weg gewesen.«

»Ich glaube, jetzt schmeiße ich dich doch raus.«

»Hat Chick überhaupt bei Benji gewohnt?«, fragte Amanda.

Matt nickte. »Morton war der Grund, weshalb Chick von Vietnam nach Brooklyn gekommen ist. Jedenfalls hat er es mir so erzählt.«

»Vietnam?«, wiederholte Amanda ungläubig. »Er war doch in Jamaica.«

»Nein, hundertprozentig in Vietnam. Dort hat er Benji Mortons ehemaligen College-Freund kennen gelernt. Und der hat dann Chick und Morton miteinander in Kontakt gebracht. «

»Chick hat mir erzählt, er hätte hier in der Stadt keine Freunde«, sagte Amanda.

»Morton war nicht sein Freund«, erklärte Matt. »Sie hatten einen gemeinsamen Freund. Jemand wie Chick würde nie und nimmer einen Kerl wie Morton als seinen Freund bezeichnen.«

»Okay«, sagte Frank, »wer ist dann dieser gemeinsame Freund?«

Matt blätterte in seinem Stenoblock. »Ihr könnt von Glück reden, dass ich mir eine Menge Notizen gemacht habe. Und ich gehe doch recht in der Annahme, dass ich nicht hinausgeschmissen werde?« Er wartete, bis Frank nickte. »Gut. Der gemeinsame Freund war ein Amerikaner, der in Vietnam lebt.« Matt blätterte ein paar Seiten zurück und las: »Bert Tierney. Er ist Unternehmer und versucht an einem südvietnamesischen Strand eine Ferienanlage aufzubauen.«

Frank bemerkte, dass Amanda ihr Frühstück kaum angerührt hatte. Flinter ihnen lagen zwei sehr stressige Tage. Schwächelte ihre Schwester?, überlegte Frank. »Geht es dir gut?«, fragte sie Amanda.

»Ich habe nur gerade an Chick gedacht«, entgegnete sie. »Wie wenig wir von ihm wussten. Man sollte in den Tagen, bevor man stirbt, mit Leuten zusammen sein, die einen kennen und lieben, findet ihr nicht? Ist es nicht auf eine Art furchtbar, dass er sozusagen von Fremden umgeben war?«

»Demnach begeben wir uns jetzt auf die Suche nach Chick?«, fragte Frank. »Und ich dachte, wir wären damit beschäftigt, unseren Lebensunterhalt zu sichern.«

»Du bist nicht gerade großmütig«, entgegnete Amanda.

»Eines kann ich euch sagen: Chick war ein Kaffee-Kenner«, mischte sich Matt erneut ein.

Frank wandte sich Matt zu. »Das sagst du so, als wärst du selbst ein Kaffee-Kenner.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Geruchssinn, deshalb werde ich nie mit euch konkurrieren können. Aber Kaffee hat eine gewisse Struktur, ein besonderes Gewicht auf meiner Zunge. Mit komplizierten Getränken habe ich nicht so viel Erfahrung.«

»Wie kommst du darauf, dass Chick sich mit Kaffee auskannte?«, fragte Amanda.

»Er hatte einen Sack voller Kaffeebohnen. Er hat sie sich ständig roh in den Mund gesteckt«, sagte Matt.

Kaffeebohnen als Nahrung?, dachte Frank. Im Jemen und in Äthiopien, den einzigen Ländern, in denen Kaffeepflanzen heimisch waren, hatten die Einwohner die Beeren und Blätter lange Zeit als Rauschmittel gegessen. Und in manchen Landstrichen der Türkei verwendete man Kaffeebohnen für Suppen.

»Waren die Bohnen grün?«, fragte Frank.

»Blau. Dunkelblau. Fast lila.«

»Lila Bohnen«?, staunte Amanda und schaute Frank an. »Kona?«

Die ältere Schwester und wahre Kennerin schüttelte den Kopf. Auf dem Vulkanboden von Hawaii wuchsen blaue Bohnen. Eine lila Bohne hatte sie noch nie gesehen. »Vielleicht«, sagte sie.

Matt las weiter aus seinem Notizbuch vor: »Chick war ursprünglich ins Romancing the Bean gekommen, weil er Amanda gesehen hatte. Er fragte mich, was ich über dich wüsste. Ich wusste nichts. Das war dann auch schon die ganze Unterhaltung.« Er konzentrierte sich wieder auf seine Spiegeleier.

»Wie hast du dich denn in den Keller geschlichen?«, wollte Frank wissen. »Hast du dich in den Klos versteckt? Gewartet, bis wir weg waren...«

»Besser als das Lukentürschloss zu knacken wie Chick«, sagte er. »In der Nacht, als Morton ihn rausgeschmissen hatte. So ist er reingekommen.«

»Ich muss mich hinlegen«, sagte Amanda und tat es. Mitten in der Nische. Typisch, dieses theatralische Getue, dachte Frank. Sie setzte sich auf die Seite von Matt, damit ihre Schwester mehr Platz hatte. »Amanda«, sagte Frank, »wenn du und Chick dafür gemacht worden wärt, zusammen zu sein, dann wäre er jetzt nicht tot. Das meine ich jetzt absolut nett.« Gott sei Dank war Chick nicht in ihrem Keller gestorben. »Ich hätte zu gerne so eine Bohne gesehen«, sagte Frank laut zu sich selbst.

»Zahlst du das Frühstück?«, fragte Matt.

»Klar«, antwortete sie.

»Weil du so freundlich bist.« Matt griff in seine Jeanstasche, zog eine Serviette heraus und faltete sie vorsichtig auseinander. Zum Vorschein kamen sieben dunkelblaue, fast wie Immergrün aussehende Perlkaffeebohnen. Perlbohnen sind klein und rund. Sie entstehen nur selten in der Natur, wenn eine Beere — im Gegensatz zu den üblichen zweiflügeligen Samen — nur einen Samenkern hat. Aus irgendeinem Grund enthält die tansanische Ernte von Robusta-Bohnen, die am Fuß des Kilimandscharo wachsen, eine Menge Perlbohnen. Aber diese rohen Samen sind grün. Die blauen Bohnen hatten fast kein Aroma und deshalb sicher auch keinen Geschmack mehr. Noch nie hatte Frank so etwas gesehen.

»Amanda, hast du schon einmal etwas von vietnamesischem Kaffee gehört?«, fragte Frank.

Amandas Stimme kam schwach unter dem Tisch hervor. »Nein.«

Frank auch nicht. Sie versuchte, sich die Topographie von Vietnam vorzustellen. Sie wusste, dass es dort Dschungel und Strände gab, aber sie war sich nicht sicher, ob sich dort Berge befanden, die hoch genug für das Gedeihen von Arabica-Pflanzen waren. Die einzigen pazifischen Kaffeeregionen, die Frank ein Begriff waren, waren China, Indonesien und Hawaii. »Hat Chick sie dir gegeben?«

»Er hat sie im Keller gelassen«, antwortete Matt.

Frank roch noch einmal an den Bohnen. »Wirklich seltsam.« Sie faltete die Serviette zusammen und steckte sie in ihre Hosentasche.

»Ich glaube nicht, dass diese Bohnen Glück bringen«, sagte Matt. Das machte Amanda wieder wach.

»Bist du etwa auch abergläubisch?«, fragte Frank. Ein Hinterhalt, dachte sie.

»Chick brachten sie jedenfalls kein Glück. Aber vielleicht ging das Unglück ja auch von euch beiden aus«, meinte er. »Vielleicht sind es gar nicht die Bohnen. Vielleicht seid ihr beiden Mädels das Problem. Über euren Köpfen schwebt eine dunkle Wolke. Man sieht sie fast.« Nach dieser finsteren Erklärung betrachtete Matt die beiden Schwestern ernst, eine nach der anderen. Dann blickte er Frank direkt in die Augen und fragte: »Isst du deine Kartoffeln nicht?« Frank schob ihm den Teller zu.

Es war ungefähr sechs Uhr, als sie zahlten. Mit dem Wechselgeld wollte Amanda ein I Ging werfen. Matt und Frank schauten zu. Das Muster: Kopf, Zahl, Zahl, Zahl, Zahl und Zahl ganz oben.

Amanda seufzte. »Berg über Erde. Der Berg stürzt und zermalmt ein solides Fundament.«

»Zum Glück ist das I Ging absolut bedeutungslos, sonst würde ich mir jetzt noch mehr Sorgen machen als üblich«, gestand Frank.

In dem Moment betrat Harry, der Sohn des Park-Plaza-Besitzers, das Restaurant, um seinen Dienst anzutreten. Er trug einen schweren Schneeparka und hatte ein Exemplar der Post dabei. Als er Frank und Amanda entdeckte, kam er umgehend an ihren Tisch. Er lächelte nicht.

»Heute schmeckt der Kaffee besser«, sagte Frank.

Harry nickte. »Wir haben uns zu Excelso aufgewertet.« Kolumbianischer Excelso.

Das soll eine Aufwertung sein?, dachte Frank. Das war wirklich kein besonders hochwertiger Kaffee. »Tut mir Leid für euch«, sagte Harry und reichte Frank die Sonntagsausgabe der Post. Die Schlagzeile auf der Titelseite lautete: schüsse im mörder-café. Sie überflog schnell den Artikel, der aus der Feder von Piper Zorn stammte, mit Fotos vom vergangenen Abend. Frank und Amanda wurden mit den Borgia-Schwestern verglichen. Zorn spielte auf »möglicherweise giftige koffeinhaltige Tränke« an. Der Artikel suggerierte, dass man bei einem Besuch im Romancing the Bean sein Leben riskierte. Das Foto von Amanda und Chick war erneut abgedruckt, außerdem eine Aufnahme von Frank, wo sie ausgesprochen böse dreinschaute. Bissige Besitzerin? Beleidigte Besitzerin? Blutrotgesichtige Besitzerin?

»Kann ich die behalten?«, fragte Frank.

»Nimm sie mit. Das Frühstück geht auf Kosten des Hauses«, sagte Harry.

»Wir haben schon gezahlt«, bemerkte Frank.

Die drei gingen hinaus in den kalten Morgen von Brooklyn. Der Wind war mit Nadeln gespickt. Matt deutete in die Luft über Franks Kopf. »Siehst du?«, fragte er.

Sie schaute nach oben, und tatsächlich: Anderthalb Meter über ihr schwebte eine kleine schwarze Wolke. Sie griff hinauf, um sie zu berühren. In dem Moment verschwand sie.