Kapitel 8
Clarissa wirkte plötzlich nervös. »Wie bitte?«
Frank wiederholte die Frage. »Wie bist du auf die Idee gekommen, dass Walter Mr Coffee werden würde, bevor du überhaupt von Chicks Tod wusstest?«
Amanda beobachtete, wie ihre Schwester und ihre neue Freundin Kampfhaltung annahmen. Die Konfrontation irritierte sie, denn sie verabscheute jegliche Art von Spannung, es sei denn sexuelle. Und selbst die ließ ihre Nerven für lange Zeit blankliegen. »Ich habe Clarissa gestern spätnachts noch angerufen, als ich wieder zu Hause war«, sagte sie. »Ich wollte sie darauf vorbereiten, dass wir möglicherweise einen neuen Kandidaten finden müssten. Ich wusste ja nicht, ob Chick je wieder ein Wort mit mir reden würde.«
Frank nickte. »Aha, verstehe. Na klar, dann gibt das alles einen Sinn.«
Die blonde Frau richtete ihre scharfen blauen Augen auf Frank. Amanda sah, wie ihre Schwester schauderte. »Ich bin froh, dass du gefragt hast, Francesca«, erklärte Clarissa. »Es ist gut, Fragen zu stellen. Nur so lernt man im Leben. Ich bin deswegen überhaupt nicht gekränkt.« Um Frank zu signalisieren, dass sie weiterhin auf ihre Unterstützung zählen konnte, wuschelte Clarissa ihr durch die schwarzen Haare, die sofort in ihre frühere Form zurückfielen.
»Du und Walter, ihr habt also die Nacht miteinander verbracht?«, fragte Frank.
»Ich denke schon«, sagte Clarissa. So viel zu Amandas und Clarissas kleinem Geheimpakt. »Wir haben nur geredet. Es ist nichts passiert, wenn du die Wahrheit wissen willst«, fuhr Clarissa fort. »Du siehst enttäuscht aus, Francesca. Hast du was Aufregenderes erwartet?«
»Eigentlich habe ich etwas unsäglich Langweiliges erwartet, wie zum Beispiel ein Café zu führen. Liebesgeschichten sind nicht mein Fachgebiet.«
Amanda unternahm einen Versuch, Frieden zu schließen. »Lasst es gut sein, ihr zwei. Wir wollen alle dasselbe und wir schaffen es. Seht euch Walter an und die vielen Gäste. Es wird uns gelingen.«
»Ich bin mir immer noch nicht ganz darüber im Klaren, warum Amanda unbedingt als Mörderin hingestellt werden muss«, sagte Frank zu Clarissa.
»Bitte, Frank«, bat Amanda. »Kann nicht einmal jemand anderes Recht haben? Kann nicht einmal jemand anderes wichtige Entscheidungen treffen? Clarissa weiß, was sie tut. Ich vertraue ihr völlig.«
Amanda wusste, dass sie mit Clarissas Verteidigung Frank gegen sich aufbringen würde. Aber sie fühlte, dass sie es tun musste. Die beiden Frauen würden sich sonst womöglich nicht mehr auf das konzentrieren, was wirklich wichtig war. Amanda war — wenn es überhaupt eines gab — das Opfer von Clarissas Plan. Ihr Bild prangte auf der Titelseite der Zeitung. Wenn sie sich nicht darüber aufregte, warum sollte es dann Frank tun? Vielleicht sollte Amanda ja aus dem Weg geräumt werden? Nein, sie verscheuchte den Gedanken aus ihrem Kopf. Es gelang ihr nicht, sich Ärger einzureden, wenn sie nicht wirklich welchen verspürte. Und warum sollte sie auch? Hass, selbst wenn er gerechtfertigt war, fraß nur die Seele auf.
»Einen Tag lang ein gutes Geschäft zu machen ist noch keine Kehrtwendung«, sagte Frank, »aber ein Fortschritt.« Dann rang sie sich eine Entscheidung ab. »Keine Wettbewerbe mehr in der nächsten Zeit. Warten wir ab, wie sich die Dinge im Lauf der nächsten Wochen entwickeln. Jeden Freitag einen neuen Preisträger ist sowieso zu viel. Das wird den Leuten schnell langweilig.«
»Vielleicht ist Abwarten gar keine schlechte Idee«, sagte Clarissa diplomatisch. »Mein Plan ging sowieso von großem Tamtam aus, eben dem Gegenteil von Langeweile.«
Dann suchten Frank und Clarissa entgegengesetzte Ecken des Cafés auf: Frank half Matt, frischen Kaffee aufzubrühen, da sie es ablehnte, den Kaffee länger als eine halbe Stunde stehen zu lassen, während Clarissa von Tisch zu Tisch ging und den Gästen das Gefühl vermittelte, willkommen zu sein. Ihre Schönheit — so beobachtete Amanda — machte andere Frauen nicht neidisch, vielmehr lösten ihre Grazie und ihr Stil Bewunderung aus, nicht etwa Kritik. Ihre Bewegungen waren so fließend und weich wie ihre Flanellhose.
Amanda wusste nicht, mit wem sie als Nächstes sprechen sollte. Half sie Frank, fühlte sich vielleicht Clarissa verraten. Wenn sie aber Clarissa hinterherlief, würde Frank eine Verschwörung gegen sich befürchten. Sie wünschte, sie könnte die Zeit zurückdrehen: Es lag gerade einmal 24 Stunden zurück, da verband Frank und Clarissa noch eine gut im Wachsen begriffene arbeitsbedingte Beziehung, und Amanda hatte einen Mann kennen gelernt, mit dem sie eine ausbaufähige Beziehung verband. Jetzt hatten die beiden Verbündeten eine Mauer zwischen sich aufgebaut, und sie war — romantisch ausgedrückt — so allein wie eh und je. Die plötzliche Last der Verzweiflung drückte schwer auf Amandas zarte Schultern.
»Ich gehe kurz weg.« Sie verabschiedete sich von beiden, zog ihren engen Mantel über den schwarzen Rolli und die schwarze stiefelfreundliche Hose, die sie Wunderhose nannte, und ging nach draußen. Zum ersten Mal nach langer Zeit beschloss sie, sich einen Nachmittagsdrink zu genehmigen. Ihr Freund und Barkeeper, Paul McCartney, würde sie aufmuntern, dazu hatte er Talent. Und sie konnte ihm beweisen, dass sie ihn nicht für selbst gebastelte Zitate in der Zeitung verantwortlich machte.
Amanda ging Richtung Heights Café. Unterwegs auf der Straße gafften die Leute sie an. Zwei alte Damen wären fast auf dem Pflaster gestolpert, als sie ihr aus dem Weg gehen wollten. Zuerst dachte sie, sie würde sich das nur einbilden, aber wohin sie auch schaute, die Leute deuteten auf sie und flüchteten vor ihr. Sie hinterließ eine breite Schneise auf dem Gehsteig der Montague Street. Amanda wischte sich nervös über Gesicht und Kleidung. Eine Sache hatte sie bei den Enthüllungen der Post nicht bedacht — sie war dadurch entblößt.
Sie atmete tief ein und aus. Nur noch zwei Häuserblocks trennten sie von einem freundlichen Gesicht. Amanda fragte sich, was Paul dem Journalisten wohl tatsächlich erzählt hatte. An der Ampel an der Hicks Street musste sie warten. Eine Frau neben ihr schrie plötzlich auf und rannte auf die andere Straßenseite, während ein Mann sie etwas zu aggressiv anrempelte. Sie fühlte sich attackiert und lief bei Rot über die Straße. Ein Pärchen pfiff sie aus, als sie an ihnen vorbeistürmte.
Mit beiden Händen stieß sie die zweiflügelige Tür zum Heights Café auf. Die vertraute Umgebung erfüllte Amanda mit Erleichterung. Todd Phearson, der winzige Besitzer und gleichzeitig Oberkellner, um die fünfzig, fing sie an der Tür ab. Amanda erwartete, dass er sie einem Teddybären gleich in die Arme schloss und stützte, war er doch ein guter Nachbar und Freund ihrer Eltern gewesen. Stattdessen bedeutete seine Handhaltung ihr »Halt«.
»Es tut mir Leid, Amanda«, sagte er, »aber ich glaube, wir sollten auf Distanz bleiben, bis diese Sache vorbei ist.«
Warf er sie hinaus? Sie konnte nicht fassen, was sie eben gehört hatte. »Du glaubst doch nicht etwa, dass ich jemanden töten könnte?«, fragte sie. Von den Leuten, die er kannte, war sie sicher die Letzte, zu der die Rolle eines Killers passte. Keiner Fliege konnte sie etwas zuleide tun. Sie hatte Fliegen gefangen, um sie ins Freie zu bringen. Sie hatte Moskitos gefangen, um sie ins Freie zu bringen. Was im Übrigen gar nicht so leicht zu bewerkstelligen war.
»Amanda, du weißt genau, dass ich dich nie verdächtigen würde«, flüsterte er, und sein durchdringender Blick wich nicht von ihrem Gesicht. Daran erkannte Amanda, dass er log. Ehrliche Menschen schauen einem in die Augen. Unehrliche starren einem in die Augen.
»Ich will mit Paul sprechen«, sagte sie und wich einen Schritt von Todd zurück. Ihr Magen schien sich umzudrehen, das Gefühl, gemieden zu werden, war entsetzlich. Es kam ihr vor, als wäre sie in ein anderes Universum geraten, wo alle sie hassten.
»Paul ist nicht hier«, sagte Todd ruhig. »Ich habe ihm gesagt, er soll heute zu Hause bleiben. Ich will nicht, dass es in meinem Restaurant noch mehr Ärger gibt. Deine Anwesenheit könnte den Rest der Belegschaft stören — und auch die Gäste. Das kann ich nicht riskieren. Ich habe schließlich ein Geschäft zu führen.«
Amanda konnte den Verrat nicht fassen. Sie kannte Todd schon über ein Dutzend Jahre. So behandelt zu werden, wegen nichts und wieder nichts, wegen eines Werbegags. Es war lächerlich. Und es tat weh. »Ich muss auch ein Geschäft führen, Todd«, sagte sie mit großer Beherrschung. »Und genau darum geht es dabei doch.«
Todd seufzte und schob sie in Richtung Tür. »Du kriegst dein Geschäft in den Griff und ich meines. Es tut mir sehr Leid, dass dir das alles zustößt. Aber ich bin auch gekränkt, dass du mein Restaurant mit hineingezogen hast. Wenn alles geklärt ist, komm vorbei, wann immer du willst.«
Genauso gut hätte er sagen können: »Deine Eltern haben mir gar nichts bedeutet.« Amanda kämpfte gegen eine vulkanartig aufbrodelnde Wut in ihrer Brust. Es kostete sie eine Menge Selbstbeherrschung, sich zusammenzureißen. Jeder hielt sie für eine Mörderin. Doch dies traf nicht zu. Sie war ein guter Mensch. Ein Strom von Liebe floss durch ihr Herz. Sie glaubte an Gott und sie spendete für wohltätige Zwecke. Aber dieser Hinauswurf, einfach fortgejagt zu werden, das überschritt ihre Schmerzgrenze.
Sie schaute in Todds verhärmtes Gesicht, und zum ersten Mal sah sie ihn, wie er wirklich war: ein boshafter, gemeiner Mann. »Vater hatte Recht«, sagte sie, und Tränen flössen aus ihren grünen Augen. »Er hatte dich immer im Verdacht, ein Antisemit zu sein.«
Todds Gesicht wurde noch unansehnlicher. »Raus jetzt, Amanda«, kommandierte er.
Sie sog mehrmals tief die reinigende Luft ein (die Sonne, der Mond, die Wellen, der Strand) und versuchte, die Fassung zu bewahren. Es wollte ihr aber nicht gelingen. Der Schmerz und die Wut wurden zu Naturgewalten, die nicht mehr aufzuhalten waren. »Du bist so — so anormal klein.« Dann rannte sie hinaus.
Über seine Größe zu spotten. War sie schon so weit gesunken? Einen Mann wegen seines physischen Mankos zu beleidigen, als ob seine Statur irgendetwas mit der Größe seiner Seele zu tun hätte? Amanda schnaufte und keuchte die Hicks Street hinunter. Dabei wunderte sie sich über sich selbst. Armer Paul, er war bestimmt ebenfalls von Todd schlecht behandelt worden. Und alles wegen ihr. Schuldgefühle stiegen in ihr hoch. Für sie selbst mochte es noch angehen, aber Paul war von diesem Journalisten missbraucht worden.
Amanda wusste, dass Paul in der Grace Court Alley wohnte, in einem der wenigen Wohnblocks von Brooklyn Heights, wo Stadt- oder Brownstone-Häuser aus der Vorkriegszeit die Regel waren. Das Gebäude, das deutlich vom Stil der fünfziger Jahre geprägt war, war das letzte in der Sackgasse. Er hatte ihr gesagt, seine Wohnung ginge auf den East River hinaus, diese trübe Wassermasse, die Brooklyn und Manhattan Island voneinander trennte. Das Haus hatte einen quadratischen Grundriss, fünf Stockwerke und einen Hof in der Mitte. Amanda war schon einmal an dem Gebäude vorbeigelaufen, aber sie hatte es noch nie betreten. Sie wusste nicht genau, in welchem Stock er wohnte, nicht einmal in welchem Flügel, aber sie war wild entschlossen, herauszufinden, was sich zwischen Paul und Todd abgespielt hatte. Sollte sein Job in Gefahr sein, würde sie für ihn tun, was sie konnte. Pauls Ehe stand auf wackligen Beinen. Sollte er arbeitslos werden, so würde das sicher seine Situation nur noch verschlimmern.
Zum Glück hatte sie niemand auf dem kurzen Weg zur Grace Court Alley terrorisiert. Am Eingang von Pauls Haus ging Amanda auf eine alte Dame in einem Hermelinmantel zu, die einen Pitbull an einer Lederleine spazieren führte. »Entschuldigen Sie, Ma’am«, sagte sie. »Ich suche Paul McCartney.«
»Probieren Sie es in Liverpool.«
Amanda folgte ihr in die Eingangshalle. Kein Hausmeister in Sicht. Keine Wohnungs-Wegweiser. Sie schloss die Augen und versuchte, sich eine Tür mit einer Nummer darauf vorzustellen. Pauls Wohnungstür, hinter der er mit seiner Frau und den beiden Töchtern wohnte. Die Tür. Sie war rot. Mit einer goldenen Türklinke. Und die Nummer an der Tür lautete... Das war lächerlich. Damit erreichte Amanda nichts. Wie sehr wünschte sie sich in diesem Moment, übersinnliche Fähigkeiten zu besitzen. Instinkt war gut und schön. Aber wenn sie Visionen hätte, in die Zukunft sehen könnte. Das wäre etwas. Amanda würde freilich ihre Fähigkeiten nur positiv einsetzen. Sie würde Menschen helfen. Sie würde... Ein Räuspern in ihrem Rücken holte sie in die traurige Realität zurück.
Sie drehte sich um und stand einer nett aussehenden, aschblonden Frau gegenüber, die einen dicken Daunenmantel trug, einen gerippten lila Rolli und schwarze Leggings. Amanda hatte seit 1997, dem Jahr der Hose, keine Frau mehr Leggings in der Öffentlichkeit tragen sehen. Neben der Frau standen zwei kleine Mädchen und ein Jack Russell. Das ältere Mädchen — sie mochte fünf Jahre alt sein — starrte Amanda an und hielt dabei die Hand der Mutter umklammert. Sie wirkte sehr ernst, eine alte Seele in einem jungen, kleinen Körper. Die Art, wie sie den Kopf hielt und unter halbgeschlossenen Lidern zu Amanda aufschaute, ließ sie weiser und müder aussehen, als sie es vom Alter her sein konnte.
»Du siehst genau wie auf dem Foto aus«, sagte die Frau. Ihre Stimme klang verklebt, als hätte sie gerade eine größere Menge Honig gegessen.
»Du musst Sylvia sein«, sagte Amanda zu Pauls Frau. »Ich habe so viel von dir gehört. Schön, dich endlich kennen zu lernen.« Sie bückte sich, um die Mädchen zu begrüßen. Um das Gesicht des jüngeren Mädchens — sie war zirka drei Jahre alt — kringelten sich goldene Korkenzieherlöckchen.
Das Kind kicherte und sagte: »Du bist hübsch.«
»Du auch«, gab Amanda zurück. Sie drehte sich zu der älteren, ernst dreinblickenden Schwester und wollte gerade sagen: »Und du auch«, als die Kleine sie unterbrach.
»Mami, komm, lass uns gehen«, quengelte sie. Offensichtlich hatte sie keine Lust auf leeres Geschwätz. Ebenso wenig wie ihre Mutter.
»Ich muss gehen«, sagte Sylvia und zog an der Leine.
Amanda war nicht in die Wohnung gebeten worden. »Ich bin vorbeigekommen, um Paul zu besuchen«, sagte sie schnell. »Ich muss mit ihm reden.« Sie hielt inne, da Sylvia prüfend ihren Mantel ansah, beziehungsweise das, was darunter steckte. »Könnte ich vielleicht eine Minute mit hinaufkommen?«, bat sie.
»Kinder, warum holt ihr nicht schon einmal den Aufzug für eure Mami«, sagte sie zu den Mädchen. Die Dreijährige rannte sofort los und nahm den Hund mit, während die Ältere die Hand der Mutter nicht loslassen wollte. Aber Sylvia bestand darauf. Sobald die beiden Frauen allein waren, sagte Sylvia: »Ich will nicht, dass du Paul triffst. Nie mehr. Lass meinen Mann in Ruhe. Du bist der Grund, warum unsere Ehe in der Krise steckt.«
»Bitte?« Amanda war schockiert.
»Dieser Artikel. Er hat ihn gelesen und wäre beinahe umgekippt bei der Arbeit«, sagte sie. »Todd hat ihn nach Hause geschickt. Paul war völlig am Ende. Ich habe ihn noch nie so fertig gesehen. Schließlich hat er mir alles erzählt. Dass er seit Jahren in dich verliebt ist und deshalb oft zu den unmöglichsten Zeiten arbeitet, weil er hofft, du könntest auf einen Drink vorbeikommen. Dass er versucht hat, sich über die Männer, die du im Schlepptau hattest, lustig zu machen, damit du das Interesse an ihnen verlieren solltest. Dass er dir Drinks kostenlos gibt und sich dafür einsetzt, dass du dein Essen schneller serviert bekommst. Ich habe die Mädchen wegschicken müssen, weil ich nicht wollte, dass sie ihren Vater so sahen.«
Amanda war sprachlos. »Ich habe nicht... Ich war nicht... Du glaubst doch nicht...«
»Er hat mir gesagt, dass du nie... dass nichts passiert ist«, sagte sie. »Dass du ihn als Freund betrachtest. Aber als Todd ihm riet, er solle lieber für ein paar Tage der Bar fernbleiben, ist er bei dem Gedanken, dich nicht mehr zu sehen, völlig zusammengebrochen. In den sieben Jahren, in denen ich mit Paul verheiratet bin, habe ich ihn niemals weinen sehen. Ich kann nicht fassen, dass ich nicht selbst oben sitze und heule.« Amanda hatte nie etwas von Pauls heimlicher Liebe mitbekommen. Seltsam. Zu merken, wenn Männer sich von ihr angezogen fühlten, war doch eigentlich ihre Spezialität.
»Sie Arme!«, war alles, was Amanda herausbrachte.
»Ich weiß nicht genau, wie ich reagieren soll. Verlassen will er mich nicht. Er liebt mich, sagt er. Paul war in den letzten Jahren so geistesabwesend. Emotional erwarte ich von ihm nicht mehr sehr viel, denn ich habe mein eigenes Leben, meinen Ehrgeiz, die Mädchen. Allein zu sein hat mir nichts ausgemacht. Aber jetzt — vielleicht wegen dir — ist mir nach Reden zumute. Hast du etwas Zeit für eine Tasse Kaffee?«
Amanda zuckte die Achseln. Vor lauter Überraschung brachte sie noch immer kein Wort heraus. Sylvia deutete das als Ja. Sie sagte, sie wolle die Mädchen oben in die Wohnung lassen und dann gleich wieder herunterkommen. Amanda solle unten auf sie warten. Draußen war es inzwischen stockfinster, obwohl es erst gegen 17 Uhr war. Amanda schaute Sylvia nach, die zum Aufzug ging. Sie stand da, zur Statue erstarrt und wie gelähmt von den Ereignissen des Tages. Die Planeten mussten ja komisch zueinander stehen. Nach einigen Augenblicken löste sie sich aus ihrer Benommenheit. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, rannte sie aus der Halle, die Straße hinauf und um die Ecke. Sie wäre weitergerannt, aber es war kalt und sie war nicht in bester Verfassung. Deshalb verlangsamte sie ihr Tempo zu einem Spazierschritt und atmete einige Male tief durch. Ein, aus, und noch mal. Nachdem sie das mehrmals getan hatte, kam sie zu der bemerkenswerten Erkenntnis: Atmen war wie Aspirin. Jetzt brauchte sie einen Scotch.
Stattdessen lief sie weiter. Es tat gut, draußen an der frischen Luft zu sein, auch wenn es sehr kühl war. Im Winter wurde es bald dunkel und die Dunkelheit schützte sie vor bedrohlichen Blicken. Sie hielt den Kopf gesenkt und sah, wie ihre Collegeschuhe einen Schritt nach dem anderen machten. Sie wusste nicht, wie lange sie schon so gelaufen war, als sie plötzlich ein Schauer überlief. Sie schaute auf und befand sich am oberen Ende der Joralemon Street — bei Chicks Block. Bilder der morgendlichen Szene schossen ihr durch den Kopf. Sie wagte sich weiter und stand schließlich vor Chicks Haus. Ein gelbes Absperrband der Polizei verhinderte den Zugang zum abgeriegelten Areal an der Treppe. Auch die Mülltonnen waren anscheinend nicht zugänglich. Amanda blickte sich um, ob sie beobachtet wurde. Dann kroch sie unter dem Band durch. Im Dunkeln waren Blutspuren schlecht auszumachen. Sie hatte angenommen, dass Chick in seiner Wohnung gestorben war. Aber wie die Sache aussah, war seine Leiche draußen, praktisch auf der Straße gefunden worden.
Amanda hörte ein metallenes Klicken und versteckte sich im Hohlraum unterhalb der Außentreppe. Einer von Chicks Nachbarn verließ das Haus. Sie wollte nicht innerhalb des von der Polizei abgeriegelten Areals gesehen werden. Es war vermutlich sowieso eine große Dummheit gewesen, überhaupt hierher zu kommen und Fasern, Haare und sonstige Beweisstücke ihrer Anwesenheit am Tatort zu hinterlassen — aber jetzt war es zu spät. Sie verfluchte sich im Stillen und wartete ab, bis der Hausbewohner vorbeigegangen war. Sie drückte sich so weit unter die Treppe, wie sie nur konnte, und beobachtete, wie eine eindeutig männliche Person die Stufen hinunterstieg und die Straße entlanglief. Sie betrachtete den Mann von hinten und bemerkte, dass ihr die Holzfällerjacke bekannt vorkam. Ebenso sein Gang und das rote Haar. Er stand unter einer Straßenlaterne in der Mitte des Blocks, als sie einen lauten Knall hörte. Der Kopf des Mannes flog in Richtung des Geräuschs und Amanda sah ihn im Profil.
Benji Morton. Als sie spürte, dass sie noch lebte, holte sie tief Luft.
Amanda wartete, bis er weit genug entfernt war, bevor sie aus ihrem Versteck herauskletterte. Sie ließ sich auf die nächste Treppe fallen und wartete, bis ihr klopfendes Herz sich wieder beruhigt hatte. Benji und Chick wohnten im gleichen Haus. Vielleicht hatten sie sich kennen gelernt oder waren befreundet? Das schien merkwürdig — sie konnten nicht verschiedener sein.
Nach einigen Minuten war ihr Puls wieder normal und sie hatte sich wieder unter Kontrolle. Amanda musste sich irgendwohin zurückziehen, um alle Neuigkeiten in Ruhe zu überdenken. Außerdem drängte es sie sehr nach einem I-Ging-Wurf. Überzeugt, dass sie das alles am besten zu Hause machen konnte, lief sie in die Montague Street zurück.
In diesem Moment hörte sie die Polizeisirene.