Kapitel 15
Es war Abend, die Sonne schon vor Stunden untergegangen. Frank hatte den ganzen Tag über Kaffee serviert und sich Sorgen gemacht. Aber statt des Ladens beschäftigte sie diesmal ihr Privatleben: die Verabredung mit Walter, der Gedanke, Clarissa hintergangen zu haben, die Angelegenheit mit Piper Zorn. Außerdem irritierte sie Matts und Amandas Verabredung zum Lunch. Doch sie fand, dass das eine gute Abwechslung von ihren üblichen Tagträumen von Armut und Ruin war. »Aber ist es auch leichter?«, fragte sie sich selbst.
»Bitte?«, fragte der Gast, den sie gerade bediente.
Frank musterte die Frau. Sie war ungefähr vierzig, in Wollmantel und Mützchen gehüllt, Augen und Mundwinkel umspielten unzählige Lachfältchen. Ihr Gesicht war pummelig, aber freundlich. Sie lächelte Frank unsicher an: »Haben Sie mit sich selbst gesprochen?«
Frank wusste nicht, was sie antworten sollte, und murmelte: »Hier ist Ihr Wechselgeld.« Hätte Amanda dieses freundliche, wohlwollende Gesicht gesehen, die Geheimnisse ihrer Seele wären nur so herausgesprudelt. Frank hatte es immer irritiert, wenn Menschen Fremden ihr Herz ausschütteten. Ermächtigte einen ein kompliziertes Privatleben dazu, sich bei jedermann Rat zu holen? Frank konnte sich genau vorstellen, wie das Gespräch zwischen ihr und der krähenfüßigen Frau verliefe. Sie würden sich an einen der neuen Formica-Tische setzen und plaudern: Sollte Frank eine neue Freundschaft eingehen oder versuchen, sich auf eine riskante Beziehung mit einem Mann einzulassen, den sie kaum kannte, oder sollte sie sich besser in Sicherheit bringen und alle Gefühle von sich weisen?
»Schönen Tag noch«, sagte die Frau, nahm ihre Tasse und verschwand.
Wieder eine verpasste Gelegenheit, dachte Frank. Diskrete Seelen waren sehr einsam.
Amanda und Matt kamen am frühen Nachmittag zurück. Dann arbeiteten die drei ununterbrochen bis zum Abend. Gegen 18 Uhr wurde es etwas ruhiger.
»Clarissa muss gleich kommen«, sagte Amanda. »Und Walter.«
Frank hörte eine Nuance scherzhafter Provokation aus der »Und Walter«-Bemerkung heraus. »Was meinst du damit?«, fragte Frank.
»Womit?«, sagte Amanda.
»Du weißt genau, was ich meine.« Frank vermied jeglichen Blickkontakt und schabte wild Kaffeesatz aus einem goldenen Kaffeefilter.
»Du bist nervös«, bemerkte Amanda und hoffte, auf diese Weise etwas in Erfahrung zu bringen.
»Ich könnte nicht entspannter und zuversichtlicher sein.«
Amanda lächelte Frank in einer nervend koketten Art an. »Ihr Steinböcke«, sagte sie. »Reichlich trittsichere Ziegen. Aber manchmal rutscht ihr beim Klettern ab. Ich verstehe zu helfen, weißt du.«
»Wobei? Den Halt nicht zu verlieren?«, fragte Frank.
»Ja, genau.«
Frank drehte sich zu Amanda um. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, den Kopf ihrer Schwester von einem verschwommenen blauen Schleier umgeben zu sehen. War das eine Aura? »Deinem alles sehenden, alles wissenden dritten Auge wird heute ein ganz schönes Training geboten«, sagte Frank.
»Jeden Tag«, bemerkte Amanda.
Was genau wusste sie? dachte Frank. Sie hatte Amanda gegenüber nie ein Wort über Walter verloren, sein vages Interesse, ihre Verwirrung, nichts. Konnte Amanda tatsächlich aus dem Äther lesen? »Gut, ich brauche Hilfe«, räumte Frank ein. »Aber ich weiß nicht, ob du die Richtige dafür bist.«
»Wer wäre besser geeignet?«, fragte Amanda. »Clarissa sicher nicht. Ich glaube, da besteht ein Interessenkonflikt.«
Wie auf ein Stichwort bimmelte die Tür und Clarissa spazierte herein. Der Pelzkragen an ihrem Mantel schmiegte sich hoch um ihren Hals und kitzelte Kinn und Wangen. Ihr Haar hatte sie zu einem großen Knoten gesteckt, blonde spitze Ponyfransen fielen ihr in die Stirn. Frank musste lächeln, als sie Clarissa sah und die Art, wie sie den Laden betrat — oder wohl überall auftrat, wo sie hinging. Es glich einem Hineinrauschen, als verdiente sie eine Runde Applaus.
Amanda lief ihr bis zur Tür entgegen. Sie flüsterten sich etwas zu, kicherten. Frank wurde gleichzeitig heiß und kalt, wie dem stillen Mädchen in der Schulcaféteria, das eifersüchtig den Tisch mit all den unnahbaren Jungs nicht aus den Augen lässt. Die ständige Wiederholung der Jugendzeit musste endlich aufhören. Beliebtheit? Frank hatte die Sorgen Erwachsener — Geld, Kinderlosigkeit. Von Szene-Leuten würde sie sich nicht einschüchtern lassen. Sie ging zu Clarissa und Amanda hinüber. Auf ihrem Gesicht klebte ein Willkommenslächeln.
Clarissa begrüßte sie. »Francesca, wie kannst du so ernst schauen, wenn das Geschäft boomt?«
Mehr Selbstbewusstsein. Genau das brauchte sie. »Ich schaue ernst drein?«, fragte Frank. Aus irgendeinem Grund brachte das Amanda und Clarissa zum Kichern.
»Clarissa, du hast doch nichts dagegen, wenn Frank und ich für ein paar Minuten verschwinden?«, sagte Amanda.
»Wo geht ihr hin?«
»Wir müssen einige Rechnungen durchgehen. Wir sind in wenigen Minuten wieder unten. Matt übernimmt solange die Theke. Haltet die Stellung.«
Frank ließ sich von Amanda hinaus- und dann in ihre Wohnung hinaufführen. Nachdem Frank die Wohnungstür hinter sich zugemacht hatte, sagte sie: »Wenn du und Clarissa die Köpfe zusammensteckt und so lacht, worüber redet ihr da?«
Amanda nahm Frank bei der Taille und führte sie nach hinten in ihr pinkfarbenes Rüschenzimmer. »Ich habe ihr gesagt, dass sie mörderisch aussieht. Und sie hat zu mir gesagt, ich sei wohl zugekifft«, sagte Amanda.
»Und darüber habt ihr gelacht?«
»Nicht über das, was gesagt wurde, sondern über den Geist davon.«
»Den Geist wovon?«
»Von gegenseitiger Anerkennung und gegenseitigem Verständnis«, erklärte Amanda.
»Und das entnimmst du dem Satz >du bist wohl zugekifft<?« Frank würde es nie verstehen. Kein Wunder, dass sie emotional in der Junior Highschool stecken geblieben war. Und dass Amandas Sozialverhalten so fortgeschritten war.
»Walter wird gleich hier sein«, lenkte Amanda ab. »Wir müssen dich fertig machen.«
Frank setzte sich auf Amandas Rüschenbett und sah zu, wie ihre Schwester die beiden Türen des Wandschranks aufriss. »Warte mal eine Sekunde«, gebot Frank. »Woher weißt du...«
»Ich kann dir nicht erklären, woher ich es weiß«, wich Amanda aus. »Ich habe gesehen, wie Walter und du euch unterhalten habt. Wie du ihn angeschaut hast.« Dabei wühlte sie in ihren Sachen herum. »Ich glaube, einer der Gründe, warum du heute die Konfrontation mit Piper Zorn gesucht hast, war, um dich selbst zu testen. Zorn war ein Ersatz. Eigentlich wolltest du wissen, ob du imstande bist, Clarissa herauszufordern. Wegen Walter.«
»Ich bin zu Zorn gegangen, damit er aufhört, uns zu diffamieren«, erklärte Frank.
»Wenn ich wetten sollte, würde ich sagen, dass Walter Fesseln mag. Den Saum zwischen halber Wade und knapp über dem Knie. Außerdem weißt du genau, dass deine Fesseln perfekt sind. So, damit fangen wir an.« Sie zog ein rotes ärmelloses Cocktailkleid vom Bügel und befahl: »Zieh das mal an.«
Frank zog sich aus. Trotz der Tatsache, dass die beiden Schwestern zusammen in einer Wanne gebadet hatten, bis sie acht und zwölf Jahre alt waren, hasste sie es, sich vor Amanda auszuziehen. Frank kam sich im Vergleich zur tropischen Üppigkeit ihrer Schwester vor wie ein knöchriges Stück verlassener Highway. Amanda respektierte Franks Schamgefühl und hantierte weiter in ihrem Wandschrank herum, während Frank das Kleid in Größe 38 anprobierte.
Es hing an ihr wie ein Sack. Sie musterte sich in Amandas Spiegel, in dem man sich ganz sehen konnte. »Ich schaue aus, als würde ich Verkleiden spielen.«
Amanda tauchte hinter ihr auf. Sie raffte das Kleid in der Taille und befestigte es mit Klemmen. »Nichts für dich«, befand Amanda. »Ich muss noch mal tiefer graben, vielleicht finde ich etwas bei meinen hautengen Klamotten.«
»Zerbrich dir nicht den Kopf. Ich weiß zu schätzen, was du vorhast. Aber das bin nun mal nicht ich. Kleider. Makeup. Das ist nichts für mich.«
Amanda hörte auf, in ihrem Schrank zu stöbern, und setzte sich neben Frank auf das Bett. »Etwas Lippenstift wird dir nicht wehtun, Frank«, versuchte sie es erneut. »Ich dachte, du hast vor nichts Angst.«
Absolut unkorrekt. Frank steckte voller Ängste, sie fürchtete sich vor Krankheit, Tod, Gewalt, besoffenen Fahrern, Vergiftung aus der Mikrowelle, kleinen Räumen und großen Räumen, verdorbenen Speisen, Arterienerweiterung, emotionalen Bindungen, von Kindern ausgelacht und von Hunden angebellt zu werden, Senilität, Einsamkeit. Sie hatte Angst davor, in einem Raum eingesperrt zu sein mit 0,001 Prozent der Bevölkerung, deren IQ besser war als ihrer, ebenso wenig wollte sie mit den restlichen 99,999 Prozent der Bevölkerung eingesperrt werden, die schlechter abschnitten als sie. Die Vorstellung, mit einem Mann verabredet zu sein, ließ ihre Ängste kulminieren: Während des Dinners (verdorbene Speisen) in einem gemütlichen Restaurant (kleiner Raum) könnte sie anfangen, den Mann zu mögen (emotionale Bindung). Dann, wenn sie spätnachts zu ihr nach Hause zurückliefen (drohende Gewalt), könnte er sie zurückweisen (Einsamkeit), und ihr Blutdruck würde in die Höhe schnellen (Arterienerweiterung), woran sie sterben könnte (Tod).
»Es ist eine Qual, wirklich«, sagte Frank.
»Was?«, fragte Amanda.
» Selbsterkenntnis.«
»Irgendwann wird dich mal ein Mann überraschen«, sagte Amanda.
»Woher willst du das wissen?«
»Das fragst du noch?«, antwortete Amanda und klopfte auf ihr drittes Auge.
Frank probierte ein weiteres Kleid an, ein metallisch graues Seidenfutteralkleid mit Spaghettiträgem. Doch darin fühlte sie sich nackt. »Warum glauben Frauen, die von Mode und Schönheit besessen sind, dass Frauen, die das nicht sind, Angst vor Männern haben?«, fragte Frank. »Diese Annahme ist einfach abscheulich. Eine Ohrfeige für die Individualität, Moral. Aufrichtigkeit. Make-up ist eine riesige Enttäuschung. «
»Probieren wir es mal mit einem Spiel«, schlug Amanda vor.
»Wovon redest du?«
»Hör zu. Mach deine Augen zu. Stell dir Walter und dich bei einer Verabredung vor. Sagen wir beim Dinner. Ihr unterhaltet euch, trinkt Wein.« Amanda schaute zu ihrer Schwester, die lächelnd auf dem Bett saß. »Los, Frank.«
»Das wird immer surrealer.«
»Ich versuche, dich in eine andere Stimmung zu versetzen«, erklärte Amanda.
»Verrate mir deine Flirtgeheimnisse«, sagte Frank. Es war ihr peinlich, dass sie so was überhaupt wissen wollte.
»Was bei mir klappt, muss nicht unbedingt bei dir klappen«, antwortete Amanda.
»Hast du gesagt, ich wäre flachbrüstig?«, fragte Frank.
»Glaubst du, dass es deswegen bei mir klappt?«
»Erwachen hügelige Landschaften beim Klang von Musik zum Leben?«
Amanda lachte. »Walter kommt mir nicht so vor, als würde er auf viel Vorbau stehen.«
»Das ist schon mal eine Erleichterung«, sagte Frank. »Gib mir mal das blaue Kleid da.«
»Das da?« Amanda zog ein langärmeliges marineblaues Reyonkleid mit Empire-Taille aus dem Regal. »Das ist zu mädchenhaft für dich.«
»Lass es mich probieren.« Frank schlüpfte in das Kleid. Es war groß, aber es saß. Sie drehte sich um die eigene Achse, so dass das Kleid in die Höhe flog. Das Gefühl gefiel ihr. Der Spiegel schmeichelte. Frank war der Meinung, das Kleid war leger genug, dass es zu ihr passte. Walter sollte auf keinen Fall denken, sie hätte sich ihm zuliebe verkleidet.
Amanda nickte Frank zu. »In das Kleid hätte ich dich nie gesteckt, aber ich muss sagen: Du siehst hinreißend aus.«
Bumm. Ein Besenstiel hämmerte gegen die Decke. Matt brauchte Hilfe. »Zwei Minuten für das Make-up und dann gehen wir«, sagte Amanda.
In nur wenigen Sekunden hatte sie Franks Gesicht mit Grundierung, Rouge, Wimperntusche, Lidschatten und Lippenstift bearbeitet. Fehlte nur noch der letzte Schliff: Amanda arrangierte Franks glatte Haare zu einem französischen Knoten und ließ einige Strähnen locker ins Gesicht fallen. Die Haarklemmen bohrten sich in ihre Kopfhaut. Frank zog schwarze Strümpfe und Doc Martens an. Amanda schlug Stöckelschuhe vor, aber Frank schüttelte den Kopf. Stöckelschuhe wären zu viel des Guten. Sie machte sich sowieso schon genug Gedanken, ob die neue Frisur nicht ein deutliches Beispiel für Wollen-aber-nicht-Können war. Die Schwestern warfen ihre Jacken über und rannten nach unten.
Im Romancing the Bean war wieder der Teufel los. Amanda ging schnurstracks hinter die Theke, um Matt zu helfen. Frank betrat das Café und zog langsam ihren Mantel aus, verlegen wegen ihres Outfits. Sie sah Clarissa am Buffet Hof halten. Einige Frauen standen wie angewurzelt um sie herum und lauschten ihrer wiederholten Erzählung, was sich am Abend zuvor abgespielt hatte — die Feuerwerkskörper, die Polizei. Weiter hinten im Café gab es noch einen größeren Gästeauflauf. Frank spazierte darauf zu und hörte seine Stimme. Walter.
Sie bahnte sich einen Weg zum vorderen Teil der Gruppe. Zirka ein Dutzend Frauen saßen um einen Tisch. Walter saß auch dabei. Er hatte seine Beine, die in Flanellhosen steckten, übergeschlagen und hielt eine Kaffeetasse in seinen langen Fingern. Frank nahm den Faden seines Monologs auf: »Da stand ich nun also Mitte Januar am Strand von Bermuda und hatte nichts weiter an als karierte Shorts und Teva-Sandalen. Die Mädchen trugen alle Bikinis, diese Lycra-Baumwoll-Zweiteiler von J. Crew, wisst ihr, oben pink und unten orange. Sehr sexy.« Walters Augen blickten ausdruckslos auf und wanderten abschätzend über Franks Outfit und wieder zurück. Dann sprach er weiter. Er schien weder erfreut noch enttäuscht: Er hatte sie gar nicht erkannt.
Frank wich vom Tisch zurück, der Atem stockte ihr in der Brust. Sie fasste nicht, dass sie ihre Hoffnungen auf diesen Mann gesetzt hatte, war frustriert und schämte sich. Am liebsten hätte sie sich das Kleid vom Leib gerissen und die Schminke abgewischt. Sie wich zurück, ohne zu sehen, wohin, und stieß mit jemandem zusammen.
Sie drehte sich um und wollte sich entschuldigen. Clarissa stand vor ihr, ein strahlendes Lächeln auf dem Gesicht. »Mensch, Francesca. Wie siehst du denn aus! Ich traue kaum meinen Augen. Was ist der Anlass? Großes Rendezvous?« Bei jedem Wort, das aus Clarissas Mund wie von einem Bogen abgeschossen kam, fühlte sich Frank lächerlicher. Sie dachte, sie müsste sich übergeben.
Stattdessen explodierte sie. »Weißt du was, Clarissa? Du kannst ihn haben. Er gehört dir. Ihr beiden werdet wahnsinnig glücklich werden in eurem Plastikleben.« Die Stimme versagte ihr.
Clarissa klimperte mit den Wimpern. »Was hast du denn?«, fragte sie.
Frank wusste nicht genau, warum sie Clarissa beleidigte. Sicher war es nicht der beste Weg, ihre Freundschaft zu gewinnen. »Wir werden niemals Freunde«, hörte sich Frank sagen, »denn wir haben nichts gemeinsam. Rein gar nichts. Es gibt keine noch so kleine Gemeinsamkeit, nichts, was wir je zusammen machen oder worüber wir uns unterhalten könnten.«
Die schöne Blonde bewahrte die Fassung und blieb ruhig. »Beruhige dich, Francesca«, beschwichtigte Clarissa, ohne jede Spur von Wärme in der Stimme.
»Allmählich frage ich mich, ob dir das Romancing the Bean wirklich am Herzen liegt«, sagte Frank.
Amanda war im Nu an die Seite ihrer Schwester gekommen. Sie flüsterte ihr ins Ohr: »Tief atmen, ein, aus. Ein, aus.«
»Halt die Klappe, Amanda.«
»Sprich nicht so mit ihr«, schnauzte Clarissa.
»Bitte schnauz meine Schwester nicht an«, sagte Amanda zu Clarissa. »Sie kann zu mir sagen, was sie will.«
»Francesca?« Das war Walter. Wegen des Streits hatte sich die Menschenansammlung im hinteren Teil des Cafés aufgelöst.
Frank hörte die Stimme hinter sich, doch es gelang ihr weder sich umzudrehen noch davonzulaufen, so sehr lähmte sie ihre Enttäuschung. Sie blieb regungslos stehen und ließ die Demütigung über sich ergehen.
»Francesca«, wiederholte er, jetzt in ihrem Sichtfeld. »Ich habe dich fast nicht erkannt.«
»Offensichtlich.«
»Du siehst großartig aus.«
»Geh zum Teufel.«
»Was ist los mit dir?«, fragte er.
Aus Angst, in Tränen auszubrechen, schüttelte Frank nur den Kopf.
»Kann ich einen Moment allein mit Francesca sprechen?«, fragte Walter. Die beiden anderen Frauen entfernten sich. Frank wusste, dass die Gäste die Szene, die ihr eigenes Werk war, verfolgten. Sie schloss die Augen und probierte Amandas Vorstelltrick. Sie sah sich vor sich, oben, allein, unter ihrer Decke.
Walter beugte sich nah zu ihr und sprach sanft: »Clarissa weiß, dass ich mich für dich interessiere, Francesca. Sie ist nur eine Freundin.« Er roch nach Seife und Sandelholz.
»Ich könnte mich nie für dich interessieren«, sagte sie.
»Warum?«
Das wusste sie nicht genau. Vor ein paar Minuten war sie Opfer einer Ekelattacke geworden — das war das richtige Wort dafür — , und jetzt konnte sie sich anscheinend nicht mehr daran erinnern, was sie angewidert hatte.
»Du denkst wahrscheinlich, ich bin arrogant und eingebildet«, fuhr er fort. »Und leichtfertig. Habe ich Recht?«
Sie nickte.
Walter nickte ebenfalls. »Aber trotzdem fühlst du dich noch zu mir hingezogen.« Er legte die Hand auf ihre Schulter. Die Berührung ließ ihr das Blut in die Wangen schießen. »Betreffen also deine Zweifel und Ängste wirklich mich oder eher dich selbst?«
Frank fühlte, wie sie in ihrer gewohnten Verteidigungshaltung auf die Frage reagierte, bereit, alles von der Hand zu weisen, hielt dann aber inne. Sie wusste nicht, ob das Kleid schuld daran war, ihr Haar, der Stress der vergangenen Woche, des vergangenen Jahres. Vielleicht war es auch Amandas Einfluss, offener zu sein, weniger aggressiv. Frank merkte, wie sie zuerst nachdachte, bevor sie die Fäuste zeigte. Sie ließ die Möglichkeit zu, dass Walter ihr doch etwas bedeutete.
Nach einer Minute sagte sie: »Ich glaube, ich bin vor mir selbst erschrocken.« Als Walter sie nicht erkannte, hatte ihr ihre Unsicherheit wie ein Dolchstoß den Atem geraubt. Das schmerzte und beschwor ein Déja-vu-Erlebnis herauf: Der Schlag, den Eric ihr versetzt hatte, als er sie und ihre zweijährige Beziehung ganz einfach fallen ließ. An jenem Morgen hatte Eric sie auch angesehen, als hätte er sie noch nie zuvor bemerkt.
Walters Hand lag noch immer auf ihrer Schulter. Die Berührung schmerzte: Ein Teil von ihr hatte lange Zeit geschlafen, und es tat weh, als die Leidenschaft jetzt kribbelnd erwachte.
Sie sah ihn an, seine Koteletten, seine Nase. »Willst du etwas zu Abend essen?«, fragte sie.
»Und ob«, sagte Walter und zog seinen Wollmantel an. Frank schlüpfte in ihre aufgeplusterte Daunenjacke und gemeinsam verließen sie das Café. Amanda und Clarissa, die sie von der Kuchentheke aus beobachteten, würdigten sie keines Blickes. Frank wusste, sie musste nachher noch etwas in Ordnung bringen, immerhin hatte sie beide beleidigt. Für den Moment aber verdrängte sie das schlechte Gewissen. Walter schlug das Heights Café vor und Frank war einverstanden. Sie hakte sich bei ihm ein. Er tätschelte ihr beruhigend die Hand, wie der Freier einer Jungfrau in viktorianischer Zeit. Was hatte ihr Amanda letztens erklärt? Wenn man ein ganzes Jahr lang keinen Sex hatte, wurde man, theoretisch gesehen, wieder zur Jungfrau.
Als sie am Bossert Hotel vorbeikamen, dem nationalen Zentrum der Zeugen Jehovas, zupfte Frank Walter am Mantelärmel. Er schaute die fünfzehn Zentimeter hinunter, die seine Nasenspitze von ihrer trennten. Mutig wie nie zuvor sagte Frank: »Ich habe Lust zu küssen.«
Im Nu überwand Walter die fünfzehn Zentimeter Luft zwischen ihnen und drückte seine Lippen mit ruhiger Sanftheit auf ihre. Dann nahm er ihren Kopf in seine Hände und aß von ihren Lippen und ihrem Mund, als wäre er ein Schiffbrüchiger, Hunger leidend auf einer Insel. Ihre Beine wurden weich wie Pudding, und Walter umfasste ihre Taille, um ihr Halt zu geben. Er löste ihr Haar aus dem Knoten und ließ es über die aufgeplusterte Schulter ihrer Jacke fallen. »Das ist das Mädchen, das ich will«, sagte er. Franks Slip wurde feucht. Eine Horde Zeugen Jehovas kam aus dem Hotel und rief unisono: »Nehmt euch ein Zimmer.«
Mit übermenschlicher Kraft löste Frank ihre Lippen von Walter. Seine Augen strahlten. »Fortsetzung folgt«, sagte sie. Er lächelte. Sie hakten sich unter und liefen weiter.
Sobald sie die Schwelle des Heights Cafés überschritten hatte, schlug Frank eine größere Kälte entgegen als im Freien. Die Kellner und Bedienungen erwiderten ihr Lächeln nicht. Walter führte Frank an die Reservierungstheke. Todd Phearson baute sich auf, so gut er konnte. Frank nickte ihm höflich zu. »Hallo Todd«, sagte sie. »Das Geschäft läuft gut.«
»Francesca«, sagte er frostig. »Es tut mir Leid, aber wir haben keinen Tisch mehr frei.« Er wirkte gereizt.
»Da drüben sind noch zwei freie Tische«, sagte Walter und deutete hinüber.
Todd zuckte die Achseln. »Tut mir Leid, Sir. Warum probieren Sie es nicht in ein paar Stunden noch mal? Vielleicht habe ich dann etwas.«
»Etwas wie ein Gewissen?«, fragte Frank.
»Francesca, fang nicht an...«, sagte Todd.
»Hast du dann so etwas wie ein Gewissen, wenn wir wiederkommen? Wie viele Jahre kenne ich dich jetzt schon? Bei der Beerdigung meiner Eltern hast du geheult. Und jetzt, wo Amanda und ich Schwierigkeiten haben, gibst du mir nicht einmal den schlechtesten Tisch im Haus?«
»Dazu ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt«, zischte er und starrte die Leute hinter ihnen an, die ihm als Ausflucht sehr gelegen kamen. Er beugte sich zu Frank. »Deine Schwester ist schuld. Sie hat schließlich mein Restaurant in ihr schmutziges Leben hineingezogen.«
»Du egoistischer kleiner Gnom«, sagte Frank laut. »Ich verlange einen Tisch und außerdem ein Gratis-Dinner und eine Flasche Champagner.«
Sie hätte genauso gut den Mond verlangen können. Zwei kräftige Kellner setzten sie vor die Tür. Walter sah gut aus und war sexy, aber muskulös war er nicht. Es musste peinlich für ihn sein, in ihrer Gegenwart so unsanft behandelt zu werden. Und Frank fühlte sich dafür verantwortlich. »Gehen wir zu mir«, sagte sie. »Ich mache uns Linguine.«
»Mit Fleischsauce?«, fragte er.
»Und Knoblauchbrot.«
Hand in Hand spazierten sie zu ihrer Wohnung zurück. Sie machten ein Spiel daraus, so am Fenster des Romancing the Bean vorbeizuschleichen, dass Amanda und Clarissa sie nicht sahen. Sobald sie oben angekommen waren, gingen sie in die Küche. Walter setzte sich an den Küchentisch und betrachtete Frank, wie sie einen großen Topf herausnahm, um ihn mit Wasser zu füllen.
»Wohnt ihr hier allein, du und deine Schwester?«, fragte er.
Frank stellte eine Flasche Rotwein auf den Tisch und gab ihm einen Korkenzieher und ein Glas. »Wir haben die Räume von meinen Eltern geerbt. Sie sind vor fast einem Jahr gestorben.«
»Das tut mir wirklich Leid«, sagte er.
»Ja, das war ganz schön schlimm.«
»Sind sie bei einem Unfall ums Leben gekommen?«, fragte Walter.
Frank nickte. Die meisten Leute dachten so. Wenn zwei relativ junge Menschen — ihre Eltern waren Ende fünfzig — zusammen starben, dann bestimmt durch einen Verkehrsunfall. »Eine Verkettung tragischer Umstände«, sagte Frank. Sie sah zu, wie er langsam und vorsichtig Wein in sein Glas goss und an die Lippen setzte. Er schwenkte den Wein nicht im Glas, um die Harmonie zu prüfen. Er roch nicht daran wegen des Jahrgangs und gurgelte den Wein auch nicht in seinem Mund. Er trank einfach. Nach einem Schluck lächelte er und nippte nochmals. Das ist ein angenehmer, vertrauenswürdiger Mann, dachte Frank. Sie hatte bisher kaum über ihre Eltern gesprochen, aber ihm vertraute sie.
»Sie sind hier gestorben«, sagte sie. »In diesem Raum. Sie haben einen Topf Wasser zum Kochen hingestellt, so wie diesen da — ich glaube, es war sogar der — , aber die Zündflamme hat nicht gebrannt. Irgendwie wurden sie abgelenkt, Amanda meint, sie hatten Sex, und haben den Topf vergessen. Ich kann wirklich nicht verstehen, wie man einen Topf auf den Herd stellen und ihn dann vergessen kann. Ich sollte an dem Abend zum Essen kommen, es war an einem Freitag. Aber weil ich zu müde war, sagte ich ab. Dafür habe ich versprochen, am nächsten Abend zu kommen, um es nachzuholen. Und da fand ich sie. Sie saßen beieinander in ihren Stühlen und hatten Steuerformulare und Quittungen zwischen sich aufgeschichtet. Es sah aus wie eine ganz normale Familienszene, abgesehen von dem starken Gasgeruch und der Art, wie ihre Köpfe hingen. Zu diesem Zeitpunkt waren sie schon einen Tag tot. Hätte ich am Abend vorher nicht abgesagt, hätte ich sie gerettet. Nein. Nein. Sag nichts. Das ist eine Tatsache. Ich bin schuld, hatte ein Jahr Zeit, mich an den Gedanken zu gewöhnen.«
Walter stand von seinem Stuhl auf. Er nahm Frank in die Arme und sagte: »Das tut mir so Leid, Francesca.« Ihr Name klang traurig und gefühlvoll, wenn er ihn aussprach. Sie umarmte ihn und ließ sich gegen ihn sinken. Er küsste sie und sie erreichten das Schlafzimmer, ohne dass Frank überhaupt die Chance gehabt hätte, den Herd anzumachen.
Und dann war es vorbei.
Doch bevor es vorbei war, ließen sie sich auf Franks Bett fallen. Angezogen tauschten sie erste Zärtlichkeiten. Frank erschrak über sich selbst, darüber, dass sie sich wie ein Tier behandeln ließ. Er rollte von ihr herunter und sagte: »Mach einen Striptease.«
Sie starb fast vor Befangenheit. »Kann ich nicht.«
»Ich möchte es aber so sehr.« War er jemand, der alles unter Kontrolle haben musste? »Aber wenn du dich nicht wohl dabei fühlst, dann lass es.«
Sie war keine Spezialistin, aber das Kleid als Erstes auszuziehen wäre sicher ein Fehler. Er würde das dehnbare Strumpf-Gummiband sehen — ein Anblick, den man jedem Mann ersparen sollte. Frank setzte sich auf den Bettrand, streifte ihre Strümpfe ab und zeigte in dieser ungünstigen Position so oft wie möglich ihre dünnen Beine. Gott sei Dank hatte sie sich rasiert und trug schöne Unterwäsche — einen gewöhnlichen Baumwollzweiteiler zwar, aber pink. Beeindruckt von ihrem Selbstvertrauen stand sie auf. Sie fixierte Walter und hob den Saum ihres Kleides. Ihre Arme verfingen sich etwas, als sie das Kleid über den Kopf zog. Als sie nichts mehr sah, streckte Walter seine Hände nach ihr aus und umklammerte mit seinen langen Fingern ihre Taille. Er zog sie an sich — während das Kleid noch immer an ihrem Ellbogen hing — und fing an, ihren Bauch zu lecken und zu küssen.
Frank befreite sich und schleuderte das Kleidungsstück quer durch den Raum. Gänsehaut überzog ihren Körper. Sie ließ sich auf ihn herunterziehen. Seine Gürtelschnalle grub sich in ihre Hüfte.
»Autsch«, stöhnte Frank.
Walter schnaufte eine Entschuldigung und befreite sich aus seinen Klamotten. Sein Rücken und seine Brust waren mit hellem, feinem Haar bedeckt. Frank mochte das. Er trug Boxershorts. In den noch verbliebenen Kleidungsteilen küssten sie sich — wie es schien, stundenlang — , bis sie endlich, als sie an einem Punkt heftiger Frustration anlangten, die letzten Kleidungsstücke abstreiften. Frank vergrub ihre Nase in seiner Brust und atmete seinen Duft, seinen Geruch, seine Haut. Zum ersten Mal in ihrem Sexualleben wurde sie zu einem kleinen wilden Tier, von Hunger getrieben und auf der Suche nach einem warmen Platz für die Nacht.
Wieder und wieder schliefen sie miteinander. Frank entdeckte ein neues sexuelles Ich und holte alles nach. Danach überfiel sie tiefster Schlaf.