Immer noch Donnerstag

Amandas Chakren waren stolzgeschwellt. Immerhin hatte sie die letzten beiden Tage damit zugebracht, das ganze Viertel mit Flugblättern zu überschwemmen. Clarissa hatte sie zu ihrem »Poster Girl« ernannt. Doch die Mühe hatte sich offensichtlich gelohnt, denn dank ihres Engagements hatten sich etwa zwei Dutzend Männer für den Mr Coffee-Wettbewerb gemeldet. Aufgrund einer stillschweigenden Übereinkunft über die Anforderungen — groß, athletisch, unter 45 Jahren, Haare auf dem Kopf, aber nicht im Gesicht, schöne Zähne, minimale Intelligenz — schied in etwa die Hälfte des Bewerber-Pools sofort aus.

Amanda fand nur wenige viel versprechend. Der Wettbewerb sollte schon am nächsten Tag stattfinden und Clarissa wollte innerhalb der nächsten Stunde über die fünf Endrundenkandidaten entschieden haben. Sie hatten Nummern vergeben, Stifte und Karteikärtchen. Die Männer wurden gebeten zu warten, bis man sie zu einem Gespräch holte. Kaffee und Plundergebäck waren sowieso im Haus. Die Vorstellung, Männer um die Zwanzig interviewen und unter die Lupe nehmen zu dürfen, stachelte Amandas Sinne an. Das Flair eines Liebesabenteuers — oder wenigstens die Möglichkeit dazu — , gemixt mit dem Aroma von Franks neuer Haus-Mischung und der noch nicht ganz getrockneten Farbe, machte Amanda ganz benommen. Wie sollte sie das schaffen? Nur fünf Männer aus einem Haufen herauszupicken, wenn sie doch an jedem Mann Qualitäten entdeckte: physische, geistige, emotionale und — ganz klar — finanzielle.

»Als Chefin solltest du es vermeiden, dich mit den Kandidaten zu verabreden, Amanda«, gab Clarissa zu bedenken. »Die Kerle müssen für die Kundinnen zu haben sein. Wenn sie dir den ganzen Abend über nachlaufen, wird das nichts.«

»Nur Business. Kein Vergnügen.« Für Amanda war ohnehin alles Business. »Du und Frank, ihr hängt euch so in dieses Geschäft hinein«, sagte sie zu Clarissa. Frank war... Amanda wusste nicht, wo Frank eigentlich steckte, aber bestimmt tat sie etwas Nützliches, daran bestand kein Zweifel.

»Du nicht?«, fragte Clarissa.

»Ich glaube, ich habe keine so klare Motivation«, antwortete Amanda. »Für Frank ist dieses Café absolut lebensnotwendig, etwa von der Bedeutung wie das letzte lebende Familienmitglied, von mir abgesehen. Und letztendlich ist es das ja auch.«

»Das mit euren Eltern tut mir wirklich Leid.«

»Ich gründe meine eigene Familie«, fuhr Amanda fort. »Du hältst mich wahrscheinlich für naiv, aber ich glaube an einen Seelenfreund. Vielleicht ist er sogar jetzt gerade hier. Und vielleicht ist er ja reich genug, um unsere Schulden zu bezahlen. Dann bekommt Frank ihren Laden und ich meinen spirituellen Partner. Und beide wären wir glücklich.«

Clarissa ging die Kandidaten durch. »Verlass dich nicht in allem auf die Männer, Amanda«, sagte sie. »Ich tue es jedenfalls nicht. Nicht dass ich zynisch wäre. Ich will Liebe. Aber ich möchte mir auch Enttäuschungen ersparen, deswegen setze ich mir realistische Ziele und konzentriere mich auf die Arbeit, die ich vor mir habe.«

»Und das soll nicht zynisch sein?«, fragte Amanda. »Du bist doch erst 24.«

»Ich habe mein ganzes Leben lang in New York gelebt, das macht einen älter.«

Amanda, die ebenfalls zeitlebens in den fünf Bezirken gewohnt hatte, musste lachen. Durch Clarissa erfuhr sie eine Menge über eine ihrer echten Schwächen: Sie konnte sich kaum mal auf etwas konzentrieren. Immer war sie schusselig gewesen, leicht abzulenken, stets auf der Suche nach einer neuen Affäre, einem neuen Job oder einer neuen Freundschaft. »Vielleicht habe ich ja Alzheimer«, sagte Amanda.

»Was meinst du?«, fragte Clarissa.

»Ich bewundere dich ehrlich, Clarissa.«

»Ich mag dich auch sehr gern.«

»Wenn das kein erhebender Moment ist!«

»Für eine Umarmung?«, fragte Clarissa.

Amanda gab sich damit zufrieden, dass sie einander frech angrinsten. Ihr Herz flatterte aufgeregt. Würde Clarissa, die ihr an Attraktivität in nichts nachstand, ein echter Freund werden? Ein weiblicher obendrein? Der Gedanke war fast so verlockend wie ein neuer Lover. Und da es gerade darum ging, rief Clarissa »Nummer eins!« in die wartende Menge.

Ein Mann ging auf die beiden Frauen zu, die sich an einen der neuen Formica-Tische gesetzt hatten. Er war jung — knapp über zwanzig — und hatte einen Spitzbart. Amanda flüsterte Clarissa zu: »Lange Nase, Zeichen für ein ehrliches und vertrauenswürdiges Naturell. Lockiges Haar: Er kann störrisch sein, gibt dann aber doch nach.«

Clarissa warf Amanda einen kritischen Blick zu. Anscheinend mochte nicht jeder ihr Spiel, Menschen spontan zu beurteilen. Mach einfach nach, was Clarissa tut, dachte sie, und konzentrier dich auf die bevorstehende Aufgabe: Kandidaten mustern. Oder potentielle Seelenfreunde herausfinden. Und da verschwimmen die Konturen bereits wieder, dachte Amanda.

Der Mann ließ seine Anmeldekarte auf den Tisch fallen und stellte sich vor. Er war nett, süß. Der würde einen knuffigen kleinen Bruder abgeben, dachte Amanda. Clarissa überflog seine Karte. »Pierrepont Street?«, fragte sie. »Das ist eine ganz schön noble Gegend für einen jungen Kerl wie dich.«

»Ich wohne noch bei meinen Eltern«, antwortete er. »Mutter denkt, in ein oder zwei Jahren bin ich alt genug, um einen Job zu finden und auf eigenen Füßen zu stehen.«

»Der Nächste!«, rief Clarissa.

Nummer zwei: »Ich hätte gern gewusst, ob das >so viel Kaffee, wie man trinken kann< heißt, dass man ihn hier trinken muss. Kann ich welchen mit nach Hause nehmen? In einer Thermoskanne? Ich sammle nämlich Thermoskannen. Fünfhundert Stück habe ich schon, sie stammen aus allen Ecken unseres großen Landes.«

Nummer fünf: »Ich hoffe, ich muss für diesen Wettbewerb nichts Doofes machen wie Singen oder Tanzen, denn Singen und Tanzen — nein danke. Das ist was für Schwulis. Sollen sie sich ihren schwulen Musikkram doch wohin stecken.«

Nummer neun: »Ich soll also für die Miezen herhalten. So weit habe ich es kapiert. Ich bin die Hure und ihr seid die Zuhälter. Habe ich Recht? Ihr seid meine Zuhälter, richtig? Das stinkt doch zum Himmel! Was für eine Kuppelaktion! Richtig? Okay, einverstanden. Wo unterschreibe ich?«

Neunzig Minuten später hatten sie bereits 16 Männer wieder hinausbugsiert. »Sind wir zu streng?«, fragte Amanda.

»Solange genug Kandidaten zur Auswahl stehen, können wir uns auch ein richtiges Auswahlverfahren leisten«, antwortete Clarissa. »Nummer 17!«

Amandas Augen wanderten in die Höhe, um Kandidat Nummer 17 zu studieren, der bereits auf dem Weg zu ihrem Tisch war. Der Mann war von großer Statur und hatte kräftige Beine, die ihn zu tragen schienen, wohin er wollte. Seine Bekleidung bestand aus einem schweren Parka über einem ausgeblichenen Flanellshirt, weich gespült von Dutzenden von Waschprozeduren, und dunkelblauen, steifen Jeans. Amanda meinte ein Glitzern und Funkeln in seinen Augen zu entdecken, seine Lippen — fleischig und rot — erinnerten an ein Leuchtfeuer in dem rautenförmigen Gesicht. Es kostete Amanda einige Mühe, ihren Blick von diesen Lippen abzuwenden. »Hallo!«, sagte sie.

Er drückte Amanda seine Karte in die Hand und bettete seine Lippen zu einem Lächeln, so dass sie sich fühlte wie angenagelt und nur ein Glotzen zustande brachte. Clarissa hüstelte höflich und nahm Amanda die Karte aus der Hand.

»Charles Peterson, Spitzname >Chick<. Student für Umweltbiologie an der Columbia-Universität«, las sie vor. »Globetrotter, Bergsteiger, 32 Jahre alt. Bist du für einen Studenten nicht etwas zu alt?«

»Im Sommer nach dem College wollte ich die drei höchsten Berge der westlichen Hemisphäre besteigen«, antwortete er. »Aus dem einmonatigen Sommertrip wurden zehn Jahre. Ich bin erst seit kurzem wieder in Amerika. Davor hielt ich mich längere Zeit in Jamaica auf.« Seine Stimme klang hoch — wie um eine Oktave verschoben, verglichen mit seiner Größe.

»Nimm es uns nicht übel, aber der Wettbewerb ist nur für Heteros«, sagte Clarissa.

»Ihr glaubt, ich bin schwul?« Er lief rot an wie eine Tomate, und Amanda zuckte zusammen, als sie seine Verlegenheit spürte. Dass er schwul sein könnte, war ihr keine Sekunde lang in den Sinn gekommen, und dafür hatte sie nun wirklich einen guten Riecher.

»Wenn du nicht schwul bist, dann beweis es!«, forderte Clarissa ihn auf.

Er visierte die Spitze von Amandas Nase an und sagte: »Wenn du keinen Pulli anhättest, wäre ich schon dabei.« Er meinte ihren pinkfarbenen Mohairpulli mit rundem Halsausschnitt, der ihren rosigen Teint und ihr braunes Haar noch besser zur Geltung brachte. Immer, wenn sie männermordend aussehen wollte, zog Amanda diesen Pulli an: der Inbegriff an Weiblichkeit bei Frauen mit Brüsten, die groß genug, und Haaren, die lang genug waren. Wenn sie ihre Karten richtig ausspielte, war es gut möglich, dass sie später am Abend mit Chick Peterson zusammen den Pulli auszog. Nein, nein, ermahnte sie sich. Kontrolle, Mädchen.

Er sagte: »Wenn ich an einer Frau hinunterwandere, zuckt meine Zunge nie. Die Klitoris ist sehr sensibel, vor allem kurz vor dem Orgasmus. Sie zieht sich immer mehr zurück, je kürzer der Orgasmus bevorsteht. Langes, gleichmäßiges Streicheln mit der Zunge, rauf und runter oder manchmal auch kreisend, das kommt viel besser.«

»Bei mir auch«, sagte Amanda.

»Sei morgen Abend um 19 Uhr wieder hier«, sagte Clarissa. »Herzlichen Glückwunsch. Du bist in der Endrunde.«

Er verließ das Café, und Amanda wünschte, der Parka wäre hinten nicht so lang, damit sie heimlich einen Blick auf sein Hinterteil werfen könnte. Auf der Stelle fing sie an herumzuphantasieren, wann sie ihn wohl wiedersehen würde, was sie dann sagen oder tragen würde. Wie er reagierte, wenn ihr Finger der Länge nach über seinen nackten Arm streichen würde, rauf und runter. Die bloße Vorstellung ließ ihr die Haare auf den Armen zu Berge stehen.

»Komm wieder runter, Amanda«, mahnte Clarissa und boxte sie mit dem Ellbogen in die Rippen. »Denk daran, was ich gesagt habe: keine Verabredungen mit den Kandidaten. Nummer 18.«

Der Nächste war schön, aber ausdruckslos mit einer viereckigen Kinnlade und dunklem, glänzendem Haar. Seine Koteletten retteten ihn gerade noch davor, zu konventionell auszusehen. Er trug einen Anzug und einen Mantel von Hugo Boss, den Amanda befühlte: »Kaschmir«. So ein Mantel kostete über zweitausend Dollar. »Was will ein schicker Typ wie du bei so einem Kaffee-Wettbewerb?«, fragte sie.

»Das ist hier nicht der VH-1 Fashion Award?«, fragte er zurück. Clarissa kicherte, und Amanda fand, dass ihre Reaktion nach mehr klang als nach bloßer Heiterkeit.

Clarissa las die Karte: »Walter Robbins. Alter: 29. Beruf: Dressman für Kataloge.«

»Für welche Kataloge?«, wollte Amanda wissen.

»J. Crew hauptsächlich, aber mein Agent versucht mich bei Eddie Bauer und L. L. Bean unterzubringen.«

»Du kommst mir irgendwie bekannt vor.«

»Hast du einen Typen im Nylonoutfit gesehen, hast du alle gesehen.«

»Mal im Ernst«, sagte Amanda, »du siehst nicht gerade wie jemand aus, der sich tagsüber ins Café setzt.«

Walter Robbins schenkte ihr ein makelloses Lächeln. »Ich stecke gerade zwischen zwei Aufträgen und als eingebildeter Egoist bin ich ständig auf der Suche nach positivem Feedback.«

»Wartest du dort drüben für eine Sekunde?«, forderte Amanda ihn auf. Sie wollte für einen Augenblick ungestört sein, um sich mit Clarissa zu beraten, und sobald er sich außer Hörweite befand, flüsterte Amanda: »Das ist ein Profi.«

»Na und?«, flüsterte Clarissa zurück. »Die Gäste werden ihn lieben.«

»Es ist unfair, einen schrulligen Typen wie Chick Peterson gegen einen Profi-Dressman antreten zu lassen.«

»Amanda, sie kämpfen doch nicht in einer Arena um Leben und Tod.«

Clarissa winkte Walter wieder herüber. »Herzlichen Glückwunsch! Du bist in der Endrunde. Finde dich morgen Abend um 19 Uhr wieder hier ein.« Er lüftete einen imaginären Hut und verschwand.

Es zog sich noch eine Stunde hin, bis auch die letzten drei Kandidaten für den Wettbewerb feststanden: ein bezaubernder 24-jähriger Redaktionsassistent einer Männerzeitschrift, ein vierzigjähriger, frisch geschiedener Bauarbeiter, der seine Gemütslage als »im Augenblick sehr verletzlich« beschrieb sowie ein affektierter Typ mit spitzem Kinn und runder Brille.

Amanda hatte darauf bestanden, dass der Affektierte die Anforderungen erfülle. Es war eine selbstlose Geste, eine Gegenleistung für seine Höflichkeit. Clarissa erklärte sich einverstanden, vermutlich mehr aus Erschöpfung, dachte Amanda, als aus Großherzigkeit.

Gut 24 Stunden später würde das Café wieder eröffnet werden. Der Wettbewerb würde beginnen und der Laden gerettet oder endgültig ruiniert sein. Wie auch immer, Amanda konnte es kaum erwarten, Chick Peterson wiederzusehen.