Kapitel 13

Nicht ganz ein Jahr zuvor war Frank noch an jedem Arbeitstag mit der Linie 2 von ihrer Wohnung in Greenwich Village bis zu ihrem Bürogebäude in Midtown und wieder zurück gefahren. Jetzt war sie eine »B&T-lerin«, jemand, der über eine Brücke oder durch einen Tunnel musste, um nach Manhattan zu gelangen. Frank hatte nie geglaubt, dass die Brooklyner wirklich zu den B&T-lern gehörten, trotz ihrer technischen Voraussetzungen. Aber all ihre ehemaligen Kollegen und Bekannten aus New York City hatten immer so getan, als würde sie auf eine Farm fahren, wenn sie einen Abstecher in den größten der fünf Bezirke erwähnte.

Heutzutage verschlug es sie nur noch selten nach Manhattan. Die Fahrt mit der Linie 2 von Borough Hill in Brooklyn bis zum Times Square weckte Erinnerungen; nicht alle waren unangenehm. Es war kurz vor sieben Uhr und der Zug mit Pendlern nahezu voll besetzt, so dass Frank stehen musste. Sie hielt sich an der Aluminiumstange über ihrem Kopf fest und starrte benommen auf die Reklame an den Abteilwänden. Gehen Sie in den Bronx Zoo, besuchen Sie das Children’s Science Museum, nehmen Sie die ganze Familie mit ins Hayden Planetarium. Keines dieser Ziele hatte etwas mit Franks Leben zu tun. Würde es wahrscheinlich auch nie haben. Sich vorzustellen, verheiratet zu sein und Kinder zu haben, gelang ihr ebenso mühelos, wie sich im Zirkus auf dem Drahtseil laufen zu sehen. Zugegeben, die Drahtseilnummer erschien ihr gegenüber ersterer Vorstellung wie ein Klacks. Frank trat von einem Bein auf das andere und rempelte dabei jemanden hinter sich an. Sie murmelte eine Entschuldigung, und die Frau, die vor ihr saß, grinste spöttisch.

Frank beschloss, sich eine Rede zurechtzulegen. »Clarissa, ich weiß, dass wir uns über Piper Zorns Rolle für das Romancing the Bean-Comeback unterhalten haben. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass das ein großer Fehler ist, der mein Leben zerstören könnte.« Zu paranoid. »Clarissa, ich weiß, es ist dir nicht recht, aber ich musste ihm einen Besuch abstatten, um mir selbst ein Bild zu machen — immerhin ist es mein Geschäft und ich habe ein Vetorecht.« Nein, klingt zu polemisch. Wie wäre es damit: »Zorns Geschreibsel hat mir so geschmeichelt, dass ich ihm persönlich zu seiner Berichterstattung über unser kleines Café gratulieren wollte. Ich hoffe, du bist mir nicht böse, dass ich den Besuch nicht zuerst mit dir abgesprochen habe. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich, ich weiß nicht, gefährlich gefühlt und fand, es passt zu mir.« Die Variante vergaß sie besser sofort wieder, Clarissa würde sie ihr nie abkaufen.

Es frustrierte Frank, dass sie sich bei einer Meinungsverschiedenheit mit Clarissa rechtfertigen musste. Früher hatte sie immer auf ihrer Meinung beharrt, egal, wie überzeugt sie selbst tatsächlich davon war. Was hatte Clarissa nur an sich, dass der Selbstzweifel so an Frank nagte? Frank war persönlich involviert, klar. Wäre ihr die Freundschaft gleichgültig, würde ihr die Zusammenarbeit mit Clarissa sicher leichter fallen.

Das Gespräch mit Piper brauchte sie sich nicht zurechtzulegen, denn sie hatte nichts zu verlieren und würde scharf und schnell wie ein Messer agieren, das wusste sie. Die Büros der New York Post befanden sich am Times Square. Frank verließ die U-Bahn am Broadway, 42nd Street. Früher war das Pressehaus in der South Street, am unteren Ende von Manhattan, gewesen, aber dann waren sie weiter in den Norden gezogen und residierten jetzt neben der New York Times und Condé Nast Publishing (Vogue, Vanity Fair, Mademoiselle und andere). In den vergangenen Jahren hatte sich der Times Square komplett verändert. Als Frank ihn jetzt im frühmorgendlichen Licht sah, war sie überwältigt und zugleich beunruhigt von dem Wandel. Sämtliche Pornotheater waren verschwunden, abgelöst von Broadway-Musical-Produktionen wie König der Löwen und Grease — dabei würden beide Namen großartige Pornotitel abgeben. Kein bisschen Müll, im wörtlichen oder übertragenen Sinne, rollte die Straße entlang. An die Stelle von Fastfood-Läden und Latinokneipen waren Dutzende von touristenfreundlichen Restaurants getreten. Playland — lange Zeit New Yorks heißeste Rotlichtmeile für Kinderprostitution — hatte sich in einen Disney-Geschenkartikel-Shop verwandelt. Klar, jeder normale Mensch würde den Verkauf von Stofftieren einem Kinderstrich vorziehen. Aber Goofys Grimassengesicht, das auf einer der Reklametafeln am Broadway prangte, jagte Frank ebenso einen Schrecken ein, wie ein gütiger, gut gesinnter Clown ein Kleinkind in Angst versetzen konnte. Purer Konsum führte letztlich aber auch nur zu Problemen. Wohin würde jetzt, da der Times Square keimfrei war, abnormes Verhalten ausweichen? Nach Hause und in die Schule.

Auf der anderen Straßenseite entdeckte sie den gigantischen Virgin Megastore. Daneben das All-Star Café. Frank fragte sich, ob die überhaupt wussten, dass es verschiedene Kaffeebohnensorten gab. Ein Moonburst an der Ecke vervollständigte das Bild. Der Anblick bohrte sich wie eine Nadel in Franks hauchdünne und gespannte Membran der Hoffnung, was das Romancing the Bean betraf. Wenn es ihr nicht gelang, den Laden zu erhalten, was hatte sie dann noch? Was konnte sie dann noch als ihr Eigentum beanspruchen? Ohne das Café wäre sie verloren, hätte sie keinen Anker mehr. Vielleicht wäre das Leben leichter, wenn sie sich ein zweites Standbein schaffte. Was könnte das sein? Ein neuer Gedanke drängte sich auf: Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie sie sich an Clarissas Schulter ausweinte, nachdem das Romancing the Bean geschlossen werden musste. Die Blondine strich ihr über das schwarze Haar und sagte: »Mach dir keine Sorgen, Francesca. Ich bin in jeder Hinsicht für dich da.«

Mit diesem bittersüßen Tagtraum war sie in das Redaktionsgebäude des Sensationsblattes gelangt. In der Halle lagen an einem Zeitungsstand alle Zeitungen und Zeitschriften aus, die es gab. Den Blickfang aber bildeten die Stapel des hauseigenen Produkts. Sie suchte Zorn auf dem Wegweiser. Sechzehnter Stock. Da sie keinen Sicherheitsbeamten am Aufzug fand, nahm sie ohne Umstände den nächsten Fahrkorb nach oben.

Die Türen öffneten sich direkt in den Redaktionsräumen. Verglichen mit der relativ ruhigen Halle herrschte in der Nachrichtenredaktion Chaos, denn eine Stadtzeitung kann es sich nicht leisten zu schlafen. Männer und Frauen jeglichen Alters trippelten umher wie aufgezogene Mäuse in Anzügen. Frank hielt sie für Redakteure. Männer und Frauen jeglichen Alters schienen sich gelangweilt die Zeit an ihren Schreibtischen zu vertreiben. Frank hielt sie für Journalisten, die gerade ihre Artikel fertig geschrieben hatten. Die bunte Mischung der Mitarbeiter imponierte ihr, das betraf nicht nur ihre Kleidung und ihr Alter, sondern auch ihre ethnische Zugehörigkeit. In der Welt der Zeitschriften waren die Autoren und Redakteure zu einem Großteil weiße Frauen zwischen fünfundzwanzig und fünfzig. Das war jedenfalls Franks Erfahrung, und sie hatte bei zwei Hochglanzmagazinen für Frauen gearbeitet, bevor sie zu Bookmakers’ Monthly gegangen war. Im Allgemeinen spiegelte das Team einer Zeitschrift seine Leserschaft wider. Zeitungen, besonders die täglich erscheinende Boulevardpresse, mussten über ein heterogenes Team verfügen, um ein breiteres Publikum anzusprechen. Das schien gesünder, weniger eng. Frank gefiel das. Sie sog die Luft ein, als könnte sie damit die Atmosphäre des Raums in sich aufnehmen.

An den Aufzugstüren stieß ein junger Mann gegen sie. Frank bat ihn, ihr die Richtung zu Piper Zorns Schreibtisch zu zeigen. Es schien eine extreme Anstrengung für ihn zu sein, seinen Daumen nach rechts drehen zu müssen. Frank bedankte sich überfreundlich für die gnädige Geste. Sie musste die gleiche Frage noch einige Mal stellen, bevor sie Pipers Schreibtisch in einem Wirrwarr von Computer-Terminals endlich fand. Er stand in einer Ecke der Nachrichtenredaktion. Nicht in einem Eckbüro. Lediglich in die Ecke geschoben, als hätte man ihn fast, aber doch nicht ganz, vergessen. Frank setzte sich in seinen Drehstuhl, um auf ihn zu warten. Währenddessen dachte sie an Clarissa und überlegte, ob sie auch bei Zorn vorbeischauen würde. Frank hoffte nicht, denn auf ein solches Zusammentreffen war sie nicht vorbereitet.

Sie schaute auf die Uhr. Fünfzehn Minuten wartete sie nun schon. Vielleicht kam Zorn heute gar nicht zur Arbeit. Eine halbe Stunde würde sie ihm noch geben. Um die Zeit totzuschlagen, schnüffelte sie etwas auf Zorns Schreibtisch herum. Sie hob einige seiner Notizen auf, aber das Gekritzel war unleserlich. Sie benutzte sein Telefon und wählte ihre eigene Nummer, um die Nachrichten abzuhören. Die erste lautete: »Clarissa hier. Hast du die Post heute Morgen gesehen? Ist das nicht toll? Wir sehen uns dann heute Abend gegen sechs.« Bis dahin würde Clarissa von ihrem Gespräch mit Zorn wissen. Frank war hin- und hergerissen. Sie freute sich darauf, Clarissa wiederzusehen, aber andererseits fürchtete sie sich vor ihrer Verachtung. Ihre Emotionen lenkten sie so ab, dass sie um ein Haar die zweite Nachricht verpasst hätte: »Hi, Francesca. Hier ist Walter. Ich muss immerzu über dich nachdenken. Ich muss dich wiedersehen, so schnell wie möglich. Ich komme heute Abend ins Romancing the Bean. Vielleicht können wir ja zusammen essen? Bis dann.«

Während ihr der Apparat mitteilte, dass es keine weiteren Nachrichten mehr gab, wanderten ihre Augen durch die Redaktion und blieben am Rücken eines Mannes hängen, der an einem Kopiergerät stand. Er hatte einen langen, geraden Rücken und noch längere Beine. Sein Haar hatte die gleiche Farbe wie das von Walter. Als er ihr das Profil zudrehte, sah sie, dass er lange Koteletten hatte. Frank schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war der Mann verschwunden. Unglaublich, was der Geist alles fertig brachte, dachte sie. Sie hatte seine Stimme gehört und sein Bild auf einen Mann mit ähnlichem Aussehen projiziert.

In diesem Moment klingelte Pipers Telefon und Frank folgte einem Reflex und hob ab. Beinahe hätte sie »Barney Greenfield’s« gesagt. Aber bevor sie überhaupt dazu kam, irgendetwas zu sagen, kreischte eine Frauenstimme: »Okay, Zorn. Du bist mir viel Zeit schuldig. Ich will Blumen. Süßigkeiten. Ein Hotelzimmer. Ich will Romantik. Komplimente. Du musst mir alle fünfzehn Sekunden sagen, dass ich toll aussehe. Ich will, dass du deine Augen aufmachst und dass das Licht brennt, wenn du mich küsst. Und sag meinen Namen immer wieder und wieder. Klar?«

»Es tut mir Leid...«, stotterte Frank.

Die Frau unterbrach sie. »Gar nichts tut dir Leid. Du kannst dich da nicht herauswinden. Die gerichtsmedizinischen Befunde über Charles Peterson werden zur Bestätigung gerade noch einmal überprüft. Das erste Resultat hat aber ergeben, dass die Todesursache ein Schlag auf den Kopf war. Aber auch ohne diese Kopfverletzung wäre er binnen einer Stunde gestorben, und zwar an einer Überdosis Koffein. Nach dem Gutachten hätte er, um einen so hohen Koffeinspiegel im Blut zu bekommen, hundert Tassen Kaffee in einer Stunde oder drei Fläschchen Koffeintabletten zu sich nehmen müssen. Die Überdosis hat zu einer völligen Lähmung des Körpers geführt — eine seltene Reaktion auf einen ungewöhnlich hohen Koffeingehalt im Blut. Sobald Peterson tot war, sind seine Muskeln vollkommen erstarrt. Wäre er nicht getötet worden, dann wäre er an Herzstillstand gestorben.« Frank hörte das Klickern von Tasten. »Das ist alles. Ich erwarte, dass du mich heute Abend bei mir zu Hause abholst, um acht. Wenn du mich versetzt, sage ich der Polizei, du hättest die Krankenhausgutachten gestohlen. Und vergiss die Blumen nicht. Schöne Blumen. Wenn du mit Nelken auftauchst, bist du tot.«

Die Frau legte auf. Frank blickte sich um, um sicherzugehen, dass sie nicht beobachtet wurde, und drückte die Tastenkombination, die die Nummer des eben eingegangenen Anrufs wählte. Sie musste der Anruferin erklären, was passiert war, wenn sie sie überhaupt zu Wort kommen ließ. Jemand meldete sich beim ersten Klingelzeichen. Ein Männerstimme sagte: »Leichenschauhaus.« Frank hängte ein.

Was für eine Vielzahl von Neuigkeiten. Zorn hatte also persönlichen Kontakt mit seinen Informanten. Was würde Clarissa dazu sagen, wenn sie wüsste, dass er Informationen gegen Sex tauschte? Was für eine Art Frau war die Dame vom Leichenschauhaus, dass sie Zorn so begehrte? Chick Peterson hatte eine Überdosis Koffein im Blut? Davon hatte Frank noch nie etwas gehört. War es von irgendwelchen Bohnen in ihrem Café gekommen? Sie erinnerte sich an die lila Perlbohnen in ihrer Tasche, die Matt ihr gegeben hatte. Vielleicht waren die tödlich! Es galt eine Menge herauszufinden. Vielleicht würde sie die Bohnen zur Polizei bringen. Chicks letzte Augenblicke mussten grauenhaft gewesen sein: niedergeprügelt zu werden, ohne die Kraft zu haben, sich zu verteidigen. Franks Kopf raste wie ein Computer: hard drive, Processing, downloading. Nun hatte sie also ein weiteres Geheimnis, noch etwas, was Amanda nicht erfahren durfte, dachte Frank, denn ihre Schwester war bereits am Ende ihrer Kräfte. Was würden ihr da die wahren Details von Chicks Tod helfen? Frank musste diese Last, wie so viele andere, alleine tragen. Ärger stieg in ihr hoch, aber Frank, wie immer, schluckte zweimal.

Sobald Zorn den bestätigten Befund von Chicks Tod hätte, würde er mit seiner Attacke auf das Romancing the Bean richtig loslegen und die Geschichte mit den Borgia-Schwestern und dem vergifteten Kaffee wunderbar hochspielen können. Ein Interview mit Frank wäre in dieser Situation nur neues Futter für ihn. Demnach war es das Beste, wenn sie ging. Frank fühlte sich etwas erleichtert, denn jetzt war sie wenigstens um die Auseinandersetzung mit Clarissa herumgekommen. Als sie aufstand, um zu gehen, bemerkte sie ein kleines Bücherregal neben Pipers Schreibtisch. Auf dem ersten Regal schien eine Gesamtausgabe mit Dutzenden von Bänden zu stehen. Sie sah genauer hin. Bei allen schwarz eingebundenen Hardcover-Bänden handelte es sich um die gleiche Ausgabe, einen Roman mit dem Titel Mord am Pier, erschienen in einer der billigsten Mietdruckereien von New York — der Shotgun Press. Der Autor war P. E. Zorn persönlich!

Na so was, dachte Frank. Piper hatte anscheinend selbst einen Kriminalroman geschrieben. Frank zog ein Exemplar aus dem Regal. 450 Seiten dick. Der Text auf dem Rückumschlag beschrieb das Werk als einen »abgebrühten, schwarzen Rückblick auf New York Citys knallharte Tage der großen Schlachter-Ära«. Große Schlachter-Ära? Wann war denn das? Auf dem Umschlag war außerdem eine Besprechung vom Bookmaker’s Monthly abgedruckt: »Ein... Roman mit intensiver... Integrität. Das Buch ist voll von... lebendigen... Charakteren und... schockierender... Gewalt.« Die Auslassungen sagten alles, dachte Frank. Wenn ein Rezensent schrieb: »Ein unglaublich lausiges Buch«, so würde an dieser Stelle auf dem Buchumschlag stehen: »Ein unglaublich[es]... Buch«. Frank konnte nur ahnen, was in der Besprechung tatsächlich stand.

Sie sah sich um — keiner beachtete sie — und schlug die erste Seite des Buches auf: »Kapitel eins: Blutige Piere im Morgengrauen. Die Fleischpacker hackten auf das riesige Schwein ein. Es war noch am Leben, Gott weiß aus welchem Grund. Wenn es erst einmal tot ist, wird dieses Mastschwein gut und gern eine Gefriertruhe füllen, dachte Sammy, der einarmige Axtschwinger, der mit den Gewerkschaften und dem Mob ein Hühnchen zu rupfen hatte. Endlich pumpte das fette Herz des aufgedunsenen Tieres literweise klumpiges Blut aus den klaffenden Wunden in seinem Hals hinaus in den Rinnstein. Paulie wischte sich die Stirn mit seinem von Schweiß und Blut klebrig durchnässten Tuch und sagte zu Sammy: >Besser geht’s nicht.<«

Frank ließ das Buch in ihren Schoß fallen. »O mein Gott.« Das hatte sie schon einmal gelesen. Sie blickte auf den Titel. »Um Himmels willen.«

Ein paar Tage nachdem ihre Eltern gestorben waren, hatte Frank bei Bookmaker’s Monthly gekündigt. Ihr Chef hatte sie gebeten, noch einige Buchbesprechungen zu übernehmen, bevor sie offiziell aufhörte. Er war auf ihre Hilfe angewiesen und außerdem der Meinung, dass es sie vielleicht ein wenig von ihrem Schmerz ablenkte, wenn sie einige neue Romane las. Die Rezensionen, die sie in jener Woche für ihn schrieb, gehörten zum Besten, was Frank je verfasst hatte. Sie fühlte sich freier, als sie sonst je gewesen war, und rezensierte die Bücher, als befände sie sich in einem Vakuum, als ob ihre Kritik nie gelesen werden würde, vor allem nicht von den Autoren. Als sie Pipers Buch damals in die Hände bekam, lautete der Titel Fleischhaus-Mörder. Die Geschichte enthielt so anschauliche und groteske Bilder, dass es einem den Magen umdrehte. Nach der Lektüre einer Passage über das Ausbluten einer Kuh hatte sie sich tatsächlich übergeben müssen. Fleischwölfe, Haken, Hälften von Menschenfleisch. Würste aus Menschenfleisch. Das ganze Buch war so irr und abstoßend, dass der einzige Grund, warum es überhaupt jemand veröffentlichen wollte, darin bestand, dass es schockte. Einen anderen Wert hatte das Buch nicht, wenn man dies als Wert bezeichnen möchte.

Frank schrieb eine vernichtende Kritik, in der sie praktisch dafür plädierte, den Autor hinter Gitter zu bringen. Das war das Letzte, was sie davon hörte. Das Buch war also veröffentlicht worden — sie hielt ja ein Exemplar in der Hand — , doch nie auf eine Bestsellerliste gekommen. Aber das schafften ohnehin nur die wenigsten Bücher.

Sie stellte den Band zurück. Am liebsten wäre sie losgerannt und nie mehr stehen geblieben. Der Fleischhaus-Mann war Piper Zorn. Diese eitrige Pustel von einem Buch war das Produkt seines verdrehten Geistes. Immerhin wusste sie jetzt, warum er sie auf dem Kieker hatte. Eine schlechte Besprechung im Bookmaker’s Monthly war zwar kein Todesurteil, aber durchaus verletzend, vor allem was die Selbstachtung des Autors betraf. Hatten sich alle bösen Mächte der Welt in den vergangenen zwei Wochen gegen sie verschworen? Würde sich ihr erbärmliches Leben denn nie zum Besseren wenden? Frank musste hier weg. Sie stürzte Richtung Aufzug, und sobald sie auf der Straße war, raste sie zur U-Bahn. Zorn war ein gefährlicher Feind — ein Grund mehr, ihm aus dem Weg zu gehen. Sie hoffte inständig, niemand würde ihm erzählen, dass eine der Borgia-Schwestern fast dreißig Minuten lang an seinem Schreibtisch gesessen und sein Telefon abgenommen hatte.

In Sekundenschnelle verschwand Frank in der U-Bahn. Sie musste raus aus Manhattan und zurück in das sichere und gesunde Brooklyn. Sie wäre den Bahnsteig auf und ab gerannt, wäre der Zug nicht sofort gekommen, dank der Rushhour. Und sie wäre im Wagen auf und ab gerannt, wäre das Abteil nicht so voll gewesen. Sie wusste nicht, wohin sie gehen, was sie tun sollte, so aufgedreht war sie. Bis ihr eine glänzende Idee kam. Als der Zug an der 14th Street, Union Square, hielt, stieg sie aus, hastete in großen Sätzen die Stufen hinauf und rannte ostwärts weiter durch die Stadt. Sie bog ab, lief einige Blocks entlang dem Broadway nach Süden und wandte sich einige Straßen weiter nach Osten.

Sie war außer Atem. Ihr Drang nach Bewegung war in der Gegend der Ist Avenue erloschen. Porto Rico, ein Einzelhandelsgeschäft für Kaffee- und Teeimport, hatte noch geschlossen. Frank hämmerte gegen die Tür, bis Brant auf der anderen Seite auftauchte. Er blickte sie durch seine runde John Lennon-Brille an. Sein langes Haar hielt er am Hinterkopf mit einem Stückchen Leder zusammen, er trug Unmengen von geknüpften Armbändern am Handgelenk. Seine Kleidung hätte gut aus den späten Sechzigern stammen können, aber Frank hatte den Verdacht, dass er beim Einkaufen sorgfältig und gewissenhaft nach neuen Sachen suchte, die authentisch aussahen. Er kam aus Seattle, der Heimat des Gourmetkaffees der USA. Vor zehn Jahren hatte Brant versucht, ein Café als Konkurrenz zu Peet’s und Starbucks aufzumachen, doch das Unternehmen endete in einer kläglichen Pleite. Deshalb musste er den Laden wieder schließen und beschloss, nach New York zu gehen, wo die Leute alles taten oder kauften, was sie für cool hielten. Weil er durch die Geschäftspleite in Seattle alles Geld verloren hatte, nahm er einen Job im Porto Rico an und hoffte, irgendwann sein eigenes Café eröffnen zu können.

Doch dazu kam es nie. Nicht dass er deswegen verbittert gewesen wäre. Er schien sich damit zufrieden zu geben, in einem kleinen Laden zu sitzen, Gourmet-Bohnen aus der ganzen Welt zu kaufen und sie an Leute weiterzuverkaufen, die die Qualität zu schätzen wussten. Brant ließ Frank herein und schloss die Tür hinter ihr ab.

»Ist dir der Kaffee ausgegangen?«, fragte er.

Wie jedes Mal, wenn sie hierher kam, wurde Frank von dem Aroma in dem kleinen Shop überwältigt. Der Fußboden stand voll mit Dutzenden von Zwanzig-Pfund-Säcken Kaffee. Es war fast unmöglich, zwischen ihnen umherzulaufen, so eng standen sie. Frank sog den Duft durch die Nase ein und ihre Sorgen lösten sich in Luft auf. Kaffee war für sie wie ein Opiat, Porto Rico ihre Opiumhöhle. Sie streckte ihre Zunge heraus, um den Duft zu schmecken, und rollte ihn in ihrem Mund hin und her.

»Das habe ich gebraucht«, sagte sie. »Welcher Kaffee zieht da gerade?«

Er lächelte. »Ah, darauf kommst nicht einmal du, Francesca.« Er goss ihr eine Tasse Kaffee aus der French Press neben der Kasse ein.

Sie inhalierte. Das Aroma war so köstlich, dass ihr fast die Tränen kamen. Liebevoll nippte sie. Schwer auf der Zunge, weich in der Kehle, herber Nachgeschmack. »Costa Rica«, sagte sie und inhalierte wieder. »Tazzura-Region.« Sie nippte. »Das Gut von Tres Rios.«

Brant schüttelte bewundernd den Kopf. »Ganz nah«, sagte er.

Frank irrte sich nicht. »Dota?«, fragte sie. Ein anderes Tazzura-Gut.

»Genau.«

»Frisch?«

»Könnte nicht frischer sein.«

»Ich nehme fünf Pfund.« Nachdem Brant den richtigen Leinensack auf dem Boden gefunden hatte — Frank fragte sich immer, warum er die Bohnen nicht in luftdicht verpackten Säcken lagerte, denn diese hier waren zwar innen mit Plastik beschichtet, aber nicht sehr gut verschlossen, und Kaffee verlor doch so schnell an Aroma — , schaufelte er das Gewünschte heraus. Während er es abwog, sagte Frank: »Wenn ich etwas für dich habe, worauf du vielleicht nicht kommst, großer Kaffeemeister, bekomme ich dann Prozente auf den Costa Rica?«

»Wenn ich nicht darauf komme, kriegst du ihn umsonst.«

»Das meinst du jetzt aber nicht im Ernst.«

Er lachte. »Ich meine es so, wie ich es sage.«

Sie holte die vietnamesischen lila Bohnen aus der Tasche. Brant schnürte den Fünf-Pfund-Sack Costa Rica zu, bevor er die Bohnen untersuchte. »Ein roher Samen?«, fragte er. »Wenn der illegal eingeschmuggelt worden ist, muss ich dich dem Zoll melden«, scherzte er. Die Zollbeamten am Kennedy Airport zählten nicht gerade zu seinen Freunden. Brant nahm eine Bohne in die Hand und roch daran. »Kann ich?«, fragte er. Sie nickte. Er steckte sie in den Mund.

»Puh«, sagte er, während er kaute. »Auf keinen Fall eine hochwertige Bohne. Sicher Robusta oder Liberica. Perlbohne. Hoher Säuregehalt. Fast kein Aroma, was aber nur heißt, dass sie alt ist.« Frank sah, wie er mit der Zunge im Mund herumfuhr. »Diese Farbe. So etwas habe ich noch nie gesehen. Und ich habe schon fast alles gesehen.« Er schaute sie komisch an. »Woher hast du die?«

»Keine Hinweise.«

»Das ist zwar noch nicht mein offizieller Tipp, aber ich nehme doch stark an, dass dieser Samen von einer hybriden Pflanze stammt und in einer kontrollierten Umgebung geerntet wurde.« Er schluckte.

Frank schüttelte den Kopf. »Auf einem Berg gewachsen. Vermute ich.«

Er fuhr sich über die Lippen, um den Nachgeschmack zu spüren. »Ganz gleich, wo sie gewachsen ist, die Pflanze ist nicht gezogen worden, um eine gut schmeckende Bohne zu gewinnen. Die Bohne ist weit, weit davon entfernt, gut zu schmecken.«

»Was könnte es sonst für einen Grund geben?«, fragte Frank. Für sie bedeutete das Aroma alles.

»Kaffeebohnen sind eine wunderbare natürliche Koffeinquelle. Und diese Bohne gibt schon etwas Kick.« Er nahm noch einen von den lila Samen. »Aber vielleicht komme ich noch drauf. Weißt du wirklich sicher, dass sie nicht in einem Treibhaus geerntet worden sind?«

»Sicher weiß ich gar nichts«, räumte sie ein. »Außer, dass sie importiert wurden. Geschmuggelt oder dergleichen.«

Brant legte die Bohne auf die Serviette zurück. Sie faltete sie wieder zusammen und steckte sie in die Tasche. Der Fünf-Pfund-Sack Costa Rica wartete herrenlos an der Kasse. Frank griff danach. »Nicht so schnell, Francesca«, sagte er. »Ich habe ja noch gar keinen Tipp abgegeben.«

»Keine Eile.«

»Das ist schon eine knifflige Angelegenheit. Aber durch eine negative Auslese anhand von Geschmack und Farbe und der Tatsache, dass es ein Hybride ist, werde ich einen Tipp wagen...«

Sie klopfte mit dem Fuß auf den Boden. »Ich warte.«

»Vietnam«, sagte er endlich.

Franks Augen mussten hervorgetreten sein. Brant lachte. »Deinem Gesichtsausdruck entnehme ich, dass ich den Betrag eintippen kann?«, sagte er. Sie nickte benommen. Er ging hinter seinen Tresen und tippte auf ein paar Knöpfe. »Ich gebe dir zehn Prozent, wenn du mir sagst, wie du an diese Bohnen herangekommen bist«, schlug er vor.

»Ich will nur fünf Prozent, wenn du mir sagst, wie du es erraten hast.«

Brant lächelte selbstgefällig. »Wie ich gesagt habe. Durch negative Auslese. Sie sind anders als alle Bohnen, die ich gesehen habe. Und ich habe noch nie eine vietnamesische Bohne zu Gesicht bekommen.«

»Ich wusste nicht einmal, dass es welche gibt.«

»Ein ganz neues Kaffee-Experiment«, sagte er. »Südvietnam hat das Klima und ausreichend Höhe für Robusta-Pflanzen. Ein paar emsige Vietnamesen haben beschlossen, eine Ernte in den Gebirgsausläufern in der Gegend von Buon Ma Thuot zu forcieren. Ich las einen Artikel darüber im Bean Counters.« Ein Mitteilungs-Fachblatt für Großhändler. »Ich dachte, dass es sich nicht lohnen würde, die Bohnen zu importieren — ich handele nicht mit Robusta-Bohnen. Außerdem dauert es mindestens ein paar Dutzend Jahre, bis die Ernte gut wird. Die Vietnamesen produzieren zirka 65 000 Tonnen Bohnen pro Jahr — das ist fast nichts. Und davon wird kaum etwas exportiert.«

Klar, Chicks Koffeinüberdosis kam vom Kauen dieser rohen Samen. Hatte Matt nicht gesagt, er habe eine Bohne nach der anderen gegessen? Brant würde eine Bohne wohl nichts anhaben, dachte Frank. Das hoffte sie jedenfalls.

»Wie bist du zu diesen Bohnen gekommen?«, wiederholte er seine Frage. Frank schüttelte den Kopf. Sie musste nervös wirken. »Es ist also ein Geheimnis«, sagte er. »Ich frage nicht mehr. Aber sag mir nur noch eines: Hat es irgendetwas mit diesem ganzen Kaffeekiller-Quatsch in der Post zu tun?«

»Kann die knappe Antwort lauten: >Nicht ganz<?«, gab sie zurück. Frank wollte ihm nicht die ganze Geschichte erzählen. Sie war immer noch aufgewühlt von den Ereignissen der letzten Tage, musste erst einmal zur Ruhe kommen und Klarheit gewinnen. Es kam ihr — zum ersten Mal — der Gedanke, dass sie den Laden und sich selbst vielleicht nur dann retten konnte, wenn sie aus der ganzen Sache schlau werden würde. Vielleicht war der Schlamassel ein Test, ob sie Glück, Sicherheit oder sonst etwas überhaupt verdiente.

»Wenn ich etwas für dich tun kann, auch wenn du nur jemanden zum Reden brauchst...«

»Eigentlich, Brant«, gestand sie, »weiß ich gar nicht genau, was ich erzählen sollte. Ich weiß nur, dass ich in ganz schön schlechter Verfassung bin. Mich haben Drohungen und einige Dinge, die ich in Erfahrung gebracht habe, ziemlich mitgenommen. Jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll oder wem ich vertrauen kann. Das klingt verrückt, ich weiß. Aber ich bin so derart durch die Mangel gedreht worden in der letzten Zeit, von einer Emotion in die nächste geschleudert. Ich fühle mich wie... na ja, ich glaube, ich fühle mich so, wie sich Amanda sonst fühlt.« Das musste Frank zugeben: Ein emotional aufgeheiztes Leben war erschöpfend.

»Weißt du, Francesca, ich habe vermutet, dass alles, was in der Zeitung steht, Mist ist«, sagte Brant. »Und ich bin sicher, dass jeder Artikel in jeder Zeitung Mist ist. Denk doch bloß an die Quellen. Wer füttert die Journalisten mit Storys? Publizisten? Politiker? Die Obrigkeit?« Er malte Anführungszeichen in die Luft, als er Obrigkeit sagte. »Ich für meinen Teil glaube, dass kein einziger Satz, der von den Medien veröffentlicht wird, nicht schon von der Voreingenommenheit eines Einzelnen besudelt ist, entweder der des Journalisten, der Zeitung oder der Quelle. Und wenn das von Bedeutung sein sollte, sage ich das Gleiche zu jedem, der hier hereinkommt und nach dir fragt.« Brant lächelte. »Nimm den Kaffee«, sagte er. »Auf Kosten des Hauses.«

»Dank dir, Brant«, sagte Frank verlegen.

»Keine Ursache.« Er gab ihr den Sack. »Und wenn du das nächste Mal einen Kaffee-Engpass hast, warte gefälligst bis zur Geschäftszeit.«