Kapitel 14

Unterdessen musste sich Amanda in der Montague Street mit der jungen Bedienung auseinander setzen. »Was um alles in der Welt machst du da?«, fragte das Mädchen. Ihr Lippenstiftmund grinste süffisant.

»Das hat nichts mit dir zu tun«, sagte Amanda.

»Ich rufe die Bullen.«

Amanda liebte die Art, wie sie es gesagt hatte. Es klang mehr nach Mutprobe als nach Drohung. Amanda betrachtete ihr frisches Gesicht, das mit Sommersprossen und Pickeln bedeckt war. Die noch vorstehenden Wangenknochen. Sie war so temperamentvoll wie ein couragiertes Lämmchen. Am liebsten hätte Amanda sich neben sie gesetzt und ihr alles von Männern, Verabredungen und dem College erzählt. Stattdessen sagte sie: »Hau ab und le...«

Noch nie zuvor war ihr dieser Ausdruck über die Lippen gekommen, obwohl sie in Brooklyn aufgewachsen war. Mit flattrigen Fingern hielt sie sich den Mund zu, um zusätzlichen Unverschämtheiten vorzubeugen. Amanda hatte keine Ahnung, was über sie gekommen war. Sie überlegte, ob der Stress der vergangenen Tage daran schuld war. Aber ein Teil von ihr — irgendwo ganz weit unten, um das neunte Chakra herum — hatte den unfeinen Ausdruck sogar genossen. Er war ihr auf der Zunge zergangen wie Sahne.

Doch Amanda hatte sich noch nie mit einem einmaligen Genuss zufrieden gegeben. »Und noch etwas«, fügte sie deshalb hinzu. »Fick dich ins Knie.«

»Fick dich doch selber«, gab der Teenager zurück. Das Mädchen schnitt eine Grimasse und marschierte beleidigt die Straße hinunter, um, wie Amanda vermutete, die Polizei zu holen. Nützen würde ihr das allerdings wenig, denn die war ja eben erst von hier weggefahren.

Obwohl Amanda kosmische Energie und deren sich ständig ändernden Fluss studierte, versetzten Schwankungen ihrer eigenen Psyche sie in einen Schockzustand. Würde sie jetzt in Zukunft etwa regelmäßig Fremde beschimpfen? Wie unangenehm, denn eigentlich betrachtete sie sich selbst als jemanden, der Sonnenschein und Licht ausstrahlte, und nicht als eine Person, die negative Wellen aussandte. Hatte sie das von Frank übernommen? Schrien die Yang-Kräfte in ihrer Seele danach, rausgelassen zu werden? Amanda suchte die Antwort in ihrem Herzen. Sie schloss die Augen — sicher sah es komisch aus, wie sie da im Mantel am Bordstein stand und meditierte — , konzentrierte sich auf ihr lebendigstes Organ und lauschte aufmerksam, ob es ihr nicht eine verschlüsselte Botschaft mitteilen würde. Nach ein paar Minuten des Pochens fühlte sie sich schläfrig und entschied, dass ihre Intuition nach einem Nickerchen klarer funktionieren würde.

Anstatt ins Romancing the Bean zu gehen, lief Amanda hinauf in die Wohnung und ließ sich auf ihr kuscheliges Bett fallen. In der vergangenen Nacht hatte sie nur wenige Stunden geschlafen und die Ereignisse des Tages hatten sie bereits erschöpft. Sie schloss die Augen und ließ sich treiben.

Klingeling. Das Telefon. Klingeling. Noch einmal, und der Anrufbeantworter in der Küche würde sich einschalten. Im Halbschlaf hörte sie das Klicken und das Geräusch der zurückspulenden Kassette. Dann gab der Apparat die neuen Nachrichten wieder. Es musste Frank sein. Amanda kickte ihre Schlafzimmertür zu. Sie wollte nicht hören, wer angerufen hatte. Der Schlaf war ihr wichtiger. Dringender. Alles andere war egal. Atmen. Ein oder aus. Oder Wellen. Zusammenbrechen. An... einem... Strand.

Jemand hämmerte mit einem Besenstiel unter ihr gegen die Decke. Matt musste gesehen haben, wie sie sich nach oben schlich. Man konnte nicht von ihm verlangen, dass er den Laden allein schmiss, dachte Amanda mit schlechtem Gewissen. Im Bewusstsein, dass es ihr nicht vom Schicksal bestimmt war, sich jetzt auszuruhen, erhob Amanda sich langsam vom Bett. Sie zog saubere Jeans an, einen weichen roten Mohairpulli und braune Collegeschuhe und setzte sich damit bewusst über die Arbeitskleidung hinweg. Ihre kastanienbraunen Haare drehte sie zu einem lockeren Pferdeschwanz und zog einige Locken heraus, so dass sie sich wie zufällig auf ihrem Rücken kringelten. Sie legte etwas Make-up auf und parfümierte sich. Für das bisschen Schlaf, den sie bekommen hatte, sah sie ganz manierlich aus, fand Amanda. Zwar könnte Wechselgeld herausgeben ein Problem werden mit ihrem vernebelten Gehirn, aber immerhin war sie nett anzusehen.

Als sie nach unten kam, war das Romancing the Bean zum Bersten voll mit Gästen. Es war zirka acht Uhr. Sie sah, wie einige Leute an der Tür des Moonburst zogen, sie verschlossen vorfanden und sich dann ins Romancing the Bean hineindrückten. Amanda bahnte sich mit den Ellbogen einen Weg durch die Massen, indem sie ungeduldige Männer und Frauen zur Seite stieß, die Dollarscheine schwenkten und nach ihrem morgendlichen Koffein lechzten. Hinter der Theke brüllte Matt in die Menge: »Keine Cappuccini oder Espressi!«

»Matt! Ich bin da«, schrie Amanda. Armer Matt. Er sah schon ganz geschafft aus: Mit der einen Hand schenkte er Kaffee ein, mit der anderen gab er Wechselgeld heraus. Und nebenbei kämpfte er darum, dass immer frisch aufgebrühter Kaffee in den Behältern bereitstand. Dutzende von Leuten riefen ihm gleichzeitig ihre Bestellung zu. Es herrschte das reine Chaos. Matt tippte nicht einmal mehr die Beträge in die Kasse ein. Er nahm das Geld und warf es einfach hinein. Der Boden zu seinen Füßen war mit Dollarscheinen und Münzen übersät.

Amanda sprang sofort mitten in das Treiben hinein und kümmerte sich um die Bestellungen. Adrenalin schoss durch ihre Adern. Sie verwandelte sich in einen herumwirbelnden Kaffee-Derwisch, der einschenkte, Kaffeebohnen mahlte und aufbrühte. Wenn sie zu weit von der Kasse entfernt stand, ließ sie das Geld einfach hinter der Theke auf den Boden fallen und bückte sich, um Wechselgeld zusammenzusuchen. Das war das beste Training, das sie seit Monaten hatte. Zwei gute Stunden arbeiteten Amanda und Matt unter Hochdruck. Sobald der größte Andrang etwas nachließ, schaufelten sie Hände voller glänzender Münzen vom Boden in die Kasse. Amanda zählte über vierhundert Eindollarscheine und mindestens noch einmal hundert Dollar in Münzen — der lukrativste Vormittag überhaupt. So viel zur Wirksamkeit schlechter Publicity — dass das Moonburst geschlossen war, tat auch nicht weh. Amanda fragte sich, was die Amerikaner von ihren vierhundertfünfzig Millionen Tassen frisch gebrühten Kaffees pro Tag abhalten könnte.

Matt hatte sich hinter der Kuchenvitrine auf den Rücken gelegt und hielt das Gesicht mit den Händen bedeckt. Er stöhnte leicht. »Matt, du warst wunderbar«, sagte Amanda. »Ich bin so stolz auf unsere Arbeit und würde nachher gerne mit dir essen gehen. Kein Rendezvous. Nur, es wäre nett, einmal etwas zusammen zu machen.« Sie lächelte breit. »Aber wenn du zu müde bist, verstehe ich das.«

Matt rappelte sich langsam wieder auf. »Müde? Über den Zustand bin ich längst hinaus. Ich glaube, ich befinde mich in einem Lauf-Koma. Aber«, fügte er hinzu, »selbst in geschwächtem Zustand gefällt mir der Gedanke, mit dir etwas zu unternehmen.«

Amanda grinste von einer Ringellocke zur anderen. »Großartig, Matt!« Sie umarmte ihn. »Es gibt nicht mehr viel zu erledigen, bevor wir gehen können. Die Kekse und Muffins müssen nachgefüllt werden, der Mülleimer geleert, die Servietten- und Milchbehälter aufgefüllt werden. Theke und Tische müssen abgewischt und der Boden gekehrt werden.« Amanda gab ihm einen platonischen Kuss auf die Lippen. »Du bist einfach der Beste.«

Matt schüttelte den Kopf. »Ich bin kein sabbernder Kleiner, der einen Steifen hat. Ich bin mir ganz und gar bewusst, dass du von mir verlangst, die ganze Arbeit im Tausch für deine volle Aufmerksamkeit zu erledigen.«

»Und?«, fragte Amanda.

»Und...« Er machte eine Pause. »Und die ist mir gewiss.« Murrend griff er zum Besen.

Amanda, die erfolgreiche Cafébesitzerin, zählte geschäftig das Geld, putzte die Kaffeemaschinen, brühte frischen Kaffee auf und sang mit ihrer knatternden, unmelodischen Stimme.

Die alte Lucy, ihr treuer Gast, kam zum üblichen Zehn-Uhr-Kaffee vorbei. Amanda war erleichtert, dass die kürzli-che Auseinandersetzung mit Frank die Dame nicht für immer vertrieben hatte. Lucy machte es sich an einem frisch abgewischten Tisch bequem und holte einen Block und einige Stifte aus ihrer wuchtigen Umhängetasche. Amanda ging mit einer Tasse Brasilia und einem Weizenkleie-Muffin zu ihr hinüber. Lucy schaute kaum auf. Amanda, die als Gastgeberin eine gute Figur machen wollte, fragte: »Was ist mit Ihrem PowerBook passiert?«

»Das habe ich auf jemandes Kopf zertrümmert.«

Lucy war ein Spaßvogel. »Worüber schreiben Sie heute?«, fragte Amanda.

Lucys Augen, die ihren Glanz verloren hatten, huschten über die bildschöne Besitzerin. Nachdem sie sich anscheinend zu der Ansicht durchgerungen hatte, dass Amanda sich nicht über sie lustig machte, antwortete sie: »Das Gleiche wie immer. Werteverfall in der amerikanischen Gesellschaft, insbesondere über den Untergang der Familie. Arbeitende Mütter, abwesende Väter.«

»Sind schon Leserbriefe von Ihnen veröffentlicht worden?«, erkundigte sich Amanda höflich.

»Glauben Sie, ich würde Stunden um Stunden damit zubringen, sie zu schreiben, wenn keiner sie lesen würde? Sie halten mich wohl für eine verrückte Alte?«, erwiderte Lucy scharf.

»Sie haben also Erfolg gehabt.«

»Sie haben genauso viel Köpfchen wie Ihr Vater.« Amandas und Franks Vater war das emotionale, weniger das intellektuelle Zentrum der Familie gewesen.

»Wo, wenn ich fragen darf, sind sie veröffentlicht worden?«, fragte Amanda weiter.

Lucy war von der Frage verblüfft. Amanda überlegte, wie oft jemand Lucy wohl eines zweiten Blickes würdigte oder sie um etwas anderes bat, als aus dem Weg zu gehen. Lucy griff nach ihrer Umhängetasche, zog ein kleines Fotoalbum heraus und ließ es auf den Tisch platschen. Amanda öffnete es. Auf jeder Seite klebte eine verkleinerte Kopie einer Zeitungs- oder Zeitschriften-Leserbriefseite. Jedes Miniaturblatt passte genau in das Fotoalbum. Aber es war unmöglich, den Text zu entziffern. Amanda schielte darauf und hielt dabei das Album einige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. Irgendwo auf jeder Seite erkannte sie in einer winzigen Zeile den Vornamen Lucy. Der Nachname war ein langer, verschwommener Fleck. Sah aus, als finge er mit P an.

»The Iowa Register, Plains News, The Podunkian, Jacksonville Monitor. Beeindruckend«, sagte Amanda. Lucy musste Massen damit erreicht haben, dachte sie.

Die alte Dame riss ihr das Album aus der Hand. »Beeindruckend, was? Ich habe den spöttischen Unterton in Ihrer Stimme herausgehört. Ich komme nicht hier herein, um mich von einer Hure wie Ihnen beleidigen zu lassen. Sie haben diesen Ort in ein Bordell verwandelt, mit diesen ordinären pinkfarbenen Wänden.«

»Das ist kein ordinäres Pink. Das ist Erdbeer-Chiffon«, gab Amanda zurück.

»Nennen Sie es, wie Sie mögen, ich weiß, was es ist.«

Amanda spürte, wie sich zwischen ihren Wangen einige auserlesene Worte ansammelten. Aber sie machte den Mund nicht auf. Unverschämtheiten gegenüber Teenagern waren eine Sache, aber eine alte Dame wie Lucy würde sie nie beleidigen. Das wäre grausam. Amanda ließ Lucy mit ihrem Block und ihrem Kaffee allein. Matt war fast fertig mit Aufwischen.

In diesem Moment kam Frank zur Tür herein und mit ihr ein kalter Luftzug. Amanda sah ihr zu, wie sie den Reißverschluss ihrer aufgeplusterten Jacke, die an ein Michelin-Männchen erinnerte, aufmachte und sich schnaufend an den Fenstertisch setzte. Die Sache mit Zorn ist nicht gut verlaufen, dachte Amanda. Sie bereitete eine Tasse Oaxoxoa für ihre Schwester zu und brachte sie ihr.

»Setz dich«, sagte Frank.

»War es schlimm?«, fragte Amanda und zog sich einen Stuhl heran.

»Er ist nicht da gewesen.«

»Du siehst mitgenommen aus.«

»Ich habe den ganzen Vormittag verplempert.«

Amanda wusste, dass Frank ihr nicht alles erzählte. »Ich habe Benji getroffen. Er war gerade dabei, etwas gesprächiger zu werden. Da ist die Polizei aufgetaucht und hat ihn festgenommen.«

Frank horchte auf. »Weswegen? Ist unausstehliche Süffi-sanz ein Verbrechen?«

»Ein Zeuge beschuldigt ihn, Chick getötet zu haben«, sagte Amanda.

Franks Stirn geriet in Bewegung. »Ist das hilfreich oder hinderlich für deinen Heilungsprozess?«

Amanda war sich nicht sicher, ob Frank wirklich besorgt war oder ob sie nur fragte, weil sie sie ärgern wollte. »Weder noch«, antwortete Amanda. »Jetzt tut es mir Leid um Benji und Chick.« Amanda musste daran denken, als was Benji sich seinem Freund in Vietnam gegenüber ausgegeben hatte: als hohes Tier im Imperium des Moonburst. »Ich glaube keine Sekunde, dass Benji jemanden töten könnte. Er ist doch wirklich zu bedauern, oder?«, fragte Amanda.

Die ältere Schwester blies den Dampf von ihrem Oaxoxoa. »Dein Mitgefühl kennt wirklich keine Grenzen.«

Von der anderen Seite des Raumes rief Matt: »Kann mir mal einer helfen?« Er stand auf einem Stuhl und versuchte, fünf Ein-Pfund-Säcke mit ganzen Kaffeebohnen von einem hohen Regal herunterzuhieven.

»Sekunde«, antwortete Amanda. Sie hob den Sack Costa Rica auf, den Frank mitgebracht hatte. »Du warst im Porto Rico?«, fragte ihre Schwester.

»Brant hat bestätigt, dass die Bohnen aus Vietnam kommen.«

Jetzt konnte Amanda die Tatsachen nicht mehr abstreiten. »Du weißt, was das heißt«, sagte sie. »Chick hat mich angelogen.« Nach Amandas Vorschriften war eine Lüge, jegliche Lüge, ein Schlag in die Magengrube der Liebe. Und so früh in ihrer Beziehung. Praktisch von dem Augenblick an, als sie sich kennen gelernt hatten. Das Schlimmste war, dass die Lüge anscheinend absolut nutzlos gewesen war. Er hatte gesagt, er sei in Jamaica gewesen, war aber tatsächlich in Vietnam gewesen. Wen interessierte das? Warum log er wegen so etwas Unbedeutendem?

Sichtlich in Bedrängnis rief Matt vom anderen Ende des Raumes: »Ich brauche etwas mehr Hilfe!«

Frank stand auf und nahm den Sack Costa Rica mit. Sie befreite Matt von seiner Last und reihte die frischen Säcke mit den ganzen Bohnen auf der Theke auf. Amanda sah zu, wie Frank in jeden Sack einzeln hineinroch, um die Frische und den Kick zu prüfen.

Matt sprang vom Stuhl hinunter, wischte sich die Hände an seinem T-Shirt ab und sagte: »Ich würde gern Mittagspause machen.«

»Geh nur«, sagte Frank.

Matt lächelte. »Amanda, kommst du?«

Frank zog die Augenbrauen hoch und Amanda spürte einen Hauch von Verlegenheit. »Ich werde schon meine Frau stehen«, bemerkte Frank.

»Gib mir zehn Minuten«, sagte Amanda zu Matt. Sie musste ihr Make-up auffrischen. »Wir treffen uns vor der Tür.«

Bis sie fertig war, war Matt zum Supermarkt und wieder zurück gelaufen. Er hielt eine Tüte voller Lebensmittel im Arm.

»Folge mir«, sagte er.

Die beiden liefen in den Januar-Vormittag hinaus. Nur einige Passanten erkannten Amanda. Zu ihrer großen Erleichterung deutete niemand auf sie und es wechselte auch keiner schreiend auf die andere Straßenseite. Sie liefen die Montague Street geradeaus hinunter bis zum East River.

»Wohin gehen wir?« Amanda fror bitterlich. Ihr Mantel war nicht warm genug für das eisige Wetter, aber dafür sehr schick.

»Da wären wir«, sagte Matt.

Sie standen am Eingang zur Brooklyn Heights-Promenade, vor der George Washington/Battle of Long Island-Gedächtnistafel. »Ich dachte, es wäre nett, draußen zu essen«, erklärte Matt.

»Im Freien?«, fragte sie. »Wie romantisch.«

»Machst du dich über mich lustig?«

Amanda fürchtete, ihn wirklich verletzt zu haben. »Die Schiffe sehen schön aus«, sagte sie. Ein paar Frachtschiffe trieben den East River hinunter, direkt unter dem wunderschönen Stahlseilkreuzgitter der Brooklyn Bridge hindurch. Die Sonnenstrahlen spiegelten sich auf dem Wasser und den fünfzigstöckigen Hochhaustürmen der Wall Street aus Glas und Stahl auf der anderen Seite des Flusses. Die Promenade im Winter. Kein Lärm. Keine stinkenden, überquellenden Abfalleimer. Keine Apple Tours-Busse, die Abgase in die Luft bliesen und deutsche Touristen in kurzen Hosen ausspuckten. Nur frische Luft, ein atemberaubender Blick und Frieden. »Wenn wir uns in die Sonne setzen können, bin ich einverstanden.«

»Wir können uns ja aneinander kuscheln und gegenseitig wärmen.«

»Vergiss es«, warnte sie ihn.

»Amanda, warum glaubst du, dass jeder Mann, der mit dir Zeit verbringen will, darauf aus ist, dich nackt zu kriegen?«, fragte er.

»Bist du das etwa nicht?«

»Nein. Bin ich nicht.«

»Gut.« Diese Art Lüge akzeptierte Amanda. Matt schwindelte ja nicht eine ganze Geschichte über sich zusammen, wie Chick es getan hatte. Sie betrachtete die Sonne auf dem Wasser und überlegte erneut, was sie Chick schuldig war. Musste sie immer noch mehr über einen Mann herausfinden, der sie vorsätzlich daran hindern wollte, ihn kennen zu lernen? Sollte sie seinen Wunsch, zu Lebzeiten mysteriös zu bleiben, respektieren oder weiterhin versuchen, der Wahrheit auf den Grund zu gehen?

»Setzen wir uns hin und essen?«, fragte Matt. »Ich sterbe vor Hunger.«

Auf der Hälfte der Promenade setzten sie sich auf eine Bank, die in der Sonne stand. Amanda sah nach Westen Richtung New Jersey mit Blick auf die Freiheitsstatue. »Avocado«, sagte Matt, zog etwas ovales Grünes aus seiner Einkaufstüte und legte die fettige Frucht zwischen sie auf die Bank. Dann holte er Stück für Stück aus der Tüte. »Italienisches Weißbrot. Brie. Plastikmesser. Brooklyn Lager. Senf. Mixed Pickles. Zitronensaft. Mint Milanos.«

Die Auswahl war reizend. »Veganer?«

»Nein«, sagte er, während er in den Käse schnitt. »Mir ist Struktur wichtiger als Geschmack — das hängt mit meinem fehlenden Geruchssinn zusammen — und die Struktur von Fleisch finde ich abstoßend. Hast du schon einmal in ein großes texanisches Rippchen mit all dem schwabbeligen, schmierigen Fett gebissen? Abscheulich.«

Amanda betrachtete ihn. Matt wäre nicht für den Mr Coffee-Wettbewerb in Frage gekommen. Er war süß und sah etwas schäbig aus, dachte sie, wie ein Hund mit kurzen, zotteligen Haaren und großen Augen. Sie war nur fünf Jahre älter als er, aber seine Anti-Regierungstiraden ließen ihn noch jünger wirken.

»Kannst du mir jetzt erklären, was du eigentlich mit deinem anarchistischen Nomadending bezweckst?«, fragte Amanda, während Matt in ein Pickle schnitt.

Er reichte ihr ein Stück Brot mit Brie auf der einen und zerdrückter Avocado auf der anderen Seite. »Senf und Mixed Pickles für den Käse, Zitronensaft für die Avocado«, instruierte er sie. »Für mich gibt es zwei Arten zu leben: Entweder man zieht am Seil von jemand anderem oder man zieht am eigenen. Ich habe mich dafür entschieden, mein eigener Herr zu sein.«

Amanda biss in die Seite mit dem Brie. Sie spürte, wie ihr Körper augenblicklich auf das Essen reagierte — sie musste hungriger gewesen sein, als sie gedacht hatte. Zwischen zwei Bissen sagte sie: »Selbst wenn man dabei auf einem dreckigen Boden in einem Keller schlafen muss.«

»Vor allem dann.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Doch, Amanda«, sagte er. »Ich weiß, dass die Vorstellung, primitiv zu leben, nichts für dich ist, aber du folgst deinem Herzen, egal, wo du bist und was du tust.«

Amanda aß in aller Ruhe ihren Lunch auf. In Matt hatte sie einen richtigen Verehrer. Vielleicht würde er einen Klub gründen. Seine Einschätzung schmeichelte ihr. Was aber ihre Anständigkeit betraf, war sie sich nicht so sicher wie er, vor allem, nachdem sie Benjis Schlüssel in den Gully geworfen und dem Mädchen gesagt hatte, sie solle sich ins Knie ficken. War es das, was sie sich unter Liebe und Verständnis vorstellte, zwei ihrer wichtigsten Prinzipien?

»Kennst du den Kerl dahinten?«, fragte Matt und deutete über Amandas Schulter. Sie drehte sich um und sah einen Mann, der nur wenige Meter entfernt am Geländer der Promenade lehnte. Nachdem sie ihn erkannt hatte, stand sie auf. Als Paul McCartney sah, dass sie ihn entdeckt hatte, wollte er losstürzen.

»Paul, warte!«, schrie sie ihm nach.

Matt sprang von der Bank auf und rannte Paul hinterher. Er war drahtig und schnell genug, um den Barkeeper vom Heights Café zu erwischen, bevor er allzu weit entfernt war. Amanda rannte hinter den beiden her. Matt packte Paul um die Taille und warf ihn gegen das schmiedeeiserne Schutzgeländer, das entlang der Promenade verlief.

»Immer mit der Ruhe, Matt!«, beschwichtigte Amanda, und zu Paul gewandt sagte sie: »Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich weiß, was du für mich empfindest, ich weiß von deiner heimlichen Liebe zu mir. Wir sollten offen miteinander reden.«

Paul blickte sie an, als hätte sie nicht mehr alle Tassen im Schrank. »Lass mich los«, bellte er Matt an. Der wiederum blickte zu Amanda, als warte er auf Instruktionen.

»Ich weiß alles, Paul«, sagte sie. »Sylvia hat mir gesagt, dass du seit Jahren heimlich in mich verliebt bist. Wenn ich zurückdenke, fallen mir Hinweise ein. Ich will, dass du das weißt — auch wenn es wehtun könnte — , ich glaube nicht, dass das zwischen uns funktioniert hätte, Paul, selbst wenn du frei gewesen wärst. Ich meine, du solltest es noch einmal mit Sylvia probieren. Schon wegen der Mädchen.«

»Wovon sprichst du eigentlich?«, fragte Paul, der immer noch mit Matt kämpfte. »Ich bin nicht in dich verliebt.«

»Du hattest keinen Nervenzusammenbruch am Samstagmorgen, als die Post mit mir auf der Titelseite erschienen ist? Dein Chef Todd Phearson und Sylvia haben mir persönlich erzählt, dass du außer dir warst, als du das gesehen hast.«

Paul fing an, so stark zu husten, dass Amanda dachte, er müsste sich übergeben. »Er hat dich beobachtet, Amanda. Ich habe ihn heute vor dem Laden gesehen«, sagte Matt.

»Ich bin dir nicht gefolgt!«, protestierte Paul.

»Dann ist es ein Zufall«, sagte Matt.

»Ich wohne hier in der Nähe.« Paul begann heftig zu niesen. Da keiner von ihnen ein Taschentuch hatte, wischte er sich die Nase am Ärmel ab. Amanda versuchte, seine Stirn zu fühlen, um zu sehen, ob er Fieber hatte. Doch er wehrte sie ab: »Komm nicht in meine Nähe!«

»Tut dir meine Berührung weh wegen deiner heimlichen Liebe?« Sie war etwas pikiert, dass er behauptete, nichts für sie zu empfinden.

Paul stöhnte. »Sylvia hat gelogen. Ich liebe dich nicht. Ich hasse dich. Ich hasse dich für das, was du meinem Leben angetan hast. Und vor allem hasse ich diesen... diesen jugendlichen Delinquenten.«

Matt gefiel die Beleidigung gar nicht. »Du folgst uns besser nicht mehr, sonst beschmiere ich dein Haus mit Graffiti.«

»Du und dieser Idiot sind ein >uns<?«, fragte Paul. »Du angelst dir einen Versager nach dem anderen.«

»Der Versager bist du, Dreckskerl«, bellte Matt.

»Ich versuche doch nur, dir zu helfen, Paul«, sagte Amanda.

»Erstick doch an deiner Hilfsbereitschaft«, erwiderte er. Mit unvermuteter Energie gab er Matt einen Tritt und rannte über die Promenade davon. Amanda lief ihm nach, stolperte aber über eine Steinplatte. Als sie sich wieder aufgerappelt hatte, war er verschwunden.

Matt stand direkt hinter ihr. »Er ist noch nicht weit gekommen. Los.«

»Nein«, sagte sie und legte Matt eine Hand auf den Arm. »Lass ihn. Ich besuche ihn nachher zu Hause.« Sie liefen zur Bank zurück, um den Lunch einzupacken. Der Appetit war ihr vergangen.

»Sag bloß nicht, dass er dir die Stimmung verdorben hat«, sagte Matt.

»Glaubst du, Paul hat das so gemeint, als er sagte, er würde mich hassen? Ich weiß, Liebe und Hass liegen nahe beieinander. Er wirkte so böse. Und erschrocken.«

»Das mit der heimlichen Liebe kaufe ich ihm nicht ab«, antwortete Matt.

»Warum nicht?«

»Niemand könnte heimlich in dich verliebt sein«, fuhr er fort. »Niemand könnte so etwas für sich behalten. Er müsste dir sagen, was er fühlt.« Plötzlich — und unbeholfen — stürzte sich Matt auf Amanda und nahm sie in die Arme. Sie spürte seinen Atem an ihrem Ohr, als er sie zu küssen versuchte.

Danach ließ er sie wieder los. Amanda taumelte einige Schritte zurück und er grinste, halb schuldbewusst, halb verlegen. Die Sonne strahlte von seinen winterlich weißen Wangen zurück. »Ich mag dich, Matt«, sagte sie. »Du bist leidenschaftlich. Du hast Ideen. Aber fass mich nie wieder so an.«

»Ich krieg dich schon noch. Das kannst du mir glauben«, sagte Matt.