62
Abandawe
»Ihr nehmt am besten die Gouverneurs-Pinasse.
Keine Sorge, das Schiff ist seetüchtig.« Grey wühlte in der
Schublade seines Schreibtischs. »Ich schreibe eine Anweisung für
die Hafenarbeiter, daß ihr dazu berechtigt seid.«
»Aye, das Schiff kommt uns gerade recht - Jareds
Artemis möchte ich lieber nicht aufs Spiel setzen -, aber
ich halte es für besser, wenn wir sie stehlen.« Jamie hatte die
Stirn gerunzelt. »Ich möchte nicht, daß du in diese Sache
hineingezogen wirst; schließlich hast du schon Sorgen genug.«
Grey lächelte unglücklich. »Sorgen? Ja, so kann man
es nennen - vier Plantagensitze abgebrannt und mehr als zweihundert
Sklaven geflüchtet, Gott weiß, wohin. Doch ich bezweifele, daß
unter diesen Umständen noch irgend jemand auf meinen
gesellschaftlichen Umgang achtet. Die ganze Insel hat Angst vor den
Maroons und dem Chinesen. Da fällt ein einfacher Schmuggler
nicht weiter ins Gewicht.«
»Wie tröstlich für mich«, entgegnete Jamie trocken.
»Trotzdem, wir stehlen das Schiff. Wenn man uns festnimmt, hast du
von mir weder gehört noch mich je zu Gesicht bekommen, aye?«
Grey starrte ihn mit einer Mischung aus
Belustigung, Furcht und Wut an.
»Ist das dein Ernst?«, fragte er schließlich. »Soll
ich zusehen, wie du gefangen und dann aufgeknüpft wirst, und dabei
schweigen - aus Angst um meinen guten Ruf? Um Himmels willen,
Jamie, für wen hältst du mich?«
Jamies Lippen zuckten.
»Für meinen Freund, John«, sagte er. »Und wenn ich
deine Freundschaft - und dein verdammtes Boot - annehme, darf ich
dir
wohl auch einen Dienst erweisen. Also, kein Wort darüber, in
Ordnung?«
»Gut«, erklärte der Gouverneur, nachdem er
geschlagen die Schultern hatte sinken lassen. »Aber dann tu mir
bitte auch den Gefallen und laß dich nicht erwischen.«
Um sein Lächeln zu verbergen, strich sich Jamie mit
den Fingern über die Lippen.
»Ich versuche mein Bestes, John.«
Müde ließ sich der Gouverneur auf seinen Stuhl
sinken. Unter seinen Augen zeichneten sich graue Ringe ab, und sein
sonst so makelloses Leinenhemd war zerknittert. Wahrscheinlich
hatte er sich seit dem letzten Tag nicht mehr umgezogen.
»Gut. Wohin du willst, weiß ich nicht, und ich
sollte es wohl besser auch nicht erfahren. Aber wenn möglich, halte
dich auf der Route nördlich von Antigua. Ich habe heute morgen ein
Schiff dorthin geschickt und um so viele Männer gebeten, wie sie
erübrigen können. Spätestens übermorgen müßten sie von dort
aufbrechen, um den Hafen und die Stadt vor marodierenden
Maroons zu schützen, sollte es zu einer offenen Rebellion
kommen.«
Als ich Jamies Blick auffing, zog ich fragend die
Augenbraue hoch. Doch er schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. Von
dem Aufstand am Yallah und den entkommenen Sklaven hatten wir dem
Gouverneur erzählt, denn inzwischen mußte er auch von anderen davon
gehört haben. Doch was wir später am Abend in unserem Versteck in
der kleinen Bucht gesehen hatten, behielten wir lieber für
uns.
Der Fluß hatte dunkel wie Onyx dagelegen; nur ein
blasser Schimmer schien von der breiten Wasserfläche aufzusteigen.
Da wir sie kommen hörten, hatten wir ausreichend Zeit gehabt, uns
zu verstecken. Trommeln wurden geschlagen, und ein wüstes
Stimmengewirr hallte durch das Tal, als die Bruja, getrieben
von der Strömung, an uns vorbeizog. Die Leichen der Piraten lagen
zweifellos flußaufwärts zwischen den Jasminbüschen und
Zedern.
Die Sklaven vom Yallah waren nicht in die Berge
Jamaikas gezogen, sondern aufs offene Meer, wahrscheinlich um sich
zu Bouassas Anhängern auf Hispaniola zu gesellen. Die Bewohner
Kingstons hatten also von den geflüchteten Sklaven nichts zu
befürchten - doch für uns war es günstiger, wenn sich die
Königliche
Marine auf Jamaika konzentrierte statt auf Hispaniola - unser
Ziel.
Jamie erhob sich zum Gehen, aber Grey hielt ihn
zurück.
»Warte! Brauchst du keine sichere Unterkunft für
deine… für Mrs. Fraser?« Er hielt den Blick starr auf Jamie
gerichtet. »Mir wäre es eine Ehre, wenn du sie meinem Schutz
anvertrauen würdest. Sie könnte bis zu deiner Rückkehr hier im
Gouverneurspalast bleiben. Niemand würde ihr ein Haar krümmen -
oder überhaupt erfahren, daß sie hier ist.«
Jamie zögerte, sah jedoch keine Möglichkeit, seine
Ablehnung sanfter zu formulieren.
»Sie muß mit mir kommen, John«, sagte er. »Eine
andere Möglichkeit gibt es nicht.«
Grey musterte mich mit flackerndem Blick und wandte
sich dann gleich wieder ab. Doch der Ausdruck von Eifersucht war
mir nicht entgangen. Er tat mir leid, aber ich konnte ihm nicht
helfen.
»Ja«, sagte er, während er schwer schluckte. »Ich
verstehe.«
Jamie streckte ihm die Hand entgegen. Grey zögerte
kurz, aber dann nahm er sie.
»Viel Glück, Jamie«, sagte er mit heiserer Stimme.
»Gott sei mit dir.«
Fergus war nicht so leicht zu überzeugen.
Hartnäckig bestand er darauf, mit uns zu reisen, brachte ein
Argument nach dem anderen vor und wurde richtig wütend, als er
hörte, daß wir die schottischen Schmuggler zu unseren Begleitern
erkoren hatten.
»Diese Leute wollen Sie mitnehmen, und ich soll
hierbleiben?« Deutlich stand ihm die Empörung ins Gesicht
geschrieben.
»Genau«, entgegnete Jamie fest. »Denn die
Schmuggler sind Witwer oder Junggesellen. Du aber mußt an deine
Frau denken.« Er wies auf Marsali, die die Auseinandersetzung mit
angstverzerrtem Gesicht verfolgte. »Als ich dachte, sie sei zu jung
zum Heiraten, hatte ich mich getäuscht. Aber eins weiß ich gewiß:
Sie ist zu jung, um Witwe zu werden.« Jamie wandte sich ab, und die
Sache war erledigt.
In tiefdunkler Nacht setzten wir auf Greys zehn
Meter langer Pinasse die Segel. Zurück blieben zwei Schauermänner,
gefesselt
und geknebelt und in einem Bootshaus versteckt. Zwar war unser
Einmaster größer als das Fischerboot, mit dem wir den Yallah
hinaufgefahren waren, doch ob sie den Namen Schiff verdiente,
darüber konnte man streiten.
Aber immerhin schien sie seetüchtig, und schon bald
hatten wir den Hafen von Kingston hinter uns gelassen. Eine frische
Abendbrise trieb uns in Richtung Hispaniola.
Die Schmuggler hatten alle Arbeiten unter sich
aufgeteilt, so daß sich Jamie, Stern und ich auf einer der langen
Bänke vor der Reling ausruhen konnten. Wir schwatzten über dieses
und jenes, verfielen jedoch nach kurzer Zeit in Schweigen und
hingen unseren Gedanken nach.
Jamie, der wiederholt gähnte, gab schließlich
meinem Drängen nach, streckte sich auf der Bank aus und bettete den
Kopf in meinen Schoß. Ich hingegen war zu angespannt, um an
Schlafen auch nur denken zu können.
Stern blieb gleichfalls wach. Er hatte die Hände
hinter dem Kopf verschränkt und sah in den Himmel.
»Die Luft ist feucht heute abend«, sagte er,
während er mit dem Kinn auf die silberne Mondsichel wies. »Sehen
Sie den Dunst, der den Mond umgibt? Vielleicht kriegen wir noch vor
Morgengrauen Regen. Das wäre recht ungewöhnlich für diese
Jahreszeit.«
Das Wetter schien mir als Thema unverfänglich
genug, um meine aufgepeitschten Nerven zu beruhigen. Ich strich
Jamie über die dicken, weichen Haare.
»Wirklich?« fragte ich. »Manchmal scheint es mir,
Sie und Jamie könnten vom Himmel ablesen, wie das Wetter wird. Ich
kenne nur den Spruch: ›Morgenrot, schlecht Wetter droht‹.«
Stern lachte. »Demnach müßten wir bis zum Morgen
warten, um zu wissen, was der Tag uns bringt. Aber
erstaunlicherweise sind diese Bauernregeln oft ausgesprochen
präzise. Natürlich liegen dem Ganzen wissenschaftliche Prinzipien
wie Lichtbrechung und Luftfeuchtigkeit zugrunde.«
Ich hob das Kinn, so daß mir die Brise das
schweißnasse Haar im Nacken aufwirbelte.
»Und was ist mit den unerklärlichen Phänomenen? Dem
Übernatürlichen?« fragte ich. »Mit den Dingen, auf die sich die
wissenschaftlichen Gesetze nicht anwenden lassen?« Ich bin
Wissenschaftler
, hörte ich ihn in Gedanken wieder sagen, wobei sein leichter
Akzent die Sachlichkeit nur noch zu verstärken schien. Ich
glaube nicht an Geister.
»Welche Phänomene zum Beispiel?«
»Tja…« Ich überlegte fieberhaft, stützte mich dann
aber auf die Liste der Dinge, die Geillis selbst angeführt hatte.
»Menschen mit blutenden Stigmata, Astralwanderung, Visionen,
übernatürliche Manifestationen - also alles, was mit dem Verstand
nicht erklärt werden kann.«
Stern grunzte und machte es sich auf der Bank neben
mir bequemer.
»Meiner Meinung nach hat die Wissenschaft lediglich
die Aufgabe zu beobachten, nach der Ursache zu suchen, wenn sie zu
finden ist. Wir dürfen nie vergessen, daß es in der Welt viele
Dinge gibt, die wir nicht erklären können - aber nicht, weil es
keine Erklärung gibt, sondern weil wir zu wenig wissen, um sie zu
finden. Es steht der Wissenschaft nicht an, auf einer Erklärung zu
beharren - sie soll beobachten und hoffen, daß sich die Erklärung
einstellt.«
»Die Wissenschaft kann das vielleicht leisten«,
wandte ich ein, »aber wir Menschen sind dazu nicht fähig. Es liegt
in unserer Natur, daß wir nach einer Erklärung verlangen.«
»Das stimmt.« Offensichtlich erwärmte er sich immer
mehr für unser Thema, denn er lehnte sich zurück und faltete wie
ein Lehrer die Hände über seinem kleinen Bäuchlein. »Aus diesem
Grund formuliert ein Wissenschaftler Hypothesen, also Vorschläge,
wie ein beobachtetes Phänomen zu erklären sein könnte. Aber eine
Hypothese darf auf keinen Fall mit einer Erklärung oder gar einem
Beweis verwechselt werden.
Ich habe viele Dinge gesehen, die man als
außerordentlich bezeichnen könnte. Fische, die vom Himmel fallen,
zum Beispiel - alle von der gleichen Art und Größe. Mitten auf dem
trockenen Land tauchen sie plötzlich am wolkenlosen Himmel auf und
fallen herunter. Es scheint, als gäbe es dafür keine logische
Erklärung, und dennoch - dürfen wir dieses Ereignis deshalb dem
Einfluß des Übernatürlichen zuschreiben? Ist es auf den ersten
Blick wahrscheinlicher, daß sich eine überirdische Intelligenz
einen Spaß erlaubt oder daß ein für uns nicht sichtbares
meteorologisches Phänomen
- eine Wasserhose, ein Tornado oder Ähnliches - am Werk ist? Aber
eine Frage bleibt: Warum und auf welche Weise entfernt ein
Naturphänomen wie eine Wasserhose wohl bei allen Fischen die Köpfe
- und zwar nur die Köpfe?«
»Haben Sie das mit eigenen Augen gesehen?« fragte
ich ihn fasziniert. Er lachte.
»Da spricht die Wissenschaftlerin aus Ihnen. Die
erste Frage, die jeder Naturforscher stellt: Woher wissen Sie das?
Wer hat das gesehen? Kann ich das auch sehen? Ja, ich war schon
dreimal Augenzeuge bei diesen Vorgängen, obwohl es sich einmal um
Frösche handelte und nicht um Fische.«
»Befanden Sie sich in der Nähe des Meeres oder
eines Sees?«
»Einmal nahe der Küste und ein andermal - bei den
Fröschen - an einem See. Aber beim drittenmal war ich weit im
Landesinneren, etwa zwanzig Meilen vom nächsten Gewässer entfernt.
Und die Fische gehörten zu einer Art, die ich nur in der Tiefsee
gefunden habe. In keinem der Fälle konnte man irgendeine Störung in
den oberen Luftschichten ausmachen - keine Wolken, kein stärkerer
Wind, keine Wasserhose, die sich aus dem Meer in den Himmel erhebt.
Und trotzdem sind die Fische vom Himmel gefallen. Das ist eine
Tatsache, denn ich habe sie selbst gesehen.«
»Und wenn Sie sie nicht gesehen hätten, wäre es
dann keine Tatsache?« fragte ich trocken.
Amüsiert lachte er auf. Jamie wurde unruhig und
murmelte etwas in meinen Schoß.
»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Wie heißt
es in der Bibel? ›Selig sind, die nicht sehen und doch
glauben‹.«
»Ja, so steht es da.«
»Einige Dinge muß man einfach als Tatsache
hinnehmen, ohne die nachweisbare Ursache zu kennen.« Er lachte
wieder auf, diesmal jedoch eher traurig.
Wir schwiegen. Vor uns, über dem Bug des kleinen
Schiffs, zeichnete sich eine Linie ab, die dunkler war als der
Himmel mit seinem purpurroten Schimmer oder das silbriggraue Meer.
Die schwarze Insel Hispaniola rückte langsam, aber stetig
näher.
»Wo haben Sie die Fische ohne Kopf gesehen?« fragte
ich plötzlich. Ich war nicht weiter überrascht, als er mit dem Kopf
in Richtung des Schiffsbugs wies.
»Dort«, sagte er. »Auf diesen Inseln habe ich viele
eigenartige Dinge gesehen, mehr als irgendwo sonst auf der Welt. An
einigen Orten ist das so.«
Ich überlegte, was uns erwarten mochte. Außerdem
betete ich, daß Ismael sich nicht geirrt hatte, daß es Ian war, den
Geillis nach Abandawe mitgenommen hatte. Dann fiel mir etwas ein,
was ich im Laufe der Ereignisse des letzten Tages vergessen
hatte.
»Was ist eigentlich mit den anderen schottischen
Jungen? Ismael sagte, er hätte außer Ian noch elf Burschen gesehen.
Als Sie die Plantage durchsucht haben, sind Sie da auf Spuren von
ihnen gestoßen?«
Er zog scharf die Luft ein und ließ sich Zeit mit
der Antwort. Ich merkte, daß er scharf überlegte, wie er sie
formulieren sollte. Eine Gänsehaut kroch mir über den Rücken.
Die Antwort schließlich kam nicht von Stern,
sondern von Jamie.
»Wir haben die Jungen gefunden«, sagte er leise.
Seine Hand drückte sanft mein Knie. »Frage nicht weiter, Sassenach,
mehr werde ich dir nicht sagen.«
Ich verstand. Demnach hatte Ismael wohl doch recht;
Ian mußte bei Geillis sein, denn sonst wäre Jamie nicht so ruhig.
Ich legte ihm wieder meine Hand auf den Kopf.
»Selig sind«, flüsterte ich, »die nicht
sehen und doch glauben.«
Bei Morgengrauen gingen wir in einer kleinen
namenlosen Bucht an der Nordküste Hispaniolas vor Anker. Der
schmale Strand war von Klippen gesäumt, aber zwischen zwei Felsen
führte ein schmaler, sandiger Pfad ins Innere der Insel.
Jamie trug mich die wenigen Schritte bis zum Ufer,
setzte mich ab und wandte sich dann zu Innes um, der mit einem
Paket Nahrungsvorräten an den Strand stapfte.
»Ich danke dir, a charaid«, sagte er
feierlich. »Hier trennen sich unsere Wege. Mit dem Segen der
Jungfrau Maria treffen wir uns an dieser Stelle in vier Tagen
wieder.«
Enttäuscht verzog der Schmuggler das Gesicht. Dann
fügte er sich in sein Schicksal.
»Aye«, sagte er. »Ich versorge dann unsere
Nußschale hier, bis ihr alle zurückkommt.«
Jamie, der den Gesichtsausdruck richtig gedeutet
hatte, schüttelte lächelnd den Kopf.
»Nicht nur du, Mann! Könnte ich ein paar kräftige
Arme brauchen, wären es deine, die ich wählen würde. Außer dem
Wissenschaftler und meiner Frau bleibt ihr alle hier.«
Innes war überrascht.
»Wir sollen alle hierbleiben? Aber brauchst du uns
denn nicht, Mac Dubh?« Er sah mißtrauisch nach den von blühenden
Ranken überwucherten Felsen. »Nicht gerade eine freundliche
Umgebung, um sie ganz allein, ohne Freunde, zu erkunden.«
»Dann beweise mir deine Freundschaft, indem du hier
auf uns wartest, Duncan«, erklärte Jamie.
Mit sorgenvollem Gesicht sah Innes noch einmal auf
die Klippen. Dann senkte er gehorsam den Kopf. »Wie du es wünschst,
Mac Dubh. Aber du weißt, daß wir dich nicht im Stich lassen
würden.«
Jamie nickte.
»Das weiß ich genau, Duncan«, sagte er leise. Dann
wandte er sich zu ihm um und legte ihm die Hand auf die Schulter.
Innes umarmte ihn und klopfte ihm ungeschickt auf den Rücken.
»Wenn ein Schiff kommt«, sagte Jamie, als er ihn
losließ, »möchte ich, daß ihr euch allein in Sicherheit bringt. Die
Königliche Marine wird die Pinasse suchen. Zwar glaube ich nicht,
daß auf dieser Insel Soldaten auftauchen, wenn aber doch - oder
wenn euch sonst jemand auf den Pelz rückt -, dann setzt auf der
Stelle die Segel.«
»Sollen wir euch auf der Insel zurücklassen? Nein,
du kannst vieles anordnen, Mac Dubh, und ich tue, was du verlangst,
aber das - nein, das nicht.«
Jamie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
Im Licht der aufgehenden Sonne sprühten goldene Funken in seinem
Haar und seinen Bartstoppeln, so daß es aussah, als sei sein
Gesicht von einem Feuerschein umgeben.
»Du tust meiner Frau und mir keinen Gefallen, wenn
du dich umbringen läßt, Duncan. Tu, was ich sage! Wenn ein Schiff
kommt, macht ihr euch auf und davon!« Damit wandte er sich ab, um
sich von den anderen Schotten zu verabschieden.
Innes seufzte tief. Zwar war ihm deutlich
anzusehen, daß er nicht einverstanden war, aber er erhob keine
weiteren Einwände.
Im Dschungel herrschte schwüle Hitze, und wir sprachen kaum ein
Wort, als wir uns ins Landesinnere durchschlugen. Aber es gab
ohnehin nichts zu sagen, da wir vor Stern schlecht von Brianna
sprechen konnten. Außerdem hatten wir uns keinen Plan
zurechtgelegt, denn wir wollten erst sehen, was uns in Abandawe
erwartete. In der Nacht sank ich ein paarmal in einen kurzen
Schlummer. Jedesmal, wenn ich auffuhr, saß Jamie an einen Baum
gelehnt und starrte blicklos ins Feuer.
Am Mittag des zweiten Tages hatten wir unser Ziel
erreicht. Vor uns lag ein steiler Berghang aus grauem Kalkgestein,
der mit dornigen Aloen und hartem Gras bewachsen war. Und auf dem
Gipfel der Anhöhe sah ich sie. Große, aufrecht stehende Steine,
Megalithen, die die Kuppe in einem großen Kreis umsäumten.
»Sie haben mir nicht gesagt, daß es hier einen
Steinkreis gibt«, stöhnte ich. Mir wurde schummrig, und das nicht
wegen der Hitze und der feuchten Luft.
»Ist alles in Ordnung, Mrs. Fraser?« Stern sah mich
besorgt an. Sein kluges, sonnengebräuntes Gesicht hatte sich
gerötet.
»Ja«, antwortete ich. Aber wie immer konnte ich
nicht verbergen, wie mir zumute war, denn im nächsten Augenblick
stand Jamie neben mir und gab mir Halt, indem er mir den Arm um die
Taille legte.
»Um Gottes willen, sieh dich vor, Sassenach«,
murmelte er. »Gib acht, daß du diesen Dingern nicht zu nahe
kommst!«
»Aber wir müssen herausfinden, ob Geillis in der
Nähe ist und Ian mitgebracht hat«, wandte ich ein. »Komm!« Obwohl
mir die Beine nicht gehorchen wollten, zwang ich mich
bergauf.
»Sie wurden vor langer, langer Zeit aufgestellt«,
erklärte Stern, als wir die Kuppe mit ihrem Steinkreis bis auf
wenige Schritte erreicht hatten. »Aber nicht von Sklaven, sondern
von den Ureinwohnern der Insel.«
Der Kreis war leer und wirkte durch und durch
unschuldig. Reglos ragten die mehr als mannshohen Steine in den
Himmel. Jamie beobachtete mich besorgt.
»Hörst du sie, Claire?« fragte er. Stern warf uns
einen verwunderten Blick zu. Ich trat vorsichtig auf den Stein zu,
der mir am nächsten stand.
»Ich bin mir nicht sicher. Es ist nicht der
richtige Tag, weder
ein Sonnen- noch ein Feuerfest. Vielleicht ist der Tunnel nicht
offen.«
Während ich mich an Jamies Hand festhielt, beugte
ich mich lauschend nach vorn. Ein leises Summen schien in der Luft
zu liegen, doch das konnte auch von den Insekten des Dschungels
stammen. Mit äußerster Vorsicht legte ich die Hand auf den
Stein.
Dunkel hörte ich Jamie meinen Namen rufen. Irgendwo
in den Tiefen meines Bewußtseins kämpfte ich mit all meiner Kraft,
richtete ich alle meine Anstrengungen darauf, den Brustkorb zu
heben und zu senken und meine Herzkammern mit Blut zu füllen und
sie zu leeren. In meinen Ohren dröhnte ein pulsierendes Summen, so
tief, daß ich seinen Klang nicht ausmachen konnte. Es ging mir
durch Mark und Bein. Und im ruhigen Zentrum des Chaos erschien
Geillis Abernathy und sah mich lächelnd mit ihren grünen Augen
an.
»Claire!«
Ich lag auf dem Boden. Besorgt beugten sich Jamie
und Lorenz über mich. Meine Wangen waren feucht, und Wasser
tröpfelte mir in den Nacken. Ich blinzelte und bewegte vorsichtig
meine Glieder, ob sie noch da waren.
»Bist du in Ordnung, Sassenach?«
»Ja«, antwortete ich, noch immer verwirrt. »Jamie -
sie ist hier.«
»Wer? Mrs. Abernathy?« Stern sah sich hastig um,
als würde er erwarten, sie auf der Stelle aus Fleisch und Blut vor
sich zu sehen.
»Ich habe sie gesehen - gehört - oder was auch
immer.« Langsam kehrte mein Denkvermögen zurück. »Sie ist hier.
Nicht im Steinkreis, aber in der Nähe.«
»Weißt du auch, wo?« Jamies Hand fuhr zum Dolch.
Beunruhigt blickte er sich nach allen Seiten um.
Ich schüttelte den Kopf und schloß die Augen,
versuchte schaudernd, diesen Moment zurückzurufen, in dem ich sie
gesehen hatte. Ich hatte den Eindruck von kühler Dunkelheit und rot
flackernden Fackeln.
»Ich glaube, sie ist in einer Höhle«, sagte ich zu
meiner eigenen Verwunderung. »Gibt es hier eine, Mr. Stern?«
Er nickte. »Der Eingang ist nicht weit von
hier.«
»Bringen Sie uns hin.« Jamie war bereits auf den
Füßen und zog mich hoch.
»Jamie!« Ich hielt ihn fest.
»Aye?«
»Sie weiß jetzt auch, daß ich hier bin,
Jamie.«
Wie angewurzelt blieb er stehen. Er überlegte und
schluckte schwer. Dann biß er die Zähne zusammen und nickte.
»A Mhìcheal bheannaichte, dìon sinn bho
dheamhainnean«, betete er leise, bevor er sich zum Abhang
umwandte. Heiliger Michael, schütze uns vor den Dämonen.
Im Innern der Höhle herrschte so rabenschwarze
Dunkelheit, daß man nicht einmal die Hand vor Augen sehen konnte.
Um so mehr mußten wir uns vorsehen. Der Boden war uneben. Spitze
Steine knirschten unter unseren Füßen, und der Durchgang war an
manchen Stellen so eng, daß ich mich fragte, wie Geillis hier
durchgekommen war.
Selbst dort, wo der Gang so breit wurde, daß ich
die Wände mit ausgestreckten Händen nicht mehr erreichte, spürte
ich sie. Ganz als wäre ich mit einer anderen Person in eine dunkle
Kammer gesperrt - jemand, der absolut still blieb, aber dessen
Anwesenheit ich fühlte.
Jamie hatte die Hand fest auf meine Schulter
gelegt, und inmitten dieses beängstigenden, kühlen Nichts spürte
ich von ihm eine tröstliche Wärme ausgehen.
»Stimmt die Richtung?« fragte er, als ich anhielt,
um zu verschnaufen. »Ich habe gemerkt, daß zu beiden Seiten Gänge
abzweigen. Wie kannst du wissen, wohin wir uns wenden
müssen?«
»Ich höre es. Ich meine, ich höre sie. Du nicht?«
Nur mit aller Kraft konnte ich meine Gedanken so weit ordnen, daß
ich die Worte herausbrachte. Der Klang war hier anders, nicht das
Bienengesumm vom Craigh na Dun, sondern ein Vibrieren, das wie der
Nachhall einer großen Glocke in der Luft hing. Es fuhr mir durch
alle Glieder.
Jamie umklammerte meinen Arm fester.
»Bleib bei mir«, sagte er. »Sassenach, paß auf, daß
du nicht gepackt wirst! Bleib bei mir!«
Blind streckte ich die Arme nach ihm aus, und er
zog mich an die Brust. Sein Herz klopfte so laut, daß es alles
Dröhnen übertönte.
»Jamie! Halt mich fest, Jamie!« Noch nie in meinem
Leben hatte ich eine derartige Angst empfunden. »Laß mich nicht
los, Jamie! Wenn es mich erfaßt, kann ich nie wieder zurückkommen.
Mit jedem Mal wird es schlimmer. Dann bringt es mich um,
Jamie!«
Er schloß mich so fest in die Arme, daß ich meine
Rippen knacken hörte und nach Luft schnappen mußte. Nach kurzer
Zeit löste er die Umarmung, schob mich sanft zur Seite und ging an
mir vorbei, darauf bedacht, mich keinen Augenblick
loszulassen.
»Ich gehe als erster«, sagte er. »Halte dich an
meinem Gürtel fest. Aber laß ihn um nichts in der Welt wieder
los!«
So tasteten wir uns gemeinsam tiefer in die
Dunkelheit. Stern hatte mit uns kommen wollen, doch das war Jamie
nicht recht gewesen. So wartete er auf uns am Eingang der Höhle.
Wenn wir nicht zurückkommen würden, sollte er an den Strand gehen
und die Verabredung mit Innes und den anderen Schotten
einhalten.
Wenn wir nicht zurückkommen würden…
Jamie merkte wohl, wie sehr meine Hand zitterte,
denn er blieb stehen und zog mich an sich.
»Claire«, sagte er zärtlich, »ich muß dir etwas
sagen.«
Ich wußte bereits, was es war, und wollte ihm den
Mund zuhalten. Doch meine Hand fuhr ins Leere, und er ergriff
sie.
»Wenn wir vor der Wahl stehen, sie oder einer von
uns - dann bin ich das. Das ist dir doch klar, oder?«
Das war es. Wenn Geillis noch dort unten war und
einer von uns sein Leben aufs Spiel setzen mußte, um sie
aufzuhalten, dann würde Jamie das Wagnis eingehen. Denn wenn er
starb und ich allein zurückblieb, konnte ich sie immer noch durch
die Steine verfolgen, er jedoch nicht.
»Ja«, flüsterte ich nach kurzem Schweigen. Und wir
wußten noch etwas anderes: Wenn Geillis bereits zurückgegangen war,
würde ich ihr folgen müssen.
»Dann küß mich, Claire«, flüsterte er. »Du
bedeutest mir mehr als mein Leben, und ich bedauere keinen
Augenblick.«
Ich konnte nichts sagen. Und so küßte ich ihn; erst
seine warme, feste Hand mit den verkrüppelten Fingern und das
sehnige Gelenk des Schwertkämpfers. Und dann seinen Mund, der mir
Zuflucht und Verheißung war, der seinen Schmerz verriet. Tränen
mischten sich in unseren Kuß.
Dann ließ ich ihn los und wandte mich zu dem Gang,
der links von uns abzweigte.
»Hier entlang«, sagte ich. Wir waren kaum zehn
Schritte gegangen, als ich das Licht sah.
Zunächst nur ein blasser Schimmer auf den Felsen an
unserer Seite, doch er genügte, um uns zu zeigen, daß wir unser
Sehvermögen nicht eingebüßt hatten. Plötzlich erblickte ich wieder
schwach meine Hände und Füße vor mir. Trotz meiner Angst schluchzte
ich erleichtert auf. Ich fühlte mich wie ein Gespenst, das
plötzlich Gestalt annimmt, als ich auf das Licht und den leisen
Glockenklang zustolperte.
Jamie schirmte mit seinem breiten Rücken den
helleren Schein vor mir ab, so daß ich nicht sehen konnte, was vor
uns lag. Plötzlich duckte er sich unter einem Durchgang hindurch.
Ich folgte ihm und stand im Licht.
Es war eine Kammer von beachtlicher Größe, deren
rückwärtige Wände von der Dunkelheit verschluckt wurden. Doch in
der Wand vor uns glitzerten und funkelten im Schein einer Fackel
unzählige Mineralien.
»Bist du also gekommen!« Geillis kniete auf dem
Boden und betrachtete angelegentlich den weißen Puder, den sie aus
ihrer geschlossenen Hand in einer Linie auf den Boden rinnen
ließ.
Jamie stöhnte halb erleichtert, halb besorgt auf,
denn er hatte Ian erblickt. Der Junge lag mit gefesselten Händen
und mit einem Knebel im Mund in dem Pentagramm auf der Seite. Neben
ihm sah ich eine Axt. Sie war aus einem schimmernden, dunklen Stein
gefertigt und hatte eine scharfe, blitzende Klinge. Ihren Griff
überzog ein buntes afrikanisches Perlenmuster.
»Bleib, wo du bist, Rotfuchs!« Geillis ließ sich
auf die Knie zurücksinken und zeigte Jamie ihre gebleckten Zähne -
was jedoch keineswegs ein Lachen war. In der Hand hielt sie eine
Pistole; eine zweite steckte in dem Ledergürtel an ihrer
Taille.
Die Augen starr auf Jamie gerichtet, griff sie in
ihre Gürteltasche und zog wieder eine Handvoll Diamantstaub hervor.
Auf ihrer breiten, bleichen Stirn standen Schweißperlen; sie mußte
das Glockendröhnen ebenso deutlich vernehmen wie ich. Mir war
schlecht; der Schweiß rann mir in Strömen den Körper hinab und
durchnäßte meine Kleider.
Das Muster war fast vollendet. Mit der Pistole im
Anschlag zog sie eine dünne, schimmernde Linie, bis das Pentagramm
geschlossen war. In seinem Inneren hatte sie bereits Steine
ausgelegt - funkelnde Farbflecken, die durch eine glitzernde
Quecksilberlinie verbunden waren.
»Gut, das hätten wir!« Erleichtert seufzte sie auf
und strich sich das dichte, helle Haar aus der Stirn. »Endlich
sicher. Der Kristallstaub hält den Lärm von mir fern«, erklärte sie
mir. »Ist er nicht schrecklich?«
Sie tätschelte den gefesselten und geknebelten Ian
auf dem Boden vor ihr, der sie mit vor Schreck aufgerissenen Augen
anstarrte. »Aber, aber, mo chridhe! Keine Angst, gleich hast
du es hinter dir.«
»Nimm die Finger von ihm, du verfluchte Hexe!«
Jamie, der sich nicht zügeln konnte, legte die Hand an den Dolch
und trat einen Schritt nach vorn. Doch als sie die Mündung der
Pistole hochriß, blieb er stehen.
»Du erinnerst mich an deinen Onkel Dougal, a
sionnach«, fuhr sie fort, während sie kokett den Kopf neigte.
»Er war zwar älter als du, als ich ihn kennenlernte, aber du siehst
ihm sehr ähnlich. Ganz als würdest du dir nehmen, was dir gefällt,
ohne Rücksicht auf das, was dir im Wege steht.«
Jamie sah zu Ian, der sich auf dem Boden in seinen
Fesseln wand. Dann richtete er den Blick auf Geillis.
»Ich nehme mir, was mir gehört«, antwortete er
leise.
»Aber jetzt kannst du das nicht, aye?« stellte sie
freundlich fest. »Noch ein Schritt, und ich erschieße dich auf der
Stelle. Ich verschone dich nur, weil du Claire offensichtlich so
teuer bist.« Sie nickte mir zu.
»Ein Leben gegen ein anderes, meine Süße. Du hast
damals am Craigh na Dun versucht, mich zu retten. Und ich habe dich
vor dem Hexenprozeß in Cranesmuir bewahrt. Wir sind quitt, nicht
wahr?«
Geillis nahm eine kleine Flasche, entkorkte sie und
goß den Inhalt sorgfältig über Ians Kleider. Ein starker
Weinbrandgeruch stieg mir in die Nase, und die Fackel flackerte
auf, als die Alkoholwolke sie erreichte. Als Ian sich aufbäumte und
erstickte Protestlaute hervorstieß, trat sie ihm unsanft in die
Rippen.
»Schweig!« fuhr sie ihn an.
»Tu es nicht, Geillis!« rief ich, obwohl ich wußte,
daß ich mit meinen Worten nichts erreichen würde.
»Ich muß«, entgegnete sie ungerührt. »Ich habe
keine andere Wahl. Tut mir leid, daß ich das Mädchen nehmen muß,
aber ich lasse dir den Mann.«
»Welches Mädchen?« Jamie hatte die Hände so fest
zur Faust geballt, daß die Knöchel weiß hervortraten.
»Brianna. So heißt sie doch, nicht wahr?« Geillis
schüttelte den Kopf, so daß ihr das schwere Haar in den Nacken
fiel. »Die letzte aus dem Geschlecht der Lovats.« Sie lächelte mich
an. »Welch ein Glück, daß du zu mir gekommen bist, Claire!
Andernfalls hätte ich es nie erfahren, denn eigentlich heißt es,
daß die Linie der Lovats im neunzehnten Jahrhundert erloschen
ist.«
Entsetzen durchzuckte meinen Körper. Und weil Jamie
die Muskeln anspannte, merkte ich, daß es ihm ebenso erging.
Es mußte sich auch auf seinem Gesicht gezeigt
haben, denn Geillis stieß einen spitzen Schrei aus und sprang nach
hinten. Jamie stürzte sich auf die Frau, aber im gleichen
Augenblick feuerte sie die Pistole ab. Sein Kopf wurde nach hinten
gerissen, und sein Körper zuckte. Dann brach er, die Arme noch
immer nach ihr ausgestreckt, zusammen. Schlaff sank er auf eine der
Linien des glitzernden Pentagramms. Von Ian kam ein ersticktes
Stöhnen.
Den Schrei, der in meiner Kehle aufstieg, spürte
ich mehr, als daß ich ihn hörte. Ich weiß nicht, welches Wort mir
entfuhr, aber zumindest hatte es den Effekt, daß Geillis verdutzt
zu mir herumwirbelte.
Als Brianna zwei Jahre alt war, hatte ein
unachtsamer Autofahrer meinen Wagen an der Seite, auf der sie saß,
gestreift. Ich brachte mein Auto zum Stehen, sah, daß sie auf ihrem
Rücksitz unverletzt war, und stieg aus. Ich ging zu dem anderen
Wagen, der noch ein Stück weitergerollt war.
Der Fahrer war ein Mann in den Dreißigern, groß und
kräftig, und dem Anschein nach davon überzeugt, daß es nichts auf
der Welt gab, mit dem er nicht fertig werden konnte. Aber als er
mich kommen sah, kurbelte er hastig sein Fenster hoch und sank auf
seinem Sitz in sich zusammen.
Ich war mir keiner Wut oder sonst eines Gefühls
bewußt. Statt dessen wußte ich mit hundertprozentiger Gewißheit,
daß ich sein
Fenster mit der Hand zerschlagen konnte - und auch würde -, um ihn
aus dem Auto zu zerren. Und er wußte das auch.
Weiter hatte ich damals nicht gedacht. Das war auch
nicht nötig, denn gleich darauf traf ein Streifenwagen ein, und ich
gewann meine Fassung zurück. Dann begann ich zu zittern. Den
Ausdruck auf dem Gesicht jenes Mannes werde ich jedoch nie
vergessen.
Ein Feuer spendet nicht besonders viel Licht, aber
es hätte vollkommene Dunkelheit herrschen müssen, um nicht zu
erkennen, daß Geillis jetzt ebenjenen Ausdruck zur Schau trug.
Plötzlich war ihr bewußt geworden, was ihr bevorstand.
Sie riß ihre zweite Pistole aus dem Gürtel und
legte sie auf mich an. Zwar sah ich die dunkle Mündung auf mich
gerichtet, doch es kümmerte mich nicht. Gleich darauf donnerte der
Knall durch die Höhle und wurde hundertfach zurückgeworfen. Doch
ich hatte mich bereits fallen lassen und die Axt aufgehoben.
Überdeutlich spürte ich den Lederschaft mit seinem
rotgelben Zickzackmuster in meiner Hand.
Hinter mir hörte ich ein Geräusch, aber ich wandte
mich nicht um. In Geillis’ Pupillen spiegelten sich die züngelnden
Flammen. Ich verspürte keine Furcht, keine Wut, keinen Zweifel. Ich
fühlte nur, wie die Axt auftraf.
Blut ist schwarz im Schein eines Feuers, nicht
rot.
Der Nachhall des Schlags vibrierte in meinem Arm,
und dann ließen meine tauben Finger die Waffe los. Ich blieb wie
angewurzelt stehen, rührte mich nicht einmal, als Geillis blind auf
mich zutaumelte. Ihre Muskeln wurden schlaff, und sie sank in sich
zusammen. Das letzte, was ich von ihr sah, waren ihre Augen, groß
und schimmernd wie Edelsteine, klar wie grünes Wasser und geprägt
von dem Wissen vom sicheren Tod.
Jemand sprach, doch die Worte ergaben für mich
keinen Sinn. Die Spalte im Stein summte so laut, daß es mir in den
Ohren dröhnte. Die Fackel flackerte und glühte plötzlich goldgelb
auf. Der Todesengel ist vorbeigeflogen, dachte ich.
Wieder hörte ich von hinten ein Geräusch.
Ich wandte mich um und sah Jamie. Schwankend kniete
er auf dem Boden. Blut strömte ihm über den Schädel und überzog
eine Hälfte seines Gesichts schwarz-rot. Die andere war
kreidebleich, wie die Maske eines Harlekins.
Stille die Blutung, rief mir mein Instinkt zu, und
ich durchwühlte meine Kleider nach einem Taschentuch. Aber Jamie
war schon zu Ian gekrochen und zerrte an dessen Fesseln, bis er die
Lederriemen gelockert hatte. Ian mühte sich auf die Füße. Sein
Gesicht war blaß, aber er streckte die Hand aus, um seinem Onkel zu
helfen.
Dann stand Jamie neben mir und legte mir die Hand
auf den Arm. Ich sah auf und hielt ihm wie benommen mein
Taschentuch hin. Er wischte sich damit die gröbsten Blutspuren ab,
dann packte er mich am Arm und zerrte mich zum Gang. Ich stolperte,
wäre beinahe gefallen. Aber ich konnte mich noch fangen und fand
allmählich wieder in die Wirklichkeit zurück.
»Rasch«, sagte Jamie. »Hörst du nicht den Wind?
Dort oben kommt ein Sturm auf.«
Sturm, dachte ich. In einer Höhle? Aber er hatte
recht, der Zugwind war nicht eingebildet. Statt des schwachen
Luftstroms aus der Spalte nahe des Eingangs umfing uns das stetige
Pfeifen des Windes, der durch den schmalen Gang heulte.
Ich warf einen Blick nach hinten, aber Jamie ließ
nicht locker und schob mich nach vorn. Mein letzter Eindruck waren
die verwaschen schimmernden Edelsteine und ein regloser weißer
Haufen in ihrer Mitte. Dann umfing uns der Sturm mit einem Tosen,
und die Fackel wurde ausgeblasen.
»Herr im Himmel!« Die angsterfüllten Worte kamen
von dem jungen Ian ganz in unserer Nähe. »Onkel Jamie!«
»Hier!« Jamie, der in der Dunkelheit vor mir
herging, wirkte erstaunlich gefaßt, obwohl er die Stimme heben
mußte, um das Sturmgeheul zu übertönen. »Hier, mein Junge. Komm her
zu mir. Habe keine Angst. Das ist nur die Höhle, die atmet.«
Damit hatte er genau das Falsche gesagt. Im
gleichen Augenblick spürte ich, wie mir der kalte Atem der Steine
über den Nacken strich, und die Haare stellten sich mir auf. Die
Vorstellung, die Höhle sei ein lebendes, dunkles Etwas, das blind
und böse um uns herum atmete, löste in mir blankes Entsetzen
aus.
Auf Ian hatte sie offensichtlich die gleiche
Wirkung, denn ich hörte, wie er scharf die Luft einzog. Dann
klammerte er sich so verzweifelt an mir fest, als ginge es um sein
Leben.
Ich nahm seine Hand und tastete mich mit der
anderen voran. Schließlich stieß ich auf Jamies tröstlich imposante
Gestalt.
»Ich habe Ian«, stieß ich hervor. »Um Himmels
willen, machen wir, daß wir hier rauskommen.«
Anstatt zu antworten, zog er mich weiter. So mühten
wir uns blind den engen Gang entlang, stolperten durch die
nachtschwarze Dunkelheit, traten uns gegenseitig auf die Fersen. Um
uns herum heulte unablässig dieser schreckliche Sturm.
Das Gewitter zog rasch weiter. Als wir ins Freie
stolperten und uns blinzelnd an das Tageslicht zu gewöhnen
versuchten, hatte der Regen bereits wieder aufgehört. Statt dessen
lag die Welt wie frisch gewaschen vor uns.
Stern hatte unter einer Palme in der Nähe des
Höhleneingangs Schutz gesucht. Als er uns erblickte, sprang er auf.
Ein Ausdruck von Erleichterung zog über sein faltiges
Gesicht.
»Alles in Ordnung?« fragte er, als er sah, daß
Jamie blutete.
Jamie nickte mit einem schiefen Lächeln.
»Es geht schon«, sagte er. Dann wies er auf Ian.
»Darf ich Ihnen meinen Neffen Ian Murray vorstellen? Ian, das ist
Dr. Stern. Er war uns eine große Hilfe bei der Suche nach
dir.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Doktor«, sagte Ian und
machte einen Diener. Er wischte sich mit dem Ärmel über das
schmutzige Gesicht. Dann sah er Jamie an.
»Ich wußte, daß du kommen würdest, Onkel Jamie.« Er
grinste schüchtern. »Aber du hast dir verdammt lang Zeit gelassen.«
Plötzlich begann er zu zittern. Er kämpfte mit den Tränen.
»Das stimmt, und es tut mir leid, Ian. Komm her,
a bhalaich.« Jamie streckte die Arme aus und zog den Jungen
an die Brust. Er klopfte ihm auf den Rücken und murmelte ihm
gälische Worte zu.
Ich beobachtete die beiden. Erst nach einer Weile
wurde mir bewußt, daß Stern mit mir sprach.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Mrs. Fraser?«
fragte er. Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er meinen Arm.
»Ich weiß nicht so recht.« Ich fühlte mich völlig
ausgebrannt, erschöpft wie nach einer Geburt, aber ohne das
erhebende Gefühl, das dazugehört. Mir erschien alles unwirklich:
Jamie, Ian, Stern, sie kamen mir vor wie Spielzeugpuppen, die sich
in weiter Ferne befanden und deren Worte ich nur unter großer
Anstrengung verstand.
»Vielleicht sollten wir diesen Ort verlassen«,
sagte Stern mit einem Blick auf das Erdloch, aus dem wir
aufgetaucht waren. Man sah ihm an, daß er sich unwohl fühlte. Nach
Mrs. Abernathy fragte er nicht.
»Da haben Sie wohl recht.« Noch immer stand mir das
Bild der Höhle vor Augen - wenngleich es mir ebenso unwirklich
erschien wie der üppige grüne Dschungel und die grauen Felswände
vor uns. Ohne auf die Männer zu warten, wandte ich mich um und ging
los.
Das Gefühl der Unwirklichkeit wurde stärker, als
wir unterwegs waren. Ich kam mir vor wie ein Automat mit einem Kern
aus Eisen, der von einem Uhrwerk angetrieben wurde. Und so stapfte
ich hinter Jamies breitem Rücken her, durch Blattwerk und
Lichtungen, durch Sonne und Schatten, ohne darauf zu achten, wohin
wir gingen. Schweiß lief mir über die Stirn und tropfte mir in die
Augen, doch ich machte mir kaum die Mühe, ihn fortzuwischen. Nach
langem Marsch, bei Sonnenuntergang, hielten wir in einer kleinen
Lichtung an einem Flußufer und schlugen unser einfaches Lager
auf.
Ian hatte den Auftrag bekommen, Feuerholz zu
sammeln, während Stern Nahrung suchte. Ich hieß Jamie, sich mit
einem Tiegel Wasser hinzusetzen, damit ich seine Kopfwunde
versorgen konnte. Als ich ihm das Blut aus Haaren und Gesicht
wusch, stellte ich zu meiner Verwunderung fest, daß die Kugel
tatsächlich nicht die Bahn durch den Schädel genommen hatte. Statt
dessen hatte sie direkt über dem Haaransatz die Haut aufgerissen
und war, wie mir schien, im Kopfinnern steckengeblieben. Eine
Austrittswunde konnte ich nicht finden. Fassungslos wühlte ich mich
durch seine dichten Locken, bis mir ein Aufschrei des Patienten
verriet, daß ich auf die Kugel gestoßen war.
Am Hinterkopf hatte er eine dicke, runde Beule. Die
Pistolenkugel war direkt unter der Haut am Schädel entlanggefahren
und am Hinterkopf steckengeblieben.
»Jesus H. Roosevelt Christ!« rief ich aus.
Ungläubig tastete ich die Stelle noch einmal ab, aber ich hatte
mich nicht geirrt. »Du hast immer gesagt, dein Schädel sei hart wie
Stein. Verdammt noch mal, du hast dich nicht getäuscht! Geillis hat
direkt auf deinen Kopf gezielt, aber die Kugel ist
abgeprallt.«
Jamie, der das Gesicht während meiner Untersuchung
in die Hände gestützt hatte, gab ein Geräusch von sich, das
irgendwo zwischen Schnauben und Stöhnen angesiedelt war.
»Aye«, sagte er, »das wissen wir ja alle. Aber wenn
Mistress Abernathy die volle Ladung Pulver genommen hätte, hätte
mich mein Dickschädel auch nicht retten können.«
»Tut es sehr weh?«
»Die Wunde nur ein wenig. Aber ich habe
schreckliche Kopfschmerzen.«
»Nur noch einen Augenblick, dann entferne ich die
Kugel.«
Da wir nicht wußten, in welcher Verfassung wir Ian
vorfinden würden, hatte ich den kleinsten meiner Medizinkästen
mitgenommen, in dem sich zum Glück auch eine Flasche Alkohol und
ein zierliches Skalpell befanden. Ich rasierte Jamie an der Beule
ein wenig von seiner üppigen Haarpracht fort und desinfizierte die
Stelle mit Alkohol.
»Dreimal tief Luft geholt und stillgehalten«,
murmelte ich. »Ich muß schneiden, aber es ist rasch vorbei.«
»Gut.« Er schien mir ein wenig blaß, aber sein Puls
ging regelmäßig. Gehorsam atmete er tief ein und laut seufzend
wieder aus. Ich spannte das Stück Kopfhaut zwischen Zeige- und
Ringfinger meiner linken Hand. Als er zum drittenmal ausatmete,
sagte ich: »Jetzt!« und zog die Klinge rasch und fest durch die
Haut. Er stöhnte auf, schrie aber nicht. Vorsichtig drückte ich mit
der Daumenkuppe gegen die Schwellung, bis die Kugel wie eine Rosine
aus dem Schnitt in meine Hand plumpste.
»Da ist sie!« Erst als ich das aussprach, merkte
ich, daß ich die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Ich ließ das
kleine Geschoß in seine Hand fallen und lächelte zittrig. »Ein
Andenken«, sagte ich, drückte ein Stück Stoff auf die Wunde,
verband Jamies Kopf und begann zu weinen.
Obwohl mir die Tränen über die Wangen strömten und
meine Schultern bebten, war mir immer noch, als stünde ich neben
mir. Das einzige, was ich spürte, war ein mildes Staunen.
»Sassenach! Alles in Ordnung?« Besorgt sah Jamie
unter seiner provisorischen Binde zu mir auf.
»Ja«, stotterte ich schluchzend. »Ich… ich weiß…
selbst n… nicht, w… warum ich w… weine!«
»Komm her!« Er nahm meine Hand und zog mich auf
seinen Schoß. Dann schloß er mich in die Arme, drückte mich an
seine Brust und stützte sein Kinn auf meinen Kopf.
»Es wird schon wieder«, flüsterte er. »Es ist doch
vorbei, mo chridhe. Alles ist gut.« Zärtlich wiegte er mich
in den Armen, strich mir übers Haar und flüsterte mir leise
Koseworte ins Ohr. Ebenso plötzlich, wie ich von meinem Körper
getrennt worden war, fühlte ich mich wieder darin zu Hause, und
meine Tränen lösten den Kern aus Eisen auf.
Nach und nach versiegte der Strom, und ich lag
still an seiner Brust. Nur zuweilen schluchzte ich noch auf.
Ansonsten aber spürte ich nichts als Frieden und Jamies tröstlich
warmen Körper an meiner Wange.
Undeutlich bekam ich mit, daß Ian und Stern
zurückgekehrt waren, doch ich beachtete sie nicht. Einmal hörte ich
Ian eher neugierig als aufgeschreckt sagen: »Dir läuft im Nacken
das Blut herunter, Onkel Jamie!«
»Dann lege mir doch bitte einen neuen Verband an,
Ian«, war die Antwort. Jamies Stimme klang sanft und
zuversichtlich. »Ich muß jetzt erst mal deine Tante trösten.«
Irgendwann schlief ich in seinen Armen ein.
Als ich aufwachte, lag ich auf einer Decke. Neben
mir saß Jamie an einen Baumstamm gelehnt; seine Hand ruhte auf
meiner Schulter. Als er spürte, daß ich wach wurde, drückte er sie
sanft. Es war dunkel, und ich hörte ein regelmäßiges Schnarchen.
Das mußte Stern sein, dachte ich schläfrig, denn Ian hörte ich mit
Jamie reden.
»Nein«, sagte er gerade gedehnt, »so schlimm war es
auf dem Schiff nicht. Man hatte uns zusammengesperrt; wir hatten
also immer Gesellschaft, und das Essen war auch nicht schlecht.
Außerdem ließ man uns zu zweit an Deck spazierengehen. Natürlich
hatten wir alle Angst, denn wir wußten ja nicht, wohin die Reise
ging - und die Seeleute haben nichts verraten. Aber man hat uns
nicht mißhandelt.«
Die Bruja war den Yallah hinaufgesegelt und
hatte ihre menschliche Fracht direkt in Rose Hall abgeladen. Die
verdutzten Jungen waren dort von Mrs. Abernathy wärmstens empfangen
worden, nur um auf der Stelle in ein neues Gefängnis geworfen zu
werden.
Immerhin war die Kammer unter der Raffinerie mit
Betten und Nachtgeschirren ausgestattet, und abgesehen vom Lärm,
der bei der Zuckergewinnung gemacht wurde, hatten die Burschen es
bequem. Doch keiner von ihnen wußte, warum er dort war, so daß sie
mit der Zeit immer wüstere Spekulationen anstellten.
»Hin und wieder kam ein großer, schwarzer Kerl mit
Mrs. Abernathy herunter in unsere Kammer. Wir flehten sie an, uns
zu sagen, was sie mit uns vorhatte, oder uns laufen zu lassen. Aber
sie lächelte nur, klopfte uns auf den Rücken und sagte, das würden
wir schon früh genug herausfinden. Dann suchte sie sich einen
Jungen aus, und der Schwarze packte ihn am Arm und nahm ihn mit.«
Ian klang betrübt, aber auch ein wenig verwundert.
»Kamen die Jungen später zurück?« fragte Jamie.
Seine Hand strich über meine Schulter, und ich nahm und drückte
sie.
»Nein - oder normalerweise nicht. Und das hat uns
furchtbare Angst gemacht.«
Ian war acht Wochen nach seiner Ankunft an der
Reihe. Bis dahin waren drei Jungen abgeholt worden und nicht
zurückgekommen. Als Mrs. Abernathys Blick auf ihn fiel, hatte er
nicht die Absicht, sich so einfach in sein Schicksal zu
fügen.
»Ich habe den Schwarzen getreten und ihn
geschlagen, ihn sogar in die Hand gebissen«, erklärte Ian reuevoll.
»Scheußlich geschmeckt hat er auch noch, weil er sich mit
irgendeinem Fett eingeschmiert hatte. Aber ich habe nichts
ausrichten können. Er hat mir eins über den Schädel gezogen, so daß
es mir in den Ohren dröhnte, und mich dann hochgehoben und
weggetragen wie ein kleines Kind.«
Man brachte Ian erst in die Küche, wo man ihn
auszog, badete, in ein frisches Hemd - und sonst nichts - kleidete,
und dann ins Haupthaus brachte.
»Es war gerade dunkel geworden«, sagte er
versonnen, »und in allen Zimmern brannte Licht. Das Haus sah
genauso aus wie Lallybroch, wenn du abends aus den Bergen nach
Hause kamst und Mama die Lampen angezündet hat. Es hat mir fast das
Herz gebrochen, als ich daran denken mußte.«
Allerdings blieb ihm kaum Zeit für Heimweh.
Herkules - oder Atlas - scheuchte ihn die Treppe hinauf in Mistress
Abernathys Schlafzimmer, wie es schien. Die Dame des Hauses
erwartete ihn
dort in einem lockeren Gewand mit roten und silbernen gestickten
seltsamen Symbolen am Saum.
Sie empfing ihn freundlich und entgegenkommend und
bot ihm etwas zu trinken an. Die Flüssigkeit roch fremdartig, aber
nicht abstoßend, und da ihm ohnehin keine Wahl blieb, trank er
sie.
In dem Zimmer standen zu beiden Seiten eines
langen, flachen Tischs zwei bequeme Sessel, und an einer Wand
befand sich ein großes Bett, üppig gepolstert und verziert wie das
eines Königs. Ian setzte sich in einen Sessel, Mrs. Abernathy in
den anderen, und sie stellte ihm Fragen.
»Welche Fragen?« wollte Jamie wissen, als Ian
zögerte.
»Nun, über mein Zuhause und meine Familie - sie
wollte die Namen von all meinen Geschwistern, Tanten und Onkeln
wissen.« Ich zuckte innerlich zusammen. Deshalb also war Geillis
nicht überrascht gewesen, als wir auftauchten. »Außerdem alles
mögliche. Dann fragte sie mich, ob ich… ob ich schon einmal mit
einem Mädchen… zusammen war. So, wie man fragt, ob ich Haferbrei
zum Frühstück gegessen habe.« Ian schien noch immer entsetzt über
diese Zumutung.
»Ich wollte ihr keine Antwort geben, aber ich kam
nicht gegen sie an. Mir war heiß, als ob ich Fieber hätte, und jede
Bewegung fiel mir schwer. Und so beantwortete ich alles. Sie hat
dagesessen und freundlich gelächelt und mich mit ihren großen,
grünen Augen angestarrt.«
»Also hast du ihr die Wahrheit gesagt?«
»Aye. Aye, das habe ich.« Ian schien die Begegnung
in Gedanken noch einmal zu durchleben. »Ich habe ihr alles von dem
Seemann, dem Bordell und von Mary erzählt - alles.«
Zum erstenmal schien Geillis mit einer seiner
Antworten unzufrieden. Ihr Gesicht war hart und ihre Augen schmal
wie Schlitze geworden, und einen Moment lang hatte Ian echte
Todesangst. Er wäre fortgelaufen, wenn seine Glieder nicht so
schwer gewesen wären und wenn der schwarze Riese, der reglos
dastand, nicht die Tür versperrt hätte.
»Sie stand auf, stapfte durchs Zimmer und sagte,
ich sei verdorben, weil ich nicht mehr jungfräulich sei. Dann
fragte sie, was solch ein Dreikäsehoch wie ich mit Mädchen zu
schaffen hätte. Die würden mich doch nur in den Schmutz
ziehen.«
Sie war stehengeblieben, hatte sich ein Glas Wein
eingeschenkt und es in einem Zug ausgetrunken, was ihren Zorn wohl
etwas dämpfte.
»Sie lachte und musterte mich von oben bis unten.
Dann sagte sie, ich sei wohl doch noch nicht ganz verloren. Wenn
ich schon für das, was sie mit mir vorhatte, nicht geeignet sei,
könnte ich wenigstens zu etwas anderem dienen.« Ians Stimme klang
gepreßt, als würde es ihm den Hals abschnüren. Aber als Jamie sich
fragend räusperte, holte er tief Luft und sprach weiter.
»Tja, also, sie nahm mich bei der Hand und ließ
mich aufstehen. Dann zog sie mir das Hemd aus und - ich schwöre bei
Gott, daß es wahr ist, Onkel - kniete sich vor mir auf den Boden
und nahm meinen Schwanz in den Mund.«
Jamies Griff um meine Schulter wurde fester, aber
seine Stimme verriet lediglich leichte Neugier.
»Aye, ich glaube dir, Ian. Und dann hat sie ihr
Liebesspiel mit dir getrieben?«
»Liebe?« Ian klang nachdenklich. »Nein - ich meine,
ich weiß nicht. Es… sie… sie hat meinen Schwanz zum Stehen
gebracht, und dann hieß sie mich zum Bett gehen und mich hinlegen.
Und dann hat sie mit mir Sachen gemacht. Aber es war längst nicht
so wie mit Mary.«
»Das kann ich mir vorstellen«, entgegnete sein
Onkel trocken.
»Mein Gott, es war ein seltsames Gefühl!« An Ians
Stimme hörte ich, daß es ihn schauderte. »Irgendwann mittendrin
habe ich aufgesehen, und da stand der Schwarze direkt vor dem Bett
und hielt den Kerzenständer. Sie befahl ihm, ihn höher zu heben,
damit sie besser sehen könne.« Er schwieg und nahm einen Schluck
aus einer der Flaschen. Dann atmete er bebend aus.
»Onkel Jamie, hast du je… mit einer Frau
zusammengelegen, obwohl du es eigentlich gar nicht wolltest?«
Jamie zögerte einen Augenblick. »Aye, Ian, das habe
ich«, sagte er dann.
»Oh!« Der Junge verstummte, und ich hörte, wie er
sich am Kopf kratzte. »Aber wie kann so was angehen? Man tut es,
ohne es zu wollen, und man haßt sich, weil man es tut, aber
trotzdem ist es ein gutes Gefühl!«
Jamie lachte trocken auf.
»Tja, das kommt, weil dein Schwanz kein Gewissen
hat, dein Kopf aber schon.« Er ließ meine Schulter los und wandte
sich zu seinem Neffen um. »Gräme dich nicht, Ian. Du konntest
nichts dagegen tun, und es sieht ganz so aus, als ob es dir das
Leben gerettet hat. Die anderen Jungen - die, die nicht
zurückgekommen sind - wußtest du, ob sie noch jungfräulich
waren?«
»Bei einigen wußte ich es sicher, denn schließlich
hatten wir ja genügend Zeit zum Reden. Nach einer Weile kannten wir
uns in-und auswendig. Einige haben damit geprotzt, daß sie mit
einem Mädchen gehen, aber so, wie sie darüber geredet haben, glaube
ich nicht, daß sie es… wirklich schon getan hatten.« Er schwieg,
als würde er sich nicht trauen, die Frage, die ihm auf der Zunge
lag, auszusprechen.
»Onkel, weißt du, was mit ihnen geschehen ist? Mit
den anderen Jungen?«
»Nein, Ian«, sagte Jamie, ohne zu zögern. »Ich habe
keine Ahnung.« Dann lehnte er sich gegen den Baumstamm und seufzte.
»Glaubst du, du kannst schlafen? Wenn ja, dann solltest du es jetzt
tun, denn bis zur Küste haben wir morgen noch einen langen Marsch
vor uns.«
»O ja, ich kann schlafen«, versicherte Ian seinem
Onkel. »Aber sollte ich nicht besser Wache halten? Du bist
schließlich angeschossen worden und solltest dich ausruhen.« Er
schwieg, bevor er schüchtern fortfuhr. »Ich habe dir noch gar nicht
gedankt, Onkel Jamie.«
Jamie lachte wieder, aber diesmal freier.
»Ist schon gut, Ian«, sagte er, noch immer lachend.
»Leg dich aufs Ohr und schlafe. Ich wecke dich, wenn es nötig sein
sollte.«
Ian rollte sich gehorsam zusammen, und nach kurzer
Zeit atmete er tief. Aufseufzend ließ Jamie sich
zurücksinken.
»Willst du nicht auch schlafen, Jamie?« Ich setzte
mich neben ihn. »Ich bin hellwach und kann achtgeben.«
Er hatte die Augen geschlossen. Auf seinen Lidern
tanzte der Schein der ersterbenden Flammen. Er lächelte und nahm
meine Hand.
»Nein. Wenn es dir nichts ausmacht, bleibe bei mir
sitzen und halte Ausschau. Die Kopfschmerzen sind nicht so schlimm,
wenn ich die Augen schließe.«
Eine Weile blieben wir in stiller Eintracht sitzen
und hielten uns an den Händen. Gelegentlich ertönte aus dem
Dschungel der Schrei eines Tieres oder ein anderes fremdartiges
Geräusch, doch bedrohlich schien uns nichts von allem.
»Fahren wir zurück nach Jamaika?« fragte ich
schließlich. »Um Fergus und Marsali zu holen?« Jamie setzte zu
einem Kopfschütteln an, stöhnte jedoch statt dessen erstickt
auf.
»Nein«, sagte er. »Wir segeln besser nach
Eleuthera. Das ist im Besitz der Holländer und damit für uns
neutraler Boden. Innes kann mit John Greys Schiff zurückkehren und
Fergus ausrichten, er soll nachkommen. Wenn man bedenkt, was alles
geschehen ist, würde ich lieber nicht mehr nach Jamaika
zurück.«
»Recht hast du!« Wir schwiegen eine Weile. »Ich
frage mich, wie Mr. Willoughby - Yi Tien Tschu, meine ich -
zurechtkommt. Wenn er in den Bergen bleibt, wird ihn wahrscheinlich
niemand finden, aber…«
»Ach, der schlägt sich schon durch«, fiel Jamie mir
ins Wort. »Schließlich hat er den Pelikan, der für ihn Fische
fängt.« Er lächelte schief. »Und wenn er schlau ist, macht er sich
auf den Weg nach Süden, nach Martinique. Dort gibt es eine kleine
Kolonie chinesischer Händler, und ich hatte ihm versprochen, ihn
dorthin zu bringen, sobald wir unsere Angelegenheiten in Jamaika
erledigt hätten.«
»Bist du nicht wütend auf ihn?« Ich sah ihn
neugierig an, doch sein Gesicht im Schein der Flammen wirkte glatt
und friedlich.
Diesmal dachte er rechtzeitig daran, den Kopf nicht
zu bewegen. Er zuckte lediglich mit den Achseln und zog eine
Grimasse.
»Ach, nein. Ich glaube, er hat nicht groß darüber
nachgedacht, was er tut. Oder er hat nicht verstanden, wohin es
führen würde. Es wäre doch dumm, einen Mann zu hassen, nur weil er
einem nicht geben kann, was man von ihm will - und zwar deshalb,
weil er es nicht hat.« Er öffnete die Augen und lächelte leise. Ich
wußte, er dachte an John Grey.
Ian zuckte im Schlaf zusammen. Er schnarchte laut
auf und rollte sich dann mit ausgebreiteten Armen auf den Rücken.
Als Jamie seinen Neffen ansah, wurde sein Lächeln breiter.
»Gott sei Dank«, sagte er. »Er jedenfalls fährt mit
dem ersten Schiff, das Segel setzt, zurück zu seiner Mutter nach
Schottland.«
»Ich weiß nicht«, entgegnete ich, »vielleicht
möchte er gar nicht nach Lallybroch zurückkehren, nach all den
Abenteuern, die er erlebt hat.«
»Mich kümmert nicht, ob er das will oder nicht«,
sagte Jamie ungerührt. »Er fährt zurück, und wenn ich ihn in eine
Kiste stecken muß. Suchst du was, Sassenach?« fragte er, als er
merkte, daß ich in meinem Medizinkasten wühlte.
»Ich habe es schon«, entgegnete ich, während ich
das flache Etui mit den Spritzen herauszog. Ich klappte es auf und
inspizierte im schwachen Licht sorgfältig seinen Inhalt. »Gut. Es
reicht noch für eine kräftige Dosis.«
Jamie richtete sich noch weiter auf.
»Aber ich habe kein Fieber«, protestierte er,
während er mich besorgt musterte. »Wenn du meinst, du kannst mir
diese schmutzige Nadel in den Kopf schieben, dann hast du dich
geirrt.«
»Das ist nicht für dich«, stellte ich richtig,
»sondern für Ian. Es sei denn, du möchtest ihn mit Syphilis und
anderen netten Geschlechtskrankheiten zu seiner Mutter
zurückschicken.«
Erschrocken runzelte Jamie die Stirn, doch gleich
darauf zuckte er vor Schmerz zusammen.
»Oje! Syphilis? Glaubst du wirklich?«
»Es sollte mich nicht wundern. Zu dem Symptomen im
fortgeschrittenen Stadium gehört ausgeprägter Schwachsinn - obwohl
das im Fall von Geillis schwer zu beurteilen ist. Aber besser, wir
gehen auf Nummer Sicher, oder?«
Jamie schnaubte belustigt. »Nun, das wird den
Jungen lehren, was bei seiner Bummelei herauskommt. Am besten, ich
lenke Lorenz ab, während du Ian hinter dem Busch seine Medizin
verabreichst. Lorenz ist ja ein verdammt netter Kerl, aber auch
furchtbar neugierig. Nach alledem möchte ich nicht, daß du in
Kingston als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt wirst.«
»Das wäre peinlich für den Gouverneur«, gab ich ihm
recht, »obwohl er persönlich wahrscheinlich seine Freude daran
hätte.«
»Das glaube ich nicht, Sassenach.« Jamie sprach
ebenso trocken wie ich. »Ist mein Rock in Reichweite?«
Ich fand das Kleidungsstück zusammengefaltet in
meiner Nähe auf dem Boden. »Ist dir kalt?«
»Nein.« Er lehnte sich zurück und breitete den Rock
über seine Knie. »Ich wollte nur meine Kinder in der Nähe wissen,
wenn ich schlafe.« Er lächelte mich an, faltete die Hände über der
Jacke mit den Bildern und schloß wieder die Augen. »Gute Nacht,
Sassenach.«