22
Halloween
»Zwei Goldguineen, sechs Sovereigns, dreiundzwanzig Schillinge, achtzehn Zweischillingstücke, zehn halbe Pennies… und zwölf Farthings.« Roger ließ die letzte Münze auf den schimmernden Haufen fallen. Dann durchsuchte er gedankenverloren seine Taschen. »Ja, hier ist es.« Er förderte einen Plastikbeutel zutage und kippte vorsichtig eine Handvoll kleiner Kupfermünzen neben die anderen Geldstücke.
»Pfifferlinge«, erklärte er. »Die kleinste schottische Münze jener Tage. Ich habe alle mitgebracht, die ich auftreiben konnte, weil Sie die wohl am ehesten brauchen werden. Damals bezahlte man nur mit großen Münzen, wenn man ein Pferd oder so was kaufen wollte.«
»Ich weiß.« Ich nahm ein paar Sovereigns und ließ sie in der Hand klimpern. Sie waren schwer - massive Goldmünzen von gut zwei Zentimetern Durchmesser. Brianna und Roger waren in London vier Tage lang von einem Münzhändler zum anderen gelaufen, um das kleine Vermögen zusammenzutragen, das jetzt schimmernd vor mir lag.
»Seltsam, daß diese Geldstücke heute weitaus mehr wert sind als ihr Nominalwert«, sagte ich, während ich eine Guinee betrachtete. »Aber kaufen konnte man dafür in der Vergangenheit fast genausoviel wie jetzt. Eine Guinee, das hat ein Bauer in einem halben Jahr verdient.«
»Ich habe ganz vergessen, daß Sie darüber mehr wissen als ich«, räumte Roger ein.
»Kein Wunder«, erwiderte ich, den Blick auf die Geldhäufchen gerichtet. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Brianna sich an Roger schmiegte und er sie ganz selbstverständlich an sich zog.
Ich holte tief Luft und hob den Kopf. »Gut, das wäre erledigt. Und jetzt sollten wir essen gehen!«
 
Das Abendessen in einem der Pubs an der River Street war eine schweigsame Angelegenheit. Claire saß neben Brianna auf der Bank und Roger ihnen gegenüber. Die beiden Frauen sahen sich beim Essen nicht an, aber Roger merkte, daß sie sich immer wieder berührten.
Wie würde er damit fertig werden, fragte er sich, wenn er selbst oder seine Mutter, sein Vater vor einer solchen Entscheidung stünde? Gewiß, Trennungen gab es in jeder Familie, doch meist war es der Tod, der das Band zwischen Eltern und Kindern zerschnitt. Hier jedoch machte es gerade die bewußte Entscheidung so schwierig.
Als sie sich nach dem Essen vom Tisch erhoben, legte Roger Claire die Hand auf den Arm.
»Es ist ein dummes Spiel«, sagte er, »aber würden Sie etwas für mich tun?«
»Warum nicht?« antwortete sie. »Um was geht’s denn?«
Er wies mit dem Kopf auf die Tür. »Schließen Sie die Augen und gehen Sie hinaus. Dort machen Sie sie wieder auf. Ich möchte wissen, was Sie als erstes sehen.«
Amüsiert schmunzelte sie. »Einverstanden. Aber ich hoffe, es ist kein Polizist, denn wenn er mich wegen Trunkenheit und ungebührlichen Verhaltens einsperrt, müßt ihr mich auslösen.« Gehorsam wandte sie sich zur Tür des Lokals und schloß die Augen. Brianna sah ihr nach, als sie sich mit den Händen den Weg zum Ausgang ertastete. Fragend drehte sie sich zu Roger um.
»Was soll das, Roger?«
»Nichts«, sagte er, während er unverwandt auf die Tür blickte. »Das ist ein alter Brauch. In der Samhain-Nacht, also an Halloween, sagt man sich die Zukunft voraus. Und eine Möglichkeit ist es, mit geschlossenen Augen zur Tür hinauszugehen. Das erste, was man dann sieht, gibt Aufschlüsse über die Zukunft.«
»Dann sollten wir besser rausgehen und aufpassen. Nicht, daß es etwas Schlechtes bedeutet.« Aber kaum waren sie bei der Tür, als der Flügel aufschwang und Claire mit verdutztem Gesicht vor ihnen auftauchte.
»Ihr glaubt nicht, was ich als erstes gesehen habe«, sagte sie lachend. »Einen Polizisten! Ich bin nach rechts gegangen und fast über ihn gestolpert.«
»Er kam auf Sie zu?« Roger war unendlich erleichtert.
»Ja, jedenfalls bis ich ihm in die Arme lief«, erklärte sie. »Anschließend haben wir dann ein Tänzchen auf dem Bürgersteig hingelegt.« Als sie lachte, sah sie plötzlich jung und lebendig aus, und ihre sherrybraunen Augen funkelten im Licht der Lampen. »Warum fragen Sie?«
»Das bringt Glück«, erklärte Roger lächelnd. »Wenn an Samhain ein Mann auf Sie zukommt, heißt das, daß Sie finden werden, was Sie suchen.«
»Wirklich?« Fragend sah sie ihn an, aber dann strahlte sie. »Wunderbar! Gehen wir nach Hause. Das müssen wir feiern.«
Die ängstliche Stimmung, die sie beim Abendessen beherrscht hatte, schien plötzlich wie weggeblasen. Statt dessen hatte sie eine fast schon übermütige Freude ergriffen. Auf der Rückfahrt zum Pfarrhaus lachten und alberten sie herum. Dann stießen sie auf die Vergangenheit und die Zukunft an, bevor sie aufgeregt ihre Pläne für den nächsten Tag besprachen.
»Das Geld haben Sie jetzt«, sagte Roger zum zehntenmal.
»Und den Umhang«, ergänzte Brianna.
»Ja, ja, ist ja gut«, erwiderte Claire ungeduldig. »Alles, was ich brauche - das heißt alles, was ich mitnehmen kann.« Sie hielt inne. Dann streckte sie in einem plötzlichen Impuls die Arme aus und nahm Briannas und Rogers Hand.
»Ich danke euch beiden.« Ihre Augen schimmerten feucht, und ihre Stimme klang plötzlich heiser. »Ich kann euch gar nicht sagen, wie sehr ich euch danke! Ach - ihr werdet mir so fehlen!«
Im nächsten Augenblick lagen sich Claire und Brianna in den Armen. Claire schmiegte den Kopf an die Schulter ihrer Tochter, und sie klammerten sich so fest aneinander, als könnten sie dadurch ihren überwältigenden Gefühlen Ausdruck verleihen.
Dann ließen sie sich los, und Claire legte dem Mädchen die Hand auf die Wange. »Ich gehe jetzt wohl besser nach oben«, flüsterte sie. »Es gibt noch viel zu tun. Wir sehen uns morgen früh, meine Kleine.« Sie gab Brianna einen Kuß auf die Nasenspitze und lief aus dem Zimmer.
Brianna setzte sich hin und seufzte tief. Lange Zeit blieb sie schweigend sitzen und starrte ins Feuer.
Roger löschte die Lampen, schloß die Fenster, räumte den Tisch ab und stapelte Bücher aufeinander. Vor der Kürbislaterne blieb er stehen. Sie sah so lustig aus, daß er es nicht über sich brachte, die Kerze zu löschen, die die Schlitzaugen und den grinsenden Mund erhellte.
»Der wird wohl kaum irgendwas in Brand setzen«, meinte er. »Sollen wir ihn so lassen?«
Keine Antwort. Brianna rührte sich nicht. Statt dessen starrte sie in den Kamin. Sie schien ihn nicht gehört zu haben. Roger setzte sich neben sie und nahm ihre Hand.
»Vielleicht kann sie ja wieder zurückkommen«, sagte er leise. »Möglich ist alles.«
Brianna schüttelte langsam den Kopf, ohne den Blick von den züngelnden Flammen zu wenden.
»Ich glaube nicht«, sagte sie leise. »Sie hat uns doch selbst erzählt, wie furchtbar der Übergang ist. Vielleicht übersteht sie ja nicht mal den ersten.« Unruhig trommelte sie mit den Fingern auf den Oberschenkel.
Roger vergewisserte sich mit einem Blick auf die Tür, daß sie allein waren.
»Sie gehört zu ihm, Brianna«, sagte er. »Verstehst du das nicht? Allein schon die Art, wie sie von ihm spricht!«
»Doch, das verstehe ich. Ich weiß, daß sie ihn braucht.« Ihre Unterlippe bebte leise. »Aber… aber ich brauche sie auch!«
Roger strich ihr über das erstaunlich weiche, schimmernde Haar. Um sie zu spüren und gleichzeitig auch zu trösten, hätte er sie am liebsten in die Arme genommen, doch sie war starr und teilnahmslos.
»Du bist erwachsen, Brianna«, sagte er leise. »Du hast jetzt dein eigenes Leben. Sicher, du liebst deine Mutter, aber du brauchst sie nicht mehr - jedenfalls nicht so, wie ein Kind seine Mutter braucht. Hat sie nicht auch das Recht, Erfüllung zu finden?«
»Doch. Aber… ach, Roger, das verstehst du nicht!« brach es aus ihr hervor. Sie preßte die Lippen zusammen und schluckte, dann wandte sie sich zu ihm um. Ihre Augen waren dunkel vor Kummer.
»Sie ist alles, was ich noch habe. Nur sie weiß, wie ich wirklich bin. Sie und Daddy - Frank«, verbesserte sie sich. »Die beiden waren dabei, als ich laufen lernte. Sie waren stolz auf meine Leistungen in der Schule, und sie -« Brianna brach ab, weil ihr glitzernde Tränen über die Wangen liefen.
»Das alles klingt so dumm!« rief sie heftig. »Furchtbar dumm! Aber -« Hilflos suchte sie nach Worten. Dann sprang sie auf und lief ruhelos im Zimmer auf und ab. »Ach, Roger… wenn sie fort ist, gibt es keinen Menschen mehr auf der Welt, dem etwas an mir liegt, der mich für etwas Besonderes hält, weil ich so bin, wie ich bin. Sie ist die einzige, der etwas an mir liegt, und wenn sie fort ist…« Brianna blieb stehen. Ihre Mundwinkel zuckten in dem Bemühen, sich zu beherrschen, und Tränen glitzerten auf ihren Wangen. Plötzlich ließ sie die Schultern sinken, und alle Spannung wich aus ihrem Körper.
»Das alles ist dumm und selbstsüchtig«, stellte sie fest. »Und du kannst das sicher nicht verstehen und hältst mich für kindisch.«
»Nein«, entgegnete Roger ruhig. »Das tue ich nicht.« Er stellte sich hinter sie, legte ihr die Arme um die Taille und schmiegte sich an sie. Sie versteifte sich erst, aber dann gab sie ihrem Bedürfnis nach Trost nach und entspannte sich in seiner Umarmung.
»Mir ist es nie klargeworden«, sagte er. »Bis heute. Erinnerst du dich an all diese Kartons in der Garage?«
»Welche?« fragte sie. »Dort stehen Hunderte.«
»Die mit der Aufschrift ›Roger‹. Darin steckt der Krempel meiner Eltern«, sagte er. »Bilder, Briefe, Babysachen und so weiter. Das hat der Reverend aufgehoben, als er mich zu sich nahm. Und behandelt hat er es genauso ehrfürchtig wie kostbare historische Dokumente.«
Er wiegte sie zart in seinen Armen. »Ich habe ihn mal gefragt, warum er sich die Mühe macht und es aufhebt - ich würde es nicht brauchen und mir nichts daraus machen. Aber er hat gesagt, das würde er aufbewahren, das sei meine Vergangenheit, und jeder Mensch brauche eine Vergangenheit.«
Brianna seufzte und entspannte sich noch mehr. Ohne es zu merken, fiel sie in sein gleichmäßiges Wiegen ein.
»Hast du jemals nachgesehen, was in den Kartons ist?«
Er schüttelte den Kopf. »Darauf kommt es nicht an. Es genügt zu wissen, daß sie da sind.«
Roger ließ sie los, und Brianna drehte sich zu ihm um. Ihr Gesicht war fleckig und ihre lange, gerade Nase ein wenig geschwollen.
»In einem hast du dich getäuscht«, flüsterte er, während er ihr die Arme entgegenstreckte. »Deine Mutter ist nicht der einzige Mensch auf Erden, dem etwas an dir liegt.«
 
Brianna war längst zu Bett gegangen, aber Roger saß noch immer im Arbeitszimmer und sah zu, wie die Flammen allmählich herunterbrannten. An Halloween, dem Abend vor Allerheiligen, kam es ihm immer so vor, als ließen ihn die zahllosen Geister, die in einer solchen Nacht zum Leben erwachten, nicht zur Ruhe kommen. Ganz besonders galt das für diese spezielle Nacht, wenn man bedachte, was am nächsten Tag geschehen sollte. Die Kürbislaterne auf dem Schreibtisch grinste verheißungsvoll.
Der Klang von Schritten auf der Treppe riß Roger aus seinen Gedanken. Zunächst glaubte er, es sei Brianna, die nicht schlafen konnte, doch dann erschien Claire in der Tür.
»Ich habe mir schon gedacht, daß Sie noch nicht schlafen«, sagte sie. Ihr Morgenmantel aus Satin schimmerte weiß.
Roger lächelte und streckte ihr einladend die Hand entgegen. »Nein. An Halloween konnte ich noch nie schlafen. Nicht, nachdem mir mein Vater die Gespenstergeschichten erzählt hatte. Danach hörte ich nur noch Geister vor meinem Fenster flüstern.«
Claire erwiderte sein Lächeln. »Also, wenn ich Gespenster vor meinem Fenster gehört hätte, hätte ich mich für den Rest der Nacht unter der Bettdecke versteckt.«
»Das habe ich gewöhnlich auch getan«, versicherte ihr Roger. »Nur einmal, da war ich ungefähr sieben, habe ich meinen ganzen Mut zusammengenommen, bin aufgestanden und habe auf die Fensterbank gepinkelt. Der Reverend hatte mir nämlich erzählt, daß man an die Türpfosten pinkeln muß, um die Gespenster fernzuhalten.«
Claire lachte auf, und fröhliche Funken tanzten in ihren Augen. »Und, hat es gewirkt?«
»Es hätte wahrscheinlich noch besser gewirkt, wenn ich vorher das Fenster aufgemacht hätte«, sagte Roger. »Aber hereingekommen sind die Gespenster jedenfalls nicht, nein.«
Sie lachten beide, und dann breitete sich zwischen ihnen jenes Schweigen aus, das im Laufe des Abends schon mehrmals aufgekommen war - immer dann, wenn sie merkten, daß unter dem Drahtseilakt des Gesprächs ein Abgrund gähnte. Claire setzte sich neben Roger und starrte ins Feuer. Ruhelos spielten ihre Finger am Morgenmantel herum.
»Ich werde auf Brianna aufpassen«, erklärte er schließlich langsam. »Aber das wissen Sie wahrscheinlich schon, oder?«
Claire nickte, ohne ihn anzusehen.
»Ja, ich weiß«, sagte sie leise. Tränen glitzerten in ihren Augen, blieben zitternd an den Wimpern hängen, funkelten im Schein des Feuers. Sie griff in ihre Tasche und zog einen länglichen weißen Umschlag hervor.
»Wahrscheinlich halten Sie mich jetzt für furchtbar feige«, sagte sie, »und das zu Recht. Aber ich… ich bringe es einfach nicht über mich… mich von Brianna zu verabschieden.« Sie schwieg, um Fassung ringend, und hielt ihm dann den Umschlag entgegen.
»Ich habe ihr geschrieben. Würden Sie…«
Roger nahm den Brief. Er war warm von ihrem Körper. Plötzlich verspürte er das seltsame Bedürfnis, ihn nicht kalt werden zu lassen, bevor ihre Tochter ihn bekam, und steckte ihn in seine Brusttasche.
»Ja«, sagte er, während ihm die Kehle eng wurde. »Dann wollen Sie also…«
»Noch vor Morgengrauen«, sagte sie. »Ich habe einen Wagen bestellt, der mich abholt.« Ihre Hände, die im Schoß lagen, verkrampften sich. »Wenn ich…« Sie biß sich auf die Lippen und sah Roger flehend an. »Ich weiß nicht, ob ich es über mich bringe. Ich habe furchtbare Angst. Angst zu gehen. Angst zu bleiben. Angst eben.«
»Das hätte ich auch.« Er streckte ihr die Hand entgegen, und sie nahm sie. Lange Zeit hielt er sie fest, spürte ihren schwachen, raschen Puls.
Schließlich drückte sie herzlich seine Finger.
»Danke, Roger«, sagte sie. »Danke für alles.« Sie beugte sich vor und gab ihm einen zarten Kuß auf die Lippen. Dann stand sie auf und verließ das Zimmer, ein weißes Gespenst, das vom dunklen Flur verschluckt wurde.
Roger blieb noch eine Weile sitzen. Lange Zeit meinte er noch, ihre Nähe zu spüren. Die Kerze im Kürbis war fast heruntergebrannt. Der Duft von Bienenwachs erfüllte die Luft, und die heidnischen Götter lugten ein letztes Mal durch die flackernden Augenhöhlen.
Ferne Ufer
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