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Gnade
Während der nächsten Tage spielte sich eine feste
Routine ein - das geschieht selbst in den grauenvollsten
Situationen, vorausgesetzt, sie halten eine Weile an. Nach einer
Schlacht kann ein Arzt heroische Arbeit leisten. Er weiß, daß er
durch das Stillen einer Blutung ein Leben rettet, daß sein rasches
Eingreifen einen Arm oder ein Bein vor der Amputation bewahrt. Bei
einer Epidemie ist das anders.
Da gibt es lange Tage, wo man nur beobachtet und
gegen die Keime ankämpft - ohne angemessene Waffen. Es geht nur
noch um Zeitgewinn, und man tut all die kleinen, vielleicht sogar
nutzlosen Dinge, die im Kampf gegen den unsichtbaren Feind aber
immer wieder getan werden müssen - und all das mit der schwachen
Hoffnung, daß man die Kräfte des Kranken so lange stützen kann, bis
er die Belagerer besiegt.
Eine Epidemie ohne Medikamente zu bekämpfen gleicht
einem Kampf gegen Schatten. Ich kämpfte ihn nun schon seit neun
Tagen, und weitere sechsundvierzig Männer waren gestorben.
Dennoch stand ich jeden Morgen bei Tagesanbruch
auf, klatschte mir Wasser auf die verquollenen Augen und begab
mich, ausgerüstet mit nichts als einem Fäßchen Alkohol und meiner
Hartnäckigkeit, aufs Schlachtfeld.
Ein paar Siege konnte ich verzeichnen, aber selbst
die hinterließen einen bitteren Nachgeschmack. Ich fand die
mutmaßliche Quelle der Krankheitserreger - einen Messesteward
namens Howard. Zunächst hatte er in einer der Geschützgruppen
gedient, aber nachdem ihm eine Kanonenkugel die Finger gequetscht
hatte, war er der Kombüsenmannschaft zugeteilt worden.
Howard hatte die Kanonenschützen bedient, und der
erste
Kranke - jedenfalls nach den lückenhaften Unterlagen des toten
Schiffsarztes Mr. Hunter zu urteilen - war einer der Seeleute
gewesen, die dort aßen. Kurz darauf gab es vier weitere Fälle unter
den Schützen, und dann hatte sich die Krankheit ausgebreitet.
Als Howard zugab, eine Epidemie wie diese schon auf
anderen Schiffen miterlebt zu haben, war die Sache klar. Doch dem
Koch fehlten wie allen anderen an Bord Leute, und so schlug er mein
Ansinnen schlichtweg ab, Howard freizustellen, »nur weil sich ein
dummes Frauenzimmer etwas in den Kopf gesetzt hat«.
Da auch Elias ihn nicht umstimmen konnte, war ich
gezwungen, den Kapitän einzuschalten. Der schätzte die Umstände
jedoch völlig falsch ein und erschien in Begleitung mehrerer
bewaffneter Marinesoldaten in der Kombüse. Nach einer höchst
unerfreulichen Begegnung wurde Howard - der lautstark protestierte
und wissen wollte, was man ihm eigentlich vorwarf - ins
Schiffsgefängnis verbannt, dem einzigen Ort, wo seine Quarantäne
sichergestellt war.
Als ich von der Kombüse an Deck kam, versank die
Sonne im Meer. Ihre Strahlen überzogen die Wogen des Atlantiks mit
goldenem Licht. Verzaubert blieb ich stehen.
Zwar hatte ich solche Augenblicke schon früher
erlebt, aber sie erstaunten mich immer wieder aufs neue. Es geschah
immer dann, wenn ich in meinem Beruf großer Belastung ausgesetzt
war, wenn ich knietief in Sorgen und Arbeit steckte. Plötzlich sah
ich aus dem Fenster, öffnete eine Tür, blickte in ein Gesicht, und
dann überkam er mich aus heiterem Himmel - dieser Augenblick des
Friedens.
Das Schiff glitt in einer Lichterspur dahin, und
der weite Horizont war nicht länger ein bedrohliches Monument der
Leere, sondern die Wohnstätte der Freude. Für einen kurzen Moment
lebte ich im Zentrum der Sonne. Sie wärmte und reinigte mich, so
daß ich die Krankheit und ihre Ausdünstungen vergaß und alle
bitteren Gefühle aus meinem Herzen wichen.
Ich hatte diesen Augenblick nie bewußt gesucht, ihn
nie benannt, doch ich erkannte ihn immer, wenn er mir denn gewährt
wurde. Diesen kurzen Augenblick genoß ich still, wunderte mich und
nahm es dann hin, daß mir diese Gnade auch hier zuteil werden
konnte.
Dann tauchte die Sonne unter. Der Augenblick war
vorüber, und
wie immer spürte ich noch einen Nachhall des Friedens. Ich
bekreuzigte mich und ging nach unten.
Vier Tage später starb Elias Pound. Mit
geschwollenen Augen und fiebernd war er bei mir im Schiffslazarett
aufgetaucht. Grelles Licht konnte er nicht ertragen. Sechs Stunden
später lag er im Delirium, unfähig, sich vom Lager zu erheben. Am
folgenden Morgen schmiegte er seinen runden Kopf an meinen Busen,
nannte mich »Mutter« und verschied in meinen Armen.
Tagsüber tat ich, was getan werden mußte, und am
Abend stand ich neben Kapitän Leonard, als er die
Bestattungszeremonie abhielt. Dann wurde der Leichnam von Seekadett
Elias Pound dem Meer übergeben.
Ich lehnte die Einladung des Kapitäns, mit ihm zu
Abend zu essen, ab und suchte mir statt dessen ein ruhiges
Plätzchen auf dem Achterdeck neben einer der großen Kanonen, wo
niemand mein Gesicht sah. Wieder bot sich mir ein prachtvoller
Sonnenuntergang, doch diesmal wurde mir kein Moment der Gnade
gewährt, diesmal fand ich keinen Frieden.
Als sich die Dunkelheit über das Schiff senkte,
erlahmte die Betriebsamkeit an Deck. Ich lehnte den Kopf gegen die
Kanonen. Einmal ging, raschen Schritts und alle Gedanken auf seine
Aufgabe gerichtet, ein Matrose an mir vorbei, doch dann war ich
allein.
Jeder einzelne Muskel tat mir weh, mein Rücken war
steif, die Füße geschwollen, doch all das war nichts im Vergleich
zu den Schmerzen, die mein Herz zusammenkrampften.
Jedem Arzt ist es ein Greuel, einen Patienten
sterben zu sehen. Der Tod ist der Feind, und jemanden, den man
betreut, an den Sensenmann zu verlieren, kommt einer Niederlage
gleich. Man empfindet nicht nur Trauer über den Verlust und den
Schrecken ob seiner Endgültigkeit, man fühlt sich auch betrogen und
unfähig. Zwischen Sonnenaufgang und -untergang hatte ich
dreiundzwanzig Männer verloren. Elias war nur der erste
gewesen.
Mehrere waren gestorben, während ich sie mit kaltem
Wasser wusch oder ihnen die Hände hielt. Andere mußten allein in
ihrer Hängematte sterben, weil ich nicht rechtzeitig zu ihnen
kommen konnte. Eigentlich hatte ich geglaubt, mich an die
Bedingungen dieses Jahrhunderts gewöhnt zu haben, doch der Gedanke,
daß
Penicillin die meisten der Kranken hätte retten können, mir aber
nicht zur Verfügung stand, fraß an meiner Seele.
Die Schachtel mit den Spritzen und Ampullen war auf
der Artemis zurückgeblieben. Aber selbst wenn ich sie
dabeigehabt hätte, hätte ich sie nicht einsetzen können. Und wenn
doch, hätte ich damit nicht mehr als ein oder zwei Leben gerettet.
Aber das konnte ich mir noch so oft vorhalten - angesichts der
Vergeblichkeit erfüllte mich ohnmächtige Wut. Ich biß die Zähne so
fest zusammen, daß mir die Wangenknochen weh taten, wenn ich von
einem Kranken zum nächsten ging und nichts bieten konnte als
gekochte Milch und Schiffszwieback.
Unsicher taumelten meine Gedanken von einem Mann
zum anderen. Ich sah jeden vor mir, den ich heute versorgt hatte,
sah ihre Gesichter - schmerzverzerrt oder vom Tod geglättet -, und
alle sahen sie mich an. Mich. Ich hob die Hand, die so wenig
ausrichten konnte, und schlug sie gegen die Reling. In meiner
wilden Wut und Ohnmacht spürte ich nicht einmal den Schmerz, den
das hervorrief.
»Das dürfen Sie nicht!« hörte ich hinter mir eine
Stimme sagen, und eine Hand schloß sich um meinem Arm, bevor ich
ein zweitesmal zuschlagen konnte.
»Lassen Sie mich los!« Ich kämpfte, aber ich wurde
eisern festgehalten.
»Aufhören!« befahl er resolut. Er schlang seinen
freien Arm um meine Taille und zog mich von der Reling fort. »Das
dürfen Sie nicht«, wiederholte er. »Sie könnten sich
verletzen.«
»Verdammt! Das ist mir völlig egal!« Ich wand mich
in seinem Griff, ließ mich dann aber entmutigt
zusammensinken.
Als er mich losließ, wandte ich mich zu ihm. Vor
mir stand ein Mann, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Zu den
Seeleuten gehörte er nicht, denn seine Kleider, obwohl vom langen
Tragen zerknittert und schmutzig, waren vornehm und von guter
Qualität. Der taubengraue Rock war meisterhaft geschneidert und
betonte die schlanke Figur, und das Jabot an seinem Kragen war aus
Brüsseler Spitze gefertigt.
»Wer, zum Teufel, sind Sie?« fragte ich erstaunt.
Ich wischte mir die Tränen von den Wangen, schniefte und glättete
instinktiv meine Haare. Ich konnte nur hoffen, daß er in der
Dämmerung mein Gesicht nicht sah.
Er lächelte und reichte mir ein zerknülltes, aber
sauberes Taschentuch.
»Ich heiße Grey«, antwortete er mit einer knappen,
höflichen Verbeugung. »Gehe ich recht in der Annahme, daß Sie die
berühmte Mrs. Malcolm sind, deren Heldentaten von Kapitän Leonard
so lautstark gepriesen werden?« Als ich eine Grimasse schnitt,
hielt er inne.
»Tut mir leid«, sagte er. »Habe ich etwas Falsches
gesagt? Bitte nehmen Sie meine Entschuldigung an, Madam! Mir lag es
ganz und gar fern, Sie zu beleidigen.« Da er ehrlich erschrocken
wirkte, schüttelte ich den Kopf.
»Nicht gerade heldenhaft, wenn man den Männern beim
Sterben zusieht«, erklärte ich. Meine Stimme war rauh, und ich
putzte mir die Nase. »Ich bin da, das ist alles. Vielen Dank für
das Taschentuch.« Unschlüssig überlegte ich, ob ich es ihm
zurückgeben sollte, aber einfach einstecken mochte ich es auch
nicht. Er löste das Problem mit einer abwinkenden
Handbewegung.
»Kann ich vielleicht sonst noch etwas für Sie tun?«
Er zögerte. »Einen Becher Wasser? Vielleicht einen Schluck
Weinbrand?« Er griff in seine Rocktasche, zog eine silberne
Reiseflasche mit eingraviertem Familienwappen hervor und reichte
sie mir.
Mit einem dankbaren Nicken nahm ich das Fläschchen
und trank einen kräftigen Schluck. Fast augenblicklich spürte ich,
wie die Last der Verantwortung leichter wurde und sich neue Kraft
in mir ausbreitete. Ich seufzte tief und trank noch einmal. Es half
wirklich.
»Vielen Dank«, sagte ich heiser, als ich ihm die
Flasche zurückgab. Da mir das ein wenig kurz angebunden erschien,
fügte ich hinzu: »Ich hatte ganz vergessen, daß man Weinbrand auch
trinken kann. In letzter Zeit habe ich damit hauptsächlich Leute
abgewaschen.« Aber diese Feststellung führte dazu, daß mir erneut
und überdeutlich die Ereignisse des Tages vor Augen traten. Müde
sank ich wieder auf das Pulverfaß, auf dem ich vorher gesessen
hatte.
»Ich vermute, daß die Seuche unvermindert ihre
Opfer fordert«, meinte er ruhig. Seine blonden Haare schimmerten
golden im Licht einer Laterne.
»Nicht unvermindert.« Ich schloß die Augen, weil
alles so trostlos
schien. »Heute hatten wir nur einen Neuerkankten. Gestern waren es
vier und vorgestern sechs.«
»Das klingt vielversprechend«, stellte er fest. »So
als hätten Sie den Kampf gegen die Seuche gewonnen.«
Ich schüttelte langsam den Kopf. Er kam mir dumpf
und schwer vor.
»Nein, wir können lediglich dafür sorgen, daß sich
keine weiteren Männer mehr anstecken. Aber für die Männer, die
schon krank sind, kann ich nichts, rein gar nichts tun.«
»Ach wirklich?« Er griff nach meiner Hand.
Verblüfft überließ ich sie ihm. Er strich mit dem Daumen über die
Brandblase, die ich mir beim Abkochen der Milch zugezogen hatte,
und dann über die roten Knöchel, die vom ständigen Kontakt mit dem
Alkohol wund und rissig waren.
»Für jemanden, der nichts tut, schienen Sie aber
recht aktiv, Madam«, stellte er trocken fest.
»Natürlich tue ich etwas!« fuhr ich ihn an und
entzog ihm die Hand. »Nur richte ich damit nichts aus.«
»Ich bin sicher -« setzte er an.
»Nein, nichts!« Ich schlug mit der Hand gegen die
Kanone, eine dumpfe Handlung, in der die Sinnlosigkeit des ganzen
Tages zusammengefaßt zu sein schien. »Wissen Sie, wie viele Kranke
ich heute verloren habe? Dreiundzwanzig! Seit Morgengrauen bin ich
auf den Beinen, bin bis zu den Knien in Schmutz und Erbrochenem
gewatet und was ist dabei herausgekommen? Nichts. Haben Sie gehört?
Ich konnte ihnen nicht helfen!«
Er hatte das Gesicht abgewandt, aber seine
Schultern zeigten, wie angespannt er war.
»Ich habe Sie gehört«, sagte er leise. »Sie
beschämen mich, Madam. Auf Befehl des Kapitäns habe ich meine
Kajüte nicht verlassen, aber ich hatte keine Ahnung, daß die Dinge
so schlimm stehen. Hätte ich es gewußt, wäre ich Ihnen trotz aller
Anordnungen zu Hilfe gekommen, das versichere ich Ihnen.«
»Warum?« fragte ich geradeheraus. »Das ist nicht
Ihre Aufgabe.«
»Ist es denn Ihre?« Rasch wandte er sich zu mir um,
und zum erstenmal sah ich ihn genauer. Er war etwa Ende Dreißig und
hatte ein angenehmes Gesicht mit feinen Zügen und großen, blauen
Augen.
»Ja«, antwortete ich.
Er betrachtete mich erstaunt. Dann wurde er
nachdenklich.
»Ich verstehe.«
»Nein, das tun Sie nicht, aber das spielt keine
Rolle.« Um meine Kopfschmerzen zu lindern, drückte ich die
Fingerspitzen an die Stirn, auf die Punkte, die mir Mr. Willoughby
gezeigt hatte. »Wenn der Kapitän sagt, Sie sollen in Ihrer Kajüte
bleiben, dann leisten Sie ihm wohl besser Folge. Im Schiffslazarett
gibt es genügend Helfer… bloß eben… daß wir nichts ausrichten
können.« Entmutigt ließ ich die Hände sinken.
Er ging die paar Schritte zur Reling und blickte
über das weite Wasser. Hin und wieder, wenn eine Welle das
Sternenlicht einfing, funkelte es.
»Ich verstehe Sie wirklich«, wiederholte er, als
spräche er zu den Wogen. »Zunächst habe ich Ihren Kummer weiblichem
Mitgefühl zugesprochen, aber nun sehe ich, daß etwas anderes Sie
bewegt.« Er hielt inne und krampfte die Hände um die Reling.
»Ich war Soldat, Offizier«, sagte er. »Und ich
weiß, wie man sich fühlt, wenn man das Leben anderer in der Hand
hat - und es verliert.«
Ich schwieg, und auch er sagte nichts mehr. Aus der
Ferne drangen die üblichen Geräusche der Matrosen. Schließlich
seufzte er und wandte sich wieder zu mir um.
»Letztendlich läuft es darauf hinaus, daß man eins
erkennt: Man ist nicht Gott.« Er schwieg, aber dann fuhr er fort.
»Und daß man diese Tatsache bedauert.«
Ich merkte, daß ein Teil der Anspannung von mir
wich. Die frische Brise kühlte mir den Nacken, und sanft wie eine
zärtliche Hand strichen mir die Locken über die Wangen.
»Ja«, sagte ich.
Er zögerte, als wüßte er nicht so recht, was er
sagen sollte. Dann beugte er sich herunter, nahm meine Hand und
küßte sie - eine schlichte Geste, ohne Affektiertheit.
»Gute Nacht, Mrs. Malcolm«, sagte er und wandte
sich ab. Dann hörte ich, wie sich seine Schritte entfernten.
Er war nur wenige Meter gegangen, als ein Seemann
an mir vorbeieilte und mit einem Schrei bei ihm stehenblieb. Es war
Jones, einer der Stewards.
»Mylord: Sie sollten doch in Ihrer Kajüte bleiben!
Die Nachtluft macht krank, und wir haben eine Seuche an Bord. Und
dann noch der Befehl vom Kapitän! Was fällt Ihrem Diener denn ein,
Mylord, Sie einfach so auf Deck herumlaufen zu lassen?«
Mein neuer Bekannter nickte entschuldigend.
»Ja, ja, ich weiß. Ich hätte nicht nach oben kommen
dürfen, aber ich hatte einfach das Gefühl, wenn ich nur noch einen
Augenblick in der Kajüte bliebe, müßte ich ersticken.«
»Besser ersticken, als an der Seuche krepieren,
wenn sie mir die Bemerkung gestatten, Mylord!« erwiderte Jones
streng. Mein Bekannter erhob keinen Protest, sondern murmelte etwas
und verschwand in der Dunkelheit.
Ich streckte den Arm aus und packte Jones am
Kragen, als er an mir vorbeikam. Abrupt blieb er stehen. Vor
Schreck hatte es ihm den Atem verschlagen.
»Ach, Sie sind es, Mrs. Malcolm!« Um sich zu
beruhigen, hielt er sich die knochige Hand vor die Brust. »Herr im
Himmel, ich dachte, es wäre ein Gespenst, wenn Sie entschuldigen,
Gnädigste.«
»Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen«, entgegnete
ich höflich. »Ich wollte Sie nur fragen, mit wem Sie da gerade
gesprochen haben.«
»Ach, der?« Jones sah über die Schulter, aber Mr.
Grey war längst verschwunden. »Nun, das ist Lord John Grey, der
neue Gouverneur von Jamaika.« Mit kritisch gerunzelter Stirn sah er
in die Richtung, in die mein Bekannter verschwunden war. »Er dürfte
eigentlich gar nicht hier heraufkommen, denn der Kapitän hat die
strikte Anweisung gegeben, daß er unten bleibt. Das fehlte uns
jetzt noch, mit einem toten Staatsmann an Bord in den Hafen
einzulaufen!«
Er schüttelte mißbilligend den Kopf. Dann wandte er
sich mit einem kurzen Nicken zu mir um.
»Wollen Sie nicht zu Bett gehen? Soll ich Ihnen ein
Täßchen Tee bringen? Und vielleicht noch ein wenig Zwieback?«
»Nein, danke, Jones«, sagte ich. »Ich mache noch
mal eine Runde durchs Schiffslazarett, bevor ich mich schlafen
lege. Ich brauche nichts.«
»Sollten Sie sich anders besinnen, Gnädigste,
brauchen Sie es nur zu sagen, ganz gleich, wie spät es ist. Gute
Nacht.« Er tippte sich an die Stirn und eilte davon.
Ich blieb noch einen Augenblick an der Reling
stehen und sog die frische Nachtluft ein. Bis zum Morgengrauen
blieben mir noch einige Stunden Zeit. Über mir funkelten hell und
klar die Sterne, und plötzlich merkte ich, daß mir nun doch noch
ein Augenblick der Gnade gewährt wurde.
»Ihr habt recht«, sagte ich zum Meer und zum
Himmel. »Ein Sonnenuntergang allein hätte nicht gereicht. Ich danke
euch.« Und dann ging ich nach unten.