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Q.E.D.
Inverness 5. Oktober 1968
»Ich habe die Übertragungsurkunde gefunden.« Roger
war rot vor Begeisterung. Bei meiner Ankunft auf dem Bahnhof von
Inverness konnte er es kaum abwarten, daß Brianna mich umarmte und
meine Koffer aus dem Zug geladen wurden. Sobald wir in seinem
winzigen Morris saßen, platzte er auch schon mit seiner Neuigkeit
heraus.
»Welche? Die für Lallybroch?« Ich beugte mich nach
vorn, um seine Worte über dem Motorenlärm besser hören zu
können.
»Ja, das Dokument, das Jamie - Ihr Jamie - verfaßt
hat und in dem er seinen Besitz an seinen Neffen, den jungen Jamie,
übertrug.«
»Die Urkunde ist im Pfarrhaus«, warf Brianna ein.
»Wir haben uns nicht getraut, sie mitzubringen. Roger hat wahre
Blutseide leisten müssen, bevor das Archiv sie herausrückte.« Ihre
blasse Haut war mit einem rosigen Schimmer überzogen, und in ihrem
rostroten Haar glitzerten Regentropfen. Nach der langen Trennung
durchfuhr es mich wie ein Schock - jede Mutter hält ihr Kind für
schön, aber Brianna war es wirklich.
Zärtlich lächelte ich sie an. Aber dann packte mich
die Angst. Konnte ich ernsthaft mit dem Gedanken spielen, sie zu
verlassen? Sie deutete mein Lächeln als Freude über die Neuigkeit
und plapperte aufgeregt weiter.
»Und du errätst nie, was wir sonst noch gefunden
haben!«
»Was du gefunden hast«, verbesserte sie Roger und
drückte ihr das Knie, während er den kleinen orangefarbenen Wagen
in einen Kreisverkehr steuerte. Sie warf ihm einen Blick zu und
erwiderte seine Berührung mit einer Vertrautheit, die auf der
Stelle mütterliche
Alarmglocken in mir zum Klingen brachten. War es schon so weit
gekommen?
Ich hatte das Gefühl, als blickte mir Franks
Schatten anklagend über die Schulter. »Ja? Was denn?« krächzte
ich.
Sie sahen sich an und grinsten verschmitzt.
»Abwarten, Mama«, sagte Brianna mit empörender
Selbstgefälligkeit.
»Siehst du?« fragte sie zwanzig Minuten später,
als ich mich im Studierzimmer des Pfarrhauses über den Schreibtisch
beugte. Vor mir lag ein Stapel vergilbter Papiere mit ausgefransten
Rändern. Mittlerweile steckten sie zum Schutz in Plastikhüllen,
doch in der Vergangenheit war man offensichtlich nicht gerade sanft
mit ihnen umgegangen. Eines der Blätter war sogar bis zur Hälfte
eingerissen, und auf allen befanden sich am Rand und im Text
handschriftliche Notizen und Anmerkungen. Anscheinend handelte es
sich um einen Entwurf - aber wofür?
»Das ist ein Artikel«, erklärte mir Roger, während
er ein paar dicke Bände durchsah, die auf dem Sofa lagen.
»Veröffentlicht in einer Zeitschrift namens Forrester’s, die
1765 in Edinburgh von einem Drucker namens Alexander Malcolm
herausgegeben wurde.«
Ich schluckte. Plötzlich spannte mein Kleid in den
Achselhöhlen. Zwischen dem Zeitpunkt, an dem ich Jamie verlassen
hatte, und 1765 lagen fast zwanzig Jahre.
Ich starrte auf die sepiabraunen Buchstaben. Der
Schreiber hatte bei seiner Arbeit Mühe gehabt, wie an den Krakeln,
den ungelenken Strichen und den manchmal zu groß geratenen
Schleifen am »g« und »y« zu erkennen war. Vielleicht die Schrift
eines Linkshänders, der unter Schwierigkeiten mit der Rechten
schreibt.
»Und hier ist die gedruckte Fassung.« Roger legte
einen der aufgeschlagenen Bände vor mir auf den Schreibtisch.
»Sehen Sie das Datum? Das Jahr 1765. Und fast der gleiche Wortlaut
wie im handgeschriebenen Manuskript.«
»Ja«, sagte ich. »Und die
Übertragungsurkunde?«
»Die ist hier.« Brianna wühlte in der obersten
Schublade und zog einen zerknitterten Bogen hervor, der gleichfalls
in einer Plastikhülle steckte. Die Urkunde sah noch mitgenommener
aus als
das Manuskript, denn offensichtlich war sie häufig dem Regen
ausgesetzt gewesen, schmutzig, eingerissen, und viele Worte waren
bis zur Unleserlichkeit verschmiert. Doch die drei Unterschriften
unter dem Text konnte man noch deutlich entziffern.
Im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, stand
dort. Diesmal hatte sich der Verfasser mehr Mühe gegeben, und die
Verwandtschaft zum Manuskript zeigte sich nur in der großen
Schleife des »g«. Unter dem Namenszug James Alexander Malcolm
MacKenzie Fraser hatten die zwei Zeugen unterschrieben - in
säuberlichen, feinen Buchstaben Murtagh FitzGibbons Fraser,
und in meiner schwungvollen Schrift Claire Beauchamp
Fraser.
Ich ließ mich auf den Drehstuhl fallen und legte
die Hand auf das Dokument, als wollte ich mich vergewissern, daß es
keine optische Täuschung war.
»Das ist es, nicht wahr?« fragte Roger. Die
zitternden Finger straften seine zur Schau getragene Gelassenheit
Lügen. »Sie haben unterschrieben. Ein unwiderlegbarer Beweis, wenn
wir ihn noch bräuchten«, sagte er mit einem Blick auf
Brianna.
Brianna schüttelte den Kopf. Die beiden brauchten
das nicht mehr. Seit sie vor fünf Monaten mit eigenen Augen gesehen
hatten, wie Geillis Duncan durch die Steine verschwand, zweifelten
sie nicht mehr an meiner Geschichte.
Dennoch war es ziemlich überwältigend, alles in
Schwarz auf Weiß vor sich liegen zu sehen. Ich zog meine Hand fort
und betrachtete erst die Übertragungsurkunde und dann das
handgeschriebene Manuskript.
»Die Schrift ist die gleiche, Mama«, sagte Brianna
und beugte sich eifrig über den Schreibtisch. »Allerdings war der
Artikel nicht unterzeichnet - oder nur mit einem Pseudonym.« Sie
lächelte. »Der Autor tritt nur als Q.E.D. in Erscheinung. Wir sind
keine Schriftexperten, aber wir wollten die Dokumente nicht zur
Prüfung aus der Hand geben, bevor du sie gesehen hast.«
»Mir scheint, ihr habt recht.« Es hatte mir den
Atem verschlagen. Zugleich aber spürte ich in mir eine
überwältigende Gewißheit und eine geradezu stürmische Freude
aufsteigen. »Ja, ich bin mir ziemlich sicher, daß Jamie das
geschrieben hat.« Q.E.D., in der Tat. Am liebsten hätte ich die
Manuskriptseiten aus der Plastikhülle gezogen und in die Hände
genommen. Ich wollte Tinte
und Bogen spüren, wollte die Zeugnisse berühren, die mir
verrieten, daß Jamie überlebt hatte.
»Es gibt noch mehr Beweise.« Roger konnte seinen
Stolz kaum verbergen. »Der Artikel wendet sich gegen ein Gesetz aus
dem Jahre 1764, das die Ausfuhr schottischer Spirituosen nach
England einschränkt.« Roger zeigte auf einen bestimmten Satz.
»Hier… denn von alters her wissen wir, ›Freiheit und Whisky gehören
zusammen‹. Der Autor hat den Ausspruch in Anführungszeichen
gesetzt, weil er wohl von einem anderen stammt.«
»Von mir«, erklärte ich leise. »Das habe ich
gesagt, als Jamie sich anschickte, Prinz Charles den Portwein zu
stehlen.«
»Das wußte ich noch.« Rogers Augen glitzerten vor
Aufregung.
»Aber das Zitat stammt von Burns«, wandte ich
stirnrunzelnd ein. »Vielleicht hat der Autor es von ihm übernommen
- hat Burns damals schon gelebt?«
»Das schon«, erwiderte Brianna verschmitzt. »Aber
1765 war er erst sechs Jahre alt.«
»Und Jamie müßte vierundvierzig sein.« Plötzlich
schien er mir greifbar nahe. Er war am Leben - die ganze Zeit am
Leben gewesen, verbesserte ich mich, während ich versuchte, meine
Gefühle im Zaum zu halten. Mit zitternden Fingern griff ich nach
den Manuskriptseiten.
»Und wenn -« Ich hielt inne, weil ich wieder schwer
schlucken mußte.
»Und wenn, wie wir denken, die Zeit parallel
verläuft -« Auch Roger kam nicht weiter. Hilfesuchend sah er mich
an. Dann richtete er den Blick auf Brianna.
Die war kreidebleich geworden. Aber ihr Gesicht
verriet kein Anzeichen von Furcht, und ihre Finger waren warm, als
sie mir über die Hand strich.
»Dann kannst du zurückgehen, Mama«, sagte sie, »und
ihn suchen.«
Scheppernd schlugen die Plastikbügel gegen die
Metallstange, als ich mich durch die feilgebotenen Kleider
wühlte.
»Kann ich Ihnen helfen?« fragte mich die
Verkäuferin, ein junges Mädchen mit grellblau umrandeten Augen, die
man allerdings hinter den überlangen Stirnfransen kaum sah.
»Haben Sie noch mehr von diesen historischen
Kleidern?« Ich wies auf den Ständer vor mir, der mit Gewändern mit
Spitzenleibchen und langen Röcken aus Baumwollmusselin und Samt,
also alles nach dem letzten Schrei, vollgehängt war.
Die Verkäuferin hatte den Lippenstift so dick
aufgetragen, daß ich fast befürchtete, er würde Risse bekommen, als
sie lächelte, aber das tat er nicht.
»Natürlich«, meinte sie, »gerade heute ist eine
Lieferung von Jessica-Gutenburg-Modellen reingekommen. Sind die
nicht irre, diese Kleider aus der guten alten Zeit?« Bewundernd
strich sie mit dem Finger über den Ärmel einer braunen Samtrobe.
Dann wies sie auf einen Ständer in der Mitte der Boutique. »Gleich
dort. Unter dem Schild.«
Auf der Tafel stand VERFALLEN SIE DEM ZAUBER DES
ACHTZEHNTEN JAHRHUNDERTS. Und darunter in verschnörkelten
Goldbuchstaben der Firmenname Jessica Gutenburg.
Sofort stach mir ein wunderschönes cremefarbenes
Samtkleid mit Satineinlage und üppigem Spitzenbesatz ins
Auge.
»Das hier würde Ihnen prima stehen.« Die
Verkäuferin war wieder aufgetaucht; wahrscheinlich witterte sie ein
Geschäft.
»Mag sein«, erwiderte ich, »aber praktisch ist es
nicht gerade. Damit kann man ja kaum aus dem Laden gehen, ohne daß
es schmutzig wird.« Bedauernd schob ich das cremefarbene zur Seite
und widmete mich dem nächsten in meiner Größe.
»Oh, die roten gefallen mir besonders gut.«
Begeistert klatschte die Verkäuferin beim Anblick eines granatroten
Stoffs in die Hände.
»Mir auch«, murmelte ich. »Aber wir wollen doch
nicht ordinär aussehen. Wer möchte schon gern für ein leichtes
Mädchen gehalten werden?« Die Verkäuferin sah mich verwundert an.
Dann kam sie wohl zu dem Ergebnis, daß ich scherzte, und kicherte
zustimmend.
»Aber das hier«, sagte sie entschlossen, »ist wie
für Sie geschaffen. Genau Ihre Farbe.«
Damit hatte sie nicht einmal unrecht. Ein Rock bis
zum Boden, dreiviertellange Ärmel mit Spitzenbesatz aus goldgelber,
schwerer Seide, die in Braun, Bernstein und Gold changierte.
Ich nahm das Kleid vom Ständer und hielt es prüfend
in die
Höhe. Ein wenig zu aufwendig vielleicht, aber für meine Zwecke
durchaus geeignet. Die Verarbeitung schien halbwegs solide;
zumindest lugte kein loser Faden hervor. Die maschinengefertigte
Spitze war auf dem Mieder nur mit losen Stichen befestigt, aber das
ließ sich leicht ändern.
»Wollen Sie’s anprobieren? Die Kabinen sind gleich
da drüben.« Ermutigt durch mein Interesse, wich mir die Verkäuferin
nicht mehr von der Seite. Nach einem Blick auf das Preisschild
wußte ich auch, warum: Gewiß war sie am Umsatz beteiligt. Ich
hingegen schnappte bei dem Betrag nach Luft; für das gleiche Geld
konnte man sich in London einen Monat lang eine Wohnung mieten.
Aber dann zuckte ich die Achseln. Wozu brauchte ich schließlich
Geld?
Trotzdem zögerte ich.
»Ich weiß nicht recht«, sagte ich zweifelnd. »Es
ist reizend, aber…«
»Oh, Sie brauchen nicht zu befürchten, das Kleid
könnte zu jugendlich für Sie sein«, versicherte mir die Verkäuferin
ernsthaft. »Sie sehen nicht einen Tag älter als fünfundzwanzig aus.
Na ja, sagen wir, dreißig«, verbesserte sie sich nach einem
hastigen Blick auf mein Gesicht.
»Danke«, entgegnete ich trocken. »Aber das ist es
nicht. Haben Sie auch welche ohne Reißverschluß?«
»Reißverschluß?« Ihr kleines, rundes Gesicht zeigte
nichts als blanke Ratlosigkeit. »Nein… ich glaube nicht.«
»Ist nicht tragisch«, versicherte ich ihr, während
ich das Kleid über den Arm legte und mich zur Umkleidekabine
wandte. »Im Vergleich zu allem anderen sind Reißverschlüsse noch
das geringste meiner Probleme.«