21
Q.E.D.
Inverness 5. Oktober 1968
»Ich habe die Übertragungsurkunde gefunden.« Roger war rot vor Begeisterung. Bei meiner Ankunft auf dem Bahnhof von Inverness konnte er es kaum abwarten, daß Brianna mich umarmte und meine Koffer aus dem Zug geladen wurden. Sobald wir in seinem winzigen Morris saßen, platzte er auch schon mit seiner Neuigkeit heraus.
»Welche? Die für Lallybroch?« Ich beugte mich nach vorn, um seine Worte über dem Motorenlärm besser hören zu können.
»Ja, das Dokument, das Jamie - Ihr Jamie - verfaßt hat und in dem er seinen Besitz an seinen Neffen, den jungen Jamie, übertrug.«
»Die Urkunde ist im Pfarrhaus«, warf Brianna ein. »Wir haben uns nicht getraut, sie mitzubringen. Roger hat wahre Blutseide leisten müssen, bevor das Archiv sie herausrückte.« Ihre blasse Haut war mit einem rosigen Schimmer überzogen, und in ihrem rostroten Haar glitzerten Regentropfen. Nach der langen Trennung durchfuhr es mich wie ein Schock - jede Mutter hält ihr Kind für schön, aber Brianna war es wirklich.
Zärtlich lächelte ich sie an. Aber dann packte mich die Angst. Konnte ich ernsthaft mit dem Gedanken spielen, sie zu verlassen? Sie deutete mein Lächeln als Freude über die Neuigkeit und plapperte aufgeregt weiter.
»Und du errätst nie, was wir sonst noch gefunden haben!«
»Was du gefunden hast«, verbesserte sie Roger und drückte ihr das Knie, während er den kleinen orangefarbenen Wagen in einen Kreisverkehr steuerte. Sie warf ihm einen Blick zu und erwiderte seine Berührung mit einer Vertrautheit, die auf der Stelle mütterliche Alarmglocken in mir zum Klingen brachten. War es schon so weit gekommen?
Ich hatte das Gefühl, als blickte mir Franks Schatten anklagend über die Schulter. »Ja? Was denn?« krächzte ich.
Sie sahen sich an und grinsten verschmitzt.
»Abwarten, Mama«, sagte Brianna mit empörender Selbstgefälligkeit.
 
»Siehst du?« fragte sie zwanzig Minuten später, als ich mich im Studierzimmer des Pfarrhauses über den Schreibtisch beugte. Vor mir lag ein Stapel vergilbter Papiere mit ausgefransten Rändern. Mittlerweile steckten sie zum Schutz in Plastikhüllen, doch in der Vergangenheit war man offensichtlich nicht gerade sanft mit ihnen umgegangen. Eines der Blätter war sogar bis zur Hälfte eingerissen, und auf allen befanden sich am Rand und im Text handschriftliche Notizen und Anmerkungen. Anscheinend handelte es sich um einen Entwurf - aber wofür?
»Das ist ein Artikel«, erklärte mir Roger, während er ein paar dicke Bände durchsah, die auf dem Sofa lagen. »Veröffentlicht in einer Zeitschrift namens Forrester’s, die 1765 in Edinburgh von einem Drucker namens Alexander Malcolm herausgegeben wurde.«
Ich schluckte. Plötzlich spannte mein Kleid in den Achselhöhlen. Zwischen dem Zeitpunkt, an dem ich Jamie verlassen hatte, und 1765 lagen fast zwanzig Jahre.
Ich starrte auf die sepiabraunen Buchstaben. Der Schreiber hatte bei seiner Arbeit Mühe gehabt, wie an den Krakeln, den ungelenken Strichen und den manchmal zu groß geratenen Schleifen am »g« und »y« zu erkennen war. Vielleicht die Schrift eines Linkshänders, der unter Schwierigkeiten mit der Rechten schreibt.
»Und hier ist die gedruckte Fassung.« Roger legte einen der aufgeschlagenen Bände vor mir auf den Schreibtisch. »Sehen Sie das Datum? Das Jahr 1765. Und fast der gleiche Wortlaut wie im handgeschriebenen Manuskript.«
»Ja«, sagte ich. »Und die Übertragungsurkunde?«
»Die ist hier.« Brianna wühlte in der obersten Schublade und zog einen zerknitterten Bogen hervor, der gleichfalls in einer Plastikhülle steckte. Die Urkunde sah noch mitgenommener aus als das Manuskript, denn offensichtlich war sie häufig dem Regen ausgesetzt gewesen, schmutzig, eingerissen, und viele Worte waren bis zur Unleserlichkeit verschmiert. Doch die drei Unterschriften unter dem Text konnte man noch deutlich entziffern.
Im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, stand dort. Diesmal hatte sich der Verfasser mehr Mühe gegeben, und die Verwandtschaft zum Manuskript zeigte sich nur in der großen Schleife des »g«. Unter dem Namenszug James Alexander Malcolm MacKenzie Fraser hatten die zwei Zeugen unterschrieben - in säuberlichen, feinen Buchstaben Murtagh FitzGibbons Fraser, und in meiner schwungvollen Schrift Claire Beauchamp Fraser.
Ich ließ mich auf den Drehstuhl fallen und legte die Hand auf das Dokument, als wollte ich mich vergewissern, daß es keine optische Täuschung war.
»Das ist es, nicht wahr?« fragte Roger. Die zitternden Finger straften seine zur Schau getragene Gelassenheit Lügen. »Sie haben unterschrieben. Ein unwiderlegbarer Beweis, wenn wir ihn noch bräuchten«, sagte er mit einem Blick auf Brianna.
Brianna schüttelte den Kopf. Die beiden brauchten das nicht mehr. Seit sie vor fünf Monaten mit eigenen Augen gesehen hatten, wie Geillis Duncan durch die Steine verschwand, zweifelten sie nicht mehr an meiner Geschichte.
Dennoch war es ziemlich überwältigend, alles in Schwarz auf Weiß vor sich liegen zu sehen. Ich zog meine Hand fort und betrachtete erst die Übertragungsurkunde und dann das handgeschriebene Manuskript.
»Die Schrift ist die gleiche, Mama«, sagte Brianna und beugte sich eifrig über den Schreibtisch. »Allerdings war der Artikel nicht unterzeichnet - oder nur mit einem Pseudonym.« Sie lächelte. »Der Autor tritt nur als Q.E.D. in Erscheinung. Wir sind keine Schriftexperten, aber wir wollten die Dokumente nicht zur Prüfung aus der Hand geben, bevor du sie gesehen hast.«
»Mir scheint, ihr habt recht.« Es hatte mir den Atem verschlagen. Zugleich aber spürte ich in mir eine überwältigende Gewißheit und eine geradezu stürmische Freude aufsteigen. »Ja, ich bin mir ziemlich sicher, daß Jamie das geschrieben hat.« Q.E.D., in der Tat. Am liebsten hätte ich die Manuskriptseiten aus der Plastikhülle gezogen und in die Hände genommen. Ich wollte Tinte und Bogen spüren, wollte die Zeugnisse berühren, die mir verrieten, daß Jamie überlebt hatte.
»Es gibt noch mehr Beweise.« Roger konnte seinen Stolz kaum verbergen. »Der Artikel wendet sich gegen ein Gesetz aus dem Jahre 1764, das die Ausfuhr schottischer Spirituosen nach England einschränkt.« Roger zeigte auf einen bestimmten Satz. »Hier… denn von alters her wissen wir, ›Freiheit und Whisky gehören zusammen‹. Der Autor hat den Ausspruch in Anführungszeichen gesetzt, weil er wohl von einem anderen stammt.«
»Von mir«, erklärte ich leise. »Das habe ich gesagt, als Jamie sich anschickte, Prinz Charles den Portwein zu stehlen.«
»Das wußte ich noch.« Rogers Augen glitzerten vor Aufregung.
»Aber das Zitat stammt von Burns«, wandte ich stirnrunzelnd ein. »Vielleicht hat der Autor es von ihm übernommen - hat Burns damals schon gelebt?«
»Das schon«, erwiderte Brianna verschmitzt. »Aber 1765 war er erst sechs Jahre alt.«
»Und Jamie müßte vierundvierzig sein.« Plötzlich schien er mir greifbar nahe. Er war am Leben - die ganze Zeit am Leben gewesen, verbesserte ich mich, während ich versuchte, meine Gefühle im Zaum zu halten. Mit zitternden Fingern griff ich nach den Manuskriptseiten.
»Und wenn -« Ich hielt inne, weil ich wieder schwer schlucken mußte.
»Und wenn, wie wir denken, die Zeit parallel verläuft -« Auch Roger kam nicht weiter. Hilfesuchend sah er mich an. Dann richtete er den Blick auf Brianna.
Die war kreidebleich geworden. Aber ihr Gesicht verriet kein Anzeichen von Furcht, und ihre Finger waren warm, als sie mir über die Hand strich.
»Dann kannst du zurückgehen, Mama«, sagte sie, »und ihn suchen.«
 
Scheppernd schlugen die Plastikbügel gegen die Metallstange, als ich mich durch die feilgebotenen Kleider wühlte.
»Kann ich Ihnen helfen?« fragte mich die Verkäuferin, ein junges Mädchen mit grellblau umrandeten Augen, die man allerdings hinter den überlangen Stirnfransen kaum sah.
»Haben Sie noch mehr von diesen historischen Kleidern?« Ich wies auf den Ständer vor mir, der mit Gewändern mit Spitzenleibchen und langen Röcken aus Baumwollmusselin und Samt, also alles nach dem letzten Schrei, vollgehängt war.
Die Verkäuferin hatte den Lippenstift so dick aufgetragen, daß ich fast befürchtete, er würde Risse bekommen, als sie lächelte, aber das tat er nicht.
»Natürlich«, meinte sie, »gerade heute ist eine Lieferung von Jessica-Gutenburg-Modellen reingekommen. Sind die nicht irre, diese Kleider aus der guten alten Zeit?« Bewundernd strich sie mit dem Finger über den Ärmel einer braunen Samtrobe. Dann wies sie auf einen Ständer in der Mitte der Boutique. »Gleich dort. Unter dem Schild.«
Auf der Tafel stand VERFALLEN SIE DEM ZAUBER DES ACHTZEHNTEN JAHRHUNDERTS. Und darunter in verschnörkelten Goldbuchstaben der Firmenname Jessica Gutenburg.
Sofort stach mir ein wunderschönes cremefarbenes Samtkleid mit Satineinlage und üppigem Spitzenbesatz ins Auge.
»Das hier würde Ihnen prima stehen.« Die Verkäuferin war wieder aufgetaucht; wahrscheinlich witterte sie ein Geschäft.
»Mag sein«, erwiderte ich, »aber praktisch ist es nicht gerade. Damit kann man ja kaum aus dem Laden gehen, ohne daß es schmutzig wird.« Bedauernd schob ich das cremefarbene zur Seite und widmete mich dem nächsten in meiner Größe.
»Oh, die roten gefallen mir besonders gut.« Begeistert klatschte die Verkäuferin beim Anblick eines granatroten Stoffs in die Hände.
»Mir auch«, murmelte ich. »Aber wir wollen doch nicht ordinär aussehen. Wer möchte schon gern für ein leichtes Mädchen gehalten werden?« Die Verkäuferin sah mich verwundert an. Dann kam sie wohl zu dem Ergebnis, daß ich scherzte, und kicherte zustimmend.
»Aber das hier«, sagte sie entschlossen, »ist wie für Sie geschaffen. Genau Ihre Farbe.«
Damit hatte sie nicht einmal unrecht. Ein Rock bis zum Boden, dreiviertellange Ärmel mit Spitzenbesatz aus goldgelber, schwerer Seide, die in Braun, Bernstein und Gold changierte.
Ich nahm das Kleid vom Ständer und hielt es prüfend in die Höhe. Ein wenig zu aufwendig vielleicht, aber für meine Zwecke durchaus geeignet. Die Verarbeitung schien halbwegs solide; zumindest lugte kein loser Faden hervor. Die maschinengefertigte Spitze war auf dem Mieder nur mit losen Stichen befestigt, aber das ließ sich leicht ändern.
»Wollen Sie’s anprobieren? Die Kabinen sind gleich da drüben.« Ermutigt durch mein Interesse, wich mir die Verkäuferin nicht mehr von der Seite. Nach einem Blick auf das Preisschild wußte ich auch, warum: Gewiß war sie am Umsatz beteiligt. Ich hingegen schnappte bei dem Betrag nach Luft; für das gleiche Geld konnte man sich in London einen Monat lang eine Wohnung mieten. Aber dann zuckte ich die Achseln. Wozu brauchte ich schließlich Geld?
Trotzdem zögerte ich.
»Ich weiß nicht recht«, sagte ich zweifelnd. »Es ist reizend, aber…«
»Oh, Sie brauchen nicht zu befürchten, das Kleid könnte zu jugendlich für Sie sein«, versicherte mir die Verkäuferin ernsthaft. »Sie sehen nicht einen Tag älter als fünfundzwanzig aus. Na ja, sagen wir, dreißig«, verbesserte sie sich nach einem hastigen Blick auf mein Gesicht.
»Danke«, entgegnete ich trocken. »Aber das ist es nicht. Haben Sie auch welche ohne Reißverschluß?«
»Reißverschluß?« Ihr kleines, rundes Gesicht zeigte nichts als blanke Ratlosigkeit. »Nein… ich glaube nicht.«
»Ist nicht tragisch«, versicherte ich ihr, während ich das Kleid über den Arm legte und mich zur Umkleidekabine wandte. »Im Vergleich zu allem anderen sind Reißverschlüsse noch das geringste meiner Probleme.«
Ferne Ufer
gaba_9783641059989_oeb_cover_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_toc_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_fm1_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_ata_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_als_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_ded_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_fm2_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_p01_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c01_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c02_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c03_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_p02_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c04_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c05_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c06_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_p03_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c07_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c08_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c09_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c10_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c11_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c12_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c13_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_p04_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c14_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c15_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c16_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c17_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_p05_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c18_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c19_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c20_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c21_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c22_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c23_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_p06_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c24_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c25_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c26_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c27_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c28_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c29_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c30_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c31_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_p07_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c32_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c33_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c34_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c35_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c36_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c37_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c38_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c39_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_p08_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c40_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c41_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c42_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c43_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c44_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c45_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c46_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c47_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c48_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c49_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c50_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c51_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c52_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_p09_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c53_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c54_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c55_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c56_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c57_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c58_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c59_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c60_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c61_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c62_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_c63_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_ack_r1.html
gaba_9783641059989_oeb_cop_r1.html