53
Fledermausdreck
In frischem Zustand ist Fledermauskot schleimig und von schwarzgrüner Farbe, getrocknet hingegen hellbraun und pulverig. So oder so aber verströmt er einen modrigen Geruch von Moschus und Ammoniak, der einem die Tränen in die Augen treibt.
»Wieviel von diesem Zeug nehmen wir mit, sagtest du?« fragte ich durch das Tuch, das ich mir um den Mund gebunden hatte.
»Zehn Tonnen«, erwiderte Jamie ebenfalls mit gedämpfter Stimme. Wir standen auf dem Oberdeck und sahen zu, wie die Sklaven das stinkende Zeug auf Schubkarren über eine Planke zur offenen Luke des hinteren Laderaums schoben.
Winzige Teilchen des getrockneten Düngers flogen durch die Luft und erfüllten sie mit einer täuschend schönen goldenen Wolke, die in der Nachmittagssonne glitzerte und glänzte. Auch die Männer waren über und über mit dem Dünger bedeckt. Schweißtropfen bildeten dunkle Rinnen in dem Staub auf ihren bloßen Oberkörpern und ihren Gesichtern, so daß sie schwarzgoldgestreift waren wie Zebras.
Jamie tupfte sich die tränenden Augen, als der Wind sich in unsere Richtung drehte. »Weißt du, wie man jemanden kielholt, Sassenach?«
»Nein, aber wenn du Fergus im Auge hast, helfe ich dir. Wie weit ist es noch bis Jamaika?« Fergus hatte auf dem Markt in Bridgetown herumgefragt und der Artemis den ersten Auftrag als Handels- und Frachtschiff verschafft: Den Transport von zehn Kubiktonnen Guano von Barbados nach Jamaika, wo er als Dünger auf der Zuckerrohrplantage eines Mr. Grey Verwendung finden sollte.
Fergus überwachte ziemlich schuldbewußt die Verladung der riesigen Blöcke von getrocknetem Guano, die von den Karren gekippt und von Mann zu Mann bis zum Laderaum weitergereicht wurden. Marsali, die ihm sonst nie von der Seite wich, hatte sich aufs Vorderdeck zurückgezogen. Dort saß sie auf einem mit Orangen gefüllten Faß, den hübschen neuen Schal, den Fergus ihr auf dem Markt gekauft hatte, um das Gesicht gewickelt.
»Wir sind schließlich ein Handelsschiff«, hatte Fergus gemeint. »Wir haben einen fast leeren Laderaum. Und außerdem«, hatte er hinzugefügt, »wird Monsieur Grey uns mehr als angemessen bezahlen.«
»Wie weit, Sassenach?« Jamie blinzelte zum Horizont. Dank Mr. Willoughbys Zaubernadeln war er nun seefest, aber er unterwarf sich der Behandlung ohne echte Begeisterung. »Drei oder vier Tage, meint Warren«, gestand ich mit einem Seufzer, »falls das Wetter einigermaßen hält.«
»Vielleicht ist der Gestank auf See nicht mehr so schlimm«, sagte ich.
»O ja, Madame«, versicherte mir Fergus, der unser Gespräch im Vorbeigehen mitbekommen hatte. »Der Besitzer hat mir gesagt, daß der stechende Geruch rasch verfliegt, sobald das Zeug einmal aus den Höhlen entfernt ist.« Er sprang in das Takelwerk und kletterte trotz seines Hakens geschickt wie ein Affe hinauf. Oben band er ein rotes Tuch fest, das Zeichen für die Helfer vom Kai, an Bord zu gehen. Dann ließ er sich wieder hinuntergleiten, wobei er unterwegs ein paar grobe Worte zu Ping An sagte, der auf einer Saling hockte und die Vorgänge unten im Auge behielt.
»Fergus tut so, als ob diese Fracht ihm gehört« meinte ich.
»Aye, er ist ja auch mein Partner«, erwiderte Jamie. »Ich habe ihm klargemacht, daß er sich überlegen muß, wie er seine Frau ernähren will. Und da es eine Weile dauern wird, bis wir wieder drucken können, muß er eben das nehmen, was sich gerade bietet. Er und Marsali bekommen die Hälfte des Gewinns von dieser Fracht - als Vorschuß auf die Aussteuer, die ich ihr versprochen habe«, fügte er reuevoll hinzu.
»Weißt du«, sagte ich, »ich würde den Brief, den Marsali ihrer Mutter schickt, zu gerne lesen. Ich meine, erst Fergus, dann Vater Fogden und Mamacita, und jetzt auch noch zehn Tonnen Fledermausscheiße als Aussteuer.«
»Ich werde nie wieder einen Fuß auf schottischen Boden setzen können, wenn Laoghaire das erfährt«, meinte Jamie, lächelte aber dabei. »Hast du schon darüber nachgedacht, was du mit deiner neuesten Errungenschaft machen wirst?«
»Erinnere mich nicht daran«, sagte ich ein wenig mürrisch. »Wo ist er überhaupt?«
»Irgendwo unten«, antwortete Jamie nur, da seine Aufmerksamkeit durch einen Mann abgelenkt wurde, der unten auf dem Kai auf uns zukam. »Murphy hat ihm etwas zu essen gegeben, und Innes wird einen Platz für ihn finden. Entschuldige, Sassenach, ich glaube, da möchte mich jemand sprechen.« Er schwang sich von der Reling und ging über die Planke, wobei er einem Sklaven mit einer Karre voll Guano geschickt auswich.
Interessiert beobachtete ich, wie er den Mann begrüßte, einen großen Kolonialisten, der wie ein wohlhabender Plantagenbesitzer gekleidet war und dessen wettergegerbtes Gesicht von einem langjährigen Leben auf den Inseln zeugte. Er streckte Jamie die Hand entgegen, der sie fest drückte und etwas sagte. Sofort schwand das Mißtrauen aus den Zügen des Mannes.
Es mußte mit Jamies Besuch in der Freimaurerloge von Bridgetown zu tun haben, den er unmittelbar nach unserer Ankunft am Tag zuvor gemacht hatte. Er hatte sich als Mitglied der Bruderschaft ausgewiesen, dem Logenmeister seinen Neffen Ian beschrieben und gefragt, ob sie etwas von dem Jungen oder der Bruja wußten. Der Meister hatte ihm versprochen, alle Freimaurer zu informieren, die gelegentlich den Sklavenmarkt und den Frachthafen aufsuchten. Vielleicht zeigte das Versprechen bereits Früchte.
Neugierig beobachtete ich, wie der Plantagenbesitzer ein Stück Papier aus seiner Manteltasche zog und auseinanderfaltete. Dann zeigte er es Jamie und gab offenbar Erklärungen dazu ab. Jamie wirkte sehr konzentriert, doch sein Gesicht zeigte weder Begeisterung noch Enttäuschung. Vielleicht gab es überhaupt keine Nachricht von Ian. Nach unserem Besuch auf dem Sklavenmarkt am Tag zuvor hoffte ich es fast.
 
Während Jamie den Logenmeister besuchte, waren Stern, Fergus, Marsali und ich unter Murphys Führung zum Sklavenmarkt gegangen. Der Markt befand sich in Hafennähe am Ende einer staubigen Straße, die von Ständen mit Obst und Kaffee, Trockenfisch und Kokosnüssen, Yamwurzeln und Koschenilleläusen zum Färben gesäumt wurde.
Murphy, ein leidenschaftlicher Verfechter von Sitte und Anstand, hatte darauf beharrt, daß Marsali und ich einen Sonnenschirm brauchten, und Fergus gezwungen, bei einem Straßenverkäufer zwei zu besorgen.
»In Bridgetown tragen alle weißen Frauen Sonnenschirme«, betonte er.
»Ich brauche aber keinen Sonnenschirm«, erklärte ich ungeduldig, denn angesichts der Möglichkeit, Ian endlich zu finden, war mir mein Teint völlig gleichgültig. »Die Sonne ist nicht besonders stark. Gehen wir!«
Murhpy starrte mich entrüstet an.
»Aber die Leute werden Sie nicht für respektabel halten, wenn Sie sich keine Mühe geben, Ihre Haut zu schützen!«
»Ich habe nicht vor, mich hier niederzulassen«, erwiderte ich bissig. »Es kümmert mich nicht, was die Leute denken.« Um jeden weiteren Streit zu vermeiden, ging ich weiter in Richtung Sklavenmarkt.
»Ihr Gesicht wird… rot… werden!« Murphy humpelte empört neben mir her und versuchte, den Schirm im Gehen zu öffnen.
»Na, das wird mich sicher umbringen!« fuhr ich ihn an. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. »Also gut, dann geben Sie mir das verdammte Ding!« Gereizt nahm ich ihm den Schirm ab und spannte ihn auf.
Doch schon nach kurzer Zeit war ich Murphy dankbar für seine Hartnäckigkeit. Während die Straße von großen Palmen und Drachenbäumen überschattet war, wurde der Sklavenmarkt auf einem großen, gepflasterten Platz abgehalten. Lediglich ein paar schäbige mit Blech oder Palmblättern überdachte Unterstände für die Sklavenhändler und Auktionäre boten etwas Schatten. Die Sklaven selbst waren in großen Pferchen am Rande des Platzes untergebracht, wo sie Wind und Wetter ausgesetzt waren.
Hier im Freien brannte die Sonne tatsächlich unerbittlich. Geblendet von dem gleißenden Licht, blinzelte ich und rückte rasch den Sonnenschirm zurecht.
Jetzt erst sah ich die Unzahl von nackten oder halbnackten Leibern in allen erdenklichen Brauntönen. Vor den Auktionsblocks sammelten sich die Plantagenbesitzer und ihre Dienstboten, um die Ware zu begutachten.
Der Gestank auf dem Platz war stechend, selbst für jemanden, der an die beißenden Gerüche Edinburghs und die übelriechenden Zwischendecks der Porpoise gewöhnt war. In den Ecken der Pferche lagen dampfend menschliche Exkremente, und in der Luft hing ein dicker Ölgestank, aber am durchdringendsten war der unangenehm vertraute Geruch nackten Fleisches, das in der Sonne briet.
»Himmel«, murmelte Fergus. Sein Blick wanderte unruhig von einer Seite zur anderen. »Das ist ja schlimmer als auf dem Montmartre.« Marsali sagte kein Wort, schmiegte sich aber mit gerümpfter Nase noch näher an ihn.
Stern hingegen schien einigermaßen unbeeindruckt. Vermutlich hatte er bei seiner Erforschung der Inseln schon viele solcher Sklavenmärkte zu Gesicht bekommen.
»Die Weißen sind dort hinten«, erklärte er und deutete auf das andere Ende des Platzes. »Kommen Sie. Wir fragen dort nach jungen Männern, die in letzter Zeit verkauft worden sind.« Er legte seine große Hand auf meinen Rücken und schob mich vorsichtig durch die Menschenmenge.
Am Rande des Marktes hockte eine alte, schwarze Frau auf dem Boden und legte Kohle in eine Pfanne. Als wir uns näherten, kam eine Gruppe von Leuten auf sie zu: ein Plantagenbesitzer, der von zwei schwarzen Männern in groben Baumwollhemden und -hosen begleitet wurde, die offenbar seine Diener waren. Einer von ihnen hielt eine gerade erworbene Sklavin am Arm, zwei weitere, bis auf schmale, um die Hüften geschlungene Stoffstreifen nackte Mädchen wurden an Leinen geführt, die um ihren Hals gewickelt waren.
Der Plantagenbesitzer beugte sich hinunter und gab der alten Frau eine Münze. Darauf holte sie mehrere kurze Metallstäbe hervor und hielt sie dem Mann zur Begutachtung hin. Dieser wählte zwei aus, richtete sich wieder auf und übergab die Brandeisen einem Diener, der die Enden in die Kohlepfanne steckte.
Der andere Diener trat derweil hinter das Mädchen und fesselte ihr die Arme. Dann zog der erste die Eisen aus dem Feuer und drückte beide gleichzeitig auf die rechte Brust des Mädchens. Sie stieß einen gellenden Schrei aus, und ein paar der umstehenden Leute drehten sich um. Als die Eisen wieder weggezogen wurden, blieb rohes Fleisch in Form der Buchstaben HB zurück.
Bei diesem Anblick war ich abrupt stehengeblieben. Die anderen hatten es nicht bemerkt und waren weitergegangen. Vergebens sah ich mich nach Stern und Fergus um. Selbst Marsalis gelben Sonnenschirm konnte ich nirgendwo entdecken.
Als ich mich schaudernd abwandte, hörte ich hinter mir Schreie und Wimmern, wollte mich jedoch nicht mehr umsehen. Mit abgewandtem Blick rannte ich an mehreren Auktionsblocks vorbei, wurde dann aber von einer Menschenansammlung vor mir aufgehalten.
Die Männer und Frauen, die mir im Weg standen, lauschten einem Auktionator, der die Tugenden eines nackt auf dem Block stehenden einarmigen Sklaven anpries. Er war klein, aber gut gebaut, mit dicken Schenkeln und einer breiten Brust.
»Er taugt sicher nicht für die Feldarbeit, das stimmt«, räumte der Auktionator ein. »Aber er ist eine gute Investition für die Zucht. Sehen Sie sich diese Beine an!« Er schlug mit seinem Rohrstock auf die Waden des Sklaven und feixte dann in die Menge.
»Können Sie denn eine Garantie für seine Potenz geben?« fragte der Mann hinter ihm skeptisch. »Ich hatte vor drei Jahren einen Hengst, einen Riesenkerl, und trotzdem ging kein einziges Fohlen auf sein Konto.«
Die Menge kicherte, und der Auktionator tat beleidigt.
»Garantie?« sagte er. Er wischte sich theatralisch über die Hängebacken. »Seht selbst, ihr Kleingläubigen!« Er beugte sich vor, packte den Penis des Sklaven und begann, ihn heftig zu massieren.
Der Mann brummte überrascht und wich zurück, doch ein Helfer packte ihn am Arm und hielt ihn fest. Die Menge brach in Gelächter aus, und als das Glied hart wurde und anschwoll, waren vereinzelte Beifallsrufe zu hören.
Plötzlich klickte etwas in mir. Eine maßlose Wut stieg in mir auf - über den Markt, das Brandmarken, die Nacktheit, die rohen Worte und die beiläufigen Demütigungen, vor allem aber über meine eigene Anwesenheit -, und ich handelte, ohne zu überlegen. Ich fühlte mich merkwürdig losgelöst, als ob ich neben mir stünde und zusähe.
»Aufhören!« sagte ich laut, wobei ich meine eigene Stimme kaum wiedererkannte. Der Auktionator blickte überascht auf und lächelte mich einschmeichelnd und gleichzeitig lüstern an.
»Gute Zuchtmasse, Ma’am«, meinte er. »Mit Garantie, wie Sie sehen.«
Ich faltete meinen Sonnenschirm zusammen und stach ihm das spitze Ende in den fetten Bauch, so daß er entsetzt zurücksprang. Dann riß ich den Schirm zurück, schmetterte ihn auf seinen Kopf, ließ ihn fallen und trat mit aller Kraft zu.
Im tiefsten Innern wußte ich, daß es nichts ändern würde, nichts, aber auch gar nichts half und nur Schaden anrichtete. Und doch konnte ich nicht einfach danebenstehen und schweigen. Ich tat es nicht um der gebrandmarkten Mädchen willen, nicht um des Mannes auf dem Block willen, nein, ich tat es für mich selbst.
Um mich entstand ein Höllenlärm, Hände griffen nach mir und zerrten mich von dem Auktionator weg. Nachdem sich der wackere Mann einigermaßen von seinem Schock erholt hatte, schleuderte er mir ein boshaftes Grinsen entgegen und schlug den Sklaven hart ins Gesicht.
Als ich mich hilfesuchend umsah, fing ich einen Blick von Fergus auf, dessen Gesicht wutverzerrt war. Er drängte sich durch die Menge auf den Auktionator zu und rief etwas, so daß sich mehrere Männer nach ihm umdrehten. Die Leute begannen zu stoßen und zu drängeln. Jemand stellte mir ein Bein, und ich fiel auf das Pflaster.
Durch eine Staubwolke hindurch sah ich etwa zwei Meter von mir entfernt Murphy, der sich resigniert hinunterbeugte und sein Holzbein abschnallte. Dann richtete er sich auf, humpelte geschickt nach vorn und schmetterte es mit Wucht auf den Kopf des Auktionators. Der Mann schwankte und fiel um, während die Menge zurückwich.
Seines Opfers beraubt, blieb Fergus nun vor dem gefällten Mann stehen und sah sich wütend um. Aus der anderen Richtung schritt Stern mit grimmiger Miene durch die Menge, die Hand auf dem Buschmesser an seinem Gürtel.
Erschüttert saß ich auf dem Boden. Mir war übel, und ich hatte Angst. Wie dumm ich mich verhalten hatte! Fergus, Stern und Murphy würden nun sicher Prügel beziehen, wenn es nicht sogar noch schlimmer kam.
Doch dann war Jamie da.
»Steh auf, Sassenach«, sagte er ruhig, stellte sich breitbeinig über mich und zog mich hoch. Meine Knie zitterten. Ich sah Raeburns langen Schnauzbart, MacLeod stand hinter ihm - die Schotten waren also an seiner Seite. Dann gaben meine Knie nach, aber Jamie fing mich auf.
»Tu etwas«, sagte ich mit krächzender Stimme. »Bitte. Tu etwas.«
 
Er hatte etwas unternommen. Geistesgegenwärtig, wie er war, hatte er das einzige getan, was einen Aufruhr verhindern und Schaden abwenden konnte. Er hatte den einarmigen Mann gekauft. Und die Ironie dabei war, daß mein kleiner Gefühlsausbruch mich zur Besitzerin eines echten Guinea-Sklaven gemacht hatte, der zwar nur einen Arm hatte, dafür aber gesund und von garantierter Manneskraft war.
Ich seufzte und versuchte, nicht an den Mann zu denken, der sich nun, satt und - wie ich hoffte - ordentlich gekleidet, irgendwo unter Deck befand. In den Besitzdokumenten, die auch nur anzurühren ich mich strikt geweigert hatte, stand, er sei ein vollblütiger Yoruba, der von einem französischem Pflanzer verkauft worden war, einarmig, mit einem Brandzeichen auf der linken Schulter - eine Lilie mit der Intialie »A« -, und er hörte auf den Namen Temeraire. Der Kühne. Aber nirgendwo stand, was in Gottes Namen ich mit ihm anstellen sollte.
Jamie hatte offenbar die Papiere des Mannes von der Loge durchgelesen - soweit ich von der Reling aus erkennen konnte, sahen sie genauso aus wie meine Dokumente für Temeraire. Er gab sie mit einer Verbeugung zurück. Dann tauschten die beiden noch ein paar Worte, schüttelten sich die Hände und trennten sich.
»Sind alle an Bord?« fragte Jamie, als er heraufkam. Das dunkelblaue Band, das seinen dicken Haarzopf zusammenhielt, flatterte in der leichten Brise.
»Aye, Sir«, sagte Mr. Warren und machte eine ruckartige Bewegung mit dem Kopf, was auf einem Handelsschiff als Gruß durchging. »Sollen wir die Segel setzen?«
»Ja, bitte. Danke, Mr. Warren.« Mit einer leichten Verbeugung ging Jamie an ihm vorbei und stellte sich neben mich.
»Nichts«, antwortete er gelassen. Obwohl sein Gesicht ruhig wirkte, spürte ich, wie enttäuscht er war. Bei den Gesprächen, die er am Tag zuvor mit den beiden Männern geführt hatte, welche auf dem Sklavenmarkt mit weißen Zwangsarbeitern handelten, hatte sich nichts Neues ergeben, und der Freimaurer war seine letzte Hoffnung gewesen.
Ich wußte nicht mehr, was ich sagen sollte. Ich legte meine Hand auf die seine und drückte sie. Jamie sah mich mit einem schwachen Lächeln an. Dann holte er tief Luft, straffte die Schultern und legte sich den Mantel um.
»Aye. Zumindest habe ich eins erfahren. Das war eben Mr. Villiers. Er besitzt hier auf der Insel eine große Zuckerplantage. Er hat dem Kapitän der Bruja vor drei Tagen sechs Sklaven abgekauft - aber Ian war nicht darunter.«
»Vor drei Tagen?« Ich war überrascht. »Aber - die Bruja ist schon vor über zwei Wochen von Hispaniola aufgebrochen!«
Er nickte und rieb sich das frisch rasierte Kinn.
»Ja. Und sie ist am Mittwoch hier angekommen - vor fünf Tagen.«
»Also war sie noch woanders, bevor sie nach Barbados gekommen ist! Hast du herausbekommen, wo?«
Er schüttelte den Kopf.
»Villiers wußte es nicht. Er hat sich lange mit dem Kapitän unterhalten. Wie er sagt, hat der Mann ein großes Geheimnis um die letzte Anlaufstelle des Schiffes gemacht. Villiers hat sich nicht viel dabei gedacht, da er wußte, daß die Bruja einen schlechten Ruf hat - und nachdem er gemerkt hatte, daß der Kapitän die Sklaven zu einem günstigen Preis verkaufte.«
»Aber…« - sein Gesicht hellte sich ein wenig auf - »Villiers hat mir die Papiere der Sklaven gezeigt, die er gekauft hat. Hast du dir die für deinen Sklaven schon angesehen?«
»Ich wünschte, du würdest ihn nicht so nennen«, sagte ich. »Aber, ja. Schauen die, die er dir gezeigt hat, genauso aus?«
»Nicht ganz. Auf dreien wurde kein Vorbesitzer genannt - obwohl Villiers sagte, keiner der Sklaven käme direkt aus Afrika; alle sprechen zumindest ein paar Wörter Englisch. Auf einem wurde zwar ein Vorbesitzer genannt, aber der Name war ausgekratzt und nicht mehr zu entziffern. Auf den beiden anderen war eine Mrs. Abernathy aus Rose Hall in Jamaika als Vorbesitzerin vermerkt. Also müssen wir als nächstes nach Jamaika fahren - schon allein, um unsere Fracht loszuwerden, bevor wir an dem Gestank eingehen.« Er rümpfte die lange Nase.
Inzwischen war die Artemis vom Verladekai in den offenen Hafen geglitten. Als wir in den Wind fuhren, umfing das Schiff ein stechender, unheimlicher Geruch - ein neuer Ton in der Geruchssymphonie aus toten Krebsen, feuchtem Holz, Fisch, faulendem Tang und den warmen Ausdünstungen der tropischen Vegetation.
Ich preßte mir das Taschentuch fest über Mund und Nase. »Was ist das?«
»Wir fahren an der Verbrennungsstätte vorbei, Madam, am Ende des Marktplatzes«, erklärte Maitland, der meine Frage mitbekommen hatte. Er deutete zum Ufer, wo eine weiße Federwolke aufstieg. »Sie verbrennen die Leichen der Sklaven, die die Überfahrt von Afrika nicht überlebt haben. Erst laden sie die lebende Fracht aus, dann werden die Leichen entfernt und auf den Scheiterhaufen geworfen, damit sich in der Stadt keine Krankheiten ausbreiten.«
Ich sah Jamie an. Meine Angst spiegelte sich in seinem Gesicht.
»Wie oft machen sie das?« fragte ich. »Jeden Tag?«
»Weiß nicht, Madam, aber ich glaube nicht. Vielleicht einmal in der Woche?« Maitland zuckte die Achseln und widmete sich wieder seinen Pflichten.
»Wir müssen nachsehen«, sagte ich. Meine Stimme kam mir fremd vor.
Jamie war leichenblaß geworden. Wie gebannt blickte er auf die Rauchwolke und preßte die Lippen zusammen.
»Aye«, sagte er nur und wandte sich um, um Mr. Warren zu sagen, er müsse wenden.
 
Der Hüter des Feuers, eine verhutzelte Kreatur von undefinierbarer Hautfarbe und ebensolchem Akzent, brüllte entsetzt los, als er bemerkte, daß eine Dame die Verbrennungsstätte betreten wollte, aber Jamie schubste ihn brüsk zur Seite. Er versuchte nicht, mich zurückzuhalten - er wußte, ich würde ihn hier nicht allein lassen.
Es war eine kleine Mulde, die hinter einer Baumreihe in der Nähe eines Kanals lag, der in den Fluß hineinragte. Zwischen dem leuchtenden Grün der Baumfarne und Zwergpoinciana sah ich schwarze Pechkarren und Berge von trockenem Holz. Auf der rechten Seite hatte man einen riesigen Scheiterhaufen mit einer Holzplattform errichtet, auf der sich die von Pech triefenden Leichen türmten.
Der Scheiterhaufen war erst kurz zuvor angezündet worden; auf der einen Seite stand er zwar schon hell in Flammen, doch vom Rest züngelten nur kleine Flammen hoch. Der Rauch verhüllte die Leichen und rollte in einem wabernden, dichten Schleier über den Haufen, so daß man glaubte, die herabhängenden Glieder bewegten sich.
Jamie hielt inne und starrte auf den Berg von Leichen. Dann sprang er ohne Rücksicht auf Rauch und die glühende Hitze auf die Plattform, zerrte an den Leichen und durchwühlte voller Ingrimm die gräßlichen Überreste.
Einen Moment lang verschwand er im Rauch, und ich dachte, er sei gefallen und das Feuer hätte ihn erfaßt. Ein gräßlicher Geruch von geröstetem Fleisch stieg auf, und mir wurde übel.
»Jamie!« rief ich. »Jamie!«
Statt einer Antwort vernahm ich ein röchelndes Husten, das aus der Mitte des Feuers kam. Wenige Minuten später teilte sich der Rauchschleier, und er kam keuchend heraus.
Er bahnte sich einen Weg von der Plattform herunter und hustete sich die Lunge aus dem Leib. Sein ganzer Körper war mit einer öligen Rußschicht bedeckt, Hände und Kleider waren mit Pech beschmiert, und er konnte nichts mehr sehen.
Ich warf dem Hüter des Feuers ein paar Münzen zu, packte Jamie am Arm und führte ihn aus dem Tal des Todes. Als wir die Palmen erreichten, sank er auf die Knie und erbrach sich.
»Rühr mich nicht an«, keuchte er, als ich versuchte, ihm zu helfen. Wieder und wieder übergab er sich, bis es schließlich aufhörte und er schwankend aufstand.
Er ging langsam zum Rand des Hafenbeckens, zog Rock und Schuhe aus und sprang voll bekleidet ins Wasser.
Als er nach einer Weile triefend aus dem Wasser stieg, waren die Pechflecken zwar noch da, aber der Ruß und der Rauchgeruch waren nahezu verschwunden. Schwer atmend setzte er sich auf die Kaimauer. Über uns lugte eine Reihe neugieriger Gesichter über die Reling der Artemis.
»Er war nicht dabei«, sagte er.
Eine erfrischende Brise wirbelte die nassen Locken auf, die auf seine Schultern herabfielen. Als ich mich umsah, war die Federwolke, die aus der kleinen Senke aufstieg, schwarz geworden. Sie schwebte zum Meer - die Asche der toten Sklaven floh mit dem Wind zurück nach Afrika.
Ferne Ufer
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