60
Der Duft der Steine
Rose Hall lag zehn Meilen von Kingston entfernt.
Der Weg dorthin führte über eine steile, staubige Straße, die sich
die bläulich schimmernden Berge hinaufschlängelte. Sie war
überwuchert und so schmal, daß wir fast die ganze Strecke
hintereinander reiten mußten. Ich folgte Jamie durch die Dunkelheit
unter Bäumen hindurch, die gut dreißig Meter hoch waren und in
deren Schatten riesige Farne wuchsen. Fast hoffte ich, daß Mr.
Willoughby diesen Weg genommen hatte - hier würde ihn nie jemand
aufspüren.
Obwohl die Milizsoldaten die Stadt sorgfältig
durchkämmt hatten, hatten sie den Chinesen nicht gefunden. Für
morgen erwartete man die Ankunft einer Marinesondereinheit aus
Antigua. In der Zwischenzeit hatte sich jedes Haus in Kingston in
eine Festung verwandelt, und die Bewohner waren bis an die Zähne
bewaffnet.
In der Stadt herrschte eine gespannte Atmosphäre.
Wie alle Marineoffiziere vertrat auch der Oberst die Ansicht, daß
der Chinese von Glück reden könne, wenn er lang genug lebte, um am
Galgen zu enden.
»Bestimmt reißen sie ihn in Stücke«, hatte Oberst
Jacobs gemeint, als er uns in der Mordnacht aus dem
Gouverneurspalast führte. »Sie werden ihm die Eier abreißen und in
sein stinkiges Maul stopfen, jawohl«, hatte er mit grimmiger
Genugtuung hinzugefügt.
»Wohl, wohl«, hatte Jamie auf französisch
gemurmelt, als er mir in die Kutsche half. Ich wußte, daß ihm die
Sache mit Mr. Willoughby keine Ruhe ließ, denn auch jetzt war er
still und nachdenklich. Doch wir konnten nichts tun. Wenn der
kleine Chinese unschuldig war, konnten wir ihn nicht retten, wenn
er die Tat begangen
hatte, konnten wir ihn nicht ausliefern. Das Beste wäre, man würde
ihn nicht finden.
Unterdessen hatten wir fünf Tage Zeit, Ian zu
suchen. Wenn er wirklich auf Rose Hall war, würde alles gut werden.
Wenn nicht…
Ein Zaun und ein schmales Tor trennten die
Plantage vom umgebenden Wald. Man hatte das Land gerodet und
Zuckerrohr und Kaffee angepflanzt. In einiger Entfernung vom Haus
stand auf einer anderen Anhöhe ein großes, unscheinbares, mit Lehm
verputztes Gebäude, das mit Palmwedeln gedeckt war. Dunkelhäutige
Menschen gingen dort geschäftig ein und aus, und der durchdringende
Geruch von verbranntem Zucker lag in der Luft.
Unterhalb der Raffinerie - oder was ich dafür hielt
- stand eine große Zuckermühle. Eine primitive Konstruktion: Zwei
x-förmig übereinandergelegte Balken, die oben an einer riesigen
Spindel befestigt waren, die aus der kastenförmigen Presse ragte.
Ein paar Männer erklommen die Mühle, die gerade nicht lief. Die
Ochsen, die sie antrieben, waren in einiger Entfernung angepflockt
worden und grasten.
»Wie bekommen sie bloß den Zucker von hier oben
nach Kingston?«
»Sie befördern ihn den Fluß hinunter, der gleich
hinter dem Haus vorbeifließt. Bist du bereit, Sassenach?«
»Wie immer.«
Rose Hall war ein zweistöckiges, langgestrecktes,
elegantes Gebäude. Das Dach war mit teuren Schieferplatten gedeckt
und nicht wie die meisten anderen Plantagensitze mit einfachem
Blech. Entlang einer Hauswand erstreckte sich eine breite Veranda,
von der Flügeltüren ins Innere führten.
Gleich neben der Eingangstür stand ein großer,
gelber Rosenbusch. Sein Duft war so intensiv, daß es einem fast den
Atem nahm. Oder lag es an der Aufregung, daß ich kaum Luft bekam?
Während wir darauf warteten, daß man uns öffnete, schaute ich mich
um und versuchte, in der Nähe der Raffinerie irgendeinen Weißen
auszumachen.
»Ja, Sir?« Eine Sklavin mittleren Alters musterte
uns neugierig. Ihr massiger Körper steckte in einem weißen
Baumwollkittel, um
den Kopf hatte sie einen roten Turban gewickelt, und ihre Haut
schimmerte in einem tiefem Goldbraun.
»Wir sind Mr. und Mrs. Malcolm und möchten Mrs.
Abernathy unsere Aufwartung machen«, sagte Jamie höflich. Die Frau
wirkte überrascht, als wären Besucher etwas Ungewöhnliches. Sie
zögerte kurz, doch dann nickte sie und bat uns herein.
»Warten Sie bitte im Salon«, sagte sie. »Ich frage
die Mistress, ob sie Sie sehen will.«
Der Salon war ein großer, schön geschnittener Raum
mit riesigen Flügelfenstern auf einer Seite, die bis auf den Boden
reichten. Am anderen Ende des Zimmers befand sich ein imposanter
Kamin mit einem steinernen Aufsatz und einer Kaminplatte aus
poliertem Schiefer, der fast die ganze Wand einnahm. Man hätte ohne
weiteres einen Ochsen darin braten können, und der riesige
Bratspieß im Kamin deutete darauf hin, daß die Hausherrin dies
gelegentlich wohl auch tat.
Die Sklavin hatte uns gebeten, auf einem Korbsofa
Platz zu nehmen. Ich setzte mich und sah mich um, aber Jamie ging
ruhelos im Zimmer auf und ab und sah gelegentlich aus einem der
Fenster, von denen aus man auf die Zuckerrohrfelder unterhalb des
Hauses blickte.
Ein eigenartiges Zimmer: Es war behaglich mit Korb-
und Rattanmöbeln eingerichtet, auf denen viele dicke Kissen lagen,
aber es gab ein paar seltsame Dinge, die mir ins Auge stachen. Auf
einem Fenstersims stand eine Reihe silberner Tischglocken,
gestaffelt von ganz klein bis groß, und neben mir, auf einem
Tischchen, befanden sich verschiedene kauernde Figuren aus Stein
und Terrakotta, die wie primitive Fetische oder Götzen
aussahen.
Es handelte sich eindeutig um Frauengestalten, die
entweder ungemein schwanger oder mit riesigen, vollen Brüsten und
ausladenden Hüften ausgestattet worden waren. Alle jedoch strahlten
eine deutliche und ziemlich beunruhigende Sexualität aus. Nun,
dieses Jahrhundert war gewiß nicht prüde, aber dennoch hätte ich
nie erwartet, solche Objekte in einem Salon vorzufinden.
Etwas weniger gewagt waren die jakobitischen
Andenken. Eine silberne Schnupftabaksdose, ein Glasflakon, ein
verzierter Fächer, eine Servierplatte, ja, sogar der große, gewebte
Teppich auf dem Boden - all diese Dinge waren mit der weißen Rose
der Stuarts verziert.
Das war nicht ungewöhnlich: Viele Jakobiten, die nach der Schlacht
von Culloden aus Schottland geflohen waren, hatte es auf die
Westindischen Inseln verschlagen. Eine jakobitisch gesinnte
Hausherrin könnte sich über den Besuch eines Landsmanns freuen und
bereit sein, uns bei der Sache mit Ian entgegenzukommen. Wenn er
wirklich hier ist, mahnte mich meine innere Stimme.
Aus dem hinteren Teil des Hauses drang der Klang
von Schritten. Als die Tür sich öffnete, flackerte das Kaminfeuer
im Zug, und Jamie stöhnte auf, als hätte ihm jemand einen Schlag
versetzt. Ich blickte auf, um mir die Hausherrin genauer
anzusehen.
Erstaunt erhob ich mich, und dabei fiel der kleine,
silberne Becher, den ich in der Hand hielt, scheppernd zu
Boden.
»Wie ich sehe, hast du dir deine mädchenhafte Figur
erhalten, Claire.« Mit leicht geneigtem Kopf musterten mich ihre
grünen Augen amüsiert.
Ich war viel zu überrascht, als daß ich darauf
etwas hätte erwidern können, doch mir schoß der Gedanke durch den
Kopf, daß man das von ihr nicht gerade behaupten konnte.
Geillis Duncan hatte schon immer einen üppigen,
milchweißen Busen und volle Hüften gehabt. Und obwohl ihre Haut
noch immer milchweiß war, so hatte sie unübersehbar an Üppigkeit
und Fülle zugelegt. Sie trug ein weit geschnittenes Musselinkleid,
unter dem ihr weiches Fleisch bei jeder Bewegung wabbelte und
schwabbelte. Ihr ehemals zart geschnittenes Gesicht war nun
aufgedunsen, doch ihre leuchtendgrünen Augen glitzerten noch immer
voller Bosheit und Schalk.
Ich atmete tief durch und faßte mich wieder.
»Ich hoffe, du verstehst mich jetzt nicht falsch«,
sagte ich, während ich mich langsam auf das Korbsofa sinken ließ,
»aber warum bist du nicht tot?«
Ihr silberhelles Lachen klang wie einst.
»Sollte ich das deiner Ansicht nach sein? Nun, du
bist nicht die erste, die das findet - und ich denke, du wirst auch
nicht die letzte sein.«
Sie sank in einen Sessel, nickte Jamie lässig zu
und klatschte in die Hände, um das Dienstmädchen zu rufen. »Eine
Tasse Tee?« fragte sie mich. »Bitte, und später lese ich dir dann
aus den Teeblättern. Dafür bin ich hier bekannt: eine gute
Wahrsagerin - und
warum nicht?« Sie lachte wieder, und ihre Pausbacken röteten sich
vor Freude. Falls sie das Wiedersehen genauso erschreckt hatte wie
mich, überspielte sie das meisterhaft.
»Tee«, sagte sie zu dem schwarzen Dienstmädchen,
das auf ihr Klatschen hin erschienen war. »Den für besondere
Gelegenheiten aus der blauen Dose, aye? Und ein paar von den
Nußkeksen.«
»Du ißt doch einen Happen, oder?« fragte sie mich.
»Es ist ja doch ein besonderer Anlaß. Ich war gespannt, ob sich
unsere Wege nach jenem Tag in Cranesmuir noch einmal kreuzen
würden.«
Mein Herz schlug wieder ruhiger, und mein Schock
war Neugier gewichen. In mir stiegen Dutzende von Fragen hoch, und
so stellte ich ihr einfach die nächstbeste.
»Als wir uns in Cranesmuir begegnet sind, hast du
mich da erkannt?« wollte ich wissen.
Sie schüttelte so heftig den Kopf, daß sich einige
helle Haarsträhnen aus ihrem Knoten lösten. Beiläufig steckte sie
sie wieder fest.
»Nein, zunächst nicht. Aber ich fand dich in deiner
Art sehr fremd - und war nicht die einzige, die diesen Eindruck
hatte. Du bist völlig unvorbereitet durch den Steinkreis gekommen,
oder? Ich meine, nicht absichtlich!«
Ich war versucht, »damals nicht« zu sagen, hielt
mich aber zurück und meinte statt dessen: »Nein, es geschah
zufällig. Aber du bist mit voller Absicht gekommen, nicht wahr -
aus dem Jahre 1968?«
Sie nickte und sah mich stirnrunzelnd an.
»Aye - um Prinz Tcharlach zu helfen.« Sie verzog
den Mund, als hätte sie etwas Schlechtes gegessen, und plötzlich
drehte sie den Kopf zur Seite und spuckte aus.
»Elender italienischer Feigling!« Ihre Augen
verdunkelten sich gefährlich. »Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich
mich auf den Weg nach Rom gemacht und ihn getötet, solange noch
Zeit war. Allerdings wäre sein Bruder Henry wahrscheinlich kein
Deut besser gewesen, dieser kastrierte, wehleidige Pfaffe! Nach der
Schlacht von Culloden war ein Stuart so nutzlos wie der
andere.«
Sie seufzte und rutschte auf dem Sessel hin und
her, so daß das Rattangeflecht bedenklich knarzte. Ungeduldig
wedelte sie mit der Hand - damit waren die Stuarts abgetan.
»Aber das hätte sich fürs erste erledigt. Du bist
wahrscheinlich in der Zeit eines Feuerfests durch den Steinkreis
gegangen, nicht wahr? So passiert es für gewöhnlich.«
»Ja«, antwortete ich verdutzt. »Es geschah an
Beltene. Aber was meinst du mit ›für gewöhnlich‹? Bist du noch
vielen anderen wie… uns begegnet?« erkundigte ich mich
zögernd.
Abwesend schüttelte sie den Kopf. »Nicht vielen.«
Sie schien über etwas nachzugrübeln, doch vielleicht war sie auch
nur ungehalten, weil das Mädchen mit dem Tee noch nicht erschienen
war. Hastig griff sie nach dem silbernen Glöckchen und klingelte
ungestüm.
»Zum Teufel, wo bleibt bloß Clotilda!« rief sie
zornig, um dann unvermittelt auf unser Thema zurückzukommen.
»Menschen wie uns?« meinte sie. »Nein, außer dir
kenne ich nur noch eine einzige Person. Ich war völlig perplex, als
ich die kleine Narbe auf deinem Arm entdeckte.« Sie deutete auf den
bauschigen Teil ihres weißen Musselinärmels, unter dem sich die
Impfnarbe verbarg. Wieder neigte sie den Kopf zur Seite und sah
mich prüfend an.
»Nein, damit beziehe ich mich auf die Geschichten,
die erzählt werden. Menschen, die in Zauber- und Steinkreisen
angeblich verschwunden sind. Für gewöhnlich gehen sie um Beltene
oder Samhain hindurch, einige während der anderen Sonnen- und
Feuerfeste Lugnasa und Imbolc.«
»Also darum ging es auf der Liste!« Plötzlich fiel
mir das graue Notizbuch wieder ein, das ich bei Roger Wakefield
gelassen hatte. »Du hattest eine Liste mit Daten und fast
zweihundert Initialen. Ich wußte nicht, was es damit auf sich
hatte, aber ich kann mich erinnern, daß die Daten fast alle um Ende
April und Anfang Mai oder Ende Oktober herum lagen.«
»Aye, das stimmt.« Sie nickte, während sie mich
weiterhin durchdringend musterte. »Du hast also mein Büchlein
gefunden? Hast du so herausgefunden, wann du auf dem Craigh na Dun
Ausschau nach mir halten mußtest? Das warst doch du, oder? Die
meinen Namen rief, bevor ich durch den Steinkreis ging?«
»Gillian«, sagte ich und merkte, wie ihre Pupillen
sich beim Klang ihres früheren Namens erweiterten. Doch ihr Gesicht
blieb ausdruckslos.
»Gillian Edgars. Ja, das war ich. Ich wußte nicht,
ob du mich in der Dunkelheit gesehen hast.«
Vor meinem geistigen Auge entstand jener
nachtschwarze Steinkreis - und in seiner Mitte das flackernde
Feuer, daneben die Gestalt eines schlanken Mädchens, dessen helles
Haar in der Hitze des Feuers flatterte.
»Ich habe dich nicht gesehen«, meinte sie. »Doch
später, als du bei dem Hexenprozeß plötzlich aufgeschrien hast,
meinte ich, deine Stimme schon einmal gehört zu haben. Und als ich
dann die Narbe auf deinem Arm bemerkte… Wer war übrigens in jener
Nacht bei dir?« erkundigte sie sich neugierig. »Ich konnte zwei
weitere Gestalten ausmachen - einen hübschen, dunkelhaarigen Mann
und ein Mädchen.« Sie schloß die Augen, um sich alles besser in
Erinnerung rufen zu können. Als sie sie wieder öffnete, sagte sie:
»Später dachte ich, ich würde sie kennen - aber ich konnte ihrem
Gesicht keinen Namen zuordnen. Wer war sie?«
»Mistress Abernathy«, unterbrach Jamie unser
Gespräch. Der erste Schock, ihr hier zu begegnen, hatte sich
gelegt, aber er war immer noch blaß, und seine Wangenknochen
zeichneten sich deutlich auf seinem angespannten Gesicht ab.
Sie sah ihn an, als nähme sie zum erstenmal von ihm
Notiz.
»Und wenn das nicht der junge Rotfuchs ist!«
stellte sie amüsiert fest. Neugierig musterte sie ihn von oben bis
unten.
»Wie ich sehe, sind Sie inzwischen zu einem
gutaussehenden Mann herangewachsen. Sie sehen wie ein echter
MacKenzie aus. Das war schon immer so, aber jetzt, mit zunehmendem
Alter, sind Sie Dougal und Colum wirklich wie aus dem Gesicht
geschnitten.«
»Bestimmt würden sich die beiden freuen, wenn sie
wüßten, daß Sie sich noch so gut an sie erinnern.« Jamie ließ
Geillis nicht aus den Augen. Er hatte sie noch nie ausstehen
können, doch solange sie womöglich Ian hier versteckt hielt, durfte
er sie nicht verärgern.
Da das Mädchen mit dem Tee kam, blieb sie ihm die
Erwiderung schuldig. Jamie setzte sich zu mir aufs Sofa, während
Geillis uns wie eine ganz gewöhnliche, höfliche Gastgeberin eine
Tasse Tee einschenkte. Um diese Illusion aufrechtzuerhalten,
reichte sie Milch und Zucker herum und betrieb eifrigst
Konversation.
»Wenn Sie mir die Frage gestatten, Mrs. Abernathy«,
erkundigte sich Jamie, »was hat Sie hierher verschlagen?« Höflich
unterschlug
er den damit verbundenen Rest der Frage: Wie ist es Ihnen
gelungen, nicht als Hexe verbrannt zu werden?
Sie lachte kokett auf.
»Nun, wie Sie sich vielleicht erinnern, war ich
damals in Cranesmuir ein recht wildes Ding.«
»Ich meine, mich vage erinnern zu können.« Jamie
trank einen Schluck Tee, während seine Ohrläppchen rot anliefen.
Nun, er hatte durchaus Grund, sich zu erinnern, denn während des
Hexenprozesses hatte sie sich die Kleider vom Leib gerissen, um die
gut verborgene Wölbung ihres Bauches zu enthüllen, die ihr -
zumindest vorübergehend - das Leben retten sollte.
Genüßlich fuhr sie sich mit ihrer kleinen
rosafarbenen Zunge über die Unterlippe, um ein paar Tropfen Tee
aufzulecken.
»Hast du auch Kinder?« fragte sie mich.
»Ja.«
»Eine schreckliche Plackerei, nicht wahr? Erst
schleppt man sich wie eine schmutzverkrustete Sau herum, um dann
schließlich von etwas entbunden zu werden, was wie eine ertränkte
Ratte aussieht.« Angeekelt schüttelte sie sich. »Die Freuden der
Mutterschaft, daß ich nicht lache! Obwohl, ich darf mich eigentlich
nicht beklagen - schließlich hat mir der kleine Wurm das Leben
gerettet. Und so schrecklich die Geburt auch ist, so ist das immer
noch besser, als auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden.«
»So würde ich das auch sehen«, erwiderte ich.
»Obwohl ich, was letzteres betrifft, keinerlei Erfahrung habe und
es daher nicht mit Bestimmtheit sagen kann.«
Geillis verschluckte sich an ihrem Tee, und ein
paar braune Tropfen spritzten ihr auf das Kleid. Sie wischte sie
achtlos beiseite, während sie mich belustigt ansah.
»Nun, ich auch nicht, aber ich habe sie brennen
sehen, Herzchen. Und ich denke, sogar in einem Dreckloch zu liegen
und zuzusehen, wie der Bauch wächst, ist allemal besser als
das.«
»Haben sie dich während der ganzen Schwangerschaft
im Diebesloch gefangengehalten?« Der silberne Löffel lag kühl in
meiner Hand, aber bei dem bloßen Gedanken an das Diebesloch in
Cranesmuir wurden meine Handflächen feucht. Der Hexerei
beschuldigt, hatte ich dort drei Tage mit Geillis Duncan
zugebracht. Wie lange hatte sie wohl dort ausharren müssen?
»Drei Monate«, sagte sie und starrte abwesend in
ihre Teetasse. »Drei schrecklich lange Monate mit eiskalten Füßen
und kriechendem Getier, stinkendem Fraß und Leichengestank, der mir
Tag und Nacht um die Nase wehte.«
Sie sah auf, und ihr Mund verzog sich zu einem
bitteren Grinsen. »Doch das Kind habe ich dann in stilvollerer
Umgebung zur Welt gebracht. Als die Wehen einsetzten, holten sie
mich aus dem Loch - in dem Zustand hätte ich mich wohl kaum
davongemacht, oder? -, und das Baby wurde in meinem Schlafzimmer im
Haus des Prokurators geboren.«
Ihr Blick war leicht verschwommen, und ich fragte
mich, ob sie wirklich nur Tee in ihrer Tasse hatte.
»Wißt ihr noch, es hatte bunte Bleiglasfenster! Sie
schimmerten in purpur und grün - das vornehmste Haus im Ort.« Sie
lächelte nostalgisch. »Als sie mir den Jungen in den Arm gelegt
haben, war sein Gesicht in grünes Licht getaucht. Er sah aus, als
wäre er ertrunken. Ich dachte, wenn ich ihn berühre, ist sein
Körper sicher kalt wie ein Leichnam. Aber sein Körper war ganz
warm. So warm wie die Eier seines Vaters.« Sie lachte plötzlich auf
- ein schmutziges Lachen.
»Warum sind die Männer nur so dumm? Zumindest eine
Zeitlang tun sie alles, was man will, weil sie nur mit dem Schwanz
denken. Dann gebiert man ihnen einen Sohn, und sie fressen einem
wieder aus der Hand. Aber ob sie nun reinkommen oder rausgehen, für
sie zählt nur, daß man mit ihnen ins Bett steigt.«
Sie lehnte sich zurück und spreizte die Beine. Dann
beugte sich sich vor und prostete mit der Tasse ihrem Venushügel
zu.
»Auf dein Wohl, mächtigste Sache der Welt!
Zumindest die Schwarzen sind sich dessen bewußt.« Sie trank einen
kräftigen Schluck. »Sie schnitzen kleine Götzenbilder, die nur aus
Bauch, Brüsten und Vagina bestehen. Im Grunde genommen tun die
Männer aus unserer Zeit, Claire, nichts anderes, oder?« Sie sah
mich mit einem breiten Grinsen an. »Man braucht nur einen Blick in
die schmutzigen Heftchen zu werfen, die unterm Ladentisch gehandelt
werden, aye?«
Ihr Blick fiel auf Jamie. »Und Sie kennen sicher
die Bilder und Bücher, die in Paris kursieren, Rotfuchs. Es ist
überall dasselbe.« Sie winkte ab und nahm noch einen kräftigen
Schluck. »Aber wenigstens
haben die Schwarzen den Anstand, das Weibliche zu verehren.«
»Sehr aufmerksam von ihnen«, sagte Jamie ruhig. Er
hatte es sich auf dem Sofa bequem gemacht und seine langen Beine
ausgestreckt, doch mir entging nicht, wie angespannt er seine
Teetasse umklammerte. »Und woher kennen Sie die Bilder, die die
Männer in Paris betrachten, Mistress - Abernathy, wenn ich nicht
irre?«
Sie war vielleicht etwas angeheitert, aber
keineswegs betrunken. Durchdringend sah sie ihn an und verzog den
Mund zu einem Grinsen.
»Oh, Mistress Abernathy ist schon in Ordnung. In
Paris hatte ich einen anderen Namen - Madame Melisande Robicheaux.
Gefällt er Ihnen? Ich fand ihn ja etwas zu hochtrabend, aber Ihr
Onkel Dougal nannte mich so, und aus reiner Sentimentalität habe
ich ihn beibehalten.«
Meine freie Hand ballte sich unter den Falten
meines Rockes zur Faust. Als wir in Paris lebten, hatte ich von
Madame Melisande gehört. Sie zählte nicht zur feinen Gesellschaft,
hatte es aber als Seherin zu einer gewissen Berühmtheit gebracht.
Insgeheim konsultierten sie die Damen des Hofes, holten sich Rat in
Liebesdingen, Geldangelegenheiten und bei Schwangerschaften.
»Ich nehme an, du konntest den Damen der
Gesellschaft einige interessante Dinge berichten«, meinte ich
trocken.
Diesmal klang ihr Lachen ehrlich amüsiert. »O ja,
das konnte ich! Obwohl ich es nur selten tat. Die Leute zahlen
nicht gern für die Wahrheit. Manchmal allerdings - wußtest du, daß
Jean-Paul Marats Mutter ihr Kind ursprünglich Rudolphe nennen
wollte? Ich sagte ihr, dieser Name würde unter einem unglücklichen
Stern stehen. Hin und wieder komme ich deswegen ins Grübeln - wäre
er mit einem Namen wie Rudolphe auch zum Revolutionär geworden,
oder hätte er es beim Gedichteschreiben belassen? Na, Rotfuchs,
haben Sie je darüber nachgedacht, ob ein Name etwas ändert?« Ihre
grasgrünen Augen musterten Jamie durchdringend.
»Schon oft«, erwiderte er. »Es war also Dougal, der
Sie aus Cranesmuir weggebracht hat?«
Sie nickte und unterdrückte ein Rülpsen. »Aye. Er
kam, um das Kind zu holen - er hatte Angst, jemand könnte
herausfinden, daß er der Vater ist. Doch ich weigerte mich, den
Jungen herzugeben.
Als er mir das Kind entwinden wollte, griff ich mir den Dolch aus
seinem Gürtel und drückte ihn dem Kind an die Kehle.« Als sie sich
daran erinnerte, huschte ein kleines, zufriedenes Lächeln über ihr
Gesicht.
»Ich sagte ihm, ich würde das Kind töten, wenn er
mir nicht bei seinem Leben und dem seines Bruders schwörte, daß er
mich an einen sicheren Ort bringen wollte.«
»Hat er dir geglaubt?« Mir wurde leicht übel bei
der Vorstellung, daß eine Mutter ihrem Neugeborenen ein Messer an
die Kehle halten konnte - selbst wenn es nur zum Schein war.
»O ja«, erwiderte sie sanft, und ihr Lächeln wurde
breit. »Dougal kannte mich schließlich.«
Obwohl es Dezember und bitterkalt gewesen war,
hatte Dougal der Schweiß auf der Stirn gestanden. Er konnte den
Blick nicht vom Gesichtchen seines schlafenden Sohnes abwenden und
hatte schließlich in den Handel eingewilligt.
Jamie zeigte keinerlei Gefühlsregung, doch er griff
nach seiner Teetasse und trank einen großen Schluck.
Dougal hatte den Gefängniswärter, John MacRae, und
den Küster rufen lassen. Mit einer saftigen Bestechung stellte er
sicher, daß die vermummte Gestalt, die am nächsten Morgen zum
Pechfaß geschleift wurde, nicht Geillis Duncan war.
»Ich dachte, sie würden vielleicht Stroh
hernehmen«, meinte sie, »aber Dougal hatte einen besseren Plan.
Drei Tage zuvor war die alte Joan MacKenzie gestorben und sollte an
jenem Nachmittag beerdigt werden. Also kamen ein paar Steine in den
Sarg, der Deckel wurde ordentlich zugenagelt, und damit hatte sich
die Sache. Ein echter Leichnam, für das Feuer wie geschaffen!« Sie
lachte und trank den letzten Schluck.
»Wohl kaum jemand hat die Möglichkeit, seiner
eigenen Beerdigung zuzusehen, und noch weniger Menschen beobachten
ihre eigene Hinrichtung, aye?«
Es war tiefster Winter, und das Ebereschenwäldchen
draußen vor dem Dorf war kahl. Der Wind blies das Laub umher, und
hier und da lagen vertrocknete, rote Beeren am Boden, die wie
Blutstropfen schimmerten.
Es war ein wolkenverhangener Tag, und es sah aus,
als würde es schneien, aber trotzdem war das ganze Dorf auf den
Beinen.
Schließlich wurde nicht alle Tage eine Hexe verbrannt. Der
Dorfpfarrer, Vater Bain, war zwar drei Monate zuvor an Wundfieber
gestorben, doch ein Pfarrer aus einer Nachbargemeinde sprang für
ihn ein. Auf seinem Weg zum Wäldchen schwenkte der Priester das
Weihrauchfaß und sang das Totengebet. Hinter ihm ging der
Gefängniswärter mit seinen beiden Gehilfen. Gemeinsam zogen sie den
Karren mit der in Schwarz gehüllten Fracht.
»Die alte Joan wäre zufrieden gewesen, glaube ich«,
sagte Geillis und lächelte breit. »Zu ihrer Beerdigung hätten sich
sicher nicht mehr als vier oder fünf Leute zusammengefunden - doch
nun war das ganze Dorf erschienen, ganz zu schweigen von dem
Weihrauch und den besonderen Gebeten!«
MacRae hatte den schlaffen Körper losgebunden und
ihn zum bereitstehenden Pechfaß getragen.
»Das Gericht hatte mir die Gnade gewährt, vor der
Verbrennung erwürgt zu werden«, erzählte Geillis mit ironischem
Unterton. »Man ging also nicht davon aus, mich noch lebend
vorzufinden. Das einzige, was den Anwesenden hätte auffallen
können, war die Tatsache, daß die alte Joan weitaus weniger wog als
ich. Aber niemand schien zu bemerken, was für ein Leichtgewicht
MacRae da in den Armen trug.«
»Du warst dabei?« fragte ich konsterniert.
Sie nickte selbstzufrieden. »Aber sicher doch. Dick
vermummt, was nicht weiter auffiel, denn bei dem Wetter hatte sich
jeder in einem Umhang gehüllt. Dieses Schauspiel wollte ich mir auf
keinen Fall entgehen lassen.«
Als der Priester das letzte Gebet gesprochen hatte,
mit dem die Hexerei gebannt werden sollte, griff MacRae nach der
Fackel, die ihm sein Gehilfe reichte, und tat einen Schritt nach
vorn.
»Herr, gewähre dieser Frau die Gnade des ewigen
Lebens und vergib ihr das Böse, das sie in ihrem irdischen Leib
begangen hat«, sprach er feierlich und entzündete das Pech.
»Es ging alles viel schneller, als ich mir
vorgestellt hatte«, sagte Geillis, und ihre Stimme klang ein wenig
verwundert. »Ein heftiges Zischen - und schon blies uns ein heißer
Luftstrom entgegen. Ein Jubeln ging durch die Menge. Außer den
züngelnden Flammen, die so hoch schossen, daß sie die Äste der
Ebereschen ansengten, war nichts zu sehen.«
Doch rasch war das Feuer wieder zusammengefallen,
so daß sich im fahlen Tageslicht die dunkle Gestalt abgezeichnet
hatte. Die Kapuze und das Haar waren den ersten Flammen zum Opfer
gefallen und das Gesicht zur Unkenntlichkeit verbrannt. Kurz darauf
kamen die geschwärzten Knochen zum Vorschein.
»Von ihren Augen blieben nur noch große, dunkle
Höhlen zurück«, sagte sie und musterte mich mit verschleiertem
Blick. »Ich dachte, sie starrt mich an, doch schon im nächsten
Augenblick zerplatzte ihr Schädel, und alles war vorbei. Die Menge
löste sich auf, nur einige blieben noch, weil sie sich ein Stück
Knochen zum Andenken erhofften.«
Schwankend stand sie auf und ging zu dem Tischchen
in der Nähe des Fensters. Sie griff nach der silbernen Glocke und
klingelte energisch.
Noch mit dem Rücken zu uns meinte sie:
»Kinderkriegen ist wohl doch leichter.«
»Dougal hat Sie also nach Frankreich gebracht«,
stellte Jamie fest. Die Finger seiner rechten Hand zuckten leicht.
»Und wie kamen Sie auf die Westindischen Inseln?«
»Ach, das war später«, meinte sie unbekümmert.
»Nach Culloden.« Lächelnd wandte sie sich zu uns um.
»Und was verschafft mir die Ehre eures Besuches?
Doch sicher nicht eure Sehnsucht nach mir?«
Ich sah zu Jamie hinüber, dessen Muskeln sich bei
diesen Worten anspannten. Seine Miene blieb unbewegt, und nur wer
ihn gut kannte, sah, daß er auf der Hut war.
»Wir sind auf der Suche nach einem jungen
Verwandten von mir«, erzählte er. »Meinem Neffen Ian Murray. Wir
haben guten Grund zu der Annahme, daß er hier Zwangsarbeit
leistet.«
Geillis sah uns verwundert an.
»Ian Murray?« fragte sie kopfschüttelnd. »Ich habe
keine Weißen als Sklaven. Überhaupt keinen Weißen. Der einzige
freie Mann auf der Plantage ist ein Aufseher, und er ist, was man
auf den Westindischen Inseln einen griffone nennt: zu einem
Viertel Schwarz.«
Im Gegensatz zu mir war Geillis eine gute Lügnerin.
Nichts deutete darauf hin, daß sie den Namen Ian Murray schon
jemals zuvor gehört hatte. Aber ich wußte trotzdem, daß sie
log.
Jamie wußte es auch. In seinem Blick flammte Zorn
und nicht Enttäuschung auf.
»Wirklich?« meinte er höflich. »Haben Sie keine
Angst so allein hier mit den Sklaven? Die Stadt ist weit.«
»O nein. Ganz und gar nicht.«
Sie grinste über das ganze Gesicht und deutete mit
ihrem Doppelkinn auf die Veranda hinter sich. Als ich mich
umdrehte, sah ich, daß der Rahmen der Flügeltür von einer massigen
schwarzen Gestalt ausgefüllt wurde. Der Mann überragte Jamie um
einiges, und seine muskelbepackten Arme waren so dick wie
Baumstämme.
»Darf ich euch Herkules vorstellen?« fragte Geillis
kichernd. »Er hat übrigens noch einen Zwillingsbruder.«
»Heißt der zufällig Atlas?« mutmaßte ich leicht
gereizt.
»Du hast es erraten. Ein schlaues Mädchen, finden
Sie nicht, Rotfuchs?« Geillis zwinkerte Jamie verschwörerisch
zu.
Herkules nahm keinerlei Notiz von dem, was um ihn
herum vorging. Sein breites Gesicht war ausdruckslos, und seine
Augen, die tief in den Höhlen lagen, wirkten tot. Bei seinem
Anblick war mir unbehaglich zumute, und das nicht nur wegen seiner
furchteinflößenden Größe. Ihn anzusehen war, als ginge man an einem
Spukhaus vorbei, wo hinter blinden Fenstern jemand auf der Lauer
lag.
»Ist gut, Herkules; du kannst wieder an deine
Arbeit gehen.« Geillis griff nach dem silbernen Glöckchen und
klingelte leise. Wortlos drehte sich der Riese um und trabte
schwerfällig davon. »Ich habe keine Angst vor den Sklaven«,
erklärte sie. »Sie haben Angst vor mir, denn sie halten mich für
eine Hexe. Irgendwie lustig, oder?« Ihre Augen funkelten
vergüngt.
»Geillis, dieser Mann…« Ich zögerte, denn die
Frage, die mir auf der Zunge lag, erschien mir doch ein wenig
lächerlich. »Er ist doch kein… Zombie, oder?«
Meine Vermutung amüsierte sie, und vergnügt
klatschte sie in die Hände.
»Du lieber Himmel, ein Zombie? Heiliger Strohsack,
Claire!« Sie schüttelte sich vor Lachen. »Er ist zwar nicht
besonders klug«, sagte sie, nachdem sie sich wieder einigermaßen
beruhigt hatte, »aber tot ist er auch nicht!« Sie begann wieder zu
prusten.
Jamie sah mich verwirrt an.
»Ein Zombie?«
»Vergiß es«, meinte ich. Inzwischen war ich genauso
rot angelaufen wie Geillis, allerdings aus einem anderen Grund.
»Wie viele Sklaven hast du hier?« fragte ich, um das Thema zu
wechseln.
Sie hatte sich noch immer nicht gefangen und
gluckste: »Oh: zirka hundert. Die Plantage ist nicht besonders
groß. Ich habe nur hundertzwanzig Hektar Zuckerrohr und ein paar
Kaffeepflanzen in den höheren Lagen.«
Sie zog ein spitzenbesetztes Taschentuch hervor,
tupfte sich damit über das verschwitzte Gesicht und holte tief
Luft. Jamie war die Anspannung zwar nicht anzusehen, aber ich
konnte sie deutlich spüren. Mit Sicherheit war er ebenso wie ich
davon überzeugt, daß Geillis etwas über Ian Murray wußte - denn sie
war von unserem Erscheinen hier nicht im mindesten überrascht
gewesen. Irgend jemand hatte ihr von uns erzählt, und dieser Jemand
konnte nur Ian gewesen sein.
Es würde Jamie wohl kaum in den Sinn kommen, einer
Frau zu drohen, um ihr irgenwelche Informationen zu entlocken, doch
ich kannte solche Skrupel nicht. Aber leider hatte Herkules’
Erscheinen mein Vorhaben im Keim erstickt. Das Zweitbeste wäre,
wenn wir das Anwesen nach irgendeiner Spur von dem Jungen absuchen
könnten. Hundertzwanzig Hektar waren ein stattlicher Besitz, doch
wenn Ian sich tatsächlich auf der Plantage befand, dann bestimmt in
der Nähe der Gebäude.
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als ich
merkte, daß Geillis mir eine Frage gestellt hatte. »Wie
bitte?«
»Ich sagte«, wiederholte sie geduldig, »daß du
damals in Schottland in dem Ruf standest, andere heilen zu können.
Inzwischen verfügst du sicherlich über ein noch viel größeres
Wissen, oder?«
»Das ist schon möglich.« Ich sah sie mißtrauisch
an. Brauchte sie meine Hilfe für sich selbst?
»Es geht nicht um mich«, meinte sie, als sie meinen
Blick bemerkte. »Zumindest nicht im Augenblick. Zwei meiner Sklaven
sind nicht gesund. Vielleicht könntest du mal nach ihnen
sehen.«
Ich blickte zu Jamie hinüber, der unmerklich
nickte. Das war eine gute Gelegenheit, in die Sklavenunterkünfte zu
kommen und nach Ian zu suchen.
Er erhob sich unvermittelt und meinte: »Bei unserer
Ankunft habe ich gesehen, daß Sie Schwierigkeiten mit der
Zuckermühle haben. Vielleicht kann ich mich dort nützlich machen,
während Sie und meine Frau sich um die kranken Sklaven kümmern.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er seinen Rock und hängte ihn an
einen Haken neben der Tür. Während er sich die Hemdsärmel
hochkrempelte, trat er hinaus ins gleißende Sonnenlicht auf der
Veranda.
»Er gehört offensichtlich zu der Sorte Mann, die
sich gern nützlich macht«, meinte Geillis, die ihm amüsiert
nachsah. »Mein Mann Barnabas war auch so einer - keine Maschine war
vor ihm sicher… allerdings auch kein Sklavenmädchen«, fügte sie
hinzu. »Komm, die Kranken sind hinter der Küche.«
Die Küche befand sich in einem kleinen
Nebengebäude, das mit dem Herrenhaus durch eine mit Jasmin
überwucherte Pergola verbunden war. Als wir hinübergingen, hatte
ich das Gefühl, durch eine Parfümwolke zu schreiten, und das Summen
der Bienen war so laut, daß man es förmlich auf der Haut spürte -
wie das tiefe Brummen einer Dudelsackpfeife.
»Bist du schon mal gestochen worden?« Geillis
schlug beiläufig nach einem der pelzigen Insekten, das im Sturzflug
auf sie zukam.
»Hin und wieder.«
»Ich auch«, meinte sie. »X-mal schon, und nie war
etwas Schlimmeres zu sehen als eine rote Schwellung. Doch letzten
Frühling hat eins dieser verfluchten Biester eine Küchensklavin
gestochen. Das Mädchen schwoll an wie eine Kröte und starb mir
direkt vor der Nase weg!« Geillis sah mich aus großen, spöttischen
Augen an. »Was Besseres hätte ich mir gar nicht wünschen können.
Die Sklaven dachten, ich hätte das Mädchen verhext, einen bösen
Zauber über sie verhängt, weil sie einen Kuchen hatte verbrennen
lassen. Seit der Zeit ist nicht einmal mehr was angebrannt.«
Kopfschüttelnd verjagte sie eine weitere Biene.
Obwohl mich ihre Kaltherzigkeit entsetzte,
beruhigte mich diese Geschichte ein wenig. Also entbehrte womöglich
auch der Klatsch, den ich auf dem Empfang gehört hatte, jeder
Grundlage.
Ich blieb stehen und sah durch die zarten
Jasminblätter hindurch auf die Zuckerrohrfelder unter mir. Jamie
hatte sich darangemacht, die Zuckermühle zu reparieren. Er
begutachtete die riesigen
Mühlarme, während ein Mann - wahrscheinlich der Aufseher - lebhaft
gestikulierte und erklärte. Wenn ich in den Unterkünften keine Spur
von Ian finden sollte, konnte Jamie vielleicht etwas von dem
Aufseher in Erfahrung bringen. Obwohl es Geillis abstritt, sagte
mir mein Instinkt, daß der Junge irgendwo auf diesem Anwesen
war.
In der Küche konnte ich nichts Aufschlußreiches
entdecken; drei oder vier Frauen, die Brotteig kneteten oder Erbsen
pulten, sahen neugierig auf, als wir eintraten. Ich erhaschte den
Blick einer jungen Frau, nickte ihr zu und lächelte sie an.
Vielleicht würde sich später eine Gelegenheit ergeben, mit ihr zu
plaudern. Nachdem sie mich mit großen Augen angesehen hatte, senkte
sie rasch wieder den Blick auf die Schüssel mit Erbsen auf ihrem
Schoß. Als wir den langgestreckten Raum durchquerten, erkannte ich
an ihrem leicht gewölbten Leib, daß sie in den ersten Monaten
schwanger war.
Der erste kranke Sklave war in einer kleinen
Speisekammer gleich neben der Küche untergebracht. Der Patient, ein
junger Mann um die Zwanzig, lag auf einer Pritsche direkt unter
Regalen, auf denen sich in Gaze verpackte Käselaibe türmten. Er
richtete sich auf, als plötzlich Licht in den Raum fiel.
»Was ist mit ihm?« Ich kniete mich hin und befühlte
seine Stirn. Er war warm, schwitzte leicht, hatte aber
offensichtlich kein Fieber. Soweit ich es beurteilen konnte, schien
er keine großen Schmerzen zu haben, denn während ich ihn
untersuchte, blinzelte er nur verschlafen.
»Er hat einen Wurm.«
Verwundert sah ich zu Geillis auf. Nach dem, was
ich bisher gehört und gesehen hatte, hielt ich es für gut möglich,
daß mindestens drei Viertel der schwarzen Bevölkerung - und viele
Weiße - an inneren Parasiten litten. So unangenehm sie auch waren,
so stellten die meisten lediglich für ganz junge und ganz alte
Menschen eine Gefahr dar.
»Sicher mehr als einen«, erwiderte ich und begann
behutsam seinen Magen abzutasten. Die Milz war weich und leicht
vergrößert - was ebenfalls typisch war -, aber ich konnte im
Unterleib nichts feststellen, was auf einen stärkeren Befall
hingedeutet hätte. »Er scheint einigermaßen gesund zu sein. Warum
liegt er hier im Dunkeln?«
Als ob er meine Frage beantworten wollte, riß sich
der Sklave mit einemmal von mir los, stieß einen durchdringenden
Schrei aus und krümmte sich zusammen. Ruckartig bewegte er sich vor
und zurück, bis er schließlich die Wand erreichte und immer wieder
mit dem Kopf dagegen schlug. Dabei schrie er unablässig. Genauso
plötzlich war der Anfall auch wieder vorbei, und der junge Mann
sank schweratmend und schweißgebadet auf sein Lager zurück.
»Du lieber Himmel«, sagte ich, »was war das
denn?«
»Ein loa-loa-Wurm«, erklärte Geillis, die
meine Reaktion schmunzelnd beobachtet hatte. »Sie leben in den
Augenhöhlen, direkt unter der Bindehaut. Sie wandern hin und her,
von einem Auge zum anderen, und wenn sie dabei den Nasenrücken
überqueren, ist das, so hat man mir berichtet, äußerst
schmerzhaft.« Sie sah zu dem Sklaven hinüber, der noch immer
zitternd auf seiner Pritsche lag.
»Wenn es dunkel ist, rühren sie sich kaum«, fügte
sie hinzu. »Man muß sie wohl fangen, wenn sie gerade in das eine
Auge eindringen, denn dann sind sie dicht an der Oberfläche und man
kann sie mit einer großen Nähnadel herausholen. Später bekommt man
sie nicht mehr so leicht zu fassen.« Sie ging zurück in die Küche
und verlangte nach Licht.
»Hier, eine Nadel habe ich für alle Fälle schon mal
dabei.« Sie kramte in dem Beutel an ihrer Taille und förderte ein
Stück Filz zutage, in dem eine sieben Zentimeter lange Nadel
steckte, die sie mir entgegenstreckte.
»Ich glaube, du bist nicht ganz bei Trost!«
Fassungslos starrte ich sie an.
»Wieso, ich dachte, du verstehst dein Handwerk?«
warf sie ganz vernünftig ein.
»Ja, schon, aber…« Ich sah zu dem Sklaven hinüber,
zögerte einen Moment lang und nahm dann der Dienstmagd die Kerze
ab, die sie mir hinhielt.
»Bring mir etwas Weinbrand und ein kleines,
scharfes Messer«, sagte ich. »Tauche das Messer und die Nadel in
den Weinbrand, halte die Spitze dann kurz ins Feuer. Laß sie
abkühlen, aber faß sie nicht an.« Unterdessen unterzog ich ein Auge
einer gründlichen Untersuchung, konnte jedoch nichts
entdecken.
Ich nahm mir das andere Auge vor - und hätte
beinahe die Kerze
fallengelassen. Da war tatsächlich ein winziger, durchsichtiger
Wurm, der sich unter der Bindehaut bewegte. Ich mußte
würgen. Dann aber riß ich mich zusammen und griff nach dem frisch
sterilisierten Messer.
»Pack ihn an den Schultern«, sagte ich zu Geillis.
»Er darf sich auf keinen Fall bewegen, sonst besteht die Gefahr,
daß ich das Auge verletze und er blind wird.«
Es war ein grauenhafter Eingriff, der sich jedoch
überraschend einfach durchführen ließ. Ich machte einen raschen,
kleinen Schnitt an der Innenseite der Bindehaut, hob sie mit der
Nadelspitze ein wenig an, und als der Wurm träge auf die Öffnung
zuschlängelte, stieß ich die Nadelspitze unter den Körper und zog
ihn wie einen Faden heraus.
Das Auge blutete nicht. Ich beschloß, es seinen
Tränendrüsen zu überlassen, den Einschnitt zu spülen. Er mußte von
alleine zuheilen, denn ich hatte kein feines Garn, und die Wunde
war ohnehin so klein, daß in jedem Fall ein, zwei Stiche genügt
hätten.
Schließlich legte ich noch einen Verband rund um
den Kopf an. Sichtlich zufrieden mit meinem ersten Ausflug in die
Tropenmedizin, lehnte ich mich zurück.
»Gut«, sagte ich und strich mir das Haar aus der
Stirn, »der Nächste bitte!«
Der zweite Patient lag in einer Hütte in der Nähe
der Küche - tot. Ich hockte mich neben den Leichnam - ein Mann
mittleren Alters mit grauem Haar - und fühlte sowohl Mitleid als
auch Empörung.
Die Todesursache war eindeutig ein eingeklemmter
Bruch. Seine verkrümmten Gliedmaßen bezeugten auf traurige Weise,
welchen Tod dieser Mann gestorben war. Sein Körper war noch
warm.
»Warum hast du bloß so lange gewartet?« Ich stand
auf und funkelte Geillis an. »Warum, um Himmels willen, hast du mit
mir geplaudert und Tee getrunken, während sich das hier abspielte?
Er ist höchstens eine Stunde tot, aber er hat bestimmt tagelang
gelitten! Warum hast du mich nicht gleich hierhergebracht?«
»Heute morgen war er schon fast hinüber«, erwiderte
sie. Mein Zorn brachte sie nicht im mindesten aus der Ruhe. »Ich
habe so was schon häufiger gesehen. Außerdem dachte ich nicht, daß
du viel ausrichten könntest. Wozu also die Eile?«
Ich sparte mir jede weitere Anschuldigung. Sie
hatte recht: Ich hätte zwar, wenn ich eher gekommen wäre, operieren
können, aber er hätte keine großen Aussichten gehabt, den Eingriff
zu überleben. Einen eingeklemmten Bruch hätte ich vielleicht auch
unter schwierigen Bedingungen hingekriegt. Die eigentliche Gefahr
bestand in einer möglichen Infektion.
Doch mußte man ihn deshalb in dieser schäbigen
Hütte einfach seinem Schicksal überlassen, noch dazu allein? Nun,
vielleicht hätte er die Anwesenheit einer Weißen nicht als Trost
empfunden, aber trotzdem… Ich hatte das unbestimmte Gefühl, versagt
zu haben, eine Empfindung, die mich im Angesicht des Todes immer
überkam. Langsam wischte ich mir die Hände an einem mit Weinbrand
getränkten Stück Stoff ab und versuchte, meine Gefühle in den Griff
zu bekommen.
Einen hatte ich retten können, den anderen verloren
- und von Ian noch immer keine Spur.
»Wo ich schon mal hier bin, könnte ich mir die
restlichen Sklaven eigentlich auch gleich ansehen«, schlug ich vor.
»Zur Vorbeugung.«
»Ach, denen geht’s gut.« Geillis winkte nachlässig
ab. »Aber wenn du dir die Mühe machen willst, bitte sehr.
Allerdings erst später; ich erwarte am Nachmittag einen Besucher
und würde vorher gern noch mit dir reden. Laß uns zum Haus
zurückkehren - ich sorge dafür, daß sich jemand um das da kümmert.«
Durch ein kurzes Nicken deutete sie an, daß mit »das da« der
verkrümmte Leichnam des Sklaven gemeint war. Sie hakte mich unter,
schob mich aus der Hütte und steuerte mich mit sanftem Druck zur
Küche.
Dort angekommen, machte ich mich frei und trat auf
die schwangere Sklavin zu, die gerade vor der Feuerstelle kniete
und den Boden schrubbte.
»Geh schon mal vor. Ich möchte mir nur mal eben
dieses Mädchen ansehen. Sie wirkt nicht gerade gesund - du willst
doch sicher nicht riskieren, daß sie eine Fehlgeburt hat.«
Geillis warf mir zwar einen seltsamen Blick zu,
zuckte dann aber die Achseln.
»Sie hat schon zweimal ohne jede Schwierigkeit
geworfen, aber du bist hier die Heilerin. Wenn das deine
Vorstellung von Vergnügen
ist, aye, dann will ich dich nicht aufhalten. Aber hoffentlich
dauert’s nicht zu lange, denn dieser Pfaffe hat sich für vier Uhr
angekündigt.«
Also gab ich mir den Anschein, als würde ich die
verängstigte Frau untersuchen, bis Geillis’ geraffte Röcke in der
Pergola verschwanden.
»Passen Sie auf«, sagte ich zu der jungen Frau.
»Ich suche einen weißen Jungen namens Ian. Ich bin seine Tante.
Wissen Sie vielleicht, wo er ist?«
Das Mädchen - es konnte kaum älter als achtzehn,
neunzehn sein - blinzelte mich verdutzt an. Dann warf sie einer der
älteren Frauen, die ihre Arbeit niedergelegt und sich zu uns
gesellt hatte, um zu sehen, was hier vor sich ging, einen
ängstlichen Blick zu.
»Nein, Madam«, sagte die ältere Frau
kopfschüttelnd. »Hier sind keine weißen Jungen. Keine.«
»Nein, Madam«, wiederholte das Mädchen gehorsam.
»Wir wissen nichts von Ihrem Jungen.« Aber das hatte sie nicht
gleich auf Anhieb gesagt, und sie wagte nicht, mir in die Augen zu
sehen.
Inzwischen waren auch die beiden anderen
Küchenmädchen zu uns gekommen, um der älteren Frau moralischen
Beistand zu leisten. So war ich von einer Wand undurchdringlichen
Schweigens umgeben, die sich durch nichts erschüttern ließ.
Gleichzeitig spürte ich die unausgesprochenen Botschaften, die sie
sich gegenseitig schickten - Warnung, Sorge, Mahnung zur
Verschwiegenheit. Natürlich konnte das allein schon durch das
Eindringen einer fremden Weißen in ihre Domäne hervorgerufen worden
sein - aber womöglich hatte es auch andere Gründe.
Wenn ich noch länger in der Küche blieb, bestand
die Gefahr, daß Geillis kam und nach mir sah. Hastig suchte ich in
meinen Taschen, zog ein silbernes Zweischillingstück heraus und
drückte es dem Mädchen in die Hand.
»Wenn Sie Ian zufällig begegnen, sagen Sie ihm, daß
sein Onkel da ist und ihn sucht.« Ohne eine Antwort abzuwarten,
wandte ich mich um und eilte aus der Küche.
Während ich die Pergola durchquerte, sah ich zur
Zuckermühle hinunter. Einsam und verlassen stand sie da; genüßlich
grasten die Ochsen im hohen Gras am Rand der Lichtung. Keine Spur
von
Jamie oder dem Aufseher. Waren sie vielleicht schon zum Haus
zurückgekehrt?
Ich betrat den Salon durch die Verandatür und blieb
wie angewurzelt stehen. Geillis saß in einem Schaukelstuhl, Jamies
Rock hing über ihrem Arm, und auf dem Schoß hatte sie die Fotos von
Brianna ausgebreitet. Als sie mich hörte, sah sie auf und lächelte
mich mokant an.
»Ein hübsches Mädchen! Wie heißt sie?«
»Brianna.« Meine Lippen kribbelten. Ich trat auf
Geillis zu, während ich mit aller Kraft gegen den Drang ankämpfte,
ihr die Bilder aus der Hand zu reißen und fortzulaufen.
»Sie sieht ihrem Vater ähnlich, nicht wahr? Schon
damals auf dem Craigh na Dun kam sie mir bekannt vor. Er ist doch
ihr Vater, oder nicht?« Sie wies mit dem Kopf auf die Tür, durch
die Jamie verschwunden war.
»Ja. Gib mir die Fotos.« Jetzt, da sie die Bilder
kannte, war es zwar egal, doch ich konnte nicht mit ansehen, wie
ihre dicken, weißen Finger Briannas Gesicht betatschten.
Ihre Mundwinkel zuckten, als wollte sie
widersprechen, aber dann schob sie die Fotos zu einem ordentlichen
Stapel zusammen und reichte sie mir ohne Proteste. Ich drückte sie
kurz an die Brust, und weil ich nicht wußte, wo ich sie aufbewahren
sollte, schob ich sie schließlich in meine Rocktasche.
»Setz dich doch, Claire. Der Kaffee ist bereits
serviert.« Sie wies auf ein kleines Tischchen, vor dem ein Sessel
stand. Als ich darauf zuging, ließ sie mich keinen Moment aus ihren
berechnend funkelnden Augen.
Mit einer Geste bat sie mich, uns beiden
einzuschenken, und nahm ihre Tasse entgegen. Ohne ein Wort tranken
wir. Ich konnte kaum meine Tasse halten, so sehr zitterte ich, und
prompt goß ich mir ein wenig heißen Kaffee über den Arm. Während
ich ihn mir am Rock abwischte, fragte ich mich, warum ich überhaupt
Angst hatte.
»Zweimal«, sagte Geillis plötzlich mit einem Blick,
der fast schon Bewunderung ausdrückte. »Gütiger Gott, zweimal hast
du es geschafft. Nein, dreimal, denn jetzt bist du ja wieder hier.«
Staunend schüttelte sie den Kopf, ohne die leuchtendgrünen Augen
von mir zu lassen.
»Wie?« fragte sie dann. »Wie hast du das
überlebt?«
»Das weiß ich nicht.« Als ich ihren mißtrauischen
Blick sah, fügte ich abwehrend hinzu: »Das weiß ich wirklich nicht.
Ich bin einfach durchgegangen.«
»Aber war der Übergang für dich nicht auch
schrecklich?« Aufmerksam hatte sie die Augen zusammengekniffen.
»Hast du nicht auch dieses Entsetzen verspürt? Und dieses Dröhnen
gehört, bei dem man denkt, es würde einem den Schädel
spalten?«
»Doch, natürlich.« Ich wollte nicht darüber
sprechen, nicht an jene Sekunden denken müssen, in denen ich die
Zeitschranke überwunden hatte. Ich hatte die Erinnerung an das
Donnern und Dröhnen, an das Gefühl, sich selbst aufzulösen, an die
lockenden Rufe des Chaos ganz bewußt verdrängt.
»Hast du dich mit Blut geschützt oder mit
Kristallen? Eigentlich traue ich dir Blut nicht zu, aber ich kann
mich ja auch täuschen. Denn offensichtlich bist du stärker, als ich
dachte, wenn du es dreimal geschafft hast, ohne daß es dich das
Leben gekostet hat.«
»Blut?« Verwirrt schüttelte ich den Kopf. »Nein
nichts. Ich habe dir doch gesagt, ich bin einfach durchgegangen,
mehr nicht.« Aber dann fiel mir die Nacht im Jahr 1968 ein, als
Geillis durch die Steine gegangen war, und ich dachte an das Feuer
auf dem Craigh na Dun und die zusammengekrümmte, verkohlte Gestalt
in der Glut. »Greg Edgars«, sagte ich. Der Name ihres ersten
Mannes.
»Aye, er war mein Blutsopfer.« Aufmerksam musterte
sie mich. »Ich hätte nicht gedacht, daß man es auch ohne Blut
schaffen kann.« Sie klang ehrlich erstaunt. »Die Menschen der
Vergangenheit haben immer Blut benutzt. Blut und Feuer. Sie haben
große Weidenkäfige gebaut, ihre Gefangenen hineingesperrt, sie im
Kreis aufgestellt und angezündet. Ich dachte, das sei nötig, damit
sich der Durchgang öffnet.«
Weil meine Hände und Lippen eiskalt geworden waren,
griff ich nach der Tasse, um mich daran zu wärmen. Wo, um alles in
der Welt, war Jamie?
»Und auch keine Steine?«
Ich schüttelte den Kopf. »Was für Steine?«
Offensichtlich überlegte Geillis, was sie mir sagen
sollte. Ihre kleine, rosa Zunge zuckte über die Lippen, dann nickte
sie entschieden. Mit einem kleinen Grunzen stemmte sie sich aus dem
Sessel hoch, ging zu dem gewaltigen Kamin am Ende des Raums und
bedeutete mir, ihr zu folgen.
Erstaunlich behende kniete sie sich davor und
drückte auf einen grünschimmernden Stein, der etwa dreißig
Zentimeter über dem Feuerrost in die Kaminfassung eingelassen war.
Der Stein bewegte sich, und mit einem leisen Klicken glitt eine der
Schieferplatten aus ihrem Mörtelbett.
Sie griff in die Öffnung und holte einen etwa
dreißig Zentimeter langen Holzkasten hervor. Blaßbraune Flecken
zeichneten sich auf dem polierten Holz ab, und seine Seitenwände
waren aufgequollen und gespalten, als wäre er eine Zeitlang großer
Feuchtigkeit ausgesetzt gewesen. Ich biß mir heftig auf die
Unterlippe und hoffte nur, daß mir nicht anzusehen war, was ich
dachte. Wenn ich bisher noch gezweifelt hatte, ob Ian hier war, so
schwanden meine Zweifel jetzt. Denn vor mir lag, wenn mich nicht
alles täuschte, der Schatz von der Insel der Seidenbären. Zum Glück
sah Geillis nicht mich an, sondern das Kästchen.
»Das Wissen über Kristalle hat mir ein Inder aus
Kalkutta beigebracht«, erklärte sie mir. »Er hat mich aufgesucht,
weil er Stechapfel brauchte. Und da hat er mir erklärt, wie man die
Kräfte der Steine für sich nutzen kann.«
Mit einem Blick über die Schulter prüfte ich, ob
Jamie nicht endlich zurückgekehrt war. Wo steckte er bloß? War er
irgendwo auf der Plantage auf Ian gestoßen?
»Kristallstaub gibt es in einer Apotheke in London
zu kaufen«, fuhr sie fort, während sie sich stirnrunzelnd am Riegel
des Kästchens zu schaffen machte. »Aber meist ist es von schlechter
Qualität, und die bhasmas können sich nicht so gut
entfalten. Man sollte mindestens einen Stein zweiter Ordnung
nehmen, einen sogenannten nagina - er ist recht groß und
geschliffen. Ein Kristall der ersten Ordnung hat einen
Facettenschliff und sollte möglichst fehlerfrei sein, aber
natürlich kann es sich kaum einer leisten, so einen zu Asche zu
verbrennen. Die Asche des Kristalls bergen die bhasmas.« Sie
wandte sich zu mir um. »Hier, versuch doch mal, ob du diesen
verdammten Riegel aufschieben kannst. Das Meerwasser hat ihn in
Mitleidenschaft gezogen.«
Sie drückte mir den Kasten in die Hände und
richtete sich schwerfällig auf. Er war recht einfach gebaut, mit
einem schmalen
Riegel, der den Deckel verschloß und sich nicht vom Fleck
bewegte.
»Es bedeutet Pech, wenn man den Riegel abbricht«,
warnte mich Geillis, als sie meine Bemühungen sah. »Sonst hätte ich
das Ding schon längst aufgestemmt. Hier, vielleicht geht’s damit.«
Sie zog ein kleines Taschenmesser mit Perlmuttgriff aus den Tiefen
ihres Gewands und reichte es mir. Dann trat sie an den Fenstersims
und klingelte mit einem ihrer Glöckchen.
Vorsichtig drückte ich mit der Messerklinge gegen
den Riegel und ruckelte sanft. Zögernd löste er sich von seinem
Platz, bis ich ihn aufschieben konnte.
»Das wär’s«, sagte ich, während ich den Kasten
widerstrebend an Geillis weitergab. Er war schwer, und in seinem
Innern klapperte es metallisch.
»Danke.« Gerade als sie ihn mir abnahm, kam ein
schwarzes Dienstmädchen durch die hintere Tür in den Raum. Geillis
wandte sich um und befahl ihr, frische Küchlein zu bringen. Dabei
verbarg sie den Kasten hastig in den Falten ihres Rocks.
»Neugieriges Volk«, stellte sie stirnrunzelnd fest,
als das Mädchen durch die Tür verschwunden war. »Eins ist
schwierig, wenn man Sklaven hat: Man kann kein Geheimnis für sich
behalten.« Dann drückte sie den Deckel auf.
Sie griff hinein und zog die Hand geschlossen
wieder heraus. Natürlich war ich mir ziemlich sicher, was sie
enthielt, trotzdem mußte ich staunen. Einen Edelstein mit eigenen
Augen betrachten zu können ist weitaus beeindruckender, als wenn
man nur eine Beschreibung hört. In Geillis’ Hand lagen sechs,
sieben glitzernde und funkelnde Kristalle, flammendes Feuer,
erstarrtes Eis, das Schimmern einer blauen Wasserfläche in der
Sonne, und ein großer, goldener Stein wie das Auge eines lauernden
Tigers.
Unwillkürlich trat ich näher heran und starrte
bewundernd in ihre Hand. »Nicht direkt klein« hatte Jamie die
Edelsteine mit echt schottischem Talent für Untertreibung genannt.
Nun ja, kleiner als ein Brotkasten waren sie schon.
»Ich habe mir Steine als Anfangskapital besorgt«,
erklärte Geillis selbstzufrieden. »Weil sie nicht soviel wiegen wie
eine größere Menge Geld oder Gold. Damals hatte ich keine Ahnung,
daß sie auch noch zu anderem geeignet sind.«
»Wozu? Als bhasmas?« Die Vorstellung, eins
dieser Kleinode zu zerstören, kam mir wie ein Sakrileg vor.
»O nein, die hier nicht.« Sie schloß die Hand,
steckte sie in die Rocktasche, und ein Schauer flüssigen Feuers
rieselte hinein. Liebevoll klopfte sie darauf, bevor sie wieder in
den Holzkasten griff. »Nein, dafür habe ich die vielen kleinen
Steine. Diese sind für was anderes gedacht.«
Nachdenklich sah sie mich an. Dann wies sie mit dem
Kopf zur Tür am Ende des Raumes.
»Komm mit in mein Arbeitszimmer«, forderte sie mich
auf. »Ich habe da ein paar Dinge, die dich vielleicht
interessieren.«
»Interessieren« war noch milde ausgedrückt.
Es handelte sich um einen länglichen,
lichtdurchfluteten Raum, an dessen Fensterseite sich ein langer
Tisch erstreckte. Von der Decke hingen Bündel getrockneter Kräuter,
andere lagen zum Trocknen auf einem mit Gaze bespannten Gestell.
Den Rest der Wand füllten Schränke mit Schubladen und Türen, und in
der Ecke des Zimmers stand ein Bücherschrank mit Glastüren.
Irgendwie schien mir dieser Raum vertraut. Dann
wurde mir klar, daß er wie Geillis’ Arbeitszimmer in dem Dörfchen
Cranesmuir im Haus des Prokurators, ihres ersten Ehemanns, aussah -
nein, des zweiten verbesserte ich mich, als ich an den verkohlten
Leichnam von Greg Edgars dachte.
»Wie oft warst du verheiratet?« fragte ich
neugierig. Ihren zweiten Mann hatte sie um ein kleines Vermögen
erleichtert - sie hatte seine Unterschrift gefälscht und Geld für
sich abgezweigt, bevor sie ihn ermordete. Da dieses Vorgehen von
Erfolg gekrönt gewesen war, konnte ich mir gut vorstellen, daß sie
es in der Folge wiederholt hatte. Denn sie war ein Gewohnheitstier,
unsere Geillis.
Sie brauchte einen Moment, bis sie ihre Ehemänner
durchgezählt hatte. »Fünfmal, glaube ich. Seit ich hier bin«, fügte
sie dann noch ungerührt hinzu.
»Fünfmal?« fragte ich schwach. Das war keine
Gewohnheit mehr, sondern fast schon eine Sucht.
»Das Tropenklima ist Engländern nicht sehr
zuträglich«, erklärte sie mir mit einem listigen Grinsen. »Ein
Fieber, ein Magengeschwür, eine Darmverstimmung, schon die kleinste
Kleinigkeit gibt ihnen den Rest.« Sie streckte die Hand aus und
strich zärtlich
über eine kleine Flasche, die im untersten Regalfach stand. Zwar
trug sie kein Namensschild, aber ich sah rohes, weißes Arsen nicht
zum erstenmal.
»Das hier wollte ich dir zeigen«, sagte sie, als
sie ein Glas im oberen Fach entdeckte. Sie stellte sich auf die
Zehenspitzen, holte es herunter und reichte es mir.
Es enthielt ein grob zerstoßenes Pulver, das
offensichtlich aus mehreren Inhaltsstoffen - braunen, gelben,
schwarzen, und halb durchscheinend schimmernden - zusammengemischt
war.
»Was ist das?«
»Zombie-Pulver«, erklärte sie lachend. »Ich dachte,
du würdest das gern mal sehen.«
»Ach«, entgegnete ich kalt. »Hast du nicht gesagt,
so was gibt es nicht?«
»Nein«, verbesserte sie mich. »Ich habe gesagt,
Herkules sei nicht tot. Und das ist er auch nicht.« Sie nahm mir
das Glas aus der Hand und stellte es ins Regal zurück. »Aber es
läßt sich nicht leugnen, daß er besser im Zaum zu halten ist, wenn
er einmal in der Woche seinen Stoff in den Getreidebrei gemischt
kriegt.«
»Und was zum Teufel enthält das Zeug?«
»Ein bißchen hiervon und ein bißchen davon. Das
wichtigste ist eine Art Fisch - ein kleines, vereckiges Tier mit
Punkten, sieht ganz witzig aus. Man nimmt die Haut und die Leber
und trocknet sie. Aber dann kommen noch ein paar andere Zutaten
hinein. Wenn ich nur wüßte, welche!«
»Du weißt nicht, was das Mittel enthält?« Ich
starrte sie an. »Hast du es nicht selbst hergestellt?«
»Nein, dafür hatte ich meinen Koch«, erwiderte
Geillis. »Oder zumindest wurde er mir als Koch verkauft. Aber ich
habe dem Zeug, das dieser verschlagene schwarze Teufel zubereitet
hat, nie recht getraut. Er war ein houngan.«
»Was war er?«
»Ein houngan. So bezeichnen die Schwarzen
ihre Priester. Wenn ich genau sein will, hat Ismael mir allerdings
wohl erklärt, daß ihn seine Freunde oniseegun oder so
ähnlich nennen.«
»Ismael? So, so.« Ich leckte mir über die trockenen
Lippen. »Ist er mit diesem Namen zu dir gekommen?«
»O nein. Er hatte einen heidnischen Namen mit sechs
Silben,
und bei seinem Sklavenhändler hieß er ›Jimmy‹. Die Auktionäre
rufen alle Kerle so. Ich habe ihn wegen der Geschichte, die mir der
Händler über ihn erzählt hat, Ismael genannt.«
Ismael stammte aus einem Dorf an der Goldküste
Afrikas und war gemeinsam mit sechshundert Schicksalsgenossen aus
jener Region auf das Zwischendeck des Sklavenschiffs
Persephone mit Ziel Antigua verfrachtet worden. Auf ihrem
Weg durch die Caicos-Passage war das Schiff plötzlich in einen
Sturm geraten und vor der Küste von Great Inagua auf das
Hogsty-Riff gelaufen. Das Schiff war so schnell
auseinandergebrochen, daß die Mannschaft kaum Zeit gehabt hatte,
sich in die Rettungsboote zu flüchten.
Die hilflosen Sklaven, angekettet im Zwischendeck,
waren allesamt ertrunken. Einer jedoch war schon früher aus den
Elendsquartieren geholt worden, um als Kombüsenmaat auszuhelfen, da
der Schiffsjunge in Afrika an den Pocken gestorben war. Zwar ließ
man diesen Sklaven auf dem Schiff zurück, doch er überlebte das
Unglück, indem er sich an ein Schnapsfaß klammerte, das zwei Tage
später an den Strand von Inagua gespült wurde.
Die Fischer, die den Schiffbrüchigen fanden, waren
mehr an seinem provisorischen Rettungsring interessiert als an
seinem Wert als Sklaven. Nachdem sie das Faß aufgebrochen hatten,
entdeckten sie darin jedoch zu ihrem Entsetzen den Leichnam eines
Mannes, der durch den Alkohol notdürftig konserviert war.
»Ob sie den Crème de Menthe wohl trotzdem getrunken
haben?« fragte ich mich leise. Schließlich hatte ich in den letzten
Wochen feststellen können, daß Mr. Overholts Bericht über das
Verhältnis der Seeleute zum Alkohol so falsch nicht gewesen
war.
»Vermutlich.« Geillis ärgerte sich über die
Unterbrechung. »Als ich davon hörte, nannte ich ihn auf der Stelle
Ismael. Wegen des schwimmenden Sargs, aye?«
»Sehr klug«, bewunderte ich sie. »Hat man… äh…
herausgefunden, wer der Mann im Faß war?«
»Ich glaube nicht.« Gleichgültig zuckte sie die
Achseln. »Sie haben ihn dem Gouverneur von Jamaika gegeben, und der
hat ihn in ein richtiges Glasgefäß mit frischem Alkohol gesteckt,
um ihn als Kuriosität auszustellen.«
»Was?« Ich traute meinen Ohren nicht.
»Nun, nicht in erster Linie des Mannes wegen,
sondern wegen
der seltsamen Pilze, die auf ihm wuchsen«, erklärte Geillis. »Der
Gouverneur hat eine Passion für derartige Dinge. Der alte
Gouverneur, meine ich. Wie ich gehört habe, gibt es jetzt einen
neuen.«
»Stimmt.« Mir war ein wenig mulmig. Man hätte wohl
eher den alten Gouverneur als Kuriosität ausstellen sollen.
Geillis wandte mir den Rücken zu, zog Schubladen
auf und stöberte darin herum. Ich holte tief Luft und hoffte, daß
man meiner Stimme nicht anhörte, was ich fühlte.
»Was du über diesen Ismael erzählst, klingt
interessant. Hast du ihn noch?«
»Nein«, entgegnete sie geistesabwesend. »Dieser
Schuft ist ausgerissen. Aber er war derjenige, der das
Zombie-Pulver für mich zusammengemischt hat. Er wollte mir jedoch
nicht erzählen, was es enthält, ganz gleich, welche Behandlung ich
ihm angedeihen ließ.« Bitter lachte sie auf. Plötzlich sah ich
wieder die Striemen auf Ismaels Rücken vor mir. »Er hat gesagt,
Frauen dürften keinen Zauber anwenden, nur Männer oder ganz alte
Frauen, die keine Monatsblutung mehr haben. Mmmpf.«
Sie schnaubte wütend, griff in ihre Rocktasche und
zog eine Handvoll Steine hervor.
»Egal, deshalb habe ich dich jedenfalls nicht
heraufgebracht.«
Sorgfältig legte sie fünf der Kristalle in einem
Kreis auf den Arbeitstisch. Dann holte sie ein dickes, in
zerschlissenes Leder gebundenes Buch aus dem Regal.
»Kannst du Deutsch?« fragte sie, während sie es
vorsichtig aufschlug.
»Nein, nur ganz wenig.« Ich trat näher heran und
sah ihr über die Schulter. Hexenhammer stand in sauberer
Handschrift oben auf der Seite.
»Hexenhammer?« fragte ich. »Geht es um Magie und
Zaubersprüche?«
Geillis mußte an meiner Stimme gehört haben, wie
skeptisch ich war, denn sie warf mir über die Schulter einen
belustigten Blick zu.
»Überleg doch mal, Dummchen«, sagte sie. »Wer sind
wir? Oder besser, was sind wir?«
»Was bin ich?« fragte ich verwundert zurück.
»Genau.« Sie drehte sich um, lehnte sich an den
Tresen und musterte mich aus zusammengekniffenen Augen.
»Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Und du auch
nicht, nehme ich an. Oder willst du damit sagen, daß wir Hexen
sind?«
»Etwa nicht?« Sie zog eine Augenbraue hoch und
schlug nach einigem Blättern eine Seite auf.
»Es gibt Menschen, die können ihren Körper
verlassen und sich an einen Meilen entfernten Ort begeben.«
Versonnen blickte sie auf die Zeilen. »Die anderen erkennen sie,
und trotzdem ist verbürgt, daß sie zu Hause im Bett liegen. Das
weiß ich aus Berichten, allesamt von Augenzeugen. Manche Leute
haben Stigmata, die man berühren kann. Ich habe es mit eigenen
Augen gesehen. Aber das gilt nicht für alle Menschen, nur für ein
paar.«
Sie schlug eine andere Seite auf. »Wenn jeder von
uns dazu in der Lage ist, nennt man es Wissenschaft. Wenn es nur
ein paar können, gilt es als Zauberei, Aberglaube, oder wie immer
du es nennen willst. Aber es existiert.« Mit ihren leuchtendgrünen
Schlangenaugen sah sie vom Buch zu mir auf. »Du und ich, wir
existieren doch auch, Claire! Auf ganz besondere Weise. Hast du
dich noch nie gefragt, warum das so ist?«
Doch. Unzählige Male sogar. Allerdings ohne je eine
vernünftige Antwort zu finden. Geillis hingegen glaubte, sie zu
kennen.
Sie wandte sich wieder den Kristallen zu, die sie
auf der Tischplatte ausgelegt hatte, und erklärte sie mir. »Steine,
die dir Schutz bieten: Amethyst, Smaragd, Türkis, Lapislazuli und
ein männlicher Rubin.«
»Ein männlicher Rubin?«
»Plinius behauptet, Rubine hätten ein Geschlecht.
Wer bin ich, daß ich an ihm zweifle?« fragte sie ungeduldig. »Wir
verwenden nur die männlichen Steine. Die weiblichen haben keine
Wirkung.«
Ich unterdrückte die Frage, wie man das Geschlecht
von Rubinen bestimmt, und entschied mich statt dessen für:
»Wirkung? Wobei?«
»Bei der Zeitreise«, erwiderte sie. »Durch den
Steinkreis. Um sich zu schützen vor… was auch immer es ist.« Ein
Schatten zog über ihr Gesicht, als sie an die Überquerung der
Zeitschranke dachte, und ich sah, daß sie eine Todesangst davor
hatte. Kein Wunder - mir ging es nicht anders.
»Wann bist du zum erstenmal gereist?« Eindringlich
ruhte ihr Blick auf mir.
»1946«, entgegnete ich zögernd. »Und im Jahr 1743
kam ich heraus, wenn du das meinst?« Es widerstrebte mir, ihr mehr
zu erzählen, doch ich konnte meine eigene Neugier kaum noch zügeln.
Womöglich würde ich nie wieder die Gelegenheit haben, mit einem
Menschen zu sprechen, der so viel wußte wie sie. Abgesehen davon,
je länger ich sie in ein Gespräch verwickelte, desto mehr Zeit
blieb Jamie, nach Ian zu suchen.
»Aha.« Sie war zufrieden. »Stimmt fast genau.
Zweihundert Jahre, so heißt es auch in den Märchen der Highlands.
Wenn jemand auf dem Feenhügel einschläft und dann die ganze Nacht
mit dem Alten Volk durchtanzt, kehrt er gewöhnlich zweihundert
Jahre später in seine Heimat zurück.«
»Aber bei dir war es anders. Du kamst aus dem Jahr
1968 und hast schon eine ganze Zeitlang in Cranesmuir gewohnt, ehe
ich dort eintraf.«
»Aye, sechs Jahre, um genau zu sein.« Sie nickte
geistesabwesend. »Das lag wohl am Blut.«
»Am Blut?«
»Dem Opfer.« Sie schien allmählich die Geduld zu
verlieren. »Es gibt einem einen größeren Spielraum. Und wenigstens
eine gewisse Kontrolle darüber, wie weit man zurückgeht. Wie hast
du den Übergang nur dreimal ohne Blutsopfer geschafft?«
»Ich bin einfach gegangen.« Weil ich soviel wie
möglich in Erfahrung bringen wollte, fügte ich noch das wenige
hinzu, was ich wußte. »Ich glaube, es könnte damit zu tun haben,
daß man den Geist auf eine Person ausrichtet, die in der Zeit lebt,
in der man ankommen will.«
Staunend sah sie mich an.
»Wirklich?« fragte sie. »Schau mal einer an!« Dann
schüttelte sie den Kopf. »Hmm. Vielleicht ist das so. Aber trotzdem
glaube ich, daß die Kristalle eine Wirkung haben. Man muß die
verschiedenen Steine in einem bestimmten Muster anordnen.«
Sie zog eine weitere Handvoll schimmernder Gemmen
aus der Rocktasche und ließ sie auf den Tisch kullern.
»Die Schutzsteine bilden die Eckpunkte des
Pentagramms«, erklärte sie mir. »Und darin legt man ein Muster mit
anderen Steinen. Welche, das hängt von der Richtung ab, in die man
gehen will, und von der Zeitspanne, die überbrückt werden soll. Man
verbindet
sie mit einer Linie aus Quecksilber, das angezündet wird, wenn man
den Spruch aufsagt. Und natürlich muß man die Linien des
Pentagramms mit Diamantstaub ziehen.«
»Natürlich«, murmelte ich fasziniert.
»Riechst du sie?« fragte sie, während sie
schnuppernd die Nase hochhielt. »Man sollte es nicht meinen, aber
die Steine haben einen Duft. Nämlich dann, wenn man sie zu Pulver
zermahlt.«
Ich atmete tief ein und meinte wirklich, über den
Kräutern einen schwachen, mir fremden Geruch wahrzunehmen.
Irgendwie trocken, aber angenehm - der Duft der Steine.
Plötzlich stieß Geillis einen Freudenschrei aus und
hielt einen Kristall in die Höhe.
»Da ist ja der Stein, den ich brauche! Hier auf der
Insel habe ich ihn nirgendwo auftreiben können, und da fiel mir das
Kästchen ein, das ich in Schottland zurückgelassen hatte.« Es war
ein schwarzer Stein, der, obwohl durchsichtig, zwischen ihren
weißen Fingern schimmerte wie Gagat.
»Was ist das?«
»Adamant, ein schwarzer Diamant, wie er von den
Alchemisten benutzt wurde. In den Büchern heißt es, wenn man einen
Adamant trägt, zeigt er einem die Freuden, die in den Dingen
liegen.« Sie lachte hart und trocken auf. »Wenn in der Zeitreise
durch die Steine irgendwelche Freuden liegen, dann möchte ich sie
gern erleben.«
Mit einiger Verzögerung dämmerte es mir allmählich.
Daß es so lange gedauert hatte, konnte ich mir eigentlich nur damit
erklären, daß ich einerseits Geillis zuhörte, zugleich aber auf
Anzeichen von Jamies Rückkehr lauschte.
»Dann willst du also wieder zurückgehen?« fragte
ich so beiläufig wie möglich.
»Vielleicht.« Ein leises Lächeln umspielte ihre
Lippen. »Nun, wo ich alles beisammen habe, was ich brauche. Aber
eins sage ich dir, Claire: Ohne würde ich es nicht wagen.«
Kopfschüttelnd sah sie mich an. »Dreimal ohne
Blut«, murmelte sie. »Hätte nicht gedacht, daß das möglich
ist.«
Plötzlich gab sie sich einen Ruck. »So, jetzt gehen
wir wohl besser nach unten«, sagte sie. Hastig fegte sie die
Edelsteine in ihre Hand und verstaute sie wieder in der Rocktasche.
»Dein Rotfuchs ist sicher schon zurück.«
Als wir durch das lange Arbeitszimmer zur Tür
gingen, schoß plötzlich vor mir etwas kleines Braunes über den
Boden. Geillis war schneller als ich und trat auf den
Tausendfüßler, bevor ich mich dazwischenschieben konnte.
Sie schob einen Bogen Papier unter das
halbzerquetschte Tier und ließ es in ein Deckelglas gleiten.
»Du weigerst dich also, an Hexen, Zombies und
anderen Spuk zu glauben?« fragte sie, während sie mich verschlagen
angrinste. Sie wies auf den Tausendfüßler im Glas. »Ein Märchen ist
wie ein Tausendfüßler. Aber mit wenigstens einem Bein fußt es
gewöhnlich in der Wahrheit.«
Sie holte einen durchsichtigen braunen Krug vom
Tisch und goß Alkohol in das Glas mit dem Tausendfüßler. Sauber
verkorkte Geillis das Glas und stellte es fort.
»Du hast mich nach meiner Meinung gefragt, warum
wir durch die Steine gehen können«, sagte ich zu ihrem Rücken. »Ich
habe keine Ahnung. Weißt du es?«
Sie sah mich über die Schulter an.
»Na klar, damit wir die Dinge verändern können«,
antwortete sie erstaunt. »Warum sonst? Aber komm jetzt! Ich höre
unten deinen Mann.«
Allem Anschein nach hatte Jamie harte Arbeit
geleistet, denn sein Hemd war schweißnaß. Als wir ins Zimmer
traten, drehte er sich hastig um, und ich sah, daß er das
Holzkästchen betrachtet hatte, das Geillis auf dem Tisch hatte
stehenlassen. Seinem Ausdruck nach zu urteilen, waren meine
Vermutungen richtig gewesen: Es war wirklich der Schmuckkasten von
der Insel der Seidenbären.
»Ich glaube, es ist mir gelungen, Ihre Zuckermühle
zu reparieren, Madam«, sagte er mit einer höflichen Verbeugung vor
Geillis. »Schuld war ein geborstener Zylinder, aber Ihrem Aufseher
und mir ist es gelungen, ihn zu flicken. Leider fürchte ich, daß
Sie trotzdem bald einen neuen brauchen werden.«
Geillis zog belustigt die Augenbrauen hoch.
»Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet, Mr. Fraser.
Darf ich Ihnen nun eine Erfrischung anbieten?« Sie streckte schon
die Hand nach einem der Glöckchen aus, doch Jamie schüttelte rasch
den Kopf und nahm seinen Rock vom Sofa.
»Vielen Dank, Madam, aber ich fürchte, wir müssen
aufbrechen. Der Weg nach Kingston ist weit, und wenn wir noch vor
Einbruch der Dunkelheit dort eintreffen wollen, müssen wir jetzt
los.« Plötzlich wurde sein Gesicht starr. Er hatte gemerkt, daß
Briannas Fotos nicht mehr in seiner Rocktasche steckten.
Fragend sah er mich an. Ich nickte leise und strich
kurz über die Tasche meines Kleides, wo sie sicher verstaut
waren.
»Vielen Dank für deine Gastfreundschaft«,
verabschiedete ich mich von Geillis und schritt eilig zur Tür. Nun,
da Jamie zurückgekehrt war, wollte ich Rose Hall und seine
Besitzerin so schnell wie möglich verlassen. Jamie allerdings
zögerte noch.
»Ich habe mich gefragt, Mrs. Abernathy, da sie
längere Zeit in Paris gewohnt haben, ob Sie dort einen Bekannten
von mir getroffen haben. Sind Sie zufällig mal dem Herzog von
Sandringham begegnet?«
Sie wandte ihm den blonden Kopf zu, doch als er
schwieg, nickte sie.
»Aye, ich habe ihn gekannt. Warum fragen
Sie?«
Jamie setzte sein bezauberndstes Lächeln auf. »Das
ist mir nur gerade eingefallen, Madam. Reine Neugier.«
Der Himmel war bedeckt, als wir durchs Tor ritten.
Es zeichnete sich bereits ab, daß wir nicht nach Kingston gelangen
konnten, ohne in einen Regenschauer zu geraten. Aber angesichts der
Umstände war mir das gleich.
»Hast du die Bilder von Brianna?« lautete Jamies
erste Frage, als er sein Pferd zügelte.
»Ja, hier.« Ich klopfte auf meine Tasche. »Hast du
Ian gesehen?«
Vorsichtig blickte er über die Schulter zurück, als
fürchtete er, daß wir verfolgt würden.
»Aus dem Aufseher und den Sklaven habe ich nichts
herausbringen können. Verständlicherweise haben sie eine
Heidenangst vor dieser Frau. Aber ich weiß, wo er ist.« Er klang
zufrieden.
»Wo? Sollen wir uns hinschleichen und ihn holen?«
Ich richtete mich im Sattel auf und sah zurück. Mehr als das
Schieferdach war von Rose Hall durch die Baumwipfel nicht mehr zu
erkennen. Alles in mir sträubte sich dagegen, noch einmal einen Fuß
auf die Plantage zu setzen - aber schließlich waren wir wegen Ian
hier.
»Nicht jetzt.« Jamie griff nach meinem Zügel und
zog das Pferd zurück auf den Pfad. »Dabei brauche ich Hilfe.«
Unter dem Vorwand, das passende Material zu suchen,
um die Zuckerpresse zu flicken, war es Jamie gelungen, die Plantage
im Umkreis von fünfhundert Metern um das Haupthaus abzusuchen -
darunter die Sklavenhütten, die Ställe, ein ungenutzter Speicher
zum Trocknen von Tabak und das Gebäude mit der Zuckerraffinerie.
Außer neugierigen oder feindseligen Blicken hatte nichts und
niemand seine Suche behindert - bis er in die Nähe der Raffinerie
kam.
»Dieser große Schwarze, der auf die Veranda
gekommen ist, hockte vor der Raffinerie«, erzählte Jamie. »Immer
wenn ich in seine Nähe kam, wurde der Aufseher nervös. Er rief mich
fort und warnte mich vor dem Mann.«
»Klingt ausgesprochen vernünftig.« Ein Schauer lief
mir über den Rücken. »Dem Kerl nicht zu nahe zu kommen, meine ich.
Glaubst du, das hat mit Ian zu tun?«
»Er saß wie festgenagelt vor einer kleinen Tür.«
Jamie lenkte sein Pferd vorsichtig um einen umgestürzten Baumstamm.
»Der Tür, die zum Keller unter der Raffinerie führen muß.« Der Mann
war keinen Zentimeter von seinem Platz gewichen, obwohl Jamie es
fertiggebracht hatte, Stunden dort herumzuwerkeln. »Wenn Ian auf
der Plantage ist, dann dort.«
»Das glaube ich auch.« Rasch erzählte ich ihm von
meinem Besuch, einschließlich des Gesprächs mit den Küchenmädchen.
»Aber was sollen wir tun?« schloß ich. »Wir können Ian doch nicht
dortlassen! Schließlich haben wir keine Ahnung, was Geillis mit ihm
vorhat. Sicher nichts Gutes, wenn sie nicht einmal zugibt, daß er
dort ist!«
»Nein, wohl nicht«, gab er grimmig zu. »Über Ian
hat der Aufseher zwar eisern geschwiegen, aber er hat mir andere
Dinge erzählt. Dir würden die Haare zu Berge stehen, wenn sie nicht
schon abstünden wie bei einem Stachelschwein.« Er sah mich an, und
trotz seines Kummers lag ein kleines Lächeln auf seinem
Gesicht.
»Danke für das Kompliment!« stellte ich fest,
während ich mich an das sinnlose Unterfangen machte, widerborstige
Locken und Strähnen unter meinen Hut zu stopfen.
Die Blätter der Bäume tanzten im Wind wie
betrunkene Schmetterlinge,
und über der nächstgelegenen Bergkuppe baute sich eine
Gewitterwolke auf. Von der kleinen Anhöhe, auf der wir standen,
konnte ich sehen, wie sich ein dunkler, undurchsichtiger
Regenschleier über das Tal senkte.
Jamie richtete sich im Sattel auf und betrachtete
die Umgebung. Mein ungeübtes Auge sah nichts als dichten,
undurchdringlichen Dschungel, aber ein Mann, der sieben Jahre in
der Heide gelebt hatte, mußte viel mehr erkennen können.
»Wir suchen uns am besten einen Unterstand, solange
das noch möglich ist«, schlug er vor. »Komm mit, Sassenach.«
Zu Fuß, die Pferde am Zügel führend, verließen wir
den schmalen Weg und bogen auf einen, wie Jamie es nannte,
Trampelpfad von Wildschweinen ein. Kurz darauf hatte er das
Gesuchte gefunden: einen schmalen Fluß, der sich tief in den
Waldboden eingeschnitten hatte. Sein steiles Ufer war von Farnen,
dunkel schimmernden Büschen und hin und wieder einem schlanken
Baumschößling überwuchert.
Dort angekommen, wies Jamie mich an, Farnwedel von
der Länge meines Arms abzubrechen, und als ich mit einem Bündel
davon zurückkehrte, hatte er bereits das Gerüst für eine Hütte
gebaut: Schößlinge, in einem Bogen zu einem umgestürzten Baumstamm
gespannt, waren mit abgeschnittenen Zweigen von benachbarten
Büschen verstärkt worden. Rasch mit den Farnwedeln gedeckt, war die
Hütte zwar nicht ganz wasserfest, aber immer noch besser als ein
Gewitterschauer im Freien.
Als die Wolkenwand uns traf, verstummten für einen
Augenblick alle Geräusche der Natur. Kein Vogelzwitschern mehr,
kein Gesumm von Insekten - alle ihre Sinne hatten ihnen
angekündigt, daß der Regen kam. Einige dicke Tropfen klatschten auf
das Blattwerk; dann brach der Sturm los.
In der Karibik kommt ein Gewitter rasch und mit
ungeheurer Wucht - kein Vergleich zu dem unentschiedenen Dunst und
Nieselregen von Edinburgh. Der Himmel wird pechschwarz, und in
jeder Minute ergießen sich Gallonen von Wasser auf die Erde. Das
Prasseln des Regens macht jede Verständigung unmöglich. Wasserdunst
steigt wie Dampf vom Boden.
Der Regen perlte von unserem Farndach, und zarter
Dunst zog in das Blattgrün unseres Unterstands. Zwar war es nicht
kalt, aber
im Dach klaffte eine Ritze, von der es stetig in meinen Nacken
tropfte. Ausweichen konnte ich nicht, aber Jamie zog seinen Rock
aus und wickelte mich darin ein. Dann legte er seinen Arm um mich,
um das Ende des Unwetters abzuwarten. Plötzlich fühlte ich mich
sicher, und der Druck, der die letzten Stunden, ja, Tage auf mir
gelastet hatte, war wie weggeblasen. Ian war so gut wie gefunden,
und nichts konnte uns hier etwas anhaben.
Ich drückte Jamies Hand; er lächelte mich an. Dann
beugte er sich vor und küßte mich sanft. Er roch gut, nach Erde,
gemischt mit einem Hauch der Zweige, die er gebrochen hatte, und
einer Spur seines eigenen, gesunden Schweißes.
Bald schon würden wir es hinter uns haben. Wir
hatten Ian aufgespürt, und so Gott wollte, würden wir ihn demnächst
wieder in unsere Arme schließen. Und was dann? Jamaika würden wir
verlassen müssen, aber es gab noch genügend andere Orte auf der
Welt. Die französischen Kolonien Martinique und Grenada, die von
den Holländern verwaltete Insel Eleuthera; vielleicht würden wir
uns sogar bis zum amerikanischen Kontinent durchschlagen. Solange
Jamie bei mir war, fürchtete ich weder Tod noch Teufel.
Ebenso plötzlich, wie er eingesetzt hatte, hörte
der Regen wieder auf. Lediglich einzelne Tropfen fielen noch von
Sträuchern und Bäumen. Eine milde, frische Brise strich das
Flußbett herauf. Sie vertrieb den Dunst und fuhr kühlend unter die
schweißnassen Locken in meinem Nacken. Vögel und Insekten begannen
erst leise, dann aus vollem Halse zu singen und zu summen, und
selbst die Luft schien vor prallgrünem Leben zu tanzen.
Ich seufzte auf, stemmte mich in die Höhe und nahm
Jamies Rock von den Schultern.
»Weißt du was? Geillis hat mir einen Edelstein
gezeigt, einen schwarzen Diamanten namens Adamant«, erzählte ich
Jamie. »Sie sagt, den hätten die Alchemisten früher benutzt;
angeblich kann man mit seiner Hilfe sehen, welche Freude in allem,
was uns umgibt, verborgen ist. Ich glaube, an diesem Platz muß
einer vergraben sein.«
Jamie lächelte mich an.
»Das würde mich nicht wundern, Sassenach«, murmelte
er. »Komm, dein Gesicht ist ja ganz naß.«
Er griff in den Rock, um sein Taschentuch
herauszuholen, und stutzte plötzlich.
»Briannas Bilder«, sagte er.
»Oh, das hatte ich ganz vergessen.« Ich holte die
Bilder aus der Tasche und gab sie ihm zurück. Er blätterte sie
durch, hielt plötzlich inne und begann die Prozedur noch mal von
vorne.
»Was ist?« fragte ich beunruhigt.
»Eins fehlt«, entgegnete er leise. Ein
undefinierbares Grauen ballte sich in meinem Magen zusammen, und
die Freude, die mich gerade noch erfüllt hatte, war wie
verflogen.
»Bist du sicher?«
»Ich kenne jedes einzelne in- und auswendig,
Sassenach«, sagte er. »Aye, ich bin mir sicher. Es ist das, wo sie
am Feuer sitzt.«
Ich wußte, welches er meinte. Es zeigte Brianna als
Jugendliche bei einem Campingausflug an einem Lagerfeuer. Sie hatte
die Knie angezogen, die Ellenbogen daraufgestützt und blickte
direkt in die Kamera. Allerdings hatte sie nicht bemerkt, wie das
Foto aufgenommen wurde: Ihr Gesicht war verträumt.
»Das muß Geillis genommen haben. Sie hat die Bilder
in deinem Rock gefunden, als ich in der Küche war. Dann hat sie es
also gestohlen.«
»Verdammt sei diese Frau!« Mit funkelnden Augen sah
Jamie zurück. Seine Hand umklammerte die restlichen Fotos. »Was hat
sie damit vor?«
»Vielleicht ist sie nur neugierig«, erwiderte ich.
Aber das Grauen blieb. »Was soll sie schon damit anfangen? Sie hat
es wohl kaum genommen, um es jemandem zu zeigen. Wer kommt schon
hierher?«
Anstatt zu antworten, hob Jamie plötzlich den Kopf
und griff warnend nach meinem Arm. In einiger Entfernung zeichnete
sich als gelber Schlammstreifen eine Wegschleife im grünen Dickicht
ab. Und auf dieser Schleife trabte hoch zu Roß eine
schwarzgekleidete, eckige Gestalt, ein Mann, kaum größer als eine
Ameise.
Plötzlich fiel mir wieder ein, was Geillis gesagt
hatte. Ich erwarte einen Besucher. Und später: Dieser
Pfaffe hat sich für vier Uhr angekündigt.
»Das ist ein Priester, irgendein Pfarrer«, erklärte
ich Jamie. »Geillis erwartet ihn.«
»Nicht nur ein Priester, sondern Archibald
Campbell, wie er leibt und lebt«, knurrte Jamie. »Was zum Teufel -
oder vielleicht sollte ich diesen Ausdruck im Hinblick auf Mistress
Abernathy lieber nicht benutzen.«
»Vielleicht ist er gekommen, um Geillis den Teufel
auszutreiben«, schlug ich mit einem nervösen Lachen vor.
»Wenn, dann ist er für diese Rolle wie geschaffen.«
Die knochige Gestalt verschwand hinter den Bäumen, und nachdem wir
sicherheitshalber noch einige Minuten gewartet hatten, kehrten wir
zum Weg zurück.
»Was willst du wegen Ian unternehmen?« fragte
ich.
»Ich brauche Hilfe«, erwiderte er. »Am besten fahre
ich mit Innes, MacLeod und den anderen Männern den Fluß hinauf.
Nicht weit von der Raffinerie gibt es eine Anlegestelle. Dort
binden wir das Boot fest, gehen an Land, kümmern uns um Herkules -
und Atlas, wenn er Ärger macht -, brechen den Keller auf, holen Ian
und machen uns auf den Rückweg. In zwei Tagen haben wir Neumond.
Ich wünschte, es ginge eher, aber so lange werden wir wohl
brauchen, bis wir ein geeignetes Boot und die nötigen Waffen
aufgetrieben haben.«
»Und wie wollen wir das bezahlen?« fragte ich
rundheraus. Die nötige Anschaffung von Kleidung und Schuhen hatte
einen Großteil des Gewinns geschluckt, den Jamie mit der Ladung
Guano erzielt hatte. Der Rest würde uns gerade über die nächsten
Wochen helfen. Vielleicht reichte er, um für ein, zwei Tage ein
Boot zu mieten, aber sicher nicht für eine größere Anzahl
Waffen.
Auf Jamaika wurden weder Pistolen noch Degen
hergestellt; alle Waffen mußten aus England eingeführt werden und
waren entsprechend teuer. Zwar besaß Jamie noch die zwei Pistolen
von Kapitän Raines, aber die Schotten hatten lediglich ihre
Fischmesser und das alte Entermesser - also nichts, was sich für
einen Überfall eignete.
Jamie zog eine Grimasse. Dann warf er mir einen
vorsichtigen Blick zu.
»Ich werde John um Hilfe bitten müssen«, sagte er.
»Meinst du nicht auch?«
Ich schwieg einen Moment lang, ehe ich
nickte.
»Ja, das mußt du wohl.« Mir gefiel die Vorstellung
nicht, aber
hier ging es nicht um mich, sondern um Ians Leben. »Ach, aber eins
noch, Jamie -«
»Aye, ich weiß schon«, fiel er mir ins Wort. »Du
willst uns begleiten, nicht wahr?«
»Ja.« Ich lächelte. »Wenn Ian krank oder verletzt
ist…«
»Gut, dann kommst du eben mit«, gab er etwas
unwirsch nach. »Du mußt mir nur einen Gefallen tun, Sassenach.
Bemüh dich doch bitte, daß du nicht in Stücke gerissen wirst oder
sonstwie ums Leben kommst! Denn das wäre verdammt hart für einen
Mann mit meinen Gefühlen.«
»Ich werde mir Mühe geben«, versprach ich ihm. Dann
lenkte ich mein Pferd neben ihn, und Seite an Seite ritten wir
unter den tropfenden Bäumen auf Kingston zu.