60
Der Duft der Steine
Rose Hall lag zehn Meilen von Kingston entfernt. Der Weg dorthin führte über eine steile, staubige Straße, die sich die bläulich schimmernden Berge hinaufschlängelte. Sie war überwuchert und so schmal, daß wir fast die ganze Strecke hintereinander reiten mußten. Ich folgte Jamie durch die Dunkelheit unter Bäumen hindurch, die gut dreißig Meter hoch waren und in deren Schatten riesige Farne wuchsen. Fast hoffte ich, daß Mr. Willoughby diesen Weg genommen hatte - hier würde ihn nie jemand aufspüren.
Obwohl die Milizsoldaten die Stadt sorgfältig durchkämmt hatten, hatten sie den Chinesen nicht gefunden. Für morgen erwartete man die Ankunft einer Marinesondereinheit aus Antigua. In der Zwischenzeit hatte sich jedes Haus in Kingston in eine Festung verwandelt, und die Bewohner waren bis an die Zähne bewaffnet.
In der Stadt herrschte eine gespannte Atmosphäre. Wie alle Marineoffiziere vertrat auch der Oberst die Ansicht, daß der Chinese von Glück reden könne, wenn er lang genug lebte, um am Galgen zu enden.
»Bestimmt reißen sie ihn in Stücke«, hatte Oberst Jacobs gemeint, als er uns in der Mordnacht aus dem Gouverneurspalast führte. »Sie werden ihm die Eier abreißen und in sein stinkiges Maul stopfen, jawohl«, hatte er mit grimmiger Genugtuung hinzugefügt.
»Wohl, wohl«, hatte Jamie auf französisch gemurmelt, als er mir in die Kutsche half. Ich wußte, daß ihm die Sache mit Mr. Willoughby keine Ruhe ließ, denn auch jetzt war er still und nachdenklich. Doch wir konnten nichts tun. Wenn der kleine Chinese unschuldig war, konnten wir ihn nicht retten, wenn er die Tat begangen hatte, konnten wir ihn nicht ausliefern. Das Beste wäre, man würde ihn nicht finden.
Unterdessen hatten wir fünf Tage Zeit, Ian zu suchen. Wenn er wirklich auf Rose Hall war, würde alles gut werden. Wenn nicht…
 
Ein Zaun und ein schmales Tor trennten die Plantage vom umgebenden Wald. Man hatte das Land gerodet und Zuckerrohr und Kaffee angepflanzt. In einiger Entfernung vom Haus stand auf einer anderen Anhöhe ein großes, unscheinbares, mit Lehm verputztes Gebäude, das mit Palmwedeln gedeckt war. Dunkelhäutige Menschen gingen dort geschäftig ein und aus, und der durchdringende Geruch von verbranntem Zucker lag in der Luft.
Unterhalb der Raffinerie - oder was ich dafür hielt - stand eine große Zuckermühle. Eine primitive Konstruktion: Zwei x-förmig übereinandergelegte Balken, die oben an einer riesigen Spindel befestigt waren, die aus der kastenförmigen Presse ragte. Ein paar Männer erklommen die Mühle, die gerade nicht lief. Die Ochsen, die sie antrieben, waren in einiger Entfernung angepflockt worden und grasten.
»Wie bekommen sie bloß den Zucker von hier oben nach Kingston?«
»Sie befördern ihn den Fluß hinunter, der gleich hinter dem Haus vorbeifließt. Bist du bereit, Sassenach?«
»Wie immer.«
Rose Hall war ein zweistöckiges, langgestrecktes, elegantes Gebäude. Das Dach war mit teuren Schieferplatten gedeckt und nicht wie die meisten anderen Plantagensitze mit einfachem Blech. Entlang einer Hauswand erstreckte sich eine breite Veranda, von der Flügeltüren ins Innere führten.
Gleich neben der Eingangstür stand ein großer, gelber Rosenbusch. Sein Duft war so intensiv, daß es einem fast den Atem nahm. Oder lag es an der Aufregung, daß ich kaum Luft bekam? Während wir darauf warteten, daß man uns öffnete, schaute ich mich um und versuchte, in der Nähe der Raffinerie irgendeinen Weißen auszumachen.
»Ja, Sir?« Eine Sklavin mittleren Alters musterte uns neugierig. Ihr massiger Körper steckte in einem weißen Baumwollkittel, um den Kopf hatte sie einen roten Turban gewickelt, und ihre Haut schimmerte in einem tiefem Goldbraun.
»Wir sind Mr. und Mrs. Malcolm und möchten Mrs. Abernathy unsere Aufwartung machen«, sagte Jamie höflich. Die Frau wirkte überrascht, als wären Besucher etwas Ungewöhnliches. Sie zögerte kurz, doch dann nickte sie und bat uns herein.
»Warten Sie bitte im Salon«, sagte sie. »Ich frage die Mistress, ob sie Sie sehen will.«
Der Salon war ein großer, schön geschnittener Raum mit riesigen Flügelfenstern auf einer Seite, die bis auf den Boden reichten. Am anderen Ende des Zimmers befand sich ein imposanter Kamin mit einem steinernen Aufsatz und einer Kaminplatte aus poliertem Schiefer, der fast die ganze Wand einnahm. Man hätte ohne weiteres einen Ochsen darin braten können, und der riesige Bratspieß im Kamin deutete darauf hin, daß die Hausherrin dies gelegentlich wohl auch tat.
Die Sklavin hatte uns gebeten, auf einem Korbsofa Platz zu nehmen. Ich setzte mich und sah mich um, aber Jamie ging ruhelos im Zimmer auf und ab und sah gelegentlich aus einem der Fenster, von denen aus man auf die Zuckerrohrfelder unterhalb des Hauses blickte.
Ein eigenartiges Zimmer: Es war behaglich mit Korb- und Rattanmöbeln eingerichtet, auf denen viele dicke Kissen lagen, aber es gab ein paar seltsame Dinge, die mir ins Auge stachen. Auf einem Fenstersims stand eine Reihe silberner Tischglocken, gestaffelt von ganz klein bis groß, und neben mir, auf einem Tischchen, befanden sich verschiedene kauernde Figuren aus Stein und Terrakotta, die wie primitive Fetische oder Götzen aussahen.
Es handelte sich eindeutig um Frauengestalten, die entweder ungemein schwanger oder mit riesigen, vollen Brüsten und ausladenden Hüften ausgestattet worden waren. Alle jedoch strahlten eine deutliche und ziemlich beunruhigende Sexualität aus. Nun, dieses Jahrhundert war gewiß nicht prüde, aber dennoch hätte ich nie erwartet, solche Objekte in einem Salon vorzufinden.
Etwas weniger gewagt waren die jakobitischen Andenken. Eine silberne Schnupftabaksdose, ein Glasflakon, ein verzierter Fächer, eine Servierplatte, ja, sogar der große, gewebte Teppich auf dem Boden - all diese Dinge waren mit der weißen Rose der Stuarts verziert. Das war nicht ungewöhnlich: Viele Jakobiten, die nach der Schlacht von Culloden aus Schottland geflohen waren, hatte es auf die Westindischen Inseln verschlagen. Eine jakobitisch gesinnte Hausherrin könnte sich über den Besuch eines Landsmanns freuen und bereit sein, uns bei der Sache mit Ian entgegenzukommen. Wenn er wirklich hier ist, mahnte mich meine innere Stimme.
Aus dem hinteren Teil des Hauses drang der Klang von Schritten. Als die Tür sich öffnete, flackerte das Kaminfeuer im Zug, und Jamie stöhnte auf, als hätte ihm jemand einen Schlag versetzt. Ich blickte auf, um mir die Hausherrin genauer anzusehen.
Erstaunt erhob ich mich, und dabei fiel der kleine, silberne Becher, den ich in der Hand hielt, scheppernd zu Boden.
»Wie ich sehe, hast du dir deine mädchenhafte Figur erhalten, Claire.« Mit leicht geneigtem Kopf musterten mich ihre grünen Augen amüsiert.
Ich war viel zu überrascht, als daß ich darauf etwas hätte erwidern können, doch mir schoß der Gedanke durch den Kopf, daß man das von ihr nicht gerade behaupten konnte.
Geillis Duncan hatte schon immer einen üppigen, milchweißen Busen und volle Hüften gehabt. Und obwohl ihre Haut noch immer milchweiß war, so hatte sie unübersehbar an Üppigkeit und Fülle zugelegt. Sie trug ein weit geschnittenes Musselinkleid, unter dem ihr weiches Fleisch bei jeder Bewegung wabbelte und schwabbelte. Ihr ehemals zart geschnittenes Gesicht war nun aufgedunsen, doch ihre leuchtendgrünen Augen glitzerten noch immer voller Bosheit und Schalk.
Ich atmete tief durch und faßte mich wieder.
»Ich hoffe, du verstehst mich jetzt nicht falsch«, sagte ich, während ich mich langsam auf das Korbsofa sinken ließ, »aber warum bist du nicht tot?«
Ihr silberhelles Lachen klang wie einst.
»Sollte ich das deiner Ansicht nach sein? Nun, du bist nicht die erste, die das findet - und ich denke, du wirst auch nicht die letzte sein.«
Sie sank in einen Sessel, nickte Jamie lässig zu und klatschte in die Hände, um das Dienstmädchen zu rufen. »Eine Tasse Tee?« fragte sie mich. »Bitte, und später lese ich dir dann aus den Teeblättern. Dafür bin ich hier bekannt: eine gute Wahrsagerin - und warum nicht?« Sie lachte wieder, und ihre Pausbacken röteten sich vor Freude. Falls sie das Wiedersehen genauso erschreckt hatte wie mich, überspielte sie das meisterhaft.
»Tee«, sagte sie zu dem schwarzen Dienstmädchen, das auf ihr Klatschen hin erschienen war. »Den für besondere Gelegenheiten aus der blauen Dose, aye? Und ein paar von den Nußkeksen.«
»Du ißt doch einen Happen, oder?« fragte sie mich. »Es ist ja doch ein besonderer Anlaß. Ich war gespannt, ob sich unsere Wege nach jenem Tag in Cranesmuir noch einmal kreuzen würden.«
Mein Herz schlug wieder ruhiger, und mein Schock war Neugier gewichen. In mir stiegen Dutzende von Fragen hoch, und so stellte ich ihr einfach die nächstbeste.
»Als wir uns in Cranesmuir begegnet sind, hast du mich da erkannt?« wollte ich wissen.
Sie schüttelte so heftig den Kopf, daß sich einige helle Haarsträhnen aus ihrem Knoten lösten. Beiläufig steckte sie sie wieder fest.
»Nein, zunächst nicht. Aber ich fand dich in deiner Art sehr fremd - und war nicht die einzige, die diesen Eindruck hatte. Du bist völlig unvorbereitet durch den Steinkreis gekommen, oder? Ich meine, nicht absichtlich!«
Ich war versucht, »damals nicht« zu sagen, hielt mich aber zurück und meinte statt dessen: »Nein, es geschah zufällig. Aber du bist mit voller Absicht gekommen, nicht wahr - aus dem Jahre 1968?«
Sie nickte und sah mich stirnrunzelnd an.
»Aye - um Prinz Tcharlach zu helfen.« Sie verzog den Mund, als hätte sie etwas Schlechtes gegessen, und plötzlich drehte sie den Kopf zur Seite und spuckte aus.
»Elender italienischer Feigling!« Ihre Augen verdunkelten sich gefährlich. »Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich mich auf den Weg nach Rom gemacht und ihn getötet, solange noch Zeit war. Allerdings wäre sein Bruder Henry wahrscheinlich kein Deut besser gewesen, dieser kastrierte, wehleidige Pfaffe! Nach der Schlacht von Culloden war ein Stuart so nutzlos wie der andere.«
Sie seufzte und rutschte auf dem Sessel hin und her, so daß das Rattangeflecht bedenklich knarzte. Ungeduldig wedelte sie mit der Hand - damit waren die Stuarts abgetan.
»Aber das hätte sich fürs erste erledigt. Du bist wahrscheinlich in der Zeit eines Feuerfests durch den Steinkreis gegangen, nicht wahr? So passiert es für gewöhnlich.«
»Ja«, antwortete ich verdutzt. »Es geschah an Beltene. Aber was meinst du mit ›für gewöhnlich‹? Bist du noch vielen anderen wie… uns begegnet?« erkundigte ich mich zögernd.
Abwesend schüttelte sie den Kopf. »Nicht vielen.« Sie schien über etwas nachzugrübeln, doch vielleicht war sie auch nur ungehalten, weil das Mädchen mit dem Tee noch nicht erschienen war. Hastig griff sie nach dem silbernen Glöckchen und klingelte ungestüm.
»Zum Teufel, wo bleibt bloß Clotilda!« rief sie zornig, um dann unvermittelt auf unser Thema zurückzukommen.
»Menschen wie uns?« meinte sie. »Nein, außer dir kenne ich nur noch eine einzige Person. Ich war völlig perplex, als ich die kleine Narbe auf deinem Arm entdeckte.« Sie deutete auf den bauschigen Teil ihres weißen Musselinärmels, unter dem sich die Impfnarbe verbarg. Wieder neigte sie den Kopf zur Seite und sah mich prüfend an.
»Nein, damit beziehe ich mich auf die Geschichten, die erzählt werden. Menschen, die in Zauber- und Steinkreisen angeblich verschwunden sind. Für gewöhnlich gehen sie um Beltene oder Samhain hindurch, einige während der anderen Sonnen- und Feuerfeste Lugnasa und Imbolc.«
»Also darum ging es auf der Liste!« Plötzlich fiel mir das graue Notizbuch wieder ein, das ich bei Roger Wakefield gelassen hatte. »Du hattest eine Liste mit Daten und fast zweihundert Initialen. Ich wußte nicht, was es damit auf sich hatte, aber ich kann mich erinnern, daß die Daten fast alle um Ende April und Anfang Mai oder Ende Oktober herum lagen.«
»Aye, das stimmt.« Sie nickte, während sie mich weiterhin durchdringend musterte. »Du hast also mein Büchlein gefunden? Hast du so herausgefunden, wann du auf dem Craigh na Dun Ausschau nach mir halten mußtest? Das warst doch du, oder? Die meinen Namen rief, bevor ich durch den Steinkreis ging?«
»Gillian«, sagte ich und merkte, wie ihre Pupillen sich beim Klang ihres früheren Namens erweiterten. Doch ihr Gesicht blieb ausdruckslos.
»Gillian Edgars. Ja, das war ich. Ich wußte nicht, ob du mich in der Dunkelheit gesehen hast.«
Vor meinem geistigen Auge entstand jener nachtschwarze Steinkreis - und in seiner Mitte das flackernde Feuer, daneben die Gestalt eines schlanken Mädchens, dessen helles Haar in der Hitze des Feuers flatterte.
»Ich habe dich nicht gesehen«, meinte sie. »Doch später, als du bei dem Hexenprozeß plötzlich aufgeschrien hast, meinte ich, deine Stimme schon einmal gehört zu haben. Und als ich dann die Narbe auf deinem Arm bemerkte… Wer war übrigens in jener Nacht bei dir?« erkundigte sie sich neugierig. »Ich konnte zwei weitere Gestalten ausmachen - einen hübschen, dunkelhaarigen Mann und ein Mädchen.« Sie schloß die Augen, um sich alles besser in Erinnerung rufen zu können. Als sie sie wieder öffnete, sagte sie: »Später dachte ich, ich würde sie kennen - aber ich konnte ihrem Gesicht keinen Namen zuordnen. Wer war sie?«
»Mistress Abernathy«, unterbrach Jamie unser Gespräch. Der erste Schock, ihr hier zu begegnen, hatte sich gelegt, aber er war immer noch blaß, und seine Wangenknochen zeichneten sich deutlich auf seinem angespannten Gesicht ab.
Sie sah ihn an, als nähme sie zum erstenmal von ihm Notiz.
»Und wenn das nicht der junge Rotfuchs ist!« stellte sie amüsiert fest. Neugierig musterte sie ihn von oben bis unten.
»Wie ich sehe, sind Sie inzwischen zu einem gutaussehenden Mann herangewachsen. Sie sehen wie ein echter MacKenzie aus. Das war schon immer so, aber jetzt, mit zunehmendem Alter, sind Sie Dougal und Colum wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten.«
»Bestimmt würden sich die beiden freuen, wenn sie wüßten, daß Sie sich noch so gut an sie erinnern.« Jamie ließ Geillis nicht aus den Augen. Er hatte sie noch nie ausstehen können, doch solange sie womöglich Ian hier versteckt hielt, durfte er sie nicht verärgern.
Da das Mädchen mit dem Tee kam, blieb sie ihm die Erwiderung schuldig. Jamie setzte sich zu mir aufs Sofa, während Geillis uns wie eine ganz gewöhnliche, höfliche Gastgeberin eine Tasse Tee einschenkte. Um diese Illusion aufrechtzuerhalten, reichte sie Milch und Zucker herum und betrieb eifrigst Konversation.
»Wenn Sie mir die Frage gestatten, Mrs. Abernathy«, erkundigte sich Jamie, »was hat Sie hierher verschlagen?« Höflich unterschlug er den damit verbundenen Rest der Frage: Wie ist es Ihnen gelungen, nicht als Hexe verbrannt zu werden?
Sie lachte kokett auf.
»Nun, wie Sie sich vielleicht erinnern, war ich damals in Cranesmuir ein recht wildes Ding.«
»Ich meine, mich vage erinnern zu können.« Jamie trank einen Schluck Tee, während seine Ohrläppchen rot anliefen. Nun, er hatte durchaus Grund, sich zu erinnern, denn während des Hexenprozesses hatte sie sich die Kleider vom Leib gerissen, um die gut verborgene Wölbung ihres Bauches zu enthüllen, die ihr - zumindest vorübergehend - das Leben retten sollte.
Genüßlich fuhr sie sich mit ihrer kleinen rosafarbenen Zunge über die Unterlippe, um ein paar Tropfen Tee aufzulecken.
»Hast du auch Kinder?« fragte sie mich.
»Ja.«
»Eine schreckliche Plackerei, nicht wahr? Erst schleppt man sich wie eine schmutzverkrustete Sau herum, um dann schließlich von etwas entbunden zu werden, was wie eine ertränkte Ratte aussieht.« Angeekelt schüttelte sie sich. »Die Freuden der Mutterschaft, daß ich nicht lache! Obwohl, ich darf mich eigentlich nicht beklagen - schließlich hat mir der kleine Wurm das Leben gerettet. Und so schrecklich die Geburt auch ist, so ist das immer noch besser, als auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden.«
»So würde ich das auch sehen«, erwiderte ich. »Obwohl ich, was letzteres betrifft, keinerlei Erfahrung habe und es daher nicht mit Bestimmtheit sagen kann.«
Geillis verschluckte sich an ihrem Tee, und ein paar braune Tropfen spritzten ihr auf das Kleid. Sie wischte sie achtlos beiseite, während sie mich belustigt ansah.
»Nun, ich auch nicht, aber ich habe sie brennen sehen, Herzchen. Und ich denke, sogar in einem Dreckloch zu liegen und zuzusehen, wie der Bauch wächst, ist allemal besser als das.«
»Haben sie dich während der ganzen Schwangerschaft im Diebesloch gefangengehalten?« Der silberne Löffel lag kühl in meiner Hand, aber bei dem bloßen Gedanken an das Diebesloch in Cranesmuir wurden meine Handflächen feucht. Der Hexerei beschuldigt, hatte ich dort drei Tage mit Geillis Duncan zugebracht. Wie lange hatte sie wohl dort ausharren müssen?
»Drei Monate«, sagte sie und starrte abwesend in ihre Teetasse. »Drei schrecklich lange Monate mit eiskalten Füßen und kriechendem Getier, stinkendem Fraß und Leichengestank, der mir Tag und Nacht um die Nase wehte.«
Sie sah auf, und ihr Mund verzog sich zu einem bitteren Grinsen. »Doch das Kind habe ich dann in stilvollerer Umgebung zur Welt gebracht. Als die Wehen einsetzten, holten sie mich aus dem Loch - in dem Zustand hätte ich mich wohl kaum davongemacht, oder? -, und das Baby wurde in meinem Schlafzimmer im Haus des Prokurators geboren.«
Ihr Blick war leicht verschwommen, und ich fragte mich, ob sie wirklich nur Tee in ihrer Tasse hatte.
»Wißt ihr noch, es hatte bunte Bleiglasfenster! Sie schimmerten in purpur und grün - das vornehmste Haus im Ort.« Sie lächelte nostalgisch. »Als sie mir den Jungen in den Arm gelegt haben, war sein Gesicht in grünes Licht getaucht. Er sah aus, als wäre er ertrunken. Ich dachte, wenn ich ihn berühre, ist sein Körper sicher kalt wie ein Leichnam. Aber sein Körper war ganz warm. So warm wie die Eier seines Vaters.« Sie lachte plötzlich auf - ein schmutziges Lachen.
»Warum sind die Männer nur so dumm? Zumindest eine Zeitlang tun sie alles, was man will, weil sie nur mit dem Schwanz denken. Dann gebiert man ihnen einen Sohn, und sie fressen einem wieder aus der Hand. Aber ob sie nun reinkommen oder rausgehen, für sie zählt nur, daß man mit ihnen ins Bett steigt.«
Sie lehnte sich zurück und spreizte die Beine. Dann beugte sich sich vor und prostete mit der Tasse ihrem Venushügel zu.
»Auf dein Wohl, mächtigste Sache der Welt! Zumindest die Schwarzen sind sich dessen bewußt.« Sie trank einen kräftigen Schluck. »Sie schnitzen kleine Götzenbilder, die nur aus Bauch, Brüsten und Vagina bestehen. Im Grunde genommen tun die Männer aus unserer Zeit, Claire, nichts anderes, oder?« Sie sah mich mit einem breiten Grinsen an. »Man braucht nur einen Blick in die schmutzigen Heftchen zu werfen, die unterm Ladentisch gehandelt werden, aye?«
Ihr Blick fiel auf Jamie. »Und Sie kennen sicher die Bilder und Bücher, die in Paris kursieren, Rotfuchs. Es ist überall dasselbe.« Sie winkte ab und nahm noch einen kräftigen Schluck. »Aber wenigstens haben die Schwarzen den Anstand, das Weibliche zu verehren.«
»Sehr aufmerksam von ihnen«, sagte Jamie ruhig. Er hatte es sich auf dem Sofa bequem gemacht und seine langen Beine ausgestreckt, doch mir entging nicht, wie angespannt er seine Teetasse umklammerte. »Und woher kennen Sie die Bilder, die die Männer in Paris betrachten, Mistress - Abernathy, wenn ich nicht irre?«
Sie war vielleicht etwas angeheitert, aber keineswegs betrunken. Durchdringend sah sie ihn an und verzog den Mund zu einem Grinsen.
»Oh, Mistress Abernathy ist schon in Ordnung. In Paris hatte ich einen anderen Namen - Madame Melisande Robicheaux. Gefällt er Ihnen? Ich fand ihn ja etwas zu hochtrabend, aber Ihr Onkel Dougal nannte mich so, und aus reiner Sentimentalität habe ich ihn beibehalten.«
Meine freie Hand ballte sich unter den Falten meines Rockes zur Faust. Als wir in Paris lebten, hatte ich von Madame Melisande gehört. Sie zählte nicht zur feinen Gesellschaft, hatte es aber als Seherin zu einer gewissen Berühmtheit gebracht. Insgeheim konsultierten sie die Damen des Hofes, holten sich Rat in Liebesdingen, Geldangelegenheiten und bei Schwangerschaften.
»Ich nehme an, du konntest den Damen der Gesellschaft einige interessante Dinge berichten«, meinte ich trocken.
Diesmal klang ihr Lachen ehrlich amüsiert. »O ja, das konnte ich! Obwohl ich es nur selten tat. Die Leute zahlen nicht gern für die Wahrheit. Manchmal allerdings - wußtest du, daß Jean-Paul Marats Mutter ihr Kind ursprünglich Rudolphe nennen wollte? Ich sagte ihr, dieser Name würde unter einem unglücklichen Stern stehen. Hin und wieder komme ich deswegen ins Grübeln - wäre er mit einem Namen wie Rudolphe auch zum Revolutionär geworden, oder hätte er es beim Gedichteschreiben belassen? Na, Rotfuchs, haben Sie je darüber nachgedacht, ob ein Name etwas ändert?« Ihre grasgrünen Augen musterten Jamie durchdringend.
»Schon oft«, erwiderte er. »Es war also Dougal, der Sie aus Cranesmuir weggebracht hat?«
Sie nickte und unterdrückte ein Rülpsen. »Aye. Er kam, um das Kind zu holen - er hatte Angst, jemand könnte herausfinden, daß er der Vater ist. Doch ich weigerte mich, den Jungen herzugeben. Als er mir das Kind entwinden wollte, griff ich mir den Dolch aus seinem Gürtel und drückte ihn dem Kind an die Kehle.« Als sie sich daran erinnerte, huschte ein kleines, zufriedenes Lächeln über ihr Gesicht.
»Ich sagte ihm, ich würde das Kind töten, wenn er mir nicht bei seinem Leben und dem seines Bruders schwörte, daß er mich an einen sicheren Ort bringen wollte.«
»Hat er dir geglaubt?« Mir wurde leicht übel bei der Vorstellung, daß eine Mutter ihrem Neugeborenen ein Messer an die Kehle halten konnte - selbst wenn es nur zum Schein war.
»O ja«, erwiderte sie sanft, und ihr Lächeln wurde breit. »Dougal kannte mich schließlich.«
Obwohl es Dezember und bitterkalt gewesen war, hatte Dougal der Schweiß auf der Stirn gestanden. Er konnte den Blick nicht vom Gesichtchen seines schlafenden Sohnes abwenden und hatte schließlich in den Handel eingewilligt.
Jamie zeigte keinerlei Gefühlsregung, doch er griff nach seiner Teetasse und trank einen großen Schluck.
Dougal hatte den Gefängniswärter, John MacRae, und den Küster rufen lassen. Mit einer saftigen Bestechung stellte er sicher, daß die vermummte Gestalt, die am nächsten Morgen zum Pechfaß geschleift wurde, nicht Geillis Duncan war.
»Ich dachte, sie würden vielleicht Stroh hernehmen«, meinte sie, »aber Dougal hatte einen besseren Plan. Drei Tage zuvor war die alte Joan MacKenzie gestorben und sollte an jenem Nachmittag beerdigt werden. Also kamen ein paar Steine in den Sarg, der Deckel wurde ordentlich zugenagelt, und damit hatte sich die Sache. Ein echter Leichnam, für das Feuer wie geschaffen!« Sie lachte und trank den letzten Schluck.
»Wohl kaum jemand hat die Möglichkeit, seiner eigenen Beerdigung zuzusehen, und noch weniger Menschen beobachten ihre eigene Hinrichtung, aye?«
Es war tiefster Winter, und das Ebereschenwäldchen draußen vor dem Dorf war kahl. Der Wind blies das Laub umher, und hier und da lagen vertrocknete, rote Beeren am Boden, die wie Blutstropfen schimmerten.
Es war ein wolkenverhangener Tag, und es sah aus, als würde es schneien, aber trotzdem war das ganze Dorf auf den Beinen. Schließlich wurde nicht alle Tage eine Hexe verbrannt. Der Dorfpfarrer, Vater Bain, war zwar drei Monate zuvor an Wundfieber gestorben, doch ein Pfarrer aus einer Nachbargemeinde sprang für ihn ein. Auf seinem Weg zum Wäldchen schwenkte der Priester das Weihrauchfaß und sang das Totengebet. Hinter ihm ging der Gefängniswärter mit seinen beiden Gehilfen. Gemeinsam zogen sie den Karren mit der in Schwarz gehüllten Fracht.
»Die alte Joan wäre zufrieden gewesen, glaube ich«, sagte Geillis und lächelte breit. »Zu ihrer Beerdigung hätten sich sicher nicht mehr als vier oder fünf Leute zusammengefunden - doch nun war das ganze Dorf erschienen, ganz zu schweigen von dem Weihrauch und den besonderen Gebeten!«
MacRae hatte den schlaffen Körper losgebunden und ihn zum bereitstehenden Pechfaß getragen.
»Das Gericht hatte mir die Gnade gewährt, vor der Verbrennung erwürgt zu werden«, erzählte Geillis mit ironischem Unterton. »Man ging also nicht davon aus, mich noch lebend vorzufinden. Das einzige, was den Anwesenden hätte auffallen können, war die Tatsache, daß die alte Joan weitaus weniger wog als ich. Aber niemand schien zu bemerken, was für ein Leichtgewicht MacRae da in den Armen trug.«
»Du warst dabei?« fragte ich konsterniert.
Sie nickte selbstzufrieden. »Aber sicher doch. Dick vermummt, was nicht weiter auffiel, denn bei dem Wetter hatte sich jeder in einem Umhang gehüllt. Dieses Schauspiel wollte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen.«
Als der Priester das letzte Gebet gesprochen hatte, mit dem die Hexerei gebannt werden sollte, griff MacRae nach der Fackel, die ihm sein Gehilfe reichte, und tat einen Schritt nach vorn.
»Herr, gewähre dieser Frau die Gnade des ewigen Lebens und vergib ihr das Böse, das sie in ihrem irdischen Leib begangen hat«, sprach er feierlich und entzündete das Pech.
»Es ging alles viel schneller, als ich mir vorgestellt hatte«, sagte Geillis, und ihre Stimme klang ein wenig verwundert. »Ein heftiges Zischen - und schon blies uns ein heißer Luftstrom entgegen. Ein Jubeln ging durch die Menge. Außer den züngelnden Flammen, die so hoch schossen, daß sie die Äste der Ebereschen ansengten, war nichts zu sehen.«
Doch rasch war das Feuer wieder zusammengefallen, so daß sich im fahlen Tageslicht die dunkle Gestalt abgezeichnet hatte. Die Kapuze und das Haar waren den ersten Flammen zum Opfer gefallen und das Gesicht zur Unkenntlichkeit verbrannt. Kurz darauf kamen die geschwärzten Knochen zum Vorschein.
»Von ihren Augen blieben nur noch große, dunkle Höhlen zurück«, sagte sie und musterte mich mit verschleiertem Blick. »Ich dachte, sie starrt mich an, doch schon im nächsten Augenblick zerplatzte ihr Schädel, und alles war vorbei. Die Menge löste sich auf, nur einige blieben noch, weil sie sich ein Stück Knochen zum Andenken erhofften.«
Schwankend stand sie auf und ging zu dem Tischchen in der Nähe des Fensters. Sie griff nach der silbernen Glocke und klingelte energisch.
Noch mit dem Rücken zu uns meinte sie: »Kinderkriegen ist wohl doch leichter.«
»Dougal hat Sie also nach Frankreich gebracht«, stellte Jamie fest. Die Finger seiner rechten Hand zuckten leicht. »Und wie kamen Sie auf die Westindischen Inseln?«
»Ach, das war später«, meinte sie unbekümmert. »Nach Culloden.« Lächelnd wandte sie sich zu uns um.
»Und was verschafft mir die Ehre eures Besuches? Doch sicher nicht eure Sehnsucht nach mir?«
Ich sah zu Jamie hinüber, dessen Muskeln sich bei diesen Worten anspannten. Seine Miene blieb unbewegt, und nur wer ihn gut kannte, sah, daß er auf der Hut war.
»Wir sind auf der Suche nach einem jungen Verwandten von mir«, erzählte er. »Meinem Neffen Ian Murray. Wir haben guten Grund zu der Annahme, daß er hier Zwangsarbeit leistet.«
Geillis sah uns verwundert an.
»Ian Murray?« fragte sie kopfschüttelnd. »Ich habe keine Weißen als Sklaven. Überhaupt keinen Weißen. Der einzige freie Mann auf der Plantage ist ein Aufseher, und er ist, was man auf den Westindischen Inseln einen griffone nennt: zu einem Viertel Schwarz.«
Im Gegensatz zu mir war Geillis eine gute Lügnerin. Nichts deutete darauf hin, daß sie den Namen Ian Murray schon jemals zuvor gehört hatte. Aber ich wußte trotzdem, daß sie log.
Jamie wußte es auch. In seinem Blick flammte Zorn und nicht Enttäuschung auf.
»Wirklich?« meinte er höflich. »Haben Sie keine Angst so allein hier mit den Sklaven? Die Stadt ist weit.«
»O nein. Ganz und gar nicht.«
Sie grinste über das ganze Gesicht und deutete mit ihrem Doppelkinn auf die Veranda hinter sich. Als ich mich umdrehte, sah ich, daß der Rahmen der Flügeltür von einer massigen schwarzen Gestalt ausgefüllt wurde. Der Mann überragte Jamie um einiges, und seine muskelbepackten Arme waren so dick wie Baumstämme.
»Darf ich euch Herkules vorstellen?« fragte Geillis kichernd. »Er hat übrigens noch einen Zwillingsbruder.«
»Heißt der zufällig Atlas?« mutmaßte ich leicht gereizt.
»Du hast es erraten. Ein schlaues Mädchen, finden Sie nicht, Rotfuchs?« Geillis zwinkerte Jamie verschwörerisch zu.
Herkules nahm keinerlei Notiz von dem, was um ihn herum vorging. Sein breites Gesicht war ausdruckslos, und seine Augen, die tief in den Höhlen lagen, wirkten tot. Bei seinem Anblick war mir unbehaglich zumute, und das nicht nur wegen seiner furchteinflößenden Größe. Ihn anzusehen war, als ginge man an einem Spukhaus vorbei, wo hinter blinden Fenstern jemand auf der Lauer lag.
»Ist gut, Herkules; du kannst wieder an deine Arbeit gehen.« Geillis griff nach dem silbernen Glöckchen und klingelte leise. Wortlos drehte sich der Riese um und trabte schwerfällig davon. »Ich habe keine Angst vor den Sklaven«, erklärte sie. »Sie haben Angst vor mir, denn sie halten mich für eine Hexe. Irgendwie lustig, oder?« Ihre Augen funkelten vergüngt.
»Geillis, dieser Mann…« Ich zögerte, denn die Frage, die mir auf der Zunge lag, erschien mir doch ein wenig lächerlich. »Er ist doch kein… Zombie, oder?«
Meine Vermutung amüsierte sie, und vergnügt klatschte sie in die Hände.
»Du lieber Himmel, ein Zombie? Heiliger Strohsack, Claire!« Sie schüttelte sich vor Lachen. »Er ist zwar nicht besonders klug«, sagte sie, nachdem sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, »aber tot ist er auch nicht!« Sie begann wieder zu prusten.
Jamie sah mich verwirrt an.
»Ein Zombie?«
»Vergiß es«, meinte ich. Inzwischen war ich genauso rot angelaufen wie Geillis, allerdings aus einem anderen Grund. »Wie viele Sklaven hast du hier?« fragte ich, um das Thema zu wechseln.
Sie hatte sich noch immer nicht gefangen und gluckste: »Oh: zirka hundert. Die Plantage ist nicht besonders groß. Ich habe nur hundertzwanzig Hektar Zuckerrohr und ein paar Kaffeepflanzen in den höheren Lagen.«
Sie zog ein spitzenbesetztes Taschentuch hervor, tupfte sich damit über das verschwitzte Gesicht und holte tief Luft. Jamie war die Anspannung zwar nicht anzusehen, aber ich konnte sie deutlich spüren. Mit Sicherheit war er ebenso wie ich davon überzeugt, daß Geillis etwas über Ian Murray wußte - denn sie war von unserem Erscheinen hier nicht im mindesten überrascht gewesen. Irgend jemand hatte ihr von uns erzählt, und dieser Jemand konnte nur Ian gewesen sein.
Es würde Jamie wohl kaum in den Sinn kommen, einer Frau zu drohen, um ihr irgenwelche Informationen zu entlocken, doch ich kannte solche Skrupel nicht. Aber leider hatte Herkules’ Erscheinen mein Vorhaben im Keim erstickt. Das Zweitbeste wäre, wenn wir das Anwesen nach irgendeiner Spur von dem Jungen absuchen könnten. Hundertzwanzig Hektar waren ein stattlicher Besitz, doch wenn Ian sich tatsächlich auf der Plantage befand, dann bestimmt in der Nähe der Gebäude.
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als ich merkte, daß Geillis mir eine Frage gestellt hatte. »Wie bitte?«
»Ich sagte«, wiederholte sie geduldig, »daß du damals in Schottland in dem Ruf standest, andere heilen zu können. Inzwischen verfügst du sicherlich über ein noch viel größeres Wissen, oder?«
»Das ist schon möglich.« Ich sah sie mißtrauisch an. Brauchte sie meine Hilfe für sich selbst?
»Es geht nicht um mich«, meinte sie, als sie meinen Blick bemerkte. »Zumindest nicht im Augenblick. Zwei meiner Sklaven sind nicht gesund. Vielleicht könntest du mal nach ihnen sehen.«
Ich blickte zu Jamie hinüber, der unmerklich nickte. Das war eine gute Gelegenheit, in die Sklavenunterkünfte zu kommen und nach Ian zu suchen.
Er erhob sich unvermittelt und meinte: »Bei unserer Ankunft habe ich gesehen, daß Sie Schwierigkeiten mit der Zuckermühle haben. Vielleicht kann ich mich dort nützlich machen, während Sie und meine Frau sich um die kranken Sklaven kümmern.« Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er seinen Rock und hängte ihn an einen Haken neben der Tür. Während er sich die Hemdsärmel hochkrempelte, trat er hinaus ins gleißende Sonnenlicht auf der Veranda.
»Er gehört offensichtlich zu der Sorte Mann, die sich gern nützlich macht«, meinte Geillis, die ihm amüsiert nachsah. »Mein Mann Barnabas war auch so einer - keine Maschine war vor ihm sicher… allerdings auch kein Sklavenmädchen«, fügte sie hinzu. »Komm, die Kranken sind hinter der Küche.«
Die Küche befand sich in einem kleinen Nebengebäude, das mit dem Herrenhaus durch eine mit Jasmin überwucherte Pergola verbunden war. Als wir hinübergingen, hatte ich das Gefühl, durch eine Parfümwolke zu schreiten, und das Summen der Bienen war so laut, daß man es förmlich auf der Haut spürte - wie das tiefe Brummen einer Dudelsackpfeife.
»Bist du schon mal gestochen worden?« Geillis schlug beiläufig nach einem der pelzigen Insekten, das im Sturzflug auf sie zukam.
»Hin und wieder.«
»Ich auch«, meinte sie. »X-mal schon, und nie war etwas Schlimmeres zu sehen als eine rote Schwellung. Doch letzten Frühling hat eins dieser verfluchten Biester eine Küchensklavin gestochen. Das Mädchen schwoll an wie eine Kröte und starb mir direkt vor der Nase weg!« Geillis sah mich aus großen, spöttischen Augen an. »Was Besseres hätte ich mir gar nicht wünschen können. Die Sklaven dachten, ich hätte das Mädchen verhext, einen bösen Zauber über sie verhängt, weil sie einen Kuchen hatte verbrennen lassen. Seit der Zeit ist nicht einmal mehr was angebrannt.« Kopfschüttelnd verjagte sie eine weitere Biene.
Obwohl mich ihre Kaltherzigkeit entsetzte, beruhigte mich diese Geschichte ein wenig. Also entbehrte womöglich auch der Klatsch, den ich auf dem Empfang gehört hatte, jeder Grundlage.
Ich blieb stehen und sah durch die zarten Jasminblätter hindurch auf die Zuckerrohrfelder unter mir. Jamie hatte sich darangemacht, die Zuckermühle zu reparieren. Er begutachtete die riesigen Mühlarme, während ein Mann - wahrscheinlich der Aufseher - lebhaft gestikulierte und erklärte. Wenn ich in den Unterkünften keine Spur von Ian finden sollte, konnte Jamie vielleicht etwas von dem Aufseher in Erfahrung bringen. Obwohl es Geillis abstritt, sagte mir mein Instinkt, daß der Junge irgendwo auf diesem Anwesen war.
In der Küche konnte ich nichts Aufschlußreiches entdecken; drei oder vier Frauen, die Brotteig kneteten oder Erbsen pulten, sahen neugierig auf, als wir eintraten. Ich erhaschte den Blick einer jungen Frau, nickte ihr zu und lächelte sie an. Vielleicht würde sich später eine Gelegenheit ergeben, mit ihr zu plaudern. Nachdem sie mich mit großen Augen angesehen hatte, senkte sie rasch wieder den Blick auf die Schüssel mit Erbsen auf ihrem Schoß. Als wir den langgestreckten Raum durchquerten, erkannte ich an ihrem leicht gewölbten Leib, daß sie in den ersten Monaten schwanger war.
Der erste kranke Sklave war in einer kleinen Speisekammer gleich neben der Küche untergebracht. Der Patient, ein junger Mann um die Zwanzig, lag auf einer Pritsche direkt unter Regalen, auf denen sich in Gaze verpackte Käselaibe türmten. Er richtete sich auf, als plötzlich Licht in den Raum fiel.
»Was ist mit ihm?« Ich kniete mich hin und befühlte seine Stirn. Er war warm, schwitzte leicht, hatte aber offensichtlich kein Fieber. Soweit ich es beurteilen konnte, schien er keine großen Schmerzen zu haben, denn während ich ihn untersuchte, blinzelte er nur verschlafen.
»Er hat einen Wurm.«
Verwundert sah ich zu Geillis auf. Nach dem, was ich bisher gehört und gesehen hatte, hielt ich es für gut möglich, daß mindestens drei Viertel der schwarzen Bevölkerung - und viele Weiße - an inneren Parasiten litten. So unangenehm sie auch waren, so stellten die meisten lediglich für ganz junge und ganz alte Menschen eine Gefahr dar.
»Sicher mehr als einen«, erwiderte ich und begann behutsam seinen Magen abzutasten. Die Milz war weich und leicht vergrößert - was ebenfalls typisch war -, aber ich konnte im Unterleib nichts feststellen, was auf einen stärkeren Befall hingedeutet hätte. »Er scheint einigermaßen gesund zu sein. Warum liegt er hier im Dunkeln?«
Als ob er meine Frage beantworten wollte, riß sich der Sklave mit einemmal von mir los, stieß einen durchdringenden Schrei aus und krümmte sich zusammen. Ruckartig bewegte er sich vor und zurück, bis er schließlich die Wand erreichte und immer wieder mit dem Kopf dagegen schlug. Dabei schrie er unablässig. Genauso plötzlich war der Anfall auch wieder vorbei, und der junge Mann sank schweratmend und schweißgebadet auf sein Lager zurück.
»Du lieber Himmel«, sagte ich, »was war das denn?«
»Ein loa-loa-Wurm«, erklärte Geillis, die meine Reaktion schmunzelnd beobachtet hatte. »Sie leben in den Augenhöhlen, direkt unter der Bindehaut. Sie wandern hin und her, von einem Auge zum anderen, und wenn sie dabei den Nasenrücken überqueren, ist das, so hat man mir berichtet, äußerst schmerzhaft.« Sie sah zu dem Sklaven hinüber, der noch immer zitternd auf seiner Pritsche lag.
»Wenn es dunkel ist, rühren sie sich kaum«, fügte sie hinzu. »Man muß sie wohl fangen, wenn sie gerade in das eine Auge eindringen, denn dann sind sie dicht an der Oberfläche und man kann sie mit einer großen Nähnadel herausholen. Später bekommt man sie nicht mehr so leicht zu fassen.« Sie ging zurück in die Küche und verlangte nach Licht.
»Hier, eine Nadel habe ich für alle Fälle schon mal dabei.« Sie kramte in dem Beutel an ihrer Taille und förderte ein Stück Filz zutage, in dem eine sieben Zentimeter lange Nadel steckte, die sie mir entgegenstreckte.
»Ich glaube, du bist nicht ganz bei Trost!« Fassungslos starrte ich sie an.
»Wieso, ich dachte, du verstehst dein Handwerk?« warf sie ganz vernünftig ein.
»Ja, schon, aber…« Ich sah zu dem Sklaven hinüber, zögerte einen Moment lang und nahm dann der Dienstmagd die Kerze ab, die sie mir hinhielt.
»Bring mir etwas Weinbrand und ein kleines, scharfes Messer«, sagte ich. »Tauche das Messer und die Nadel in den Weinbrand, halte die Spitze dann kurz ins Feuer. Laß sie abkühlen, aber faß sie nicht an.« Unterdessen unterzog ich ein Auge einer gründlichen Untersuchung, konnte jedoch nichts entdecken.
Ich nahm mir das andere Auge vor - und hätte beinahe die Kerze fallengelassen. Da war tatsächlich ein winziger, durchsichtiger Wurm, der sich unter der Bindehaut bewegte. Ich mußte würgen. Dann aber riß ich mich zusammen und griff nach dem frisch sterilisierten Messer.
»Pack ihn an den Schultern«, sagte ich zu Geillis. »Er darf sich auf keinen Fall bewegen, sonst besteht die Gefahr, daß ich das Auge verletze und er blind wird.«
Es war ein grauenhafter Eingriff, der sich jedoch überraschend einfach durchführen ließ. Ich machte einen raschen, kleinen Schnitt an der Innenseite der Bindehaut, hob sie mit der Nadelspitze ein wenig an, und als der Wurm träge auf die Öffnung zuschlängelte, stieß ich die Nadelspitze unter den Körper und zog ihn wie einen Faden heraus.
Das Auge blutete nicht. Ich beschloß, es seinen Tränendrüsen zu überlassen, den Einschnitt zu spülen. Er mußte von alleine zuheilen, denn ich hatte kein feines Garn, und die Wunde war ohnehin so klein, daß in jedem Fall ein, zwei Stiche genügt hätten.
Schließlich legte ich noch einen Verband rund um den Kopf an. Sichtlich zufrieden mit meinem ersten Ausflug in die Tropenmedizin, lehnte ich mich zurück.
»Gut«, sagte ich und strich mir das Haar aus der Stirn, »der Nächste bitte!«
Der zweite Patient lag in einer Hütte in der Nähe der Küche - tot. Ich hockte mich neben den Leichnam - ein Mann mittleren Alters mit grauem Haar - und fühlte sowohl Mitleid als auch Empörung.
Die Todesursache war eindeutig ein eingeklemmter Bruch. Seine verkrümmten Gliedmaßen bezeugten auf traurige Weise, welchen Tod dieser Mann gestorben war. Sein Körper war noch warm.
»Warum hast du bloß so lange gewartet?« Ich stand auf und funkelte Geillis an. »Warum, um Himmels willen, hast du mit mir geplaudert und Tee getrunken, während sich das hier abspielte? Er ist höchstens eine Stunde tot, aber er hat bestimmt tagelang gelitten! Warum hast du mich nicht gleich hierhergebracht?«
»Heute morgen war er schon fast hinüber«, erwiderte sie. Mein Zorn brachte sie nicht im mindesten aus der Ruhe. »Ich habe so was schon häufiger gesehen. Außerdem dachte ich nicht, daß du viel ausrichten könntest. Wozu also die Eile?«
Ich sparte mir jede weitere Anschuldigung. Sie hatte recht: Ich hätte zwar, wenn ich eher gekommen wäre, operieren können, aber er hätte keine großen Aussichten gehabt, den Eingriff zu überleben. Einen eingeklemmten Bruch hätte ich vielleicht auch unter schwierigen Bedingungen hingekriegt. Die eigentliche Gefahr bestand in einer möglichen Infektion.
Doch mußte man ihn deshalb in dieser schäbigen Hütte einfach seinem Schicksal überlassen, noch dazu allein? Nun, vielleicht hätte er die Anwesenheit einer Weißen nicht als Trost empfunden, aber trotzdem… Ich hatte das unbestimmte Gefühl, versagt zu haben, eine Empfindung, die mich im Angesicht des Todes immer überkam. Langsam wischte ich mir die Hände an einem mit Weinbrand getränkten Stück Stoff ab und versuchte, meine Gefühle in den Griff zu bekommen.
Einen hatte ich retten können, den anderen verloren - und von Ian noch immer keine Spur.
»Wo ich schon mal hier bin, könnte ich mir die restlichen Sklaven eigentlich auch gleich ansehen«, schlug ich vor. »Zur Vorbeugung.«
»Ach, denen geht’s gut.« Geillis winkte nachlässig ab. »Aber wenn du dir die Mühe machen willst, bitte sehr. Allerdings erst später; ich erwarte am Nachmittag einen Besucher und würde vorher gern noch mit dir reden. Laß uns zum Haus zurückkehren - ich sorge dafür, daß sich jemand um das da kümmert.« Durch ein kurzes Nicken deutete sie an, daß mit »das da« der verkrümmte Leichnam des Sklaven gemeint war. Sie hakte mich unter, schob mich aus der Hütte und steuerte mich mit sanftem Druck zur Küche.
Dort angekommen, machte ich mich frei und trat auf die schwangere Sklavin zu, die gerade vor der Feuerstelle kniete und den Boden schrubbte.
»Geh schon mal vor. Ich möchte mir nur mal eben dieses Mädchen ansehen. Sie wirkt nicht gerade gesund - du willst doch sicher nicht riskieren, daß sie eine Fehlgeburt hat.«
Geillis warf mir zwar einen seltsamen Blick zu, zuckte dann aber die Achseln.
»Sie hat schon zweimal ohne jede Schwierigkeit geworfen, aber du bist hier die Heilerin. Wenn das deine Vorstellung von Vergnügen ist, aye, dann will ich dich nicht aufhalten. Aber hoffentlich dauert’s nicht zu lange, denn dieser Pfaffe hat sich für vier Uhr angekündigt.«
Also gab ich mir den Anschein, als würde ich die verängstigte Frau untersuchen, bis Geillis’ geraffte Röcke in der Pergola verschwanden.
»Passen Sie auf«, sagte ich zu der jungen Frau. »Ich suche einen weißen Jungen namens Ian. Ich bin seine Tante. Wissen Sie vielleicht, wo er ist?«
Das Mädchen - es konnte kaum älter als achtzehn, neunzehn sein - blinzelte mich verdutzt an. Dann warf sie einer der älteren Frauen, die ihre Arbeit niedergelegt und sich zu uns gesellt hatte, um zu sehen, was hier vor sich ging, einen ängstlichen Blick zu.
»Nein, Madam«, sagte die ältere Frau kopfschüttelnd. »Hier sind keine weißen Jungen. Keine.«
»Nein, Madam«, wiederholte das Mädchen gehorsam. »Wir wissen nichts von Ihrem Jungen.« Aber das hatte sie nicht gleich auf Anhieb gesagt, und sie wagte nicht, mir in die Augen zu sehen.
Inzwischen waren auch die beiden anderen Küchenmädchen zu uns gekommen, um der älteren Frau moralischen Beistand zu leisten. So war ich von einer Wand undurchdringlichen Schweigens umgeben, die sich durch nichts erschüttern ließ. Gleichzeitig spürte ich die unausgesprochenen Botschaften, die sie sich gegenseitig schickten - Warnung, Sorge, Mahnung zur Verschwiegenheit. Natürlich konnte das allein schon durch das Eindringen einer fremden Weißen in ihre Domäne hervorgerufen worden sein - aber womöglich hatte es auch andere Gründe.
Wenn ich noch länger in der Küche blieb, bestand die Gefahr, daß Geillis kam und nach mir sah. Hastig suchte ich in meinen Taschen, zog ein silbernes Zweischillingstück heraus und drückte es dem Mädchen in die Hand.
»Wenn Sie Ian zufällig begegnen, sagen Sie ihm, daß sein Onkel da ist und ihn sucht.« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte ich mich um und eilte aus der Küche.
Während ich die Pergola durchquerte, sah ich zur Zuckermühle hinunter. Einsam und verlassen stand sie da; genüßlich grasten die Ochsen im hohen Gras am Rand der Lichtung. Keine Spur von Jamie oder dem Aufseher. Waren sie vielleicht schon zum Haus zurückgekehrt?
Ich betrat den Salon durch die Verandatür und blieb wie angewurzelt stehen. Geillis saß in einem Schaukelstuhl, Jamies Rock hing über ihrem Arm, und auf dem Schoß hatte sie die Fotos von Brianna ausgebreitet. Als sie mich hörte, sah sie auf und lächelte mich mokant an.
»Ein hübsches Mädchen! Wie heißt sie?«
»Brianna.« Meine Lippen kribbelten. Ich trat auf Geillis zu, während ich mit aller Kraft gegen den Drang ankämpfte, ihr die Bilder aus der Hand zu reißen und fortzulaufen.
»Sie sieht ihrem Vater ähnlich, nicht wahr? Schon damals auf dem Craigh na Dun kam sie mir bekannt vor. Er ist doch ihr Vater, oder nicht?« Sie wies mit dem Kopf auf die Tür, durch die Jamie verschwunden war.
»Ja. Gib mir die Fotos.« Jetzt, da sie die Bilder kannte, war es zwar egal, doch ich konnte nicht mit ansehen, wie ihre dicken, weißen Finger Briannas Gesicht betatschten.
Ihre Mundwinkel zuckten, als wollte sie widersprechen, aber dann schob sie die Fotos zu einem ordentlichen Stapel zusammen und reichte sie mir ohne Proteste. Ich drückte sie kurz an die Brust, und weil ich nicht wußte, wo ich sie aufbewahren sollte, schob ich sie schließlich in meine Rocktasche.
»Setz dich doch, Claire. Der Kaffee ist bereits serviert.« Sie wies auf ein kleines Tischchen, vor dem ein Sessel stand. Als ich darauf zuging, ließ sie mich keinen Moment aus ihren berechnend funkelnden Augen.
Mit einer Geste bat sie mich, uns beiden einzuschenken, und nahm ihre Tasse entgegen. Ohne ein Wort tranken wir. Ich konnte kaum meine Tasse halten, so sehr zitterte ich, und prompt goß ich mir ein wenig heißen Kaffee über den Arm. Während ich ihn mir am Rock abwischte, fragte ich mich, warum ich überhaupt Angst hatte.
»Zweimal«, sagte Geillis plötzlich mit einem Blick, der fast schon Bewunderung ausdrückte. »Gütiger Gott, zweimal hast du es geschafft. Nein, dreimal, denn jetzt bist du ja wieder hier.« Staunend schüttelte sie den Kopf, ohne die leuchtendgrünen Augen von mir zu lassen.
»Wie?« fragte sie dann. »Wie hast du das überlebt?«
»Das weiß ich nicht.« Als ich ihren mißtrauischen Blick sah, fügte ich abwehrend hinzu: »Das weiß ich wirklich nicht. Ich bin einfach durchgegangen.«
»Aber war der Übergang für dich nicht auch schrecklich?« Aufmerksam hatte sie die Augen zusammengekniffen. »Hast du nicht auch dieses Entsetzen verspürt? Und dieses Dröhnen gehört, bei dem man denkt, es würde einem den Schädel spalten?«
»Doch, natürlich.« Ich wollte nicht darüber sprechen, nicht an jene Sekunden denken müssen, in denen ich die Zeitschranke überwunden hatte. Ich hatte die Erinnerung an das Donnern und Dröhnen, an das Gefühl, sich selbst aufzulösen, an die lockenden Rufe des Chaos ganz bewußt verdrängt.
»Hast du dich mit Blut geschützt oder mit Kristallen? Eigentlich traue ich dir Blut nicht zu, aber ich kann mich ja auch täuschen. Denn offensichtlich bist du stärker, als ich dachte, wenn du es dreimal geschafft hast, ohne daß es dich das Leben gekostet hat.«
»Blut?« Verwirrt schüttelte ich den Kopf. »Nein nichts. Ich habe dir doch gesagt, ich bin einfach durchgegangen, mehr nicht.« Aber dann fiel mir die Nacht im Jahr 1968 ein, als Geillis durch die Steine gegangen war, und ich dachte an das Feuer auf dem Craigh na Dun und die zusammengekrümmte, verkohlte Gestalt in der Glut. »Greg Edgars«, sagte ich. Der Name ihres ersten Mannes.
»Aye, er war mein Blutsopfer.« Aufmerksam musterte sie mich. »Ich hätte nicht gedacht, daß man es auch ohne Blut schaffen kann.« Sie klang ehrlich erstaunt. »Die Menschen der Vergangenheit haben immer Blut benutzt. Blut und Feuer. Sie haben große Weidenkäfige gebaut, ihre Gefangenen hineingesperrt, sie im Kreis aufgestellt und angezündet. Ich dachte, das sei nötig, damit sich der Durchgang öffnet.«
Weil meine Hände und Lippen eiskalt geworden waren, griff ich nach der Tasse, um mich daran zu wärmen. Wo, um alles in der Welt, war Jamie?
»Und auch keine Steine?«
Ich schüttelte den Kopf. »Was für Steine?«
Offensichtlich überlegte Geillis, was sie mir sagen sollte. Ihre kleine, rosa Zunge zuckte über die Lippen, dann nickte sie entschieden. Mit einem kleinen Grunzen stemmte sie sich aus dem Sessel hoch, ging zu dem gewaltigen Kamin am Ende des Raums und bedeutete mir, ihr zu folgen.
Erstaunlich behende kniete sie sich davor und drückte auf einen grünschimmernden Stein, der etwa dreißig Zentimeter über dem Feuerrost in die Kaminfassung eingelassen war. Der Stein bewegte sich, und mit einem leisen Klicken glitt eine der Schieferplatten aus ihrem Mörtelbett.
Sie griff in die Öffnung und holte einen etwa dreißig Zentimeter langen Holzkasten hervor. Blaßbraune Flecken zeichneten sich auf dem polierten Holz ab, und seine Seitenwände waren aufgequollen und gespalten, als wäre er eine Zeitlang großer Feuchtigkeit ausgesetzt gewesen. Ich biß mir heftig auf die Unterlippe und hoffte nur, daß mir nicht anzusehen war, was ich dachte. Wenn ich bisher noch gezweifelt hatte, ob Ian hier war, so schwanden meine Zweifel jetzt. Denn vor mir lag, wenn mich nicht alles täuschte, der Schatz von der Insel der Seidenbären. Zum Glück sah Geillis nicht mich an, sondern das Kästchen.
»Das Wissen über Kristalle hat mir ein Inder aus Kalkutta beigebracht«, erklärte sie mir. »Er hat mich aufgesucht, weil er Stechapfel brauchte. Und da hat er mir erklärt, wie man die Kräfte der Steine für sich nutzen kann.«
Mit einem Blick über die Schulter prüfte ich, ob Jamie nicht endlich zurückgekehrt war. Wo steckte er bloß? War er irgendwo auf der Plantage auf Ian gestoßen?
»Kristallstaub gibt es in einer Apotheke in London zu kaufen«, fuhr sie fort, während sie sich stirnrunzelnd am Riegel des Kästchens zu schaffen machte. »Aber meist ist es von schlechter Qualität, und die bhasmas können sich nicht so gut entfalten. Man sollte mindestens einen Stein zweiter Ordnung nehmen, einen sogenannten nagina - er ist recht groß und geschliffen. Ein Kristall der ersten Ordnung hat einen Facettenschliff und sollte möglichst fehlerfrei sein, aber natürlich kann es sich kaum einer leisten, so einen zu Asche zu verbrennen. Die Asche des Kristalls bergen die bhasmas.« Sie wandte sich zu mir um. »Hier, versuch doch mal, ob du diesen verdammten Riegel aufschieben kannst. Das Meerwasser hat ihn in Mitleidenschaft gezogen.«
Sie drückte mir den Kasten in die Hände und richtete sich schwerfällig auf. Er war recht einfach gebaut, mit einem schmalen Riegel, der den Deckel verschloß und sich nicht vom Fleck bewegte.
»Es bedeutet Pech, wenn man den Riegel abbricht«, warnte mich Geillis, als sie meine Bemühungen sah. »Sonst hätte ich das Ding schon längst aufgestemmt. Hier, vielleicht geht’s damit.« Sie zog ein kleines Taschenmesser mit Perlmuttgriff aus den Tiefen ihres Gewands und reichte es mir. Dann trat sie an den Fenstersims und klingelte mit einem ihrer Glöckchen.
Vorsichtig drückte ich mit der Messerklinge gegen den Riegel und ruckelte sanft. Zögernd löste er sich von seinem Platz, bis ich ihn aufschieben konnte.
»Das wär’s«, sagte ich, während ich den Kasten widerstrebend an Geillis weitergab. Er war schwer, und in seinem Innern klapperte es metallisch.
»Danke.« Gerade als sie ihn mir abnahm, kam ein schwarzes Dienstmädchen durch die hintere Tür in den Raum. Geillis wandte sich um und befahl ihr, frische Küchlein zu bringen. Dabei verbarg sie den Kasten hastig in den Falten ihres Rocks.
»Neugieriges Volk«, stellte sie stirnrunzelnd fest, als das Mädchen durch die Tür verschwunden war. »Eins ist schwierig, wenn man Sklaven hat: Man kann kein Geheimnis für sich behalten.« Dann drückte sie den Deckel auf.
Sie griff hinein und zog die Hand geschlossen wieder heraus. Natürlich war ich mir ziemlich sicher, was sie enthielt, trotzdem mußte ich staunen. Einen Edelstein mit eigenen Augen betrachten zu können ist weitaus beeindruckender, als wenn man nur eine Beschreibung hört. In Geillis’ Hand lagen sechs, sieben glitzernde und funkelnde Kristalle, flammendes Feuer, erstarrtes Eis, das Schimmern einer blauen Wasserfläche in der Sonne, und ein großer, goldener Stein wie das Auge eines lauernden Tigers.
Unwillkürlich trat ich näher heran und starrte bewundernd in ihre Hand. »Nicht direkt klein« hatte Jamie die Edelsteine mit echt schottischem Talent für Untertreibung genannt. Nun ja, kleiner als ein Brotkasten waren sie schon.
»Ich habe mir Steine als Anfangskapital besorgt«, erklärte Geillis selbstzufrieden. »Weil sie nicht soviel wiegen wie eine größere Menge Geld oder Gold. Damals hatte ich keine Ahnung, daß sie auch noch zu anderem geeignet sind.«
»Wozu? Als bhasmas?« Die Vorstellung, eins dieser Kleinode zu zerstören, kam mir wie ein Sakrileg vor.
»O nein, die hier nicht.« Sie schloß die Hand, steckte sie in die Rocktasche, und ein Schauer flüssigen Feuers rieselte hinein. Liebevoll klopfte sie darauf, bevor sie wieder in den Holzkasten griff. »Nein, dafür habe ich die vielen kleinen Steine. Diese sind für was anderes gedacht.«
Nachdenklich sah sie mich an. Dann wies sie mit dem Kopf zur Tür am Ende des Raumes.
»Komm mit in mein Arbeitszimmer«, forderte sie mich auf. »Ich habe da ein paar Dinge, die dich vielleicht interessieren.«
»Interessieren« war noch milde ausgedrückt.
Es handelte sich um einen länglichen, lichtdurchfluteten Raum, an dessen Fensterseite sich ein langer Tisch erstreckte. Von der Decke hingen Bündel getrockneter Kräuter, andere lagen zum Trocknen auf einem mit Gaze bespannten Gestell. Den Rest der Wand füllten Schränke mit Schubladen und Türen, und in der Ecke des Zimmers stand ein Bücherschrank mit Glastüren.
Irgendwie schien mir dieser Raum vertraut. Dann wurde mir klar, daß er wie Geillis’ Arbeitszimmer in dem Dörfchen Cranesmuir im Haus des Prokurators, ihres ersten Ehemanns, aussah - nein, des zweiten verbesserte ich mich, als ich an den verkohlten Leichnam von Greg Edgars dachte.
»Wie oft warst du verheiratet?« fragte ich neugierig. Ihren zweiten Mann hatte sie um ein kleines Vermögen erleichtert - sie hatte seine Unterschrift gefälscht und Geld für sich abgezweigt, bevor sie ihn ermordete. Da dieses Vorgehen von Erfolg gekrönt gewesen war, konnte ich mir gut vorstellen, daß sie es in der Folge wiederholt hatte. Denn sie war ein Gewohnheitstier, unsere Geillis.
Sie brauchte einen Moment, bis sie ihre Ehemänner durchgezählt hatte. »Fünfmal, glaube ich. Seit ich hier bin«, fügte sie dann noch ungerührt hinzu.
»Fünfmal?« fragte ich schwach. Das war keine Gewohnheit mehr, sondern fast schon eine Sucht.
»Das Tropenklima ist Engländern nicht sehr zuträglich«, erklärte sie mir mit einem listigen Grinsen. »Ein Fieber, ein Magengeschwür, eine Darmverstimmung, schon die kleinste Kleinigkeit gibt ihnen den Rest.« Sie streckte die Hand aus und strich zärtlich über eine kleine Flasche, die im untersten Regalfach stand. Zwar trug sie kein Namensschild, aber ich sah rohes, weißes Arsen nicht zum erstenmal.
»Das hier wollte ich dir zeigen«, sagte sie, als sie ein Glas im oberen Fach entdeckte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, holte es herunter und reichte es mir.
Es enthielt ein grob zerstoßenes Pulver, das offensichtlich aus mehreren Inhaltsstoffen - braunen, gelben, schwarzen, und halb durchscheinend schimmernden - zusammengemischt war.
»Was ist das?«
»Zombie-Pulver«, erklärte sie lachend. »Ich dachte, du würdest das gern mal sehen.«
»Ach«, entgegnete ich kalt. »Hast du nicht gesagt, so was gibt es nicht?«
»Nein«, verbesserte sie mich. »Ich habe gesagt, Herkules sei nicht tot. Und das ist er auch nicht.« Sie nahm mir das Glas aus der Hand und stellte es ins Regal zurück. »Aber es läßt sich nicht leugnen, daß er besser im Zaum zu halten ist, wenn er einmal in der Woche seinen Stoff in den Getreidebrei gemischt kriegt.«
»Und was zum Teufel enthält das Zeug?«
»Ein bißchen hiervon und ein bißchen davon. Das wichtigste ist eine Art Fisch - ein kleines, vereckiges Tier mit Punkten, sieht ganz witzig aus. Man nimmt die Haut und die Leber und trocknet sie. Aber dann kommen noch ein paar andere Zutaten hinein. Wenn ich nur wüßte, welche!«
»Du weißt nicht, was das Mittel enthält?« Ich starrte sie an. »Hast du es nicht selbst hergestellt?«
»Nein, dafür hatte ich meinen Koch«, erwiderte Geillis. »Oder zumindest wurde er mir als Koch verkauft. Aber ich habe dem Zeug, das dieser verschlagene schwarze Teufel zubereitet hat, nie recht getraut. Er war ein houngan
»Was war er?«
»Ein houngan. So bezeichnen die Schwarzen ihre Priester. Wenn ich genau sein will, hat Ismael mir allerdings wohl erklärt, daß ihn seine Freunde oniseegun oder so ähnlich nennen.«
»Ismael? So, so.« Ich leckte mir über die trockenen Lippen. »Ist er mit diesem Namen zu dir gekommen?«
»O nein. Er hatte einen heidnischen Namen mit sechs Silben, und bei seinem Sklavenhändler hieß er ›Jimmy‹. Die Auktionäre rufen alle Kerle so. Ich habe ihn wegen der Geschichte, die mir der Händler über ihn erzählt hat, Ismael genannt.«
Ismael stammte aus einem Dorf an der Goldküste Afrikas und war gemeinsam mit sechshundert Schicksalsgenossen aus jener Region auf das Zwischendeck des Sklavenschiffs Persephone mit Ziel Antigua verfrachtet worden. Auf ihrem Weg durch die Caicos-Passage war das Schiff plötzlich in einen Sturm geraten und vor der Küste von Great Inagua auf das Hogsty-Riff gelaufen. Das Schiff war so schnell auseinandergebrochen, daß die Mannschaft kaum Zeit gehabt hatte, sich in die Rettungsboote zu flüchten.
Die hilflosen Sklaven, angekettet im Zwischendeck, waren allesamt ertrunken. Einer jedoch war schon früher aus den Elendsquartieren geholt worden, um als Kombüsenmaat auszuhelfen, da der Schiffsjunge in Afrika an den Pocken gestorben war. Zwar ließ man diesen Sklaven auf dem Schiff zurück, doch er überlebte das Unglück, indem er sich an ein Schnapsfaß klammerte, das zwei Tage später an den Strand von Inagua gespült wurde.
Die Fischer, die den Schiffbrüchigen fanden, waren mehr an seinem provisorischen Rettungsring interessiert als an seinem Wert als Sklaven. Nachdem sie das Faß aufgebrochen hatten, entdeckten sie darin jedoch zu ihrem Entsetzen den Leichnam eines Mannes, der durch den Alkohol notdürftig konserviert war.
»Ob sie den Crème de Menthe wohl trotzdem getrunken haben?« fragte ich mich leise. Schließlich hatte ich in den letzten Wochen feststellen können, daß Mr. Overholts Bericht über das Verhältnis der Seeleute zum Alkohol so falsch nicht gewesen war.
»Vermutlich.« Geillis ärgerte sich über die Unterbrechung. »Als ich davon hörte, nannte ich ihn auf der Stelle Ismael. Wegen des schwimmenden Sargs, aye?«
»Sehr klug«, bewunderte ich sie. »Hat man… äh… herausgefunden, wer der Mann im Faß war?«
»Ich glaube nicht.« Gleichgültig zuckte sie die Achseln. »Sie haben ihn dem Gouverneur von Jamaika gegeben, und der hat ihn in ein richtiges Glasgefäß mit frischem Alkohol gesteckt, um ihn als Kuriosität auszustellen.«
»Was?« Ich traute meinen Ohren nicht.
»Nun, nicht in erster Linie des Mannes wegen, sondern wegen der seltsamen Pilze, die auf ihm wuchsen«, erklärte Geillis. »Der Gouverneur hat eine Passion für derartige Dinge. Der alte Gouverneur, meine ich. Wie ich gehört habe, gibt es jetzt einen neuen.«
»Stimmt.« Mir war ein wenig mulmig. Man hätte wohl eher den alten Gouverneur als Kuriosität ausstellen sollen.
Geillis wandte mir den Rücken zu, zog Schubladen auf und stöberte darin herum. Ich holte tief Luft und hoffte, daß man meiner Stimme nicht anhörte, was ich fühlte.
»Was du über diesen Ismael erzählst, klingt interessant. Hast du ihn noch?«
»Nein«, entgegnete sie geistesabwesend. »Dieser Schuft ist ausgerissen. Aber er war derjenige, der das Zombie-Pulver für mich zusammengemischt hat. Er wollte mir jedoch nicht erzählen, was es enthält, ganz gleich, welche Behandlung ich ihm angedeihen ließ.« Bitter lachte sie auf. Plötzlich sah ich wieder die Striemen auf Ismaels Rücken vor mir. »Er hat gesagt, Frauen dürften keinen Zauber anwenden, nur Männer oder ganz alte Frauen, die keine Monatsblutung mehr haben. Mmmpf.«
Sie schnaubte wütend, griff in ihre Rocktasche und zog eine Handvoll Steine hervor.
»Egal, deshalb habe ich dich jedenfalls nicht heraufgebracht.«
Sorgfältig legte sie fünf der Kristalle in einem Kreis auf den Arbeitstisch. Dann holte sie ein dickes, in zerschlissenes Leder gebundenes Buch aus dem Regal.
»Kannst du Deutsch?« fragte sie, während sie es vorsichtig aufschlug.
»Nein, nur ganz wenig.« Ich trat näher heran und sah ihr über die Schulter. Hexenhammer stand in sauberer Handschrift oben auf der Seite.
»Hexenhammer?« fragte ich. »Geht es um Magie und Zaubersprüche?«
Geillis mußte an meiner Stimme gehört haben, wie skeptisch ich war, denn sie warf mir über die Schulter einen belustigten Blick zu.
»Überleg doch mal, Dummchen«, sagte sie. »Wer sind wir? Oder besser, was sind wir?«
»Was bin ich?« fragte ich verwundert zurück.
»Genau.« Sie drehte sich um, lehnte sich an den Tresen und musterte mich aus zusammengekniffenen Augen.
»Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Und du auch nicht, nehme ich an. Oder willst du damit sagen, daß wir Hexen sind?«
»Etwa nicht?« Sie zog eine Augenbraue hoch und schlug nach einigem Blättern eine Seite auf.
»Es gibt Menschen, die können ihren Körper verlassen und sich an einen Meilen entfernten Ort begeben.« Versonnen blickte sie auf die Zeilen. »Die anderen erkennen sie, und trotzdem ist verbürgt, daß sie zu Hause im Bett liegen. Das weiß ich aus Berichten, allesamt von Augenzeugen. Manche Leute haben Stigmata, die man berühren kann. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Aber das gilt nicht für alle Menschen, nur für ein paar.«
Sie schlug eine andere Seite auf. »Wenn jeder von uns dazu in der Lage ist, nennt man es Wissenschaft. Wenn es nur ein paar können, gilt es als Zauberei, Aberglaube, oder wie immer du es nennen willst. Aber es existiert.« Mit ihren leuchtendgrünen Schlangenaugen sah sie vom Buch zu mir auf. »Du und ich, wir existieren doch auch, Claire! Auf ganz besondere Weise. Hast du dich noch nie gefragt, warum das so ist?«
Doch. Unzählige Male sogar. Allerdings ohne je eine vernünftige Antwort zu finden. Geillis hingegen glaubte, sie zu kennen.
Sie wandte sich wieder den Kristallen zu, die sie auf der Tischplatte ausgelegt hatte, und erklärte sie mir. »Steine, die dir Schutz bieten: Amethyst, Smaragd, Türkis, Lapislazuli und ein männlicher Rubin.«
»Ein männlicher Rubin?«
»Plinius behauptet, Rubine hätten ein Geschlecht. Wer bin ich, daß ich an ihm zweifle?« fragte sie ungeduldig. »Wir verwenden nur die männlichen Steine. Die weiblichen haben keine Wirkung.«
Ich unterdrückte die Frage, wie man das Geschlecht von Rubinen bestimmt, und entschied mich statt dessen für: »Wirkung? Wobei?«
»Bei der Zeitreise«, erwiderte sie. »Durch den Steinkreis. Um sich zu schützen vor… was auch immer es ist.« Ein Schatten zog über ihr Gesicht, als sie an die Überquerung der Zeitschranke dachte, und ich sah, daß sie eine Todesangst davor hatte. Kein Wunder - mir ging es nicht anders.
»Wann bist du zum erstenmal gereist?« Eindringlich ruhte ihr Blick auf mir.
»1946«, entgegnete ich zögernd. »Und im Jahr 1743 kam ich heraus, wenn du das meinst?« Es widerstrebte mir, ihr mehr zu erzählen, doch ich konnte meine eigene Neugier kaum noch zügeln. Womöglich würde ich nie wieder die Gelegenheit haben, mit einem Menschen zu sprechen, der so viel wußte wie sie. Abgesehen davon, je länger ich sie in ein Gespräch verwickelte, desto mehr Zeit blieb Jamie, nach Ian zu suchen.
»Aha.« Sie war zufrieden. »Stimmt fast genau. Zweihundert Jahre, so heißt es auch in den Märchen der Highlands. Wenn jemand auf dem Feenhügel einschläft und dann die ganze Nacht mit dem Alten Volk durchtanzt, kehrt er gewöhnlich zweihundert Jahre später in seine Heimat zurück.«
»Aber bei dir war es anders. Du kamst aus dem Jahr 1968 und hast schon eine ganze Zeitlang in Cranesmuir gewohnt, ehe ich dort eintraf.«
»Aye, sechs Jahre, um genau zu sein.« Sie nickte geistesabwesend. »Das lag wohl am Blut.«
»Am Blut?«
»Dem Opfer.« Sie schien allmählich die Geduld zu verlieren. »Es gibt einem einen größeren Spielraum. Und wenigstens eine gewisse Kontrolle darüber, wie weit man zurückgeht. Wie hast du den Übergang nur dreimal ohne Blutsopfer geschafft?«
»Ich bin einfach gegangen.« Weil ich soviel wie möglich in Erfahrung bringen wollte, fügte ich noch das wenige hinzu, was ich wußte. »Ich glaube, es könnte damit zu tun haben, daß man den Geist auf eine Person ausrichtet, die in der Zeit lebt, in der man ankommen will.«
Staunend sah sie mich an.
»Wirklich?« fragte sie. »Schau mal einer an!« Dann schüttelte sie den Kopf. »Hmm. Vielleicht ist das so. Aber trotzdem glaube ich, daß die Kristalle eine Wirkung haben. Man muß die verschiedenen Steine in einem bestimmten Muster anordnen.«
Sie zog eine weitere Handvoll schimmernder Gemmen aus der Rocktasche und ließ sie auf den Tisch kullern.
»Die Schutzsteine bilden die Eckpunkte des Pentagramms«, erklärte sie mir. »Und darin legt man ein Muster mit anderen Steinen. Welche, das hängt von der Richtung ab, in die man gehen will, und von der Zeitspanne, die überbrückt werden soll. Man verbindet sie mit einer Linie aus Quecksilber, das angezündet wird, wenn man den Spruch aufsagt. Und natürlich muß man die Linien des Pentagramms mit Diamantstaub ziehen.«
»Natürlich«, murmelte ich fasziniert.
»Riechst du sie?« fragte sie, während sie schnuppernd die Nase hochhielt. »Man sollte es nicht meinen, aber die Steine haben einen Duft. Nämlich dann, wenn man sie zu Pulver zermahlt.«
Ich atmete tief ein und meinte wirklich, über den Kräutern einen schwachen, mir fremden Geruch wahrzunehmen. Irgendwie trocken, aber angenehm - der Duft der Steine.
Plötzlich stieß Geillis einen Freudenschrei aus und hielt einen Kristall in die Höhe.
»Da ist ja der Stein, den ich brauche! Hier auf der Insel habe ich ihn nirgendwo auftreiben können, und da fiel mir das Kästchen ein, das ich in Schottland zurückgelassen hatte.« Es war ein schwarzer Stein, der, obwohl durchsichtig, zwischen ihren weißen Fingern schimmerte wie Gagat.
»Was ist das?«
»Adamant, ein schwarzer Diamant, wie er von den Alchemisten benutzt wurde. In den Büchern heißt es, wenn man einen Adamant trägt, zeigt er einem die Freuden, die in den Dingen liegen.« Sie lachte hart und trocken auf. »Wenn in der Zeitreise durch die Steine irgendwelche Freuden liegen, dann möchte ich sie gern erleben.«
Mit einiger Verzögerung dämmerte es mir allmählich. Daß es so lange gedauert hatte, konnte ich mir eigentlich nur damit erklären, daß ich einerseits Geillis zuhörte, zugleich aber auf Anzeichen von Jamies Rückkehr lauschte.
»Dann willst du also wieder zurückgehen?« fragte ich so beiläufig wie möglich.
»Vielleicht.« Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. »Nun, wo ich alles beisammen habe, was ich brauche. Aber eins sage ich dir, Claire: Ohne würde ich es nicht wagen.«
Kopfschüttelnd sah sie mich an. »Dreimal ohne Blut«, murmelte sie. »Hätte nicht gedacht, daß das möglich ist.«
Plötzlich gab sie sich einen Ruck. »So, jetzt gehen wir wohl besser nach unten«, sagte sie. Hastig fegte sie die Edelsteine in ihre Hand und verstaute sie wieder in der Rocktasche. »Dein Rotfuchs ist sicher schon zurück.«
Als wir durch das lange Arbeitszimmer zur Tür gingen, schoß plötzlich vor mir etwas kleines Braunes über den Boden. Geillis war schneller als ich und trat auf den Tausendfüßler, bevor ich mich dazwischenschieben konnte.
Sie schob einen Bogen Papier unter das halbzerquetschte Tier und ließ es in ein Deckelglas gleiten.
»Du weigerst dich also, an Hexen, Zombies und anderen Spuk zu glauben?« fragte sie, während sie mich verschlagen angrinste. Sie wies auf den Tausendfüßler im Glas. »Ein Märchen ist wie ein Tausendfüßler. Aber mit wenigstens einem Bein fußt es gewöhnlich in der Wahrheit.«
Sie holte einen durchsichtigen braunen Krug vom Tisch und goß Alkohol in das Glas mit dem Tausendfüßler. Sauber verkorkte Geillis das Glas und stellte es fort.
»Du hast mich nach meiner Meinung gefragt, warum wir durch die Steine gehen können«, sagte ich zu ihrem Rücken. »Ich habe keine Ahnung. Weißt du es?«
Sie sah mich über die Schulter an.
»Na klar, damit wir die Dinge verändern können«, antwortete sie erstaunt. »Warum sonst? Aber komm jetzt! Ich höre unten deinen Mann.«
 
Allem Anschein nach hatte Jamie harte Arbeit geleistet, denn sein Hemd war schweißnaß. Als wir ins Zimmer traten, drehte er sich hastig um, und ich sah, daß er das Holzkästchen betrachtet hatte, das Geillis auf dem Tisch hatte stehenlassen. Seinem Ausdruck nach zu urteilen, waren meine Vermutungen richtig gewesen: Es war wirklich der Schmuckkasten von der Insel der Seidenbären.
»Ich glaube, es ist mir gelungen, Ihre Zuckermühle zu reparieren, Madam«, sagte er mit einer höflichen Verbeugung vor Geillis. »Schuld war ein geborstener Zylinder, aber Ihrem Aufseher und mir ist es gelungen, ihn zu flicken. Leider fürchte ich, daß Sie trotzdem bald einen neuen brauchen werden.«
Geillis zog belustigt die Augenbrauen hoch.
»Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet, Mr. Fraser. Darf ich Ihnen nun eine Erfrischung anbieten?« Sie streckte schon die Hand nach einem der Glöckchen aus, doch Jamie schüttelte rasch den Kopf und nahm seinen Rock vom Sofa.
»Vielen Dank, Madam, aber ich fürchte, wir müssen aufbrechen. Der Weg nach Kingston ist weit, und wenn wir noch vor Einbruch der Dunkelheit dort eintreffen wollen, müssen wir jetzt los.« Plötzlich wurde sein Gesicht starr. Er hatte gemerkt, daß Briannas Fotos nicht mehr in seiner Rocktasche steckten.
Fragend sah er mich an. Ich nickte leise und strich kurz über die Tasche meines Kleides, wo sie sicher verstaut waren.
»Vielen Dank für deine Gastfreundschaft«, verabschiedete ich mich von Geillis und schritt eilig zur Tür. Nun, da Jamie zurückgekehrt war, wollte ich Rose Hall und seine Besitzerin so schnell wie möglich verlassen. Jamie allerdings zögerte noch.
»Ich habe mich gefragt, Mrs. Abernathy, da sie längere Zeit in Paris gewohnt haben, ob Sie dort einen Bekannten von mir getroffen haben. Sind Sie zufällig mal dem Herzog von Sandringham begegnet?«
Sie wandte ihm den blonden Kopf zu, doch als er schwieg, nickte sie.
»Aye, ich habe ihn gekannt. Warum fragen Sie?«
Jamie setzte sein bezauberndstes Lächeln auf. »Das ist mir nur gerade eingefallen, Madam. Reine Neugier.«
Der Himmel war bedeckt, als wir durchs Tor ritten. Es zeichnete sich bereits ab, daß wir nicht nach Kingston gelangen konnten, ohne in einen Regenschauer zu geraten. Aber angesichts der Umstände war mir das gleich.
»Hast du die Bilder von Brianna?« lautete Jamies erste Frage, als er sein Pferd zügelte.
»Ja, hier.« Ich klopfte auf meine Tasche. »Hast du Ian gesehen?«
Vorsichtig blickte er über die Schulter zurück, als fürchtete er, daß wir verfolgt würden.
»Aus dem Aufseher und den Sklaven habe ich nichts herausbringen können. Verständlicherweise haben sie eine Heidenangst vor dieser Frau. Aber ich weiß, wo er ist.« Er klang zufrieden.
»Wo? Sollen wir uns hinschleichen und ihn holen?« Ich richtete mich im Sattel auf und sah zurück. Mehr als das Schieferdach war von Rose Hall durch die Baumwipfel nicht mehr zu erkennen. Alles in mir sträubte sich dagegen, noch einmal einen Fuß auf die Plantage zu setzen - aber schließlich waren wir wegen Ian hier.
»Nicht jetzt.« Jamie griff nach meinem Zügel und zog das Pferd zurück auf den Pfad. »Dabei brauche ich Hilfe.«
Unter dem Vorwand, das passende Material zu suchen, um die Zuckerpresse zu flicken, war es Jamie gelungen, die Plantage im Umkreis von fünfhundert Metern um das Haupthaus abzusuchen - darunter die Sklavenhütten, die Ställe, ein ungenutzter Speicher zum Trocknen von Tabak und das Gebäude mit der Zuckerraffinerie. Außer neugierigen oder feindseligen Blicken hatte nichts und niemand seine Suche behindert - bis er in die Nähe der Raffinerie kam.
»Dieser große Schwarze, der auf die Veranda gekommen ist, hockte vor der Raffinerie«, erzählte Jamie. »Immer wenn ich in seine Nähe kam, wurde der Aufseher nervös. Er rief mich fort und warnte mich vor dem Mann.«
»Klingt ausgesprochen vernünftig.« Ein Schauer lief mir über den Rücken. »Dem Kerl nicht zu nahe zu kommen, meine ich. Glaubst du, das hat mit Ian zu tun?«
»Er saß wie festgenagelt vor einer kleinen Tür.« Jamie lenkte sein Pferd vorsichtig um einen umgestürzten Baumstamm. »Der Tür, die zum Keller unter der Raffinerie führen muß.« Der Mann war keinen Zentimeter von seinem Platz gewichen, obwohl Jamie es fertiggebracht hatte, Stunden dort herumzuwerkeln. »Wenn Ian auf der Plantage ist, dann dort.«
»Das glaube ich auch.« Rasch erzählte ich ihm von meinem Besuch, einschließlich des Gesprächs mit den Küchenmädchen. »Aber was sollen wir tun?« schloß ich. »Wir können Ian doch nicht dortlassen! Schließlich haben wir keine Ahnung, was Geillis mit ihm vorhat. Sicher nichts Gutes, wenn sie nicht einmal zugibt, daß er dort ist!«
»Nein, wohl nicht«, gab er grimmig zu. »Über Ian hat der Aufseher zwar eisern geschwiegen, aber er hat mir andere Dinge erzählt. Dir würden die Haare zu Berge stehen, wenn sie nicht schon abstünden wie bei einem Stachelschwein.« Er sah mich an, und trotz seines Kummers lag ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht.
»Danke für das Kompliment!« stellte ich fest, während ich mich an das sinnlose Unterfangen machte, widerborstige Locken und Strähnen unter meinen Hut zu stopfen.
Die Blätter der Bäume tanzten im Wind wie betrunkene Schmetterlinge, und über der nächstgelegenen Bergkuppe baute sich eine Gewitterwolke auf. Von der kleinen Anhöhe, auf der wir standen, konnte ich sehen, wie sich ein dunkler, undurchsichtiger Regenschleier über das Tal senkte.
Jamie richtete sich im Sattel auf und betrachtete die Umgebung. Mein ungeübtes Auge sah nichts als dichten, undurchdringlichen Dschungel, aber ein Mann, der sieben Jahre in der Heide gelebt hatte, mußte viel mehr erkennen können.
»Wir suchen uns am besten einen Unterstand, solange das noch möglich ist«, schlug er vor. »Komm mit, Sassenach.«
Zu Fuß, die Pferde am Zügel führend, verließen wir den schmalen Weg und bogen auf einen, wie Jamie es nannte, Trampelpfad von Wildschweinen ein. Kurz darauf hatte er das Gesuchte gefunden: einen schmalen Fluß, der sich tief in den Waldboden eingeschnitten hatte. Sein steiles Ufer war von Farnen, dunkel schimmernden Büschen und hin und wieder einem schlanken Baumschößling überwuchert.
Dort angekommen, wies Jamie mich an, Farnwedel von der Länge meines Arms abzubrechen, und als ich mit einem Bündel davon zurückkehrte, hatte er bereits das Gerüst für eine Hütte gebaut: Schößlinge, in einem Bogen zu einem umgestürzten Baumstamm gespannt, waren mit abgeschnittenen Zweigen von benachbarten Büschen verstärkt worden. Rasch mit den Farnwedeln gedeckt, war die Hütte zwar nicht ganz wasserfest, aber immer noch besser als ein Gewitterschauer im Freien.
Als die Wolkenwand uns traf, verstummten für einen Augenblick alle Geräusche der Natur. Kein Vogelzwitschern mehr, kein Gesumm von Insekten - alle ihre Sinne hatten ihnen angekündigt, daß der Regen kam. Einige dicke Tropfen klatschten auf das Blattwerk; dann brach der Sturm los.
In der Karibik kommt ein Gewitter rasch und mit ungeheurer Wucht - kein Vergleich zu dem unentschiedenen Dunst und Nieselregen von Edinburgh. Der Himmel wird pechschwarz, und in jeder Minute ergießen sich Gallonen von Wasser auf die Erde. Das Prasseln des Regens macht jede Verständigung unmöglich. Wasserdunst steigt wie Dampf vom Boden.
Der Regen perlte von unserem Farndach, und zarter Dunst zog in das Blattgrün unseres Unterstands. Zwar war es nicht kalt, aber im Dach klaffte eine Ritze, von der es stetig in meinen Nacken tropfte. Ausweichen konnte ich nicht, aber Jamie zog seinen Rock aus und wickelte mich darin ein. Dann legte er seinen Arm um mich, um das Ende des Unwetters abzuwarten. Plötzlich fühlte ich mich sicher, und der Druck, der die letzten Stunden, ja, Tage auf mir gelastet hatte, war wie weggeblasen. Ian war so gut wie gefunden, und nichts konnte uns hier etwas anhaben.
Ich drückte Jamies Hand; er lächelte mich an. Dann beugte er sich vor und küßte mich sanft. Er roch gut, nach Erde, gemischt mit einem Hauch der Zweige, die er gebrochen hatte, und einer Spur seines eigenen, gesunden Schweißes.
Bald schon würden wir es hinter uns haben. Wir hatten Ian aufgespürt, und so Gott wollte, würden wir ihn demnächst wieder in unsere Arme schließen. Und was dann? Jamaika würden wir verlassen müssen, aber es gab noch genügend andere Orte auf der Welt. Die französischen Kolonien Martinique und Grenada, die von den Holländern verwaltete Insel Eleuthera; vielleicht würden wir uns sogar bis zum amerikanischen Kontinent durchschlagen. Solange Jamie bei mir war, fürchtete ich weder Tod noch Teufel.
Ebenso plötzlich, wie er eingesetzt hatte, hörte der Regen wieder auf. Lediglich einzelne Tropfen fielen noch von Sträuchern und Bäumen. Eine milde, frische Brise strich das Flußbett herauf. Sie vertrieb den Dunst und fuhr kühlend unter die schweißnassen Locken in meinem Nacken. Vögel und Insekten begannen erst leise, dann aus vollem Halse zu singen und zu summen, und selbst die Luft schien vor prallgrünem Leben zu tanzen.
Ich seufzte auf, stemmte mich in die Höhe und nahm Jamies Rock von den Schultern.
»Weißt du was? Geillis hat mir einen Edelstein gezeigt, einen schwarzen Diamanten namens Adamant«, erzählte ich Jamie. »Sie sagt, den hätten die Alchemisten früher benutzt; angeblich kann man mit seiner Hilfe sehen, welche Freude in allem, was uns umgibt, verborgen ist. Ich glaube, an diesem Platz muß einer vergraben sein.«
Jamie lächelte mich an.
»Das würde mich nicht wundern, Sassenach«, murmelte er. »Komm, dein Gesicht ist ja ganz naß.«
Er griff in den Rock, um sein Taschentuch herauszuholen, und stutzte plötzlich.
»Briannas Bilder«, sagte er.
»Oh, das hatte ich ganz vergessen.« Ich holte die Bilder aus der Tasche und gab sie ihm zurück. Er blätterte sie durch, hielt plötzlich inne und begann die Prozedur noch mal von vorne.
»Was ist?« fragte ich beunruhigt.
»Eins fehlt«, entgegnete er leise. Ein undefinierbares Grauen ballte sich in meinem Magen zusammen, und die Freude, die mich gerade noch erfüllt hatte, war wie verflogen.
»Bist du sicher?«
»Ich kenne jedes einzelne in- und auswendig, Sassenach«, sagte er. »Aye, ich bin mir sicher. Es ist das, wo sie am Feuer sitzt.«
Ich wußte, welches er meinte. Es zeigte Brianna als Jugendliche bei einem Campingausflug an einem Lagerfeuer. Sie hatte die Knie angezogen, die Ellenbogen daraufgestützt und blickte direkt in die Kamera. Allerdings hatte sie nicht bemerkt, wie das Foto aufgenommen wurde: Ihr Gesicht war verträumt.
»Das muß Geillis genommen haben. Sie hat die Bilder in deinem Rock gefunden, als ich in der Küche war. Dann hat sie es also gestohlen.«
»Verdammt sei diese Frau!« Mit funkelnden Augen sah Jamie zurück. Seine Hand umklammerte die restlichen Fotos. »Was hat sie damit vor?«
»Vielleicht ist sie nur neugierig«, erwiderte ich. Aber das Grauen blieb. »Was soll sie schon damit anfangen? Sie hat es wohl kaum genommen, um es jemandem zu zeigen. Wer kommt schon hierher?«
Anstatt zu antworten, hob Jamie plötzlich den Kopf und griff warnend nach meinem Arm. In einiger Entfernung zeichnete sich als gelber Schlammstreifen eine Wegschleife im grünen Dickicht ab. Und auf dieser Schleife trabte hoch zu Roß eine schwarzgekleidete, eckige Gestalt, ein Mann, kaum größer als eine Ameise.
Plötzlich fiel mir wieder ein, was Geillis gesagt hatte. Ich erwarte einen Besucher. Und später: Dieser Pfaffe hat sich für vier Uhr angekündigt.
»Das ist ein Priester, irgendein Pfarrer«, erklärte ich Jamie. »Geillis erwartet ihn.«
»Nicht nur ein Priester, sondern Archibald Campbell, wie er leibt und lebt«, knurrte Jamie. »Was zum Teufel - oder vielleicht sollte ich diesen Ausdruck im Hinblick auf Mistress Abernathy lieber nicht benutzen.«
»Vielleicht ist er gekommen, um Geillis den Teufel auszutreiben«, schlug ich mit einem nervösen Lachen vor.
»Wenn, dann ist er für diese Rolle wie geschaffen.« Die knochige Gestalt verschwand hinter den Bäumen, und nachdem wir sicherheitshalber noch einige Minuten gewartet hatten, kehrten wir zum Weg zurück.
»Was willst du wegen Ian unternehmen?« fragte ich.
»Ich brauche Hilfe«, erwiderte er. »Am besten fahre ich mit Innes, MacLeod und den anderen Männern den Fluß hinauf. Nicht weit von der Raffinerie gibt es eine Anlegestelle. Dort binden wir das Boot fest, gehen an Land, kümmern uns um Herkules - und Atlas, wenn er Ärger macht -, brechen den Keller auf, holen Ian und machen uns auf den Rückweg. In zwei Tagen haben wir Neumond. Ich wünschte, es ginge eher, aber so lange werden wir wohl brauchen, bis wir ein geeignetes Boot und die nötigen Waffen aufgetrieben haben.«
»Und wie wollen wir das bezahlen?« fragte ich rundheraus. Die nötige Anschaffung von Kleidung und Schuhen hatte einen Großteil des Gewinns geschluckt, den Jamie mit der Ladung Guano erzielt hatte. Der Rest würde uns gerade über die nächsten Wochen helfen. Vielleicht reichte er, um für ein, zwei Tage ein Boot zu mieten, aber sicher nicht für eine größere Anzahl Waffen.
Auf Jamaika wurden weder Pistolen noch Degen hergestellt; alle Waffen mußten aus England eingeführt werden und waren entsprechend teuer. Zwar besaß Jamie noch die zwei Pistolen von Kapitän Raines, aber die Schotten hatten lediglich ihre Fischmesser und das alte Entermesser - also nichts, was sich für einen Überfall eignete.
Jamie zog eine Grimasse. Dann warf er mir einen vorsichtigen Blick zu.
»Ich werde John um Hilfe bitten müssen«, sagte er. »Meinst du nicht auch?«
Ich schwieg einen Moment lang, ehe ich nickte.
»Ja, das mußt du wohl.« Mir gefiel die Vorstellung nicht, aber hier ging es nicht um mich, sondern um Ians Leben. »Ach, aber eins noch, Jamie -«
»Aye, ich weiß schon«, fiel er mir ins Wort. »Du willst uns begleiten, nicht wahr?«
»Ja.« Ich lächelte. »Wenn Ian krank oder verletzt ist…«
»Gut, dann kommst du eben mit«, gab er etwas unwirsch nach. »Du mußt mir nur einen Gefallen tun, Sassenach. Bemüh dich doch bitte, daß du nicht in Stücke gerissen wirst oder sonstwie ums Leben kommst! Denn das wäre verdammt hart für einen Mann mit meinen Gefühlen.«
»Ich werde mir Mühe geben«, versprach ich ihm. Dann lenkte ich mein Pferd neben ihn, und Seite an Seite ritten wir unter den tropfenden Bäumen auf Kingston zu.
Ferne Ufer
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