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Leichenschmaus
16. April 1746
Er war tot. Andererseits tat ihm die Nase weh, was
ihm unter den Umständen seltsam erschien. Zwar vertraute er darauf,
daß ihn sein Schöpfer mit Verständnis und Gnade empfangen würde,
aber wie alle Menschen verspürte auch er tief im Innern jene Spur
von Schuld, die einen vor der Hölle zittern läßt. Doch er hielt es
für ziemlich unwahrscheinlich, daß sich die Qualen dort auf eine
zerschlagene Nase beschränkten.
Der Himmel konnte dies allerdings auch nicht sein.
Zum einen hatte er ihn nicht verdient. Zum anderen sah es hier
nicht danach aus. Und zum dritten bezweifelte er, daß der Lohn der
Seligen - ebensowenig wie der der Verdammten - in einer gebrochenen
Nase bestand.
Er hatte sich das Fegefeuer immer als düsteren Ort
vorgestellt, und das rötliche Licht, das ihn umgab, schien dazu zu
passen. Sein Geist wurde allmählich klarer, und langsam kehrte auch
seine Denkfähigkeit zurück. Jetzt, so dachte er, müßte irgend
jemand kommen und ihm sagen, wie das Urteil lautete, wie lange er
für seine Sünden büßen mußte. Aber ob er sich auf einen Teufel oder
einen Engel einstellen sollte, wußte er nicht. Sein Schullehrer
hatte ihm nicht erklärt, wer dem Fegefeuer vorstand.
Während er wartete, versuchte er sich klarzumachen,
welche Qualen ihm möglicherweise bevorstanden. Hier und dort hatte
er Schnitte, Wunden, blaue Flecken, und er war sicher, daß er sich
den Ringfinger der rechten Hand - der so schwer zu schützen war,
weil er steif abstand - erneut gebrochen hatte. Aber das war alles
nicht so schlimm. Was noch?
Claire. Der Name schnitt ihm ins Herz und
löste einen Schmerz
aus, der heftiger war als alles, was er zuvor hatte ertragen
müssen.
Gäbe es seinen Körper noch, hätte er sich vor Pein
zusammengekrümmt. Als er Claire durch den Steinkreis schickte,
hatte er gewußt, daß es so kommen würde. Geistige Qualen gehörten
wohl zum Fegefeuer dazu, und er war schon vorher davon ausgegangen,
daß der Schmerz über die Trennung die größte Strafe für ihn
bedeuten würde - eine Strafe, die ausreichte, um ihn für alles
büßen zu lassen, was er je getan hatte, Mord und Betrug
eingeschlossen.
Zwar wußte er nicht, ob es erlaubt war, im
Fegefeuer zu beten, aber für alle Fälle wagte er einen Versuch.
Lieber Gott, laß sie in Sicherheit sein. Sie und das Kind.
Gewiß hatte sie den Steinkreis unbeschadet erreicht, denn im
zweiten Monat der Schwangerschaft war sie noch schlank und flink
auf den Beinen. Außerdem äußerst entschlossen, eine Frau, die
durchführte, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Aber ob sie
auch den gefährlichen Übergang zu dem Ort, von dem sie gekommen
war, bewältigt hatte, würde er nie erfahren. Bei dieser Vorstellung
war seine schmerzende Nase wahrlich nicht der Rede wert.
Als er sich wieder an die Bestandsaufnahme seiner
körperlichen Gebrechen machte, mußte er zu seinem Entsetzen
feststellen, daß ihm sein linkes Bein abhanden gekommen war. Er
spürte es nicht mehr. Wahrscheinlich würde er es zu einem
angemessenen Zeitpunkt zurückerhalten, entweder wenn er in den
Himmel kam oder am Tag des Jüngsten Gerichts. Außerdem kam sein
Schwager Ian mit dem Holzbein ganz gut zurecht.
Trotzdem, seiner Eitelkeit ging es gegen den
Strich. Aber vielleicht ging es gerade darum, ihn von der Sünde der
Eitelkeit zu befreien. Er biß in Gedanken die Zähne zusammen und
nahm sich vor, was immer auch kommen möge, mit größtmöglicher Kraft
und Demut zu ertragen. Aber gegen seinen Willen fuhr seine Hand
(oder was er als Hand benutzte) suchend nach unten, um zu ertasten,
wo sein Bein jetzt endete.
Die Hand stieß auf etwas Hartes, und die Finger
verfingen sich in feuchtem, verklebtem Haar. Erschreckt fuhr er auf
und brach mit einiger Mühe die angetrocknete Blutkruste auf, die
auf seinen Augen lag. Die Erinnerung kehrte zurück, und er stöhnte.
Er hatte
sich geirrt. James Fraser befand sich doch in der Hölle. Aber
leider war er nicht tot.
Der Körper eines Mannes lag quer über ihm. Sein
Gewicht lastete auf Jamies linkem Bein, und so war klar, weshalb er
es nicht mehr spürte. Schwer wie eine Kanonenkugel bohrte sich das
Gesicht des Mannes in Jamies Magen, so daß sich auf seinem hellen
Hemd das dunkle Haar abzeichnete. Vor Entsetzen bäumte Jamie sich
auf, und der Kopf rollte ihm seitlich in den Schoß. Ein halboffenes
Auge starrte ihm blicklos unter den dunklen Strähnen
entgegen.
Jack Randall. Seine feine rote Uniformjacke war so
durchnäßt, daß sie fast schon schwarz wirkte. Unbeholfen versuchte
Jamie, ihn fortzuschieben, doch er war zu schwach. Kraftlos stieß
seine Hand gegen Randalls Schulter, und sein Ellenbogen gab unter
ihm nach, als er sich aufstützen wollte. Plötzlich lag er wieder
auf dem Rücken und schaute in den verhangenen, blaßgrauen
Himmel.
Jamie preßte die Hände auf den morastigen Boden und
rutschte zur Seite. Als er sich von dem leblosen Gewicht befreite,
traf ihn der kalte Regen, der ihm auf die Brust prasselte, wie ein
Schlag. Er bibberte.
Er krümmte sich zusammen und kämpfte mit den
schmutzverkrusteten, zerknitterten Falten seines Plaids. Plötzlich
hörte er über dem heulenden Aprilwind Geräusche - geisterhafte
Rufe, Stöhnen und Klagen. Und darüber das heisere Krächzen von
Krähen. Von Dutzenden von Krähen, dem Klang nach zu urteilen.
Seltsam, dachte er. Vögel fliegen nicht bei Regen.
Mit einem letzten Ruck zog er das Plaid unter sich fort und hüllte
sich darin ein. Als er sich vorbeugte, um die Beine zuzudecken, sah
er, daß sein Kilt und sein linkes Bein blutverschmiert waren. Aber
das beunruhigte ihn nicht weiter. Langsam erstarben die Laute des
Kampfgetümmels in seinen Ohren, und er überließ das Feld von
Culloden den krächzenden Krähen.
Er erwachte erst wieder, als jemand seinen Namen
rief.
»Fraser! Jamie Fraser! Bist du da?«
Nein, dachte er benommen, bin ich nicht. Wo immer
er während seiner Ohnmacht auch gewesen war, besser als hier schien
es allemal. Er lag in einer kleinen Senke, in der halbhoch das
Wasser
stand. Der Regen hatte aufgehört, nicht jedoch der Wind, der immer
noch pfeifend und mit Eiseskälte über das Moor fuhr. Der Himmel war
inzwischen fast schwarz.
»Glaub mir, ich habe ihn hier runtergehen sehen.
Direkt neben dem dicken Ginsterbusch.« Die Stimmen wurden leiser,
als die Männer davongingen.
Neben seinem Ohr raschelte es, und als er den Kopf
wandte, sah er eine Krähe. Wie ein schwarzes Knäuel aus
windzerzausten Federn stand sie vor ihm im Gras und betrachtete ihn
mit ihren funkelnden Knopfaugen. Offensichtlich beruhigt, daß er
keine Gefahr darstellte, verrenkte sie lässig den Hals und hieb
ihren dicken, scharfen Schnabel in Jack Randalls Auge.
Jamie schrie entsetzt auf und fuhr hoch. Mit einem
warnenden Krächzen flog die Krähe davon.
»Aye! Da drüben.«
Jamie hörte schmatzende Schritte im Sumpf. Dann sah
er ein Gesicht und spürte das beruhigende Gewicht einer Hand auf
seiner Schulter.
»Er lebt! Hier herüber, MacDonald. Hilf mir, er
kann nicht mehr allein gehen.« Sie waren zu viert, und mit einiger
Mühe zogen sie ihn auf die Beine und legten seine empfindungslosen
Arme über Ewan Camerons und Iain MacKinnons Schultern.
Laßt mich in Ruhe, wollte er ihnen sagen, denn mit
dem Bewußtsein war die Erinnerung zurückgekehrt. Eigentlich hatte
er doch sterben wollen. Aber er freute sich viel zu sehr, sie bei
sich zu haben. Während des Schlafes war das Gefühl in sein Bein
zurückgekehrt, und jetzt merkte er, wie ernst seine Verletzung war.
Er würde ohnehin bald sterben, aber wenigstens mußte er es nicht
allein in dieser dunklen Einöde tun.
»Wasser!« Jemand drückte ihm einen Becher an die
Lippen, und er konnte sich lange genug hochstemmen, um zu trinken,
ohne etwas zu verschütten. Kurz darauf spürte er eine Hand auf
seiner Stirn. Aber dann war sie wieder fort, ohne daß ein Wort
gefallen wäre.
In ihm brannte ein Feuer. Sobald er die Augen
schloß, spürte er die Flammen. Seine Lippen waren rissig und wund
von der Hitze, aber das schien ihm immer noch besser als die Kälte,
die ihn in Abständen
schüttelte. Wenigstens konnte er während der Fieberattacken
stilliegen; wenn ihn der Schüttelfrost packte, erwachten in seinem
verletzten Bein die Dämonen.
Murtagh! Bei dem Gedanken an seinen Patenonkel
hatte er das Gefühl, etwas Schreckliches sei geschehen, aber er
konnte sich nicht genau entsinnen. Murtagh war tot, soviel war
klar, aber woher wußte er das? Gut die Hälfte der Hochländer war
gefallen, hingeschlachtet auf dem Moor - das hatte er aus den
Gesprächen der Männer in der Bauernkate entnommen. Aber an die
Schlacht selbst erinnerte er sich nicht.
Aus seinen früheren Kämpfen wußte er, daß eine
solche Gedächtnislücke bei Soldaten nicht selten auftrat. Aber die
Erinnerung würde zurückkehren - er hoffte nur, daß der Tod ihr
zuvorkam. Unwillkürlich bäumte er sich auf. Dabei schoß ein
stechender Schmerz durch sein Bein, der ihn aufstöhnen ließ.
»Alles in Ordnung, Jamie?« Ewan, der neben ihm lag,
stützte sich auf den Ellbogen. Im Dämmerlicht war sein besorgtes
Gesicht nur schwach zu erkennen. Um die Stirn trug er eine
blutgetränkte Bandage, und auf seinem Kragen waren rostrote
Flecken.
»Aye, es geht.« Er streckte die Hand aus und strich
Ewan dankbar über die Schulter. Ewan drückte sie und ließ sich dann
wieder zurücksinken.
Die Krähen waren wieder da - Kriegsvögel,
Leichenfledderer, die sich am Fleisch der Gefallenen gütlich taten.
Ebenso unverfroren würden die grausamen Biester auch nach seinen
Augen picken, dachte er und spürte überdeutlich seine runden
Augäpfel, während das Licht der aufgehenden Sonne seine
geschlossenen Lider dunkel und blutrot aufschimmern ließ.
Vier der Männer hatten sich vor dem einzigen
Fenster des Bauernhauses zusammengefunden und unterhielten sich
leise.
»Davonrennen?« fragte einer, während er mit dem
Kopf auf die restlichen Männer wies. »Mein Gott, bestenfalls können
wir gerade noch humpeln. Und sechs von uns können keinen einzigen
Schritt mehr tun.«
»Wenn ihr laufen könnt, macht euch auf den Weg«,
sagte ein Mann, der auf dem Boden lag. Mit verzerrtem Gesicht wies
er auf sein Bein, das in die Reste einer zerfetzten Decke gewickelt
war. »Laßt euch von uns nicht aufhalten.«
Mit einem grimmigen Lächeln wandte sich Duncan
MacDonald vom Fenster ab und schüttelte den Kopf. Das Licht, das
durch die Schlitze in der Mauer fiel, ließ seine vor Erschöpfung
zerfurchten Züge scharf hervortreten. »Hier wimmelt es nur so von
Engländern. Unversehrt entkommt keiner von Culloden.«
»Und die schon gestern geflohen sind, gelangen auch
nicht weit«, fügte MacKinnon leise hinzu. »Habt ihr nicht gehört,
wie die englischen Truppen letzte Nacht im Eiltempo
vorbeimarschiert sind? Es wird ihnen ein leichtes sein, unsere
ausgezehrten Leute einzufangen.«
Niemand antwortete ihm. Sie wußten es alle selbst
nur zu gut. Viele der Hochlandschotten hatten sich schon vor der
Schlacht kaum noch auf den Beinen halten können vor Erschöpfung,
Hunger und Kälte.
Jamie wandte den Kopf zur Wand und betete, daß
seine Leute früh genug aufgebrochen waren. Lallybroch lag weit
entfernt und in einsamer Gegend; wenn sie eine gute Strecke von
Culloden hinter sich gebracht hatten, bestand keine große Gefahr
mehr, daß man sie aufspürte. Aber Claire hatte ihm gesagt, daß
Cumberlands Soldaten die gesamten Highlands durchkämmen und auf
ihrem Rachefeldzug bis in die entlegensten Winkel vordringen
würden.
Bei dem Gedanken an Claire fuhr eine Welle
unendlicher Sehnsucht durch seinen Körper. Wenn sie doch hier wäre,
ihre Hände auf ihn legen, seine Wunden versorgen und seinen Kopf in
ihren Schoß betten könnte! Aber sie war weit fort, zweihundert
Jahre weit, dem Himmel sei Dank! Langsam füllten sich seine Augen
mit Tränen, und ungeachtet seiner Schmerzen rollte er sich auf die
Seite, um sie vor den anderen zu verbergen.
Lieber Gott, laß sie in Sicherheit sein,
betete er. Sie und das Kind.
Am Nachmittag roch es plötzlich nach Rauch. In
dicken Schwaden drang er durch das Fenster. Er war beißender als
der Qualm des Schwarzpulvers, und sein schwacher Geruch nach
gebratenem Fleisch ließ Schreckliches ahnen.
»Sie verbrennen die Toten«, sagte MacDonald. Seit
sie in der Kate Zuflucht gesucht hatten, war er kaum von seinem
Platz am Fenster gewichen. Das eingefallene Gesicht und das
zurückgestrichene
pechschwarze und schmutzverkrustete Haar ließen ihn selbst wie
einen Totenschädel wirken.
Hin und wieder ertönte über dem Moor ein scharfer
Knall. Musketen. Der Gnadenschuß aus den Waffen jener englischen
Offiziere, die Mitleid walten ließen, bevor sie die in ihren Tartan
gehüllten Körper auf den Haufen zu ihren Landsmännern warfen. Als
Jamie wieder aufsah, hatte MacDonald am Fenster die Augen
geschlossen.
Ewan Cameron bekreuzigte sich. »Hoffentlich gewährt
man uns die gleiche Gnade«, flüsterte er.
Sie wurde ihnen gewährt. Kurz nach Mittag des
zweiten Tages näherten sich schließlich schwere Stiefelschritte.
Dann wurde die Tür geräuschlos aufgestoßen.
»Herrgott!« Ein leiser Ausruf, der dem Sprecher
beim Anblick der Männer im Raum wohl gegen seinen Willen über die
Lippen gekommen war. Durch die offene Tür drang Zugwind in den Raum
und wirbelte die stickige Luft über den zusammengekauerten,
blutverschmierten Körpern auf, die auf dem gestampften Lehmboden
lagen.
Bewaffneten Widerstand hatten sie nie in Erwägung
gezogen; dazu fehlte ihnen die Kraft und auch die Aussicht auf
Erfolg. Statt dessen saßen die Jakobiten da und warteten ab,
welches Schicksal die Engländer ihnen zugedacht hatten.
Er war ein Major in einer gebügelten Uniform und
mit frisch gewachsten Stiefeln. Kurz blieb er stehen, um die Männer
im Raum zu betrachten, dann trat er, gefolgt von seinem Leutnant,
ein.
»Ich bin Lord Melton«, sagte er. Unschlüssig
blickte er sich um, als suchte er einen Anführer, an den er seine
Worte richten konnte.
Duncan MacDonald sah gleichfalls suchend in die
Runde. Dann stand er langsam auf und neigte den Kopf. »Duncan
MacDonald von Glen Richie«, sagte er, »und andere Soldaten Seiner
Majestät König James.«
»Das hatte ich vermutet«, entgegnete der Engländer
trocken. Zwar schien er erst Anfang Dreißig, doch er bewegte sich
mit dem Selbstvertrauen eines erfahrenen Soldaten. Gründlich
musterte er einen Mann nach dem anderen, griff dann in seine Tasche
und zog einen zusammengerollten Bogen heraus.
»Hier ist ein Befehl von Seiner Gnaden, dem Herzog
von Cumberland«, erklärte er, »der mich ermächtigt, jeden Mann, der
an diesem verräterischen Aufstand teilgenommen hat, auf der Stelle
hinrichten zu lassen.« Erneut blickte er über die Männer im Raum.
»Gibt es hier jemanden, der behauptet, an dem Verrat nicht
beteiligt gewesen zu sein?«
Bitter lachten die Soldaten auf. Nicht beteiligt,
hier, am Rand des Schlachtfelds? Wo in ihren Gesichtern noch der
Ruß des Schwarzpulvers klebte?
»Nein, Mylord«, erwiderte MacDonald mit einem
leisen Lächeln. »Alles Verräter. Wird man uns hängen?«
Über Meltons Gesicht huschte ein Ausdruck des
Ekels, doch dann wurde es wieder starr. Obwohl er schlank und
zartgliedrig war, wirkte er respekteinflößend.
»Ihr werdet erschossen«, entgegnete er. »Ich gebe
euch eine Stunde, um euch vorzubereiten.« Zögernd warf er seinem
Leutnant einen Blick zu, als fürchtete er, vor seinem Untergebenen
zu großmütig zu erscheinen. »Wenn ihr Schreibmaterial braucht«,
fügte er dann aber doch hinzu, »um einen Brief zu verfassen, wird
der Schreiber meines Regiments euch zur Seite stehen.« Kurz nickte
er MacDonald zu. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und verließ
den Raum.
Die Stunde war bitter. Einige machten von dem
Angebot Gebrauch und kritzelten verbissen. Andere beteten leise
oder saßen einfach da und warteten.
MacDonald hatte für Giles McMartin und Frederick
Murray um Gnade gebeten und dabei ins Feld geführt, daß sie noch
nicht einmal siebzehn und daher nicht in gleichem Maße
verantwortlich seien wie die Älteren. Da das Ansinnen abgelehnt
worden war, saßen die beiden, kalkweiß im Gesicht, an der Wand und
hielten sich die Hand.
Ihr Los bekümmerte Jamie zutiefst - ihres und das
der anderen, der treuen Freunde und tapferen Kämpfer. Doch wenn er
an sich selbst dachte, spürte er nur Erleichterung. Keine Sorgen
mehr und keine Pflichten. Für seine Männer, seine Frau, sein
ungeborenes Kind hatte er alles getan, was in seiner Macht stand.
Nun sollte sein körperliches Elend möglichst bald ein Ende haben,
und er war dankbar für den Frieden, den er dann finden würde.
Mehr der Form halber denn aus einem echten
Bedürfnis heraus schloß er die Augen und begann um Vergebung seiner
Sünden zu beten. Aber es wollte ihm nicht gelingen. Es war zu spät,
um Abbitte zu tun.
Würde er Claire gleich finden, wenn er tot war?
Oder, wie er vermutete, zu einer Zeit der Trennung verdammt sein?
In jedem Fall würde er sie wiedersehen; an diese Überzeugung
klammerte er sich fester als an alle Glaubenssätze der Kirche. Gott
hatte sie ihm gegeben, Gott würde sie wieder zusammenführen.
Anstatt zu beten, beschwor er vor seinem inneren
Auge Claires Gesicht herauf, die Linie ihrer Wangen und Schläfen,
die breiten, hellen Brauen, die ihn immer zu einem Kuß mitten
zwischen die klaren, bernsteinfarbenen Augen gereizt hatten. Er sah
ihren Mund vor sich, erinnerte sich an die volle, weiche Kurve,
seinen Geschmack und das Gefühl, das er ihm gegeben hatte. Die
Gebete, das Kratzen der Federn, das leise, erstickte Schluchzen von
Giles McMartin nahm er kaum noch wahr.
Am Nachmittag kehrte Lord Melton zurück. Diesmal
begleiteten ihn nicht nur sein Leutnant und ein Schreiber, sondern
auch sechs Soldaten. Wieder blieb er an der Tür stehen, aber
MacDonald hatte sich bereits erhoben, bevor Melton zum Sprechen
ansetzen konnte.
»Ich gehe als erster«, erklärte er und durchquerte
festen Schritts die Kate. Als er sich bückte, um unter dem Türsturz
hindurchzutreten, legte ihm Lord Melton die Hand auf den Arm.
»Bitte geben Sie mir Ihren vollen Namen, Sir! Mein
Schreiber muß ihn notieren.«
Die Mundwinkel zu einem bitteren Grinsen verzogen,
sah MacDonald den Schreiber an.
»Aha, Sie stellen ein Verzeichnis Ihrer Trophäen
auf! Aye, wie Sie wollen.« Er zuckte die Achseln und richtete sich
auf. »Duncan William MacLeod MacDonald von Glen Richie.« Höflich
verbeugte er sich vor dem Lord. »Zu Ihren Diensten - Sir!« Er trat
aus der Tür, und kurz darauf ertönte in der Nähe ein einzelner
Pistolenschuß.
Die Jungen ließ man gemeinsam gehen. Sie hielten
sich bei den Händen, als sie den Raum verließen. Die anderen wurden
einzeln abgeholt. Der Schreiber notierte ihre Namen. Er saß auf
einem
Schemel an der Tür, hielt den Kopf gesenkt und sah keinen der
Männer an, die an ihm vorbeigeführt wurden.
Als Ewan an der Reihe war, stützte Jamie sich
schwerfällig auf die Ellenbogen und drückte die Hand seines
Freundes, so kräftig er konnte.
»Wir sehen uns bald wieder«, flüsterte er.
Ewans Hand zitterte. Trotzdem brachte er ein
Lächeln zustande. Dann beugte er sich vor, küßte Jamie auf die
Lippen und trat seinen Weg an.
Zum Schluß waren sechs Männer übrig, die nicht
allein gehen konnten.
»James Alexander Malcolm MacKenzie Fraser«, sagte
Jamie langsam, damit der Schreiber alles richtig festhalten konnte.
»Herr von Broch Tuarach.« Dann sah er zu Lord Melton auf.
»Könnten Sie mir die Hand reichen, Mylord, und mir
auf die Beine helfen?«
Melton antwortete nicht. Anstelle des distanzierten
Widerwillens zeigte sich auf seinem Gesicht plötzlich Erstaunen und
auch Erschrecken.
»Fraser?« fragte er. »Von Broch Tuarach?«
»Ja«, erwiderte Jamie geduldig. Konnte sich der
Mann nicht ein wenig beeilen? Den sicheren Tod durch eine
Gewehrkugel vor Augen zu haben war schon schlimm genug, aber zuvor
miterleben zu müssen, wie die Freunde erschossen wurden, hätte auch
den stärksten Mann um die innere Ruhe gebracht.
»Verdammt und zugenäht!« murmelte der Engländer. Er
beugte sich über Jamie, der im Schatten der Wand lag, und musterte
ihn lange. Dann winkte er seinen Leutnant heran.
»Helfen Sie mir, ihn ins Licht zu schaffen«, befahl
er. Sie gingen nicht gerade vorsichtig zu Werke, und Jamie stöhnte
vor Schmerzen auf. Für kurze Zeit war er wie benommen und hörte
deshalb nicht, was Lord Melton zu ihm sagte.
»Sind Sie der Jakobit, den man auch der ›rote
Jamie‹ nennt?« wiederholte der Lord ungeduldig.
Jamie wurde von nagender Angst gepackt. Wenn sie
erfuhren, daß er der berüchtigte rote Jamie war, würden sie ihn
nicht erschießen. Sie würden ihn in Ketten nach London bringen und
ihm dort den Prozeß machen. Danach erwartete ihn das Seil des
Henkers,
und wenn er halb erstickt auf den Holzplanken lag, würden sie ihm
den Leib aufschlitzen und die Eingeweide herausreißen.
»Nein«, sagte er, so fest er konnte. »Bringen wir
es hinter uns.«
Ohne auf seine Worte zu achten, ging Melton in die
Knie und riß Jamies Hemdkragen auf. Dann zerrte er seinen Kopf nach
hinten.
»Verdammt!« fluchte Melton. Er strich Jamie mit dem
Finger über die Kehle. Dort ertastete er eine feine, dreieckige
Narbe, offensichtlich das, was ihn so in Unruhe versetzte.
»James Fraser von Broch Tuarach, rotes Haar und
eine dreieckige Narbe an der Kehle.« Melton ließ Jamie los und sank
nach hinten auf die Fersen. Gedankenverloren strich er sich übers
Kinn. Dann raffte er sich auf und wandte sich an den Leutnant. Er
deutete auf die fünf Männer, die sich noch in der Kate
befanden.
»Kümmern Sie sich um den Rest«, befahl er. Mit
mißmutiger Miene stand er über Jamie gebeugt, während die fünf
Schotten hinausgebracht wurden.
»Ich muß nachdenken«, murmelte er finster. »Zum
Teufel, ich muß nachdenken.«
»Tun Sie das«, entgegnete Jamie, »wenn Sie dazu in
der Lage sind. Ich muß mich allerdings hinlegen.« Sie hatten ihn
gegen die Wand gelehnt, aber zwei Tage des Krankenlagers hatten an
seinen Kräften gezehrt. Der Raum schien zu schwanken, und goldene
Lichtblitze tanzten vor seinen Augen. Er rollte sich auf die Seite
und ließ sich vorsichtig wieder auf den Boden gleiten. Dann schloß
er die Augen und wartete, daß die Benommenheit nachließ.
Was Melton unterdessen vor sich hin murmelte,
konnte er nicht verstehen, aber es kümmerte ihn auch nicht. Als er
im hellen Licht saß, hatte er zum erstenmal einen Blick auf sein
Bein werfen können. Nun war er sicher, daß er nicht mehr lange
genug leben würde, um gehängt zu werden.
Eine grellrote Wunde zog sich von der Mitte des
Schenkels nach oben. Sie hatte sich entzündet, und während der
Gestank der Männer allmählich aus dem Raum wich, stieg Jamie der
süße, faulige Geruch von Eiter in die Nase. Trotzdem, eine rasche
Kugel in den Kopf erschien ihm angenehmer als die Fieberträume und
das langsame Dahinsiechen, die einen Tod durch eine entzündete
Wunde begleiteten. Ob man den Knall wohl noch hörte, fragte er
sich. Dann döste er ein. Wenig später rief ihn Meltons Stimme
zurück in die Wirklichkeit.
»Grey«, hörte er sie sagen, »John William Grey.
Kennen Sie den Namen?«
»Nein«, erwiderte Jamie, vor Erschöpfung kaum noch
eines klaren Gedankens fähig. »Hören Sie, entweder Sie erschießen
mich jetzt, oder Sie lassen mich in Ruhe! Ich bin krank.«
»In der Nähe von Carryarrick«, setzte ihm Melton
unnachgiebig zu. »Ein Junge, blond, etwa sechzehn. Sie sind im Wald
auf ihn gestoßen.«
Jamie blinzelte seinen Peiniger an. Obwohl ihm das
Fieber den Blick trübte, kam ihm das feingeschnittene Gesicht mit
den großen, fast schon mädchenhaften Augen vage bekannt vor.
»Oh!« staunte er. In der Flut von Bildern, die ihm
durch den Kopf schossen, trat ein Gesicht deutlich hervor. »Dieser
Grünschnabel, der mich umbringen wollte? Aye, ich erinnere mich.«
Er schloß wieder die Augen. Wie bei allen Fieberanfällen, die er
schon erlebt hatte, schien eine Empfindung in die nächste
überzugehen. Er hatte John William Grey den Arm gebrochen. In
seiner Erinnerung wurde der zarte Knochen des Jungen unter seiner
Hand zu Claires Unterarm, als er sie aus der Umklammerung der
Steine befreite. Und die kalte, feuchte Luft, die über sein Gesicht
strich, wurde zu Claires liebkosenden Fingern.
»Wachen Sie auf, Himmel noch mal!« Jamies Kopf fiel
nach hinten, als Grey ihn unsanft schüttelte. »Hören Sie mir
zu!«
Matt öffnete Jamie die Augen. »Aye?«
»John William Grey ist mein Bruder«, erklärte
Melton. »Ich weiß von Ihrer Begegnung. Sie haben ihm das Leben
geschenkt, und er hat Ihnen ein Versprechen gegeben. Ist das
richtig?«
Angestrengt forschte Jamie in seinem Gedächtnis.
Zwei Tage vor der ersten Schlacht, die mit dem Sieg der Schotten
bei Preston endete, war er auf den Jungen gestoßen. Die sechs
Monate, die zwischen jenem Tag und heute lagen, schienen ein
unüberwindbarer Abgrund.
»Aye, ich erinnere mich. Er hat versprochen, mich
umzubringen. Meinetwegen dürfen Sie ihm das abnehmen.« Er konnte
die Augen nicht mehr offenhalten. Mußte man wach sein, um
erschossen zu werden?
»Er hat erklärt, er stehe in Ihrer Schuld. Und
damit hat er recht.« Melton richtete sich auf, klopfte sich den
Staub von den Knien und wandte sich an seinen Leutnant, der die
Befragung mit wachsendem Erstaunen verfolgt hatte.
»Wir stecken in einer Zwickmühle, Wallace. Dieser…
dieser jakobitische Verräter ist berühmt. Haben Sie vom roten Jamie
gehört, der durch die Flugblätter gesucht wird?« Der Leutnant
nickte und musterte neugierig die zusammengesunkene Gestalt zu
seinen Füßen. Melton lächelte grimmig.
»Jetzt sieht er nicht gerade gefährlich aus, nicht
wahr? Trotzdem, hier haben wir den roten Jamie, und Seine Gnaden
wäre überaus entzückt, wenn er wüßte, welch berühmter Mann uns in
die Hände gefallen ist. Da wir Charles Stuart noch nicht gefunden
haben, müssen wir die Meute am Tower mit ein paar anderen namhaften
Jakobiten zufriedenstellen.«
»Soll ich Seiner Gnaden eine Nachricht schicken?«
Er griff zu seinem Täschchen mit dem Schreibpapier.
»Nein!« Melton funkelte seinen Gefangenen wütend
an. »Das ist ja gerade das Heikle daran. Dieser Mann ist nicht nur
ein Feind, sondern auch derjenige, der meinen Bruder bei Preston
überwältigt hat. Anstatt ihn zu erschießen, was der Lausejunge
eigentlich verdient gehabt hätte, schenkte er ihm das Leben. Und
nun«, knurrte er mit zusammengebissenen Zähnen, »steht meine
Familie in seiner Schuld.«
»Oje!« sagte der Leutnant. »Dann können wir ihn
also nicht an Seine Gnaden überstellen.«
»Nein, zum Teufel noch mal! Ich kann ihn nicht
einmal erschießen, ohne das Versprechen zu brechen, das mein Bruder
ihm gegeben hat.«
Der Gefangene blinzelte zu ihnen hoch. »Ich erzähle
es auch niemandem weiter«, lautete sein Angebot, bevor er die Augen
wieder schloß.
»Schweigen Sie!« Melton, der seine Wut nicht mehr
zügeln konnte, trat ihm in die Rippen. Jamie stöhnte, sagte aber
nichts mehr.
»Vielleicht sollten wir einen falschen Namen auf
die Liste setzen, wenn wir ihn erschießen«, schlug der Leutnant
vor.
Melton warf seinem Adjutanten einen vernichtenden
Blick zu.
Dann sah er aus dem Fenster und prüfte, wieviel Zeit ihm noch
blieb.
»In drei Stunden ist es dunkel. Ich kümmere mich
darum, daß die Hingerichteten unter die Erde kommen. Holen Sie ein
kleines Fuhrwerk und beladen Sie es mit Heu. Suchen Sie einen
Kutscher, Wallace, aber einen verschwiegenen, das heißt einen
bestechlichen. Sorgen Sie dafür, daß er bei Einbruch der Dunkelheit
vor der Tür steht.«
»Gut, Sir! Äh, Sir, was ist mit dem Gefangenen?«
Wallace wies auf das Bündel am Boden.
»Was soll mit ihm sein?« entgegnete Melton schroff.
»Der kann ja kaum noch kriechen. Der entkommt uns nicht -
jedenfalls nicht ohne Fuhrwerk.«
»Fuhrwerk?« Der Gefangene wurde lebendig. In seiner
Erregung brachte er es sogar fertig, sich auf die Ellbogen zu
stützen. Aus blutunterlaufenen Augen blinzelte er sie erschrocken
an. »Wohin schicken Sie mich?« Melton, der bereits die Tür erreicht
hatte, warf ihm einen unverhohlen feindseligen Blick zu.
»Sie sind doch der Herr von Broch Tuarach, nicht
wahr? Nun, dorthin geht die Reise.«
»Ich will nicht nach Hause! Erschießen Sie
mich!«
Die Engländer sahen sich an.
»Fieberwahn«, sagte Wallace bedeutungsvoll. Melton
nickte.
»Er wird die Fahrt wohl kaum überstehen. Aber
wenigstens trage ich dann nicht die Schuld an seinem Tod.«
Als sich die Tür hinter den Engländern schloß,
blieb Jamie Fraser zurück. Allein - und am Leben.