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Ein Gefangener in Ehren
Ardsmuir, Schottland, 15. Februar 1755
»Ardsmuir ist der Karbunkel am Hintern Gottes«, erklärte Oberst Harry Quarry. Mit einem süffisanten Lächeln trank er dem jungen Mann am Fenster zu. »Seit zwölf Monaten bin ich hier, und das sind elf Monate und neunundzwanzig Tage zuviel. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem neuen Posten, Mylord.«
Major John William Grey wandte sich von dem Fenster ab, durch das er seine neue Domäne in Augenschein genommen hatte.
»Es wirkt hier in der Tat etwas ungemütlich«, entgegnete er trocken und hob sein Glas. »Regnet es hier ständig?«
»Natürlich. Wir sind in Schottland - im letzten Eck von Schottland.« Quarry nahm einen großen Schluck Whisky, hustete und stieß hörbar den Atem aus, als er das leere Glas absetzte.
»Der Alkohol hier ist der einzige Lichtblick«, sagte er heiser. »Suchen Sie in Ihrer besten Uniform die ansässigen Schnapshändler auf, und man wird Ihnen einen günstigen Preis bieten. Ohne den Zollaufschlag kommt der Schnaps erstaunlich billig. Die besten Brennereien habe ich Ihnen aufgeschrieben.« Er deutete mit dem Kopf zu dem wuchtigen Schreibtisch aus Eichenholz, der sich auf der anderen Seite des Zimmers wie ein kleines Bollwerk erhob.
»Hier ist der Dienstplan der Wärter«, erklärte Quarry, erhob sich und griff in die obere Schublade. Er knallte erst eine und dann eine zweite abgegriffene Ledermappe auf die Schreibfläche. »Und die Liste mit den Gefangenen. Im Augenblick haben wir hundertsechsundneunzig, normalerweise sind es zweihundert. Die Anzahl schwankt: Hin und wieder stirbt einer, dafür kommt dann der eine oder andere Wilderer hinzu, der in der Gegend aufgegriffen wird.«
»Zweihundert«, wiederholte Grey. »Und wie viele Wachsoldaten sind in den Kasernen?«
»Zweiundachtzig, aber wirklich rechnen können Sie nur mit der Hälfte.« Quarry griff erneut in die Schublade und förderte eine verkorkte Glasflasche zutage. Er schüttelte sie und lächelte mokant, als er den Inhalt schwappen hörte. »Nicht nur der Kommandant tröstet sich mit Alkohol. Für gewöhnlich ist die Hälfte der Wachsoldaten beim Appell nicht zu gebrauchen. Ich überlasse Ihnen die Flasche. Sie werden sie brauchen.« Er legte sie zurück und zog die untere Schublade heraus.
»Hier sind die Anforderungslisten und Zweitschriften. Der Papierkram ist das Schlimmste an dem Posten. Eigentlich gibt es nicht sonderlich viel zu tun, wenn man einen guten Sekretär hat. Leider gibt es im Augenblick keinen. Ich hatte einen Korporal mit einer annehmbaren Handschrift, aber er ist vor zwei Wochen gestorben. Wenn Sie sich einen neuen heranziehen, haben Sie nichts weiter zu tun, als auf die Jagd nach Moorhühnern und nach dem Gold des Franzosen zu gehen.« Er lachte über seinen Scherz. Die Gerüchte über das Gold, das Louis von Frankreich seinem Cousin Charles Stuart angeblich hatte zukommen lassen, waren in diesem Teil Schottlands in aller Munde.
»Und die Gefangenen - sind die nicht schwierig?« fragte Grey. »Wie ich gehört habe, handelt es sich bei ihnen hauptsächlich um jakobitische Hochlandschotten.«
»Das stimmt. Aber sie sind recht fügsam.« Quarry schwieg und schaute aus dem Fenster. Eine kleine Gruppe zerlumpter Männer trat soeben aus der Tür in der düsteren Mauer gegenüber. »Nach Culloden ist ihnen das Herz in die Hose gerutscht«, meinte er nüchtern. »Dafür hat schon der Herzog von Cumberland mit seiner Unnachgiebigkeit gesorgt. Und wir nehmen die Männer so hart ran, daß ihnen nicht die Kraft bleibt, sich aufzulehnen.«
Grey nickte. Die Mauern der Festung Ardsmuir wurden derzeit erneuert, und man bediente sich dabei pikanterweise der Arbeitskraft der Schotten, die darin eingekerkert waren. Grey stand auf und stellte sich neben Quarry.
»Da ist ein Arbeitstrupp, der zum Torfstechen aufbricht.« Quarry deutete mit einem Kopfnicken auf die Gruppe unten im Hof. Ein Dutzend bärtiger Männer stellte sich vor einem Soldaten in roter Uniform auf. Nachdem der Mann die Reihe mehrmals abgegangen war, erteilte er einen Befehl und wies mit der Hand in Richtung Gefängnistor.
Die Häftlinge wurden von sechs bewaffneten Soldaten begleitet, die sich hinter und vor ihnen postiert hatten und ihre Musketen im Anschlag hielten. Die Gefangenen gingen langsam, ungeachtet des Regens, der ihre Kleidung durchnäßte. Ihnen folgte ein knarrender Eselskarren, in dem eine Handvoll Torfmesser glänzte.
Quarry zählte die Marschierenden und runzelte die Stirn. »Einige scheinen krank zu sein. Ein Trupp besteht aus achtzehn Männern - drei Gefangene pro Wärter wegen der Messer. Obwohl sie nur selten versuchen, sich aus dem Staub zu machen«, fügte er hinzu und wandte sich vom Fenster ab. »Vermutlich wüßten sie gar nicht, wohin.« Er entfernte sich vom Schreibtisch und stieß dabei einen großen geflochtenen Korb zur Seite, der vor der Feuerstelle stand und mit großen dunklen Brocken gefüllt war.
»Lassen Sie auch bei Regen das Fenster offen«, empfahl er. »Sonst ersticken Sie womöglich vor lauter Torfrauch.« Zur Veranschaulichung atmete er tief ein und ließ die Luft zischend wieder entweichen. »Mein Gott, bin ich froh, nach London zurückzugehen!«
»Vermutlich gibt es hier kein besonders reges Gesellschaftsleben, oder?« fragte Grey trocken. Quarry lachte belustigt auf.
»Gesellschaft? Mein lieber Freund! Abgesehen von ein oder zwei Dorfgrazien besteht die hiesige ›Gesellschaft‹ allein aus Ihren vier Offizieren, von denen einer in der Lage ist zu reden, ohne zu fluchen, und einem Häftling.«
»Einem Häftling?« Fragend blickte Grey von den Büchern auf, die er sorgfältig durchsah.
»Ja.« Rastlos wanderte Quarry im Büro auf und ab. Er wollte endlich gehen. Seine Kutsche wartete bereits. Er war nur geblieben, um seinen Nachfolger kurz einzuweisen und das Kommando offiziell zu übergeben. Jetzt hielt er inne und warf einen leise amüsierten Blick auf Grey.
»Sie haben vom roten Jamie Fraser gehört, nehme ich an.«
Grey erstarrte, verzog jedoch keine Miene.
»Es gibt vermutlich kaum jemanden, der ihn nicht kennt«, erwiderte er kühl. »Dieser Mann war während des Aufstands bekannt wie ein bunter Hund.« Verdammt, Quarry wußte etwas! Kannte er alles oder nur den Anfang?
Quarrys Mund zuckte, aber er nickte nur.
»Richtig. Jetzt haben wir ihn. Er ist hier der einzige jakobitische Offizier von Rang, und die gefangenen Schotten behandeln ihn wie ihren Anführer. Deshalb tritt er als ihr Sprecher auf, falls es irgendwelche Schwierigkeiten mit den Häftlingen gibt - und ich versichere Ihnen, die werden nicht ausbleiben.« Quarry setzte sich und streifte seine hohen Reitstiefel über.
»Seumus, mac an fhear dhuibh, nennen sie ihn, oder auch einfach nur Mac Dubh. Sprechen Sie Gälisch? Ich auch nicht. Aber Grissom ist in der Sprache bewandert, und er sagt, es bedeutet ›James, Sohn der Hölle‹. Die Hälfte der Wachmannschaft fürchtet sich vor ihm, vor allem die, die mit Cope in der Schlacht von Prestonpans gekämpft haben. Sie sagen, er sei der Teufel in Person. Jetzt ist er wohl eher ein armer Teufel!« Quarry schnaubte.
»Die Gefangenen gehorchen ihm ohne Widerrede. Ihnen Befehle zu erteilen, ohne sie sich von ihm bestätigen zu lassen, ist, als spräche man in den Wind. Schon jemals mit Schotten zu tun gehabt? Ach, natürlich. Sie haben ja in Culloden im Regiment Ihres Bruders gekämpft.« Quarry schlug sich an die Stirn ob seiner vorgeblichen Vergeßlichkeit. Verdammt! Der Mann wußte alles.
»Dann wissen Sie ja Bescheid. Starrköpfig ist noch weit untertrieben.« Mit einer lässigen Handbewegung tat er ein ganzes Heer aufsässiger Schotten ab.
»Und das bedeutet…« - Quarry legte eine Pause ein - »daß Sie auf Frasers guten Willen oder zumindest seine Unterstützung angewiesen sind. Einmal die Woche ließ ich ihn bei mir zum Abendessen antreten, um das, was anstand, zu besprechen, was er nicht ungern befolgte. Sie könnten eine ähnliche Regel einführen.«
»Das könnte ich.« Greys Stimme klang gleichgültig, doch er hatte die Hände zu Fäusten geballt. Da müßten Ostern und Weihnachten schon auf einen Tag fallen, bevor er mit Jamie Fraser zu Abend aß!
»Er ist ein gebildeter Mann«, fuhr Quarry fort und hielt seine boshaft funkelnden Augen auf Grey gerichtet. »Weitaus anregender als die Offiziere. Außerdem spielt er Schach. Sie doch auch, nicht wahr?«
»Hin und wieder.« Grey konnte kaum noch atmen, so angespannt waren seine Bauchmuskeln. Konnte dieser Dummkopf nicht endlich mit seinem Geschwätz aufhören und verschwinden?
»Nun gut, jetzt überlasse ich Ihnen das Feld.« Als hätte er Greys Wunsch erraten, rückte Quarry sich die Perücke zurecht, nahm seinen Umhang vom Haken neben der Tür und schwang ihn sich verwegen um die Schultern. An der Tür wandte er sich noch einmal um.
»Ach, noch etwas. Falls Sie mit Fraser allein essen, wenden Sie ihm nicht den Rücken zu!« Quarrys widerwärtige Spaßhaftigkeit war wie weggeblasen. Grey warf ihm einen finsteren Blick zu, aber nichts ließ erkennen, daß die Warnung scherzhaft gemeint war.
»Damit ist es mir ernst«, fügte Quarry eindringlich hinzu. »Zwar trägt er Hand- und Fußschellen, aber es ist ein leichtes, einen Menschen mit der Kette zu erdrosseln. Und Fraser ist ein kräftiger Kerl.«
»Ich weiß.« Voll Zorn spürte Grey, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. Um es zu verbergen, wandte er sich rasch dem halb geöffneten Fenster zu und kühlte sein Gesicht im Luftzug. »Aber«, sagte er zu den regennassen grauen Steinen unten im Hof, »wenn er so klug ist, wie Sie sagen, wird er mich wohl kaum in meinem Quartier mitten im Gefängnis angreifen. Was würde er damit erreichen?«
Quarry antwortete nicht. Nach einer Weile drehte Grey sich um und blickte in das breite, rötliche Gesicht seines Gegenübers, aus dem jede Spur von Spott gewichen war.
»Verstand«, entgegnete Quarry nachdenklich, »ist nicht alles. Aber Sie sind wohl noch zu jung, um erlebt zu haben, wie eng Haß und Verzweiflung beieinander liegen. Vor allem in Schottland in den letzten zehn Jahren.« Er neigte den Kopf und betrachtete den neuen Kommandanten von Ardsmuir mit der Überlegenheit des um fünfzehn Jahre älteren.
Major Grey war in der Tat nicht älter als sechsundzwanzig, mit hellem Teint und mädchenhaften Wimpern, die ihn noch jünger wirken ließen, als er war. Zu diesem Nachteil gesellte sich der Umstand, daß er drei oder vier Zentimeter kleiner war als der Durchschnitt und zudem von feinem Körperbau. Er straffte die Schultern.
»Ich weiß um die Existenz derartiger Dinge, Oberst«, erwiderte er gelassen. Wie er selbst war Quarry ein jüngerer Sohn aus guter Familie, aber da der andere einen höheren Rang bekleidete, mußte er sich zügeln.
Quarry sah Grey nachdenklich an.
»Vermutlich.«
Abrupt setzte er sich den Hut auf. Dann strich er sich über die dunkle Narbe an der Wange - eine Erinnerung an das fatale Duell, das der Grund für seine Verbannung nach Ardsmuir gewesen war.
»Was Sie getan haben, um hier zu landen, weiß Gott allein, Grey«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Aber um Ihretwillen hoffe ich, daß Sie es verdient haben. Viel Glück!« Sein blauer Umhang wirbelte herum, und schon war er verschwunden.
 
»Von zwei Übeln ist mir das lieber, das ich kenne«, erklärte Murdo Lindsay und schüttelte kummervoll den Kopf. »So schlecht war der hübsche Harry gar nicht.«
»Stimmt«, gab Kenny Lesley ihm recht. »Aber du warst schon hier, als er kam, oder? Harry war um vieles besser als Bogle, dieses Drecksgesicht, aye?«
»Aye«, entgegnete Murdo verblüfft. »Worauf willst du hinaus, Mann?«
»Wenn also der Hübsche besser war als Bogle«, erklärte Leslie geduldig, »dann war der Hübsche das Übel, das wir nicht gekannt haben, und Bogle das Übel, das wir gekannt haben. Und trotzdem war der Hübsche besser. Also hast du dich getäuscht, Mann.«
»Ich?« Murdo, völlig verwirrt von dieser Logik, blickte Lesley finster an. »Nein, habe ich nicht.«
»Doch«, entgegnete Lesley unwirsch. »Wie immer, Murdo! Weshalb fängst du überhaupt noch einen Streit an, wenn du doch nie gewinnst?«
»Ich streite nicht!« wehrte sich Murdo entrüstet. »Du streitest. Ich nicht!«
»Nur weil du unrecht hast, Mann!« erklärte Lesley. »Wenn du recht gehabt hättest, hätte ich keinen Ton gesagt.«
»Aber ich habe recht. Glaube ich wenigstens«, murmelte Murdo. Inzwischen wußte er nicht mehr recht, was er überhaupt gesagt hatte. Und so drehte er sich zu der stattlichen Gestalt um, die in der Ecke saß. »Mac Dubh, habe ich mich geirrt?«
Der hochgewachsene Mann streckte sich und lachte. Dabei rasselten leise seine Ketten.
»Nein, Murdo, hast du nicht. Aber wir wissen noch nicht, ob du recht hast. Das wissen wir erst, wenn wir uns den Neuen angeschaut haben, aye?« Als er merkte, wie Lesley die Brauen runzelte und abermals zum Sprechen ansetzte, hob Mac Dubh die Stimme und fragte die Anwesenden: »Hat schon jemand den neuen Kommandaten zu Gesicht bekommen? Johnson? MacTavish?«
»Ich habe ihn gesehen«, rief Hayes und drängte bereitwillig nach vorne, um sich die Hände am Feuer zu wärmen. In der großen Zelle gab es nur eine Feuerstelle, die höchstens sechs Männern gleichzeitig Platz bot. Die restlichen vierzig Gefangenen waren der bitteren Kälte ausgeliefert.
Daher war man übereingekommen, daß demjenigen, der eine Geschichte zu erzählen hatte oder der ein Lied zum besten geben wollte, für die Dauer seines Auftritts der Platz an der Feuerstelle gebührte. Das sei überliefertes Bardenrecht, hatte Mac Dubh erklärt. In früheren Zeiten hatte man den Barden in den alten Burgen ein warmes Plätzchen angeboten und sie ausreichend mit Essen und Trinken versorgt. Damit bezeugte der Schloßherr seine Gastfreundschaft. Zwar konnte hier niemand Essen und Trinken entbehren, aber wenigstens der warme Platz war gesichert.
Hayes schloß die Augen. Mit glücklichem Gesichtsausdruck streckte er die Hände dem Feuer entgegen. Das ungeduldige Drängen von beiden Seiten ließ ihn jedoch die Augen hastig wieder öffnen, und er begann zu sprechen.
»Ich hab’ ihn gesehen, als er aus der Kutsche stieg, und noch einmal, als ich einen Teller mit Naschwerk aus der Küche hochgebracht habe und er mit dem hübschen Harry ein Schwätzchen hielt.« Angestrengt zog Hayes die Stirn in Falten.
»Er ist blond und hat die langen Locken mit einem blauen Band zusammengebunden. Dazu große Augen mit langen Wimpern wie ein Mädel.« Den schrägen Blick auf seine Zuhörer gerichtet, klimperte er kokett mit den borstigen Wimpern.
Von dem Gelächter ermutigt, begann er, den neuen Kommandanten zu beschreiben: seine Kleidung, die »fein wie die eines Gutsherrn« sei, seine Kutsche und seinen Diener, der »wie die Engländer« wäre und »auch so redete, als hätte er sich die Zunge verbrannt«. Und er berichtete, was er von den Worten des neuen Mannes aufgeschnappt hatte.
»Er redet wie einer, der sich auskennt«, meinte Hayes und schüttelte zweifelnd den Kopf, »obwohl er ausschaut wie ein Milchbart. Aber wahrscheinlich ist er älter, als er wirkt.«
»Aye, ein Winzling, kleiner als Angus«, fiel Baird zustimmend ein und deutete mit einer Kopfbewegung auf Angus MacKenzie, der erschrocken an sich herunterblickte. Als er an der Seite seines Vaters in Culloden gekämpft hatte, war Angus zwölf Jahre alt gewesen. Annähernd die Hälfte seines Lebens hatte er in Ardsmuir zugebracht, und bei der mageren Essensration war er nicht wesentlich gewachsen.
»Aye«, stimmte Hayes zu, »aber er hält sich gerade - als hätte man ihm einen Ladestock in den Hintern geschoben.«
Bei seiner Beschreibung brach lautes Gelächter aus, gefolgt von anstößigen Bemerkungen. Hayes machte Ogilvie Platz, der eine lange, skurrile Geschichte über den Herrn von Donibristle und die Tochter des Schweinehirten erzählen wollte. Hayes trat bereitwillig von der Feuerstelle zurück und setzte sich - der Sitte folgend - neben Mac Dubh.
Mac Dubh beanspruchte nie den Platz an der Feuerstelle, selbst wenn er ihnen die langen Geschichten aus den Büchern erzählte, die er gelesen hatte: Die Abenteuer des Roderick Random oder Tom Jones, die Geschichte eines Findlings, oder ihre Lieblingsgeschichte: Robinson Crusoe. Er erklärte, er brauche Raum für seine langen Beine, und saß stets am selben Fleck in der Ecke. Für gewöhnlich setzten sich die Männer, nachdem sie den Feuerplatz wieder frei gemacht hatten, neben ihn auf die Bank und ließen ihn an der Wärme teilhaben, die von ihren Kleidern ausging.
»Wirst du morgen mit dem neuen Kommandanten reden, Mac Dubh?« fragte Hayes, als er sich niedersetzte. »Ich habe Billy Malcolm getroffen, als er vom Torfstechen zurückkam. Er hat mir zugerufen, die Ratten in ihrer Zelle wären schrecklich frech geworden. Sechs Männer sind diese Woche im Schlaf gebissen worden; bei zweien eitert die Wunde.«
Mac Dubh schüttelte den Kopf und kratzte sich am Kinn. Vor seiner wöchentlichen Audienz bei Harry Quarry war ihm immer eine Rasur zugestanden worden. Aber weil das letzte Zusammentreffen jetzt schon fünf Tage zurücklag, sprossen auf seinem Kinn kräftige, rote Stoppeln.
»Ich weiß nicht, Gavin«, erwiderte er. »Quarry hat gesagt, er würde dem neuen Mann von unserer Vereinbarung erzählen, aber vielleicht hat er ja seine eigenen Vorstellungen. Wenn man mich zu ihm ruft, werde ich ihm natürlich von den Ratten erzählen. Hat Malcolm nach Morrison geschickt, damit er sich die Wunden ansieht?« Im Gefängnis gab es keinen Arzt. Morrison, der sich auf Krankheiten verstand, hatte auf Mac Dubhs Bitte hin die Erlaubnis der Wärter, sich um die Kranken oder Verletzten zu kümmern.
Hayes schüttelte den Kopf. »Mehr konnte er nicht sagen, sie waren auf dem Vorbeimarsch.«
»Am besten schicke ich Morrison«, entschied Mac Dubh. »Er kann Billy fragen, ob noch was anderes anliegt.« Es gab vier Hauptzellen, in denen jeweils eine große Anzahl von Häftlingen untergebracht waren. Durch Morrison und die Arbeitstrupps, die täglich in den Steinbruch oder zum Torfstechen gingen, konnten sie sich miteinander verständigen.
Morrison erschien sofort, nachdem man ihn gerufen hatte, und steckte vier der Rattenschädel ein, die die Häftlinge für ihr improvisiertes Damespiel verwendeten. Mac Dubh griff unter die Bank und zog die Stofftasche hervor, die er stets bei sich trug, wenn es ins Moor ging.
»O nein, nicht schon wieder diese verdammten Brennesseln«, protestierte Morrison, als er sah, wie Mac Dubh mit verzerrtem Gesicht in der Tasche wühlte. »Ich kann die Männer nicht dazu bringen, dieses Zeug zu essen. Sie fragen mich, ob ich sie für Kühe oder Schweine halte.«
Vorsichtig zog Mac Dubh eine Handvoll welker Stengel heraus und saugte an seinen zerstochenen Fingern.
»Eigensinnig wie die Schweine sind sie jedenfalls«, bemerkte er. »Es sind doch nur Brennesseln. Wie oft soll ich dir das noch sagen, Morrison? Zerstampfe Stengel und Blätter zu Brei. Oder koch einen Tee daraus und laß sie den trinken. Und sag ihnen, ich hätte noch nie Schweine Tee trinken sehen.«
Morrison verzog das runzelige Gesicht zu einem Grinsen. Er war alt und erfahren und kam mit widerspenstigen Patienten bestens zurecht. Er murrte nur gern.
»Aye, ich werde sie fragen, ob sie jemals eine zahnlose Kuh gesehen haben«, gab er schließlich nach und steckte die welken Pflanzen in seine Tasche. »Vielleicht glauben sie dann, daß das Grünzeug gegen Skorbut hilft«, fügte er hinzu, ehe er verschwand.
Mac Dubh entspannte sich. Er ließ den Blick durch die Zelle wandern, um sich zu vergewissern, daß sich kein Streit zusammenbraute. Derzeit herrschten Fehden. Eine Woche zuvor hatte er eine Meinungsverschiedenheit zwischen Bobby Sinclair und Edwin Murray geschlichtet. Sie waren zwar keine Freunde geworden, gingen sich jetzt aber zumindest aus dem Weg.
Müde schloß er die Augen. Den ganzen Tag hatte er Steine geschleppt. In Kürze würde man ihnen die Nachtmahlzeit bringen - eine Schüssel Haferbrei und etwas Brot, das untereinander aufgeteilt werden mußte, und wenn sie Glück hatten, ein wenig Brühe. Danach würden sich die meisten Männer vermutlich schlafen legen. Das bedeutete für ihn ein paar friedvolle Minuten.
Bisher hatte er noch keine Zeit gehabt, über den neuen Kommandanten nachzudenken. Jung sei er, hatte Hayes gesagt. Das mochte gut, konnte aber auch schlecht sein.
Die Älteren, die bei dem Aufstand mitgekämpft hatten, hegten oftmals Vorurteile gegen die Schotten - Bogle, der ihn in Ketten gelegt hatte, hatte an Copes Seite gekämpft. Aber ein verängstigter junger Soldat, der eine anspruchsvolle Aufgabe meistern wollte, könnte sich als grausamer erweisen als so manch barscher alter Oberst. Aber es ließ sich nicht ändern, man mußte abwarten.
Seufzend veränderte er seine Haltung und fühlte sich - zum zehntausendstenmal - eingeengt durch die Ketten. Er empfand es als furchtbar, die Arme nicht weiter als einen halben Meter ausbreiten zu können.
»Mac Dubh«, rief eine leise Stimme neben ihm. »Ein Wort im Vertrauen, wenn du gestattest.« Mac Dubh öffnete die Augen. Neben ihm kauerte Ronnie Sutherland. Der schwache Schein des Feuers verlieh seinem spitzen Gesicht etwas Fuchsähnliches.
»Aye, Ronnie, sicher.« Er setzte sich gerade hin und verbannte die Ketten wie auch den neuen Kommandanten aus seinen Gedanken.
 
Liebste Mutter, schrieb John Grey am Abend desselben Tages.
Ich bin sicher angekommen und empfinde meinen neuen Posten als angenehm. Mein Vorgänger, Oberst Quarry - er ist der Neffe des Herzogs von Clarence, erinnerst Du dich? - hat mich willkommen geheißen und mich in meine Aufgabe eingeführt. Mir steht ein ausgezeichneter Bursche zur Seite. Zwar ist mir in Schottland zunächst vieles noch fremd, aber ich bin guten Mutes, daß ich diesem Aufenthalt Interessantes abgewinnen werde. Zum Abendessen wurde mir etwas serviert, was sich ›Haggis‹ nennt, wie mir der Bursche erklärte. Diese Speise entpuppte sich als ein Schafsmagen, der mit Hafermehl und nicht eindeutig erkennbaren Fleischbrocken gefüllt war. Obwohl man mir versicherte, daß das Gericht bei den Schotten als besondere Delikatesse gilt, habe ich es in die Küche zurückgehen lassen und statt dessen um ein Lammkotelett gebeten. Nach dieser ersten - mageren! - Mahlzeit hier werde ich mich nun niederlegen. Eine eingehende Beschreibung der Umgebung, die ich in der Dunkelheit bisher kaum gesehen habe, hebe ich mir für einen späteren Brief an Dich auf.
 
Grey hielt inne und klopfte mit der Feder auf das Löschpapier. Der tintengetränkte Kiel hinterließ kleine Punkte, die er gedankenversunken zu einer Figur verband.
Sollte er es wagen, nach George zu fragen? Nicht offen heraus, das ging nicht, aber er konnte sich nach der Familie erkundigen, fragen, ob seine Mutter vor kurzem mit Lady Everett zusammengetroffen war. Und sie bitten, ihn bei ihrem Sohn in Erinnerung zu bringen.
Seufzend versah er die Zeichnung mit einem weiteren Punkt. Nein. Seine verwitwete Mutter war mit den Umständen nicht vertraut, und Lady Everetts Gatte bewegte sich in Militärkreisen. Der Einfluß seines Bruders würde dem Klatsch zwar mehr oder weniger Einhalt gebieten, aber es war nicht auszuschließen, daß Lord Everett doch etwas hörte und dann zwei und zwei zusammenzählte. Eine unkluge Bemerkung über George zu seiner Frau, die wiederum seiner Mutter davon erzählen würde… und die Gräfinwitwe war nicht dumm.
Sie wußte nur zu gut, daß er in Ungnade gefallen war. Junge Offiziere, die sich des Wohlwollens ihrer Vorgesetzten erfreuten, schickte man nicht in die hinterste Ecke Schottlands, um Ausbesserungsarbeiten an einer kleinen, unbedeutenden Gefängnisfestung zu überwachen. Doch sein Bruder Harold hatte ihr etwas von einer unglückseligen Liebesgeschichte erzählt und angedeutet, daß sie unschicklich war, um sie von weiteren Fragen abzuhalten. Vermutlich nahm sie an, man hätte ihn mit der Gattin des Oberst ertappt.
Eine unglückselige Liebesgeschichte! Grimmig lächelnd tauchte er die Feder ein. Wenn Hal es so umschrieb, verfügte er möglicherweise über mehr Einfühlungsvermögen, als John vermutet hatte. Andererseits hatte sein ganzes Leben nach Hectors Tod in Culloden einen unglückseligen Verlauf genommen.
Der Gedanke an Culloden rief in ihm die Erinnerung an Fraser wach, der er den ganzen Tag ausgewichen war. Er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg und Hitzeschauer ihn erfaßten, die nicht von dem nahen Feuer herrührten. Deshalb stand er auf, ging zum Fenster und sog die Luft bis in die Lungenspitzen, als könne er sich auf diese Weise von der Erinnerung befreien.
»Entschuldigen Sie, Herr, aber möchten Sie Ihr Bett jetzt angewärmt haben?« Erschreckt drehte Grey sich um. Der zerzauste Schopf des Gefangenen, der ihm als Bursche zugewiesen war, erschien in der Tür, die zu Greys Privaträumen führte.
»Oh! Ja, danke… MacDonell?« fragte er unsicher.
»MacKay, Sir«, verbesserte ihn der Mann, offensichtlich nicht weiter gekränkt, und verschwand.
Grey seufzte. Heute abend gab es nichts weiter zu tun.
Er ging zum Schreibtisch zurück und nahm die Mappen, um sie wegzuräumen. Das Gebilde auf dem Löschblatt ähnelte einem der mit Dornen versehenen Streitkolben, mit denen die Ritter vergangener Jahrhunderte die Köpfe ihrer Gegner zerschmettert hatten. Ihm war, als hätte er einen davon verschluckt. Dabei lagen ihm vermutlich nur die halbgaren Lammkoteletts im Magen.
Grey schüttelte den Kopf, zog den Brief zu sich heran und unterschrieb ihn hastig.
In tiefer Zuneigung, Dein ergeb. Sohn John W. Grey. Er streute Sand über die Unterschrift, versiegelte den Brief und legte ihn zur Seite, um ihn am folgenden Morgen dem Boten zu übergeben.
Dann stand er auf und ließ den Blick zögernd über die dunklen Nischen seines Arbeitszimmers gleiten. Der große Raum war kalt und ungemütlich und bis auf den massiven Schreibtisch und zwei Stühle fast leer. Grey fröstelte. Die matt glimmernden Torfquader in der Feuerstelle gaben kaum Wärme ab.
Erneut warf er einen Blick auf die Liste mit den Gefangenen. Dann bückte er sich, zog die untere Schublade seines Schreibtisches auf und nahm die braune Flasche heraus. Er drückte die Kerze aus und ging im matten Schein des Feuers zu seinem Bett.
 
Die Erschöpfung und der Whisky hätten ihm eigentlich einen erholsamen Schlaf bescheren müssen, doch er fand keine Ruhe. Wann immer er meinte, in den Schlummer zu sinken, tauchte der Wald von Carryarrick vor seinen Augen auf, und wieder lag er hellwach und schweißgebadet da, und sein Herz klopfte zum Zerspringen.
Sechzehn war er gewesen und unvergleichlich aufgeregt, an seinem ersten Feldzug teilzunehmen. Damals hatte er sein Patent noch nicht, doch sein Bruder Hal ließ ihn einfach mitmarschieren, damit er sich einen Eindruck vom Soldatenleben verschaffen konnte.
Sie waren unterwegs nach Preston, wo sie zu General Cope stoßen wollten. Als sie eines Abends in der Nähe eines dunklen Waldes ihre Zelte aufgeschlagen hatten, konnte John vor Aufregung keinen Schlaf finden. Wie würde die Schlacht wohl sein? Cope war ein ausgezeichneter General, darin waren sich Hals Freunde einig, doch die Männer an den Feuern erzählten sich furchterregende Geschichten von den wilden Schotten. Würde er den Mut aufbringen, sich dem schrecklichen Angriff entgegenzustellen?
Nicht einmal Hector konnte er seine Ängste gestehen. Hector liebte ihn, aber Hector war schon zwanzig, groß, kräftig und furchtlos, hatte ein Leutnantspatent und wußte lauter spannende Geschichten über seine Schlachten in Frankreich zu berichten.
Nicht einmal heute konnte er sagen, ob er Hector mit seiner Tat hatte nacheifern oder ihn nur hatte beeindrucken wollen. Aber was auch immer - sobald er den Schotten im Wald sah, den er von Flugblättern her als den berüchtigten roten Jamie erkannte, faßte er den Entschluß, ihn zu töten oder zu fangen.
Zwar schoß ihm damals wirklich durch den Kopf, zum Lager zurückzugehen und Hilfe zu holen, aber der Mann war allein - so hatte John zumindest angenommen - und saß, offensichtlich nichts Böses ahnend, still auf einem Baumstamm und kaute an einem Stück Brot.
Und so hatte er sein Messer aus dem Gürtel gezogen und sich lautlos durch den Wald an den Schotten mit dem leuchtendroten Schopf herangeschlichen, den sicheren Ruhm und Hectors Lob vor Augen.
Statt dessen traf ihn aus dem Nichts ein plötzlicher Schlag, als der Schotte auf ihn zusprang, und dann…
Bei der Erinnerung wurde ihm ganz heiß, und er warf sich von einer Seite auf die andere. Die Kämpfenden hatten sich in dem raschelnden Eichenlaub gewälzt, das Messer zu fassen versucht, aufeinander eingeschlagen - als ginge es um Leben und Tod, so hatte er zumindest angenommen.
Zunächst hatte der Schotte unter ihm gelegen, schließlich aber die Oberhand gewonnen. John hatte früher einmal eine große Schlange berührt, einen Python, die ein Freund seines Onkels aus Indien mitgebracht hatte. Frasers Berührung war ähnlich, leicht und glatt und unbeschreiblich kraftvoll.
Schmählich hatte er ihn ins Laub geworfen und ihm das Handgelenk schmerzhaft auf den Rücken gedreht. In Todesangst hatte er seine ganze Kraft eingesetzt, um den Arm frei zu bekommen. Der Knochen splitterte, und er verlor das Bewußtsein.
Als er wieder zu sich gekommen war, lehnte er an einem Baum und sah sich von wild aussehenden Schotten umringt. In ihrer Mitte stand Jamie Fraser - und die Frau.
Grey biß die Zähne zusammen. Verflucht soll sie sein! Wenn sie nicht gewesen wäre, Gott weiß, welchen Lauf die Dinge genommen hätten. Sie war Engländerin und ihrem Akzent nach aus gutem Hause, weshalb er - Idiot, der er war! - sofort geschlossen hatte, sie sei die Geisel dieser üblen Bande und sollte geschändet werden. Schließlich war allgemein bekannt, daß die Hochlandschotten jede Engländerin, derer sie habhaft werden konnten, entehrten. Woher hatte er wissen sollen, daß das nicht stimmte? John William Grey, sechzehn Jahre alt und erfüllt von Edelmut und hehren Zielen, verwundet, zerschlagen und gegen den Schmerz ankämpfend, wollte eine Abmachung aushandeln, um sie vor ihrem Schicksal zu bewahren. Aber Fraser, hoch aufgerichtet und spöttisch, ließ ihn zappeln. Er riß der Frau das Mieder vom Leib, um Einzelheiten über die Lage und Stärke des Regiments seines Bruders aus ihm herauszupressen. Nachdem er ihm alles gesagt hatte, was er wußte, offenbarte Fraser ihm lachend, daß die Frau seine Gattin sei. Auch die anderen lachten ihren Hohn heraus, und noch heute hafteten ihm die derben, dröhnenden Stimmen der Schotten im Gedächtnis.
Fraser hatte nicht einmal den Anstand besessen, ihn zu töten. Statt dessen fesselte er ihn an einen Baum, wo ihn seine Freunde am folgenden Morgen finden sollten. Aber bis dahin hatten Frasers Männer dem Lager schon längst einen Besuch abgestattet und - dank der Einzelheiten, die er ihnen gegeben hatte - die Kanone außer Gefecht gesetzt.
Natürlich waren sie dahintergekommen. Zwar entschuldigten sie ihn wegen seines Alters und weil er noch kein Soldat war, aber er spürte ihre Verachtung. Niemand sprach mehr mit ihm, außer sein Bruder - und Hector. Der treue Hector.
Grey seufzte und rieb die Wange am Kissen. Wann immer er wollte, konnte er Hector vor seinem inneren Auge heraufbeschwören. Die schwarzen Haare, die blauen Augen, die stets lächelnden weichen Lippen. Obwohl Hector schon vor zehn Jahren gestorben war, in der Schlacht von Culloden von dem Breitschwert eines Schotten in Stücke gehauen, wachte John zuweilen in der Morgendämmerung auf und spürte, den Körper in lustvoller Erregung gekrümmt, Hectors Berührung.
Und jetzt das. Er hatte sich vor diesem Posten gefürchtet, umgeben von Schotten und ihren rauhen Stimmen und der unauslöschlichen Erinnerung an das, was sie Hector angetan hatten! Niemals, auch nicht in den schlimmsten Vorstellungen, war ihm jedoch der Gedanke gekommen, er könnte James Fraser noch einmal begegnen.
Das Feuer verglomm zu heißer Asche, und das tiefe Schwarz vor dem Fenster wich langsam dem fahlen Grau einer trüben, regennassen schottischen Morgendämmerung. John Grey blickte, noch immer schlaflos, auf die rauchgeschwärzten Balken über ihm.
 
Am Morgen stand er unausgeruht, aber entschlossen auf. Er war hier. Und Fraser auch. Und keiner von ihnen konnte in absehbarer Zeit verschwinden. So war die Lage. Hin und wieder würde er gezwungen sein, den Mann zu treffen - in einer Stunde sollte er vor den Gefangenen sprechen und sie von da an in regelmäßigen Abständen inspizieren -, aber er würde nicht privat mit ihm zusammenkommen. Wenn er den Mann auf Abstand hielt, konnte es ihm vielleicht auch gelingen, die Erinnerungen in Schach zu halten. Und die Gefühle.
Zwar hatte ihn zu Beginn der Rückblick auf seine ehemalige Wut und Demütigung wachgehalten, doch seit dem Morgengrauen ließ ihn eine andere Erkenntnis nicht zur Ruhe kommen: Fraser war sein Gefangener, nicht mehr sein Peiniger, ein Häftling wie jeder andere auch und voll und ganz von seiner Gnade abhängig.
Er klingelte nach dem Burschen und ging zum Fenster. Es regnete wie erwartet. Im Hof wurden die Häftlinge gerade in Arbeitstrupps eingeteilt. Sie waren bis auf die Haut durchnäßt. Frierend zog Grey den Kopf zurück.
Der Gedanke an Rache hatte ihn nicht losgelassen. Während er sich im Bett herumgeworfen hatte, hatte er sich vorgestellt, wie man Fraser in einer kalten Winternacht nackt in der eisigen, winzigen Zelle hielt. Seine Nahrung bestand aus Wassersuppe, und man peitschte ihn im Gefängnishof aus. Die Arroganz gebrochen, nur noch unterwürfiges Elend, allein von Greys Befehl abhängig.
Das war es, was Grey sich voll Genugtuung ausmalte. Er hörte Fraser um Gnade flehen und sich stolz ablehnen. Er gab sich diesen Gedanken hin, bis sich die dornenbesetzte Keule in seinen Eingeweiden herumdrehte und die Selbstverachtung ihn durchbohrte.
Was Fraser für Grey einst dargestellt hatte, jetzt war er ein Kriegsgefangener und der Krone unterstellt. Er war Grey unterstellt; sein Wohlergehen war eine Ehrenpflicht.
Der Bursche hatte heißes Wasser zum Rasieren gebracht. Grey benetzte seine Wangen und spürte, wie sich die wohltuende Wärme über die Hirngespinste der Nacht legte. Denn nichts anderes waren sie gewesen, gestand er sich ein, und diese Erkenntnis brachte ihm eine gewisse Erleichterung.
Wäre er bei einer Schlacht auf Fraser gestoßen, hätte er ihn mit wildem Vergnügen zum Krüppel gemacht oder getötet. Aber solange er sein Gefangener war, konnte er ihm nichts anhaben. Nachdem er sich rasiert und sein Bursche ihn angekleidet hatte, fühlte er sich so weit wiederhergestellt, daß er die Situation mit einem gewissen Galgenhumor betrachten konnte.
Sein eigenes törichtes Verhalten in Carryarrick hatte Fraser nach Culloden das Leben gerettet. Nun war diese Schuld abgetragen und Fraser in seiner Gewalt. Und gerade weil Fraser als sein Gefangener völlig hilflos war, war er in Sicherheit. Alle Greys waren Ehrenmänner - ob töricht oder klug, naiv oder erfahren.
Als er sich nun ein wenig erholt hatte, wagte er einen Blick in den Spiegel, rückte die Perücke zurecht und begab sich zum Frühstück, bevor er seine erste Rede vor den Gefangenen hielt.
 
»Möchten Sie das Abendessen im Salon serviert bekommen, Sir, oder hier?« MacKays ungekämmter Schopf erschien in der Tür.
»Wie?« murmelte Grey, vertieft in die Papiere, die auf seinem Schreibtisch verstreut lagen. »Ach so«, sagte er und blickte auf. »Hier, wenn ich bitten darf.« Er wandte sich erneut seiner Arbeit zu und sah nur kurz auf, als das Tablett mit dem Abendessen hereingetragen wurde.
Quarrys Bemerkung über die Schreibarbeit war kein Scherz gewesen. Allein die Nahrungsmittel erforderten endlose Bestellungen - von sämtlichen Anforderungen bitte eine Zweitschrift nach London, wenn er so freundlich wäre -, ganz zu schweigen von den zahllosen anderen Kleinigkeiten, die er für die Gefangenen, für die Wachleute und die Männer und Frauen aus dem Dorf, die tagsüber die Kasernen putzten und in den Küchen halfen, bestellen mußte. Den ganzen Tag lang hatte er nichts anderes getan, als Anforderungslisten zu schreiben und zu unterzeichnen. Wenn er nicht schleunigst einen Schreiber fand, würde er aus purer Langeweile sterben.
200 Pfund Weizenmehl, notierte er, für die Gefangenen. Sechs Fässer Bier für die Wachsoldaten. Seine elegante Handschrift wurde bald von einem knappen Gekritzel abgelöst, seine ausgefeilte Unterschrift von einem kurzen J. Grey.
Seufzend legte er die Feder beiseite, schloß die Augen und massierte den schmerzenden Punkt zwischen den Brauen. Tags zuvor waren seine Bücher eingetroffen, aber er hatte sie immer noch nicht ausgepackt, weil er am Abend so müde war, daß er nur noch seine brennenden Augen in kaltem Wasser hatte baden und sich zu Bett legen wollen.
Als er ein verhaltenes Geräusch vernahm, fuhr er hoch und riß die Augen auf. Auf einer Schreibtischecke saß eine große, braune Ratte und hielt ein Stück Pflaumenkuchen zwischen den Vorderpfoten.
»Verdammt, das darf doch nicht wahr sein!« rief Grey erstaunt aus. »He, du freches Ding, das ist mein Abendessen!«
Ungerührt knabberte die Ratte an dem Pflaumenkuchen und hielt dabei ihre glänzenden Knopfaugen auf Grey gerichtet.
»Verschwinde!« Zornig griff Grey nach dem nächstbesten Gegenstand und schleuderte ihn der Ratte entgegen. Das Tintenglas zerbarst auf dem Steinboden. Erschrocken ergriff das Tier die Flucht und sauste zwischen den Beinen des noch erschrockeneren MacKay hindurch, der, angelockt vom Lärm, in der Tür erschienen war.
»Gibt es im Gefängnis eine Katze?« fragte Grey, während er den Inhalt seines Abendessens in den Abfalleimer neben dem Schreibtisch schüttete.
»Aye, Sir, in den Vorratsräumen hat es mehrere«, erklärte MacKay. Auf Händen und Knien rutschte er rückwärts, um die kleinen, schwarzen Fußabdrücke wegzuwischen, die die Ratte bei ihrer überstürzten Flucht durch die Tintenpfütze hinterlassen hatte.
»Bringen Sie bitte eine her, MacKay«, wies Grey ihn an. »Auf der Stelle.« Er stöhnte, als er an den widerlich nackten Schwanz auf seinem Teller dachte. Natürlich waren ihm Ratten im Feld begegnet, aber daß eine sein Abendessen vor seinen Augen verspeiste, fand er besonders empörend.
Plötzlich durchzuckte ihn ein Gedanke.
»Gibt es in den Zellen viele Ratten?« fragte er MacKay.
»Aye, Sir, sehr viele«, antwortete der Gefangene und wischte abschließend die Türschwelle sauber. »Ich sage dem Koch, er soll Ihnen ein neues Tablett herrichten.«
»Wenn Sie so nett wären«, antwortete Grey. »Und bitte sorgen Sie dafür, MacKay, daß jede Zelle ihre eigene Katze bekommt.«
MacKay war leicht verdutzt über diese Worte. Grey sah von seinen Papieren auf.
»Ist was nicht in Ordnung, MacKay?«
»Nein, Sir«, erwiderte MacKay langsam. »Es ist nur, die kleinen braunen Biester fressen die Käfer. Entschuldigen Sie, Sir, ich glaube, den Männern wäre es nicht recht, wenn eine Katze ihre Ratten frißt.«
Grey starrte den Mann an und bekam ein flaues Gefühl im Magen.
»Essen die Gefangenen die Ratten?« fragte er verstört.
»Nur wenn sie eine erwischen, Sir«, entgegnete MacKay. »Aber vielleicht können ihnen die Katzen dabei helfen. Ist das alles für heute abend, Sir?«
Ferne Ufer
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