20
Diagnose
Joe Abernathy saß an seinem Schreibtisch und
blickte mit gerunzelter Stirn auf ein kleines, blasses Kärtchen,
das er in der Hand hielt.
»Was ist das?« fragte ich, während ich mich
ungezwungen auf seine Schreibtischkante hockte.
»Eine Visitenkarte.« Amüsiert und gleichzeitig
verärgert reichte er sie mir herüber.
Sie war aus geripptem, teurem Karton und mit einer
eleganten Serifenschrift bedruckt. Muhammad Ismael Shabazz
III. stand in der ersten Zeile, darunter Adresse und
Telefonnummer.
»Lenny heißt jetzt Muhammad Ismael Shabazz der
Dritte?« fragte ich lachend.
Joes Humor behielt offensichtlich die Oberhand,
denn sein Goldzahn blitzte auf, als er die Karte zurücknahm. »Er
sagt, er will den Namen des weißen Mannes, diesen Sklavennamen,
nicht mehr tragen. Er will sein afrikanisches Erbe einfordern.« Joe
grinste zynisch. »›Gut‹, sage ich. ›Willst du dir einen Knochen
durch die Nase ziehen?‹ frage ich ihn.«
Joe wies auf sein Fenster mit der heißbegehrten
Aussicht auf den Park. »Ich sage ihm: ›Schau dich doch mal um, mein
Sohn! Siehst du hier Löwen? Ist das hier Afrika?‹« Resigniert
schüttelte er den Kopf. »Aber mit einem Jungen in seinem Alter kann
man ja nicht reden.«
»Das stimmt«, entgegnete ich. »Aber was soll das
heißen, ›der Dritte‹?«
Bei seiner Antwort grinste Joe. »Das bezieht sich
auf die ›verlorene Kultur‹, die ›fehlende Geschichte‹. ›Ich will
den Kopf hoch tragen können, wenn ich nach Yale komme‹, hat er
gesagt. ›Aber
wie kann ich das, wenn ich dort auf einen Kerl stoße, der
Cadwallader IV. oder Sewell Lodge junior heißt, und ich kenne nicht
mal den Namen meines Großvaters, weiß nicht, wo ich herkomme?
‹«
Joe schnaubte. »›Wenn du nicht weißt, wo du
herkommst‹, sage ich ihm, ›schau in den Spiegel. Die
Mayflower hatte nichts damit zu tun, was?‹«
Grinsend nahm er die Karte wieder auf.
»Er meint, wenn ihm sein Großvater keinen Namen
gegeben hat, muß er seinem Großvater einen geben. Daraus entsteht
nur ein Problem: Ich stehe dazwischen. Damit Lenny sich als stolzer
Afroamerikaner fühlen kann, muß ich mich jetzt Muhammad Ismael
Shabazz junior nennen.« Er lehnte sich zurück und starrte anklagend
auf die blaßgraue Karte.
»Du hast Glück, Lady Jane - Brianna wird dich wohl
kaum über ihren Großvater löchern. Du mußt dir also nur Sorgen
machen, ob sie Drogen nehmen wird oder sich von einem
Wehrdienstverweigerer auf der Flucht nach Kanada schwängern
läßt.«
Bitter lachte ich auf. »Das glaubst du!« wandte ich
ein.
»Ach ja?« Er sah mich neugierig an. Dann nahm er
seine Brille ab und putzte sie mit dem Zipfel seines Schlipses.
»Wie war es in Schottland? Hat es Brianna gefallen?«
»Sie ist noch da«, erklärte ich, »und sucht nach
ihren Wurzeln.«
Joe öffnete gerade den Mund zu einer Frage, als es
leise an der Tür klopfte.
»Dr. Abernathy?« Ein korpulenter junger Mann in
einem Polohemd spähte zweifelnd in den Raum. Vor dem runden Bauch
trug er einen großen Karton.
»So nennt mich denn Ismael«, entgegnete Joe
leutselig.
»Was?« Dem jungen Mann blieb verdutzt der Mund
offenstehen. Dann sah er mich hilfesuchend an. »Sind Sie Dr.
Abernathy?«
»Nein«, entgegnete ich. »Das ist er - so er will.«
Ich stand auf und strich mir den Rock glatt. »Du hast wohl eine
Verabredung, Joe. Aber wenn du später für mich Zeit hättest
-«
»Nein, bleib, Lady«, unterbrach er mich. Er nahm
dem jungen Mann den Karton ab und schüttelte ihm die Hand. »Sie
müssen Mr. Thompson sein. John Wicklow hat Sie schon angekündigt.
Schön, Sie kennenzulernen!«
»Horace Thompson, ja. Ich habe das, äh, das
fragliche Exemplar, äh, mitgebracht…« Er wies auf den Karton.
»Gut. Ich sehe es mir gerne an. Dr. Randall hier
kann uns sicher auch weiterhelfen.« Mit schelmisch glitzernden
Augen blinzelte er mir zu. »Ich würde nämlich gern wissen, ob du es
bei einem Skelett auch kannst, Lady.«
»Ob ich was kann?« Aber Joe griff schon in den
Karton und nahm vorsichtig einen Schädel heraus.
»Wie hübsch!« sagte er, während er ihn prüfend hin-
und herdrehte.
»Hübsch«, hätte ich ihn nicht gerade genannt, denn
der Schädel war fleckig und verfärbt. Joe ging damit ans Fenster,
hielt ihn ins Licht und strich mit dem Daumen zärtlich über die
scharfen Kanten der Augenhöhlen.
»Eine hübsche Dame«, sagte er leise, eher zu dem
Schädel als zu Horace Thompson gewandt. »Ausgewachsenes, reifes
Exemplar von Ende Vierzig, vielleicht Anfang Fünfzig. Haben Sie
auch die Beine?«
»Ja, hier. Wir haben den ganzen Körper.«
Anscheinend kam Horace Thompson vom
Untersuchungsrichter, der von Amts wegen gewaltsame Todesfälle
untersucht. Manchmal wandten sich dessen Mitarbeiter an Joe,
brachten ihm verweste und verstümmelte Leichen, die sie irgendwo im
Lande gefunden hatten, und baten ihn um ein Gutachten zur
Todesursache. Dieses Exemplar sah wirklich reichlich mitgenommen
aus.
»Hier, Lady.« Joe beugte sich nach vorn und legte
mir vorsichtig den Schädel in die Hände. »Sag mir, ob die Dame
gesund war! Ich untersuche derweilen die Beine.«
»Ich? Mit Gerichtsmedizin kenne ich mich nicht
aus!« Aber schon hatte ich mich über das Fundstück gebeugt. Es war
entweder sehr alt oder extremen Wetterbedingungen ausgesetzt
gewesen, denn die Knochen schimmerten wie glatt poliert, was bei
neueren praktisch nie vorkam. Die Flecken und die braunen
Verfärbungen mußten von Erdpigmenten stammen.
»Na gut.« Langsam drehte ich den Schädel in den
Händen und betrachtete die Knochen.
Wunderschöne gerade und hohe Wangenknochen. Im
Oberkiefer waren fast noch alle Zähne erhalten - ebenmäßig und
weiß.
Tiefliegende Augen. Der geschwungene Knochen unten in der
Augenhöhle lag im Schatten, selbst wenn ich den Schädel auf die
Seite drehte und ins Licht hielt. Der Kopf erschien mir zart und
zerbrechlich.
In einer plötzlichen Anwandlung preßte ich den
Schädel an den Bauch und schloß die Augen. Mit einemmal spürte ich
Trauer durch ihn hindurchströmen wie Wasser. Und ein schwaches,
eigenartiges Gefühl von - Überraschung vielleicht?
»Sie wurde umgebracht«, sagte ich. »Und sie hat
sich gewehrt.« Als ich die Augen öffnete, sah ich, daß mich Horace
Thompson ratlos anstarrte. Behutsam reichte ich ihm den Totenkopf.
»Wo wurde sie gefunden?«
Mr. Thompson warf Joe einen Blick zu. »In der
Karibik in einer Höhle«, sagte er. »Neben einem Haufen anderer
Dinge. Wir schätzen sie auf hundertfünfzig bis zweihundert
Jahre.«
»Wie bitte?«
Joe grinste übers ganze Gesicht.
»Unser Mr. Thompson kommt von der ethnologischen
Fakultät der Universität Harvard«, erklärte er. »Mr. Wicklow, sein
Kollege, ist ein Freund von mir und hat mich gebeten, mir dieses
Skelett anzusehen und ein Urteil abzugeben.«
»Du Schuft«, warf ich ihm an den Kopf. »Und ich
habe gedacht, es handelt sich um ein unbekanntes Opfer aus dem Büro
des Untersuchungsrichters.«
»Nun, unbekannt ist sie«, erklärte Joe, »und
wahrscheinlich wird sie es auch bleiben.« Dann wandte er seine
Aufmerksamkeit wieder dem Karton zu, den er durchsuchte wie ein
Terrier den Fuchsbau.
»Was haben wir denn da?« Vorsichtig zog er einen
Plastikbeutel heraus, der einen Haufen einzelner Rückenwirbel
enthielt.
»Sie war zerfallen, als wir sie fanden«, erklärte
Horace Thompson.
Leise vor sich hin summend, legte Joe die
Rückenwirbel in der richtigen Anordnung auf seinem Schreibtisch
aus. »Den Kopfwirbel an den Nackenwirbel«, sang er leise. »Den
Nackenwirbel an den Rückenwirbel.« Gezielt griff er sich die
richtigen Teile heraus und fügte einen Knochen an den anderen. »So,
da hätten wir’s!« beendete er triumphierend sein Werk.
»Aber hier, sieh dir das mal an!« rief er. »Du hast
wohl den siebten Sinn, Lady?«
Ich kam seiner Aufforderung nach und neigte mich
neben Horace Thompson über die stacheligen Wirbel. In der breiten
Wölbung des zweiten Halswirbels klaffte ein tiefer Riß; der oberste
Gelenkfortsatz war sauber durchtrennt, und der Schnitt lief mitten
durch das Zentrum des Knochens.
»Hat sie sich das Genick gebrochen?« fragte Horace
Thompson interessiert.
»Ja, und Schlimmeres, glaube ich.« Joe strich mit
dem Finger über den Riß. »Hier, der Knochen ist nicht gebrochen,
sondern wurde an dieser Stelle durchtrennt. Jemand hat versucht,
der Dame den Kopf abzuschneiden. Mit einer stumpfen Klinge.«
Horace Thompson warf mir einen sonderbaren Blick
zu. »Woher wußten Sie, daß sie umgebracht wurde, Dr.
Randall?«
Ich spürte, daß ich rot wurde. »Keine Ahnung. Ich…
ich hatte einfach das Gefühl.«
»Wirklich?« Er blinzelte verwirrt, hakte aber nicht
nach.
»Dr. Randall macht das immer so«, informierte ihn
Joe, der begonnen hatte, die Oberschenkel mit einem Greifzirkel
abzumessen. »Allerdings meist bei lebenden Patienten. Die beste
Diagnostikerin, die ich kenne.« Er legte den Zirkel aus der Hand
und nahm ein kleines Plastiklineal. »In einer Höhle, sagten
Sie?«
»Wir glauben, es war… äh, ein geheimes
Bestattungsritual von Sklaven«, erklärte Mr. Thompson, während er
rot anlief. Plötzlich wurde mir klar, warum er so bestürzt gewesen
war, als er merkte, wer dieser Dr. Abernathy war.
»Nein, das war keine Sklavin«, sagte er.
Thompson blinzelte. »Aber das muß sie. All die
Sachen, die wir bei ihr gefunden haben… eindeutig afrikanischer
Einfluß…«
»Nein«, wiederholte Joe ungerührt und gab dem
Schenkelknochen einen Stoß. »Das war keine Schwarze.«
»Können Sie das wirklich feststellen? Anhand der
Knochen?« Horace Thompson war ganz aufgelöst. »Aber ich dachte…
diese Studie von Jensen, ich meine… diese Theorien über die
Unterschiede im Körperbau der einzelnen Rassen… das ist doch
weitgehend widerlegt«, stammelte er, knallrot im Gesicht.
»Oh, weit gefehlt«, unterbrach ihn Joe trocken.
»Von mir aus
dürfen Sie gerne denken, daß Weiße und Schwarze unter der Haut
gleich sind. Aber wissenschaftlich haltbar ist das nicht.« Er
wandte sich um und zog ein Buch aus dem Regal. Aufstellung der
anatomischen Abweichungen im Skelettbau lautete der
Titel.
»Hier können Sie es nachlesen«, bot Joe ihm an.
»Die Unterschiede zeigen sich in vielen Teilen des Knochenbaus,
aber am deutlichsten im Verhältnis von Ober- und Unterschenkel. Und
diese Dame hier…« - er wies auf die Gebeine auf dem Tisch - »war
weiß. Das steht außer Frage.«
»Oh!« staunte Horace Thompson. »Da muß ich erst mal
nachdenken… Das heißt, vielen Dank für Ihre Mühe. Sehr freundlich
von Ihnen.« Dabei verbeugte er sich ungeschickt. Schweigend sahen
wir zu, wie er die Gebeine wieder in seinen Karton räumte. Dann
eilte er davon.
Joe lachte, als die Tür hinter dem Mann ins Schloß
fiel. »Wollen wir wetten, daß er sie für ein zweites Gutachten bei
Rutgers vorbeibringt?«
»Ein Akademiker tut sich schwer, eine Theorie
aufzugeben«, stellte ich achselzuckend fest. »Ich habe lange genug
mit einem zusammengelebt.«
Joe schnaubte. »Dann wollen wir Mr. Thompson und
seine Dame mal abhaken. Aber was kann ich für dich tun,
Lady?«
Ich holte tief Luft und wandte mich zu ihm
um.
»Ich möchte deine ehrliche Meinung hören, denn bei
dir kann ich mich ja wohl darauf verlassen, daß du objektiv bist.
Nein«, verbesserte ich mich dann rasch. »Ich brauche deine Meinung,
und dann will ich dich - je nachdem, wie sie ausfällt - um einen
Gefallen bitten.«
»Kein Problem«, versicherte mir Joe. »Ich bin
berühmt für meine Meinungen.« Er zog seinen Stuhl an den
Schreibtisch, nahm seine goldgerahmte Brille auf und schob sie sich
resolut auf die Nase. Dann verschränkte er die Arme. »Schieß
los!«
»Bin ich begehrenswert?« fragte ich. Joes Augen,
deren warmes Goldbraun mich immer an Sahnebonbons erinnerte, wurden
rund wie Teetassen. Dann musterte er mich eingehend von oben bis
unten.
»Das ist eine Fangfrage, stimmt’s?« wollte er
wissen. »Und wenn ich antworte, springt eine Feministin hinter der
Tür hervor,
beschimpft mich als chauvinistisches Sexistenschwein und haut mir
ein Schild, auf dem ›Schwanz ab!‹ steht, über den Schädel.«
»Nein«, erwiderte ich. »Ich wäre sogar dankbar,
wenn du aus der Sicht eines Chauvis antwortest.«
»Also gut: Mageres weißes Frauenzimmer, zu viele
Haare, aber ein toller Arsch. Und ein fabelhafter Busen«, fügte er
mit einem freundlichen Nicken hinzu. »War es das, was du wissen
wolltest?«
»Ja, danke«, erwiderte ich und atmete endlich aus.
»Genau das war’s. Eine Frage, die man nicht jedem stellen
kann.«
Er schürzte die Lippen zu einem stummen Pfiff. Dann
warf er den Kopf zurück und brach in schallendes Gelächter
aus.
»Lady Jane! Du hast dir jemanden angelacht!«
Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen stieg,
versuchte jedoch, mich nicht aus der Fassung bringen zu lassen.
»Das weiß ich noch nicht. Vielleicht. Nur vielleicht.«
»Vielleicht. Mein Gott, solch einen Witz hab’ ich
mein Lebtag noch nicht gehört! Mein Gott, Lady, das wurde aber auch
Zeit.«
»Würdest du freundlicherweise mit dem Gegacker
aufhören«, beschwerte ich mich. »Das gehört sich nicht für einen
Mann in deinem Alter und in deiner Stellung!«
»In meinem Alter? Oho!« Er warf mir einen
vielsagenden Blick zu. »Er ist also jünger als du? Machst du dir
deshalb Sorgen?«
»Nicht unbedingt. Aber ich habe ihn seit zwanzig
Jahren nicht mehr gesehen. Du bist der einzige, der mich seit
vielen Jahren kennt. Habe ich mich in dieser Zeit sehr
verändert?«
Erneut musterte er mich vom Scheitel bis zur
Sohle.
»Nein«, antwortete er. »Du hast nicht mal
zugenommen.«
»Stimmt.« Ich sah auf meine Hände, die
zusammengekrampft in meinem Schoß lagen. Schmale Handgelenke; nein,
dick war ich nicht. Im Licht der Herbstsonne, das durch das Fenster
fiel, funkelten meine beiden Hochzeitsringe.
»Briannas Vater?« fragte Joe leise.
Überrascht blickte ich auf. »Woher weißt du
das?«
Er schmunzelte. »Wie lange kenne ich Brianna schon?
Seit zehn Jahren mindestens.« Er schüttelte den Kopf. »Sie hat viel
von dir, Claire. Aber von Frank hat sie nicht das geringste. Ihr
Vater hat rote Haare und ist ein langes Elend, oder alles, was ich
in Genetik gelernt habe, war gelogen.«
»Ja.« Dieses schlichte Eingeständnis bereitete mir
ein ungeheures Vergnügen. Bevor ich Brianna und Roger eingeweiht
hatte, hatte ich zwanzig Jahre lang nicht von Jamie sprechen
dürfen. Plötzlich über ihn reden zu können war unheimlich
aufregend.
»Ja, er ist groß und rothaarig. Und Schotte.«
Wieder rundeten sich Joes Augen vor Staunen.
»Und Brianna ist in Schottland geblieben?«
Ich nickte. »Ja. Um Brianna geht es auch bei dem
Gefallen, um den ich dich bitten möchte.«
Zwei Stunden später fuhr ich vom Parkplatz des
Krankenhauses. Es war ein Abschied für immer. Zurück ließ ich mein
Kündigungsschreiben, adressiert an die Krankenhausverwaltung, alle
notwendigen Unterlagen zur Verwaltung meines Eigentums bis zu
Briannas Volljährigkeit und Urkunden, in denen ich meinen Besitz an
Brianna übertrug. Als ich den Wagen startete, verspürte ich eine
Mischung aus Panik, Bedauern und Freude. Den ersten Schritt hatte
ich getan.