46
Die Porpoise
Seit einiger Zeit schon hatte ich bemerkt, daß Marsali versuchte, ihren Mut zusammenzunehmen und mit mir zu sprechen. Damit hatte ich ohnehin gerechnet, denn ganz gleich, was sie für mich empfinden mochte, ich war neben ihr die einzige Frau an Bord. Ich tat mein Bestes, sie zu ermutigen, indem ich sie freundlich anlächelte und »Guten Morgen« sagte, aber der erste Schritt mußte von ihr kommen.
Einen Monat nach unserer Abreise aus Schottland tat sie ihn schließlich.
Ich saß in unserer Kajüte und machte mir Aufzeichnungen zu einer kleinen Amputation, die ich vorgenommen hatte - ein Matrose auf dem Vorderdeck hatte sich zwei Zehen zerquetscht. Ich hatte gerade eine Skizze des Eingriffs fertiggestellt, als ein Schatten den Kajüteneingang verdunkelte. Ich blickte auf und sah Marsali dort stehen, das Kinn kampfeslustig vorgereckt.
»Ich muß etwas wissen«, erklärte sie mit Nachdruck. »Ich mag dich nicht, und ich denke, das weißt du auch.« Offenbar betrachtete sie mich immerhin als Familienmitglied, so daß sie das vertrauliche Du für angebracht hielt. »Aber Papa sagt, du bist eine weise Frau, und ich glaube, du bist aufrichtig, auch wenn du eine Hure bist, also sagst du es mir vielleicht.«
Auf diese bemerkenswerte Aussage wären verschiedene Antworten möglich gewesen, doch ich übte mich in Zurückhaltung.
»Kann sein.« Ich legte die Feder weg. »Was willst du denn unbedingt wissen?«
Da ich offensichtlich nicht wütend war, trat sie ein und ließ sich auf einem Hocker nieder.
»Es geht um Kinder«, erklärte sie. »Wie man sie bekommt.«
Ich zog die Brauen hoch. »Hat dir deine Mutter denn nicht gesagt, woher die kleinen Kinder kommen?«
Sie schnaubte ungeduldig und entgegnete mit verächtlichem Stirnrunzeln: »Natürlich weiß ich das! Das weiß doch jeder Dummkopf. Du läßt einen Mann seinen Schwanz zwischen deine Beine stecken, und neun Monate später bezahlst du die Rechnung. Nein, ich will wissen, wie man sie nicht bekommt.«
»Verstehe.« Ich betrachtete sie neugierig. »Du willst kein Kind?…. Ah, sobald du rechtmäßig verheiratet bist, meine ich? Die meisten jungen Frauen denken da anders.«
»Na ja«, entgegnete sie bedächtig und verdrehte einen Zipfel ihres Kleides. »Ich glaube, ich möchte vielleicht später mal ein Kind. Einfach, um ein Kind zu haben. Wenn es so schwarze Haare hätte wie Fergus.« Ihr Gesicht nahm einen verträumten Ausdruck an, aber dann wurden ihre Züge wieder hart.
»Aber ich kann nicht«, sagte sie.
»Warum nicht?«
Nachdenklich verzog sie den Mund. »Wegen Fergus. Wir haben noch nicht beieinander gelegen. Nichts als Küsse hinter einem Lukendeckel - das haben wir Papa zu verdanken und seinen verdammten Grundsätzen«, fügte sie bitter hinzu.
»Amen«, bemerkte ich mit gequälter Miene.
»Wie bitte?«
»Vergiß es.« Ich tat die Bemerkung mit einer Handbewegung ab. »Was hat das damit zu tun, daß du kein Kind willst?«
»Ich möchte, daß es mir gefällt«, erklärte sie sachlich, »wenn er bei mir liegt.«
Ich biß mir auf die Lippen.
»Ich… ich könnte mir vorstellen, daß Fergus einen gewissen Einfluß darauf hat, aber was das nun mit den Kindern zu tun haben soll, verstehe ich nicht ganz.«
Marsali musterte mich abschätzend.
»Fergus mag dich«, sagte sie.
»Ich ihn auch«, entgegnete ich vorsichtig, da ich mir nicht ganz sicher war, worauf sie hinauswollte. »Ich kenne ihn schon ziemlich lange - seit er ein kleiner Junge war.«
Plötzlich wich ihre Nervosität, und ihre schmalen Schultern entspannten sich etwas.
»Oh. Dann weißt du es also - wo er geboren wurde?«
Plötzlich begriff ich ihre Zurückhaltung.
»In einem Bordell in Paris? Ja, darüber weiß ich Bescheid. Er hat es dir also gesagt?«
»Aye, schon vor langer Zeit, letztes Silvester.« Nun, für eine Fünfzehnjährige war ein Jahr eben eine kleine Ewigkeit.
»Da habe ich ihm gestanden, daß ich ihn liebe«, fuhr sie fort. Sie senkte den Blick, und eine leichte Röte überzog ihre Wangen. »Und er hat gesat, daß er mich auch liebt, aber meine Mutter würde mir niemals erlauben, ihn zu heiraten. Und ich sagte, warum nicht, so schlimm ist es doch auch wieder nicht, wenn man Franzose ist, es kann eben nicht jeder Schotte sein, und das mit seiner Hand würde doch bestimmt niemanden stören - schließlich hat Mr. Murray auch ein Holzbein, und ihn kann Mutter gut leiden -, aber dann sagte er, nein, darum ginge es nicht, und dann erzählte er mir von Paris - daß er in einem Bordell geboren wurde, meine ich, und Taschendieb war, bis er Papa getroffen hat.«
Ihre hellblauen Augen blickten ungläubig. »Er hat wohl gedacht, daß es mir etwas ausmacht«, meinte sie verwundert. »Er wollte fortgehen und mich nie wiedersehen…« Sie zuckte die Achseln und warf ihr Haar nach hinten. »Das habe ich ihm bald ausgeredet.« Dann sah sie mich offen an.
»Ich wollte es nur nicht erwähnen für den Fall, daß du es noch nicht weißt. Aber da du es weißt… nein, ich mache mir nicht wegen Fergus Sorgen. Er sagt, er weiß, wie’s geht, und es würde mir nach den ersten paar Malen gut gefallen. Aber Mama hat mir etwas anderes erzählt.«
»Was hat sie denn gesagt?« fragte ich neugierig.
Zwischen ihren hellen Brauen entstand eine Falte. »Na ja«, begann sie zögernd, »es ist weniger das, was sie gesagt hat - obwohl sie durchaus etwas gesagt hat, als ich ihr von Fergus und mir erzählte - daß er mir schreckliche Dinge antun würde, weil er mit Huren gelebt hat und seine Mutter auch eine war. Aber schlimmer war, wie sie sich verhalten hat.«
Sie war nun hochrot im Gesicht, wagte nicht aufzublicken und vergrub ihre Hände in den Falten ihres Rocks.
»Als ich das erstemal geblutet habe, hat sie gesagt, es sei eben der Fluch Evas, damit müßte ich mich abfinden. Und ich fragte, was ist denn der Fluch Evas? Da las sie mir aus der Bibel vor, wo der heilige Paulus schreibt, daß Frauen elende Sünderinnen wären, wegen Evas Tat, aber sie könnten trotzdem selig werden, wenn sie Kinder gebären.«
»Vom heiligen Paulus habe ich noch nie viel gehalten«, sagte ich, und sie sah mich verblüfft an.
»Aber der steht doch in der Bibel!« entgegnete sie schockiert.
»Da steht noch so einiges«, bemerkte ich trocken. »Kennst du vielleicht die Geschichte von Gideon und seiner Tochter? Oder von dem Kerl, der seine Frau einer Horde von Raufbolden ausgeliefert hat, die sie zu Tode vergewaltigt haben, nur damit er seine eigene Haut retten konnte? Das waren Gottes Auserwählte, wie Paulus. Aber sprich weiter.«
Sie starrte mich mit offenem Mund an, doch dann faßte sie sich wieder und nickte.
»Aye. Mutter sagte, ich sei nun fast alt genug zum Heiraten, und wenn ich erst verheiratet sei, müßte ich daran denken, daß es die Pflicht einer Frau ist zu tun, was ihr Mann verlangt, ob es ihr nun gefällt oder nicht. Da hat sie so traurig ausgesehen, als sie das sagte… Ich dachte, die Pflicht einer Frau, was immer das sein mag, muß schrecklich sein, und nach dem, was der heilige Paulus übers Leiden und Kinderkriegen sagt…«
Sie hielt inne und seufzte. Ich saß ruhig da und wartete. Dann sprach sie zögernd weiter, als müßte sie erst nach den rechten Worten suchen.
»An meinen Vater kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich war erst drei, als ihn die Engländer holten. Aber ich war alt genug, als meine Mutter - Jamie heiratete, da konnte ich sehen, wie es zwischen ihnen stand.« Sie biß sich auf die Lippen; offenbar war sie es nicht gewohnt, Jamie beim Vornamen zu nennen.
»Papa - Jamie, meine ich - ist ein guter Mensch, zu Joan und mir war er immer nett. Aber wenn er seine Hand um die Taille meiner Mutter legte und sie an sich ziehen wollte - da ist sie vor ihm zurückgezuckt. Mir war klar, daß sie Angst hatte«, fuhr Marsali nach kurzem Schweigen fort. »Sie wollte nicht, daß er sie anfaßt. Aber er hat nie etwas getan, weswegen man sich fürchten mußte, zumindest nicht vor unseren Augen - deswegen dachte ich, es muß etwas sein, was er im Bett mit ihr macht, wenn sie allein sind. Joan und ich haben uns gefragt, was das sein mag. Mama hatte nie blaue Flecken im Gesicht oder an den Armen, und sie humpelte auch nicht - nicht wie Magdalen Wallace, die immer von ihrem Mann geschlagen wird, wenn er am Markttag betrunken heimkommt - also hat Papa sie bestimmt nicht geschlagen.«
Marsali fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, die von der warmen, salzigen Brise ausgetrocknet waren. Ich schob ihr einen Wasserkrug hin. Sie bedankte sich mit einem Nicken und schenkte sich ein.
»Also dachte ich«, fuhr sie fort, den Blick auf den Wasserstrahl geheftet, »daß es daran liegt, daß Mama Kinder hat - uns beide -, sie wußte, wie schrecklich es wieder sein würde.«
Sie trank, dann setzte sie den Becher ab, sah mich offen an und reckte herausfordernd ihr Kinn.
»Ich habe euch beobachtet«, sagte sie. »Nur einen Augenblick, bevor ihr mich gesehen habt. Ich… ich glaube, was er mit dir im Bett gemacht hat, gefiel dir.«
Nun war es an mir, sie mit offenem Mund anzustarren.
»Hm… ja«, entgegnete ich matt. »Es hat mir gefallen.«
Sie brummelte zufrieden. »Mmmpf. Und du läßt dich auch gern von ihm anfassen, das habe ich auch gesehen. Also gut. Du hast keine Kinder. Und ich habe gehört, daß es Mittel gibt, keine zu bekommen. Niemand weiß so recht, wie es geht, aber du weißt es bestimmt, du bist eine weise Frau.«
Sie neigte ihren Kopf zur Seite und musterte mich eindringlich.
»Ich hätte gern ein Kind«, gab sie schließlich zu. »Aber wenn ich entweder ein Kind haben oder Fergus weiter lieben kann, dann wähle ich Fergus. Also kriege ich kein Kind - wenn du mir sagst, was ich tun muß.«
Ich strich mir die Locken hinter die Ohren und fragte mich, womit in aller Welt ich anfangen sollte.
»Nun gut«, begann ich und holte tief Luft, »der erste Punkt ist, ich habe durchaus Kinder gehabt.«
Sie schaute mich aus großen Augen an.
»Wirklich? Weiß Papa - weiß Jamie davon?«
»Natürlich weiß er es«, entgegnete ich spitz. »Es waren seine.«
»Ich habe nie gehört, daß Papa überhaupt Kinder hat.« Mißtrauisch verengten sich ihre hellen Augen.
»Wahrscheinlich war er der Ansicht, daß es dich nichts angeht«, bemerkte ich vielleicht ein bißchen schärfer als notwendig. »Und das würde ich auch sagen«, fügte ich hinzu, aber sie zog nur die Brauen hoch und sah immer noch mißtrauisch aus.
»Das erste Kind ist gestorben«, sagte ich schließlich und streckte die Waffen. »In Frankreich. Sie ist dort begraben. Meine - unsere zweite Tochter ist inzwischen erwachsen. Sie wurde nach Culloden geboren.«
»Also hat er sie nie gesehen? Die erwachsene Tochter?« fragte Marsali nachdenklich.
Ich schüttelte den Kopf, da meine Stimme versagte. Ein Kloß steckte mir im Hals, und ich griff nach dem Wasser. Marsali schob mir geistesabwesend den Krug zu.
»Das ist wirklich traurig«, sagte sie leise für sich. Dann blickte sie auf und sah mich aufmerksam an.
»Also hast du Kinder gehabt, und bei dir hat es keinen Unterschied gemacht? Mmmpf. Aber das ist schon lange her, und… hast du eigentlich andere Männer gehabt, während du in Frankreich warst?« Sie schob die Unterlippe vor, so daß sie Ähnlichkeit mit einer kleinen, halsstarrigen Bulldogge hatte.
»Das«, entgegnete ich mit Nachdruck und stellte den Becher ab, »geht dich nun wirklich nichts an. Was die Frage betrifft, ob die Geburt einen Unterschied macht - wahrscheinlich ist es für manche Frauen so, aber nicht für alle. Doch abgesehen davon gibt es gute Gründe dafür, nicht sofort ein Kind zu wollen.«
Ihr Gesicht entspannte sich, und sie sah mich interessiert an.
»Also kennst du ein Mittel?«
»Es gibt verschiedenen Möglichkeiten, nur leider helfen die meisten nicht.« In diesem Augenblick sehnte ich meinen Rezeptblock und die Zuverlässigkeit der Antibabypille herbei. Doch ich erinnerte mich auch noch gut an die Ratschläge der maîtresses sagesfemmes, der erfahrenen Hebammen im Hôpital des Anges in Paris, wo ich vor zwanzig Jahren gearbeitet hatte.
»Gib mir den kleinen Kasten aus dem Schrank dort drüben«, sagte ich und deutete auf die Türen über Marsalis Kopf. »Ja, diesen.«
»Manche Hebammen in Frankreich empfehlen einen Tee aus Gagel und Baldrian«, sagte ich, während ich in meinem Medizinkasten kramte. »Aber das ist ziemlich gefährlich und nicht besonders zuverlässig, würde ich sagen.«
»Vermißt du sie?« fragte Marsali unvermittelt. Verblüfft blickte ich auf. »Deine Tochter?« Ihr Gesicht war unnatürlich ausdruckslos, und ich vermutete, daß die Frage mehr mit Laoghaire als mit mir zu tun hatte.
»Ja«, erwiderte ich schlicht. »Aber sie ist jetzt erwachsen. Sie führt ihr eigenes Leben.« Der Klumpen in meiner Kehle kehrte wieder, und ich beugte mich über den Medizinkasten, um mein Gesicht zu verbergen. Die Aussichten, daß Laoghaire Marsali je wiedersehen würde, waren nicht viel besser als meine, Brianna wiederzusehen.
»Hier.« Ich zog einen großen, gereinigten Schwamm heraus, nahm eins der scharfen Messer aus der Halterung im Deckel des Kastens und schnitt sorgfältig mehrere dünne Stücke mit einem Durchmesser von etwa acht Zentimetern ab. Wieder suchte ich in meinem Kasten, bis ich das Fläschchen mit dem Gänsefingerkrautöl fand. Unter Marsalis erstaunten Blicken tränkte ich einen Schwamm damit.
»Gut«, sagte ich. »Diese Menge Öl brauchst du. Wenn du kein Öl hast, kannst du den Schwamm auch in Essig tauchen - notfalls würde sogar Wein gehen. Den kleinen Schwamm steckst du dir rein, bevor du mit einem Mann ins Bett gehst.«
Marsali nickte mit großen Augen und stupste den Schwamm sachte an. »Aye? Und - und danach? Muß ich ihn gleich wieder rausholen oder -«
Ein jäher Ruf von oben setzte unserem Gespräch ein Ende. Die Artemis legte sich plötzlich auf die Seite - die Hauptsegel wurden gewendet. Da oben stimmte etwas nicht.
»Das sage ich dir später.« Ich schob Marsali den Schwamm und das Fläschchen hin und stürzte auf den Gang hinaus.
Jamie stand neben dem Kapitän auf dem Achterdeck und beobachtete ein großes Schiff, das auf uns zuhielt. Es war ein Dreimaster, etwa dreimal so groß wie die Artemis, mit einem regelrechten Wald aus Takelage und Segeln, durch den schwarze Gestalten hüpften wie Flöhe auf einem Bettlaken. Eine weiße Rauchwolke zog hinter dem Kriegsschiff her - offenbar war vor kurzem eine Kanone abgefeuert worden.
»Schießen die auf uns?« fragte ich erstaunt.
»Nein«, entgegnete Jamie grimmig. »Das ist nur ein Warnschuß. Sie wollen uns entern.«
»Können die das?« Ich richtete meine Frage an Kapitän Raines, der noch bedrückter als sonst aussah.
»Das können sie«, sagte er. »Bei einer so steifen Brise wie jetzt, können wir ihr auf offener See nicht davonsegeln.«
»Was für ein Schiff ist das?« Die Flagge, die oben am Mast wehte, sah gegen die Sonne tiefschwarz aus.
Jamie sah mich ausdruckslos an. »Ein britisches Kriegsschiff, Sassenach. Vierundsiebzig Kanonen. Vielleicht solltest du lieber nach unten gehen.«
Das war keine gute Nachricht. Der Krieg zwischen Großbritannien und Frankreich war inzwischen beendet, doch die Beziehungen zwischen beiden Ländern konnte man keinesfalls als freundschaftlich bezeichnen. Die Artemis war zwar bewaffnet, hatte aber nur vier Zwölfpfundkanonen. Das reichte aus, um kleine Piratenschiffe abzuschrecken, aber mit einem Kriegsschiff konnte sie es nicht aufnehmen.
»Was mögen sie von uns wollen?« fragte Jamie den Kapitän. Raines schüttelte den Kopf.
»Wahrscheinlich wollen sie Matrosen schanghaien«, antwortete er. »Sie haben zu wenig Leute. Das erkennt man an der Takelage, und das Vorderdeck sieht übel aus«, bemerkte er mißbilligend, ohne die Fregatte aus den Augen zu lassen, die bedrohlich auf uns zusteuerte. Er warf Jamie einen Blick zu. »Sie können jeden unserer Leute schanghaien, der wie ein Brite aussieht - und das ist ungefähr die Hälfte der Mannschaft. Auch Sie, Mr. Fraser - oder wollen Sie sich als Franzose ausgeben?«
»Verdammt«, sagte Jamie leise. Stirnrunzelnd sah er mich an. »Hab’ ich dir nicht gerade gesagt, du sollst runtergehen?«
»Hast du«, entgegnete ich, ohne mich vom Fleck zu rühren. Statt dessen trat ich näher zu ihm und beobachtete, wie von dem Kriegsschiff ein Beiboot zu Wasser gelassen wurde. Ein Offizier, dessen Hut und Rock mit goldener Litze aufgeputzt waren, kletterte an der Seite hinunter.
»Was passiert denn mit den britischen Matrosen, die sie in ihre Dienste pressen?« fragte ich.
»Sie müssen an Bord der Porpoise - so heißt das Schiff«, er deutete auf das Kriegsschiff, auf dem ein Tümmler als Galionsfigur prangte, »als Mitglieder der Königlichen Marine Dienst tun. Im nächsten Hafen werden die zwangsrekrutierten Seeleute dann wieder freigelassen - oder auch nicht.«
»Was? Sie meinen, die Briten können einfach Leute entführen und sie als Matrosen arbeiten lassen, solange es ihnen gefällt?« Jähe Furcht packte mich bei dem Gedanken, daß Jamie plötzlich mitgenommen werden könnte.
»Das können sie«, erklärte der Kapitän knapp. »Und wenn sie es tun, haben wir alle Hände voll zu tun, Jamaika zu erreichen - mit halber Besatzung.« Abrupt wandte er sich ab und trat nach vorn, um das ankommende Boot zu begrüßen.
»Innes und Fergus werden sie nicht nehmen«, sagte Jamie. »Sie werden dir bei der Suche nach Ian helfen. Wenn sie uns schanghaien…« - das Wort »uns« versetzte mir einen schmerzlichen Stich -, »begibst du dich zu Jareds Haus in Sugar Bay und suchst von da aus. Dort treffe ich dich.« Er drückte meinen Ellbogen, um mich zu ermutigen. »Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, aber ich komme zu dir.«
»Du könntst doch als Franzose durchgehen!« protestierte ich. »Das weißt du genau!«
Er sah mich an und schüttelte den Kopf.
»Nein«, entgegnete er leise. »Ich kann ihnen doch nicht meine Männer überlassen und selbst als Franzose getarnt zurückbleiben.«
»Aber -« Ich wollte einwenden, daß die schottischen Schmuggler keineswegs seine Leute waren, keinen Anspruch auf seine Loyalität hatten, aber dann hielt ich inne, weil ich merkte, daß es zwecklos war. Auch wenn die Schotten weder seine Pächter noch seine Verwandten waren - und einer von ihnen vielleicht auch noch ein Verräter -, so hatte er sie doch hierhergebracht und würde sie nicht im Stich lassen.
»Mach dir keine Sorgen, Sassenach«, sagte er leise. »Ich schlage mich schon durch, so oder so. Aber ich halte es für das beste, wenn wir jetzt unter dem Namen Malcolm auftreten.«
Er tätschelte meine Hand, ließ sie dann los und ging nach vorn, die Schultern gestrafft, um sich dem Kommenden zu stellen. Als das Beiboot längsseits kam, zog Kapitän Raines erstaunt die Brauen hoch.
»Gott steh uns bei, was ist das?« murmelte er, als ein Offizier den Kopf über die Reling streckte.
Es war ein junger Mann, höchstens Ende Zwanzig, mit verhärmtem Gesicht und vor Erschöpfung hängenden Schultern. Über seinem schmutzigen Hemd trug er eine Uniformjacke, die ihm zu groß war, und als sich das Deck der Artemis hob, geriet er ins Taumeln.
»Sind Sie der Kapitän dieses Schiffes?« Die Augen des Engländers waren vor Müdigkeit rotgerändert, aber er erkannte Kapitän Raines sofort inmitten der grimmig dreinblickenden Seeleute. »Ich bin Kapitän Leonard vom Schiff Seiner Majestät Porpoise. Um der Liebe Christi willen«, fragte er heiser, »haben Sie einen Arzt an Bord?«
 
Bei einem Glas Portwein, das man dem jungen Kapitän unwillig angeboten hatte, erklärte Thomas Leonard, daß auf der Porpoise vor etwa vier Wochen eine ansteckende Krankheit ausgebrochen war.
»Die Hälfte der Besatzung liegt darnieder«, sagte er und wischte sich einen Tropfen Wein vom unrasierten Kinn. »Bisher haben wir dreißig Mann verloren, und es sieht so aus, als würden wir noch viele mehr einbüßen.«
»Sie haben Ihren Kapitän verloren?« fragte Raines.
Leonards schmales Gesicht rötete sich. »Der Kapitän und seine beiden Stellvertreter sind letzte Woche gestorben, auch der Schiffsarzt und sein Maat sind nicht mehr am Leben. Ich war Unterleutnant.« Das erklärte sowohl seine erstaunliche Jugend als auch seine Nervosität. Plötzlich das Kommando über ein großes Schiff mit sechshundert Mann Besatzung zu übernehmen, auf dem eine Seuche ausgebrochen war, hätte jeden aus der Fassung gebracht.
»Wenn Sie jemanden an Bord haben, der medizinische Erfahrung besitzt…« Voller Hoffnung sah er erst Kapitän Raines, dann Jamie an, der mit skeptischer Miene am Schreibtisch stand.
»Ich bin die Schiffsärztin der Artemis, Kapitän Leonard«, sagte ich von meinem Platz an der Tür aus. »Welche Symptome haben Ihre Männer?«
»Sie?« Der junge Kapitän starrte mich an. Sein Mund stand vor Erstaunen offen.
»Meine Frau ist in der Heilkunst außergewöhnlich bewandert, Kapitän«, erklärte Jamie freundlich. »Wenn Sie Hilfe suchen, so rate ich Ihnen, ihre Fragen zu beantworten und zu tun, was sie Ihnen sagt.«
Leonard blinzelte verwirrt, doch dann holte er tief Luft und nickte. »Nun gut. Also, es beginnt mit stechenden Bauchschmerzen, schrecklichem Durchfall und Erbrechen. Die Kranken klagen über Kopfweh, und sie haben hohes Fieber. Sie -«
»Haben manche auch einen Ausschlag?« fiel ich ihm ins Wort.
Er nickte eifrig.
»Ich glaube, ich weiß, was das sein könnte«, meinte ich. Wachsende Erregung ergriff mich - das Gefühl, mit meiner Diagnose auf dem richtigen Weg zu sein und zu wissen, was zu tun war. Das Schlachtroß hört den Ruf der Trompeten, dachte ich halb gequält, halb amüsiert. »Ich müßte sie mir natürlich ansehen, aber -«
»Meine Frau wird Sie mit Vergnügen beraten, Kapitän«, erklärte Jamie mit Nachdruck. »Aber ich fürchte, Sie kann nicht an Bord Ihres Schiffes kommen.«
»Sind Sie sicher?« Kapitän Leonard sah uns verzweifelt an. »Wenn sie meine Mannschaft wenigstens kurz untersuchen könnte…«
»Nein«, sagte Jamie, und im selben Augenblick erwiderte ich: »Ja, natürlich.«
Kurze Zeit herrschte betretenes Schweigen. Dann erhob sich Jamie und sagte höflich: »Sie entschuldigen uns, Kapitän Leonard?« Er zog mich in den hinteren Laderaum.
»Bist du verrückt?« fuhr er mich an, ohne meinen Arm loszulassen. »Willst du etwa ein Schiff betreten, auf dem die Pest wütet? Dein Leben und das der Mannschaft und Ians auf Spiel setzen, nur für eine Horde Engländer?«
»Das ist nicht die Pest.« Ich versuchte mich von ihm freizumachen. »Und ich würde auch nicht mein Leben aufs Spiel setzen. Laß meinen Arm los, du verdammter Schotte!«
Er gab mich frei, versperrte mir aber den Weg zur Leiter und blickte mich finster an.
»Hör zu«, sagte ich, um Geduld ringend. »Das ist nicht die Pest. Ich bin mir ziemlich sicher, daß es Typhus ist - der Ausschlag läßt darauf schließen. Ich werde mich nicht anstecken, ich bin dagegen geimpft.«
Ein Schatten des Zweifels huschte über sein Gesicht. Trotz meiner Erklärungen war er immer noch geneigt, Keime und Impfstoffe dem Bereich der Schwarzen Magie zuzuordnen.
»Aye?« meinte er skeptisch. »Das mag sein, aber…«
»Sieh mal.« Ich suchte verzweifelt nach den rechten Worten. »Ich bin Ärztin. Sie sind krank, und ich kann etwas dagegen tun. Ich… es ist… ich muß es einfach tun, das ist alles!«
Nach der Wirkung zu urteilen, war diese Erklärung nicht wortreich genug. Jamie zog die Brauen hoch, als erwarte er eine Fortsetzung.
Ich holte tief Luft. Wie sollte ich es erklären - den Drang, etwas zu tun, den Zwang zu heilen? Auf seine Weise hatte Frank das verstanden. Gewiß gab es eine Möglichkeit, es auch Jamie klarzumachen.
»Ich habe einen Eid geleistet«, sagte ich. »Als ich Ärztin wurde.«
»Einen Eid? Was für einen Eid?«
Ich hatte ihn nur ein einziges Mal laut gesprochen. Aber in meinem Büro hing der Text eingerahmt an der Wand. Frank hatte ihn mir geschenkt, als ich mein Examen ablegte. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter, schloß die Augen und zitierte aus dem Gedächtnis:
»Ich schwöre, Apollon den Arzt und Asklepios und Hygieia und Panakeia und alle Götter und Göttinnen zu Zeugen anrufend, daß ich nach bestem Vermögen und Urteil diesen Eid und diese Verpflichtung erfüllen werde… Meine Verordnungen werde ich treffen zu Nutz und Frommen der Kranken, nach bestem Vermögen und Urteil; ich werde sie bewahren vor Schaden und willkürlichem Unrecht. Ich werde niemandem, auch nicht auf seine Bitte hin, ein tödliches Gift verabreichen oder auch nur dazu zu raten… Heilig und rein werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren… Welche Häuser ich betreten werde, ich will zu Nutz und Frommen der Kranken eintreten, mich enthalten jedes willkürlichen Unrechtes und jeder anderen Schädigung, auch aller Werke der Wollust an den Leibern von Frauen und Männern, Freien und Sklaven. Was ich bei der Behandlung sehe oder höre werde ich verschweigen und solches als ein Geheimnis betrachten. Wenn ich nun diesen Eid erfülle und nicht verletze, möge mir im Leben und in der Kunst Erfolg zuteil werden und Ruhm bei allen Menschen bis in ewige Zeiten; wenn ich ihn übertrete und meineidig werde, das Gegenteil.«
Als ich die Augen wieder öffnete, sah er mich nachdenklich an. »Äh… teilweise ist es rein traditionell«, erklärte ich.
Seine Mundwinkel zuckten. »Ich verstehe«, sagte er. »Nun, der erste Teil klingt ein bißchen heidnisch, aber die Stelle, wo du schwörst, niemanden zu verführen, gefällt mit gut.«
»Das kann ich mir vorstellen«, bemerkte ich trocken. »Ich bin jedenfalls keine Gefahr für Kapitän Leonards Tugend.«
Er lachte auf, lehnte sich an die Leiter und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
»Ist das so üblich in der Zunft der Ärzte?« fragte er. »Ihr fühlt euch verpflichtet, jedem zu helfen, der euch ruft, selbst einem Feind?«
»Das macht keinen großen Unterschied - wenn sie krank oder verletzt sind.« Verständnis heischend sah ich ihm ins Gesicht.
»Aye«, erwiderte er bedächtig. »Auch ich habe hin und wieder einen Eid geleistet - und ich habe keinen auf die leichte Schulter genommen.« Er griff nach meiner Hand und ließ seine Finger auf meinem Silberring ruhen. »Doch manche wiegen schwerer als andere.« Nun war es an ihm, mein Gesicht nachdenklich zu erforschen.
Er stand ganz nah bei mir. Die Sonne, die durch die Luke hereinfiel, ließ das Leinen seines Ärmels aufleuchten, und seine Hand hob sich tiefbraun von meinen weißen Fingern mit dem glitzernden Ring ab.
»Das stimmt«, sagte ich leise. »Du weißt, daß es so ist.« Ich legte meine andere Hand auf seine Brust, so daß auch der goldene Ring in der Sonne funkelte. »Aber wenn der eine Eid gehalten werden kann, ohne daß der andere gebrochen wird…?«
Er seufzte tief, dann beugte er sich über mich und küßte mich zärtlich.
»Aye, ich möchte nicht schuld sein, daß du meineidig wirst.« Als er sich aufrichtete, hatte er einen gequälten Zug um den Mund. »Bist du sicher, daß diese Impfung dich schützt?«
»Ganz sicher«, erklärte ich.
»Vielleicht sollte ich dich begleiten«, meinte er stirnrunzelnd.
»Das geht nicht - du bist nicht geimpft, und Typhus ist schrecklich ansteckend.«
»Du glaubst nur, daß es Typhus ist, weil du dich auf Leonards Beschreibung verläßt«, hielt er mir entgegen. »Du weißt es nicht gewiß.«
»Nein«, gab ich zu. »Aber es gibt nur einen Weg, es herauszufinden.«
 
Auf das Deck der Porpoise gelangte ich mit Hilfe des Bootsmannsstuhls, einer Art Schaukel, die mich in schwindelerregender Höhe über brodelndes Wasser hinwegtrug, und peinlicherweise landete ich bäuchlings auf dem Boden. Sobald ich wieder auf den Beinen war, stellte ich erstaunt fest, wie solide das Deck des Kriegsschiffes war verglichen mit dem winzigen, stampfenden Achterdeck der Artemis tief unter uns. Mir war, als stünde ich auf dem Felsen von Gibraltar.
Meine Frisur hatte sich gelöst, und ich steckte sie so gut es ging wieder auf. Dann griff ich nach meinem Medizinkasten, den einer der Seekadetten für mich hielt.
»Am besten zeigen Sie mir, wo die Kranken sind«, sagte ich. Es wehte eine frische Brise, und mir war bewußt, daß sich beide Mannschaften ins Zeug legen mußten, um die Schiffe beieinander zu halten.
In dem engen Zwischendeck war es dunkel. Die einzigen Lichtquellen waren kleine Öllampen, die von der Decke baumelten. Die Männer, die nebeneinander in Hängematten lagen, konnte man kaum erkennen. Sie sahen aus wie eine Herde Wale oder schlafende Seeungeheuer.
Es herrschte ein überwältigender Gestank. Frischluft drang nur durch die unzureichenden Lüftungsschächte herein, die zum oberen Deck führten. Schlimmer noch als der Geruch von ungewaschenen Seeleuten waren die Ausdünstungen der Krankheit.
»Ich brauche besseres Licht«, befahl ich dem aufgeweckten jungen Seekadetten, dem man aufgetragen hatte, mich zu begleiten. Er hielt sich ein Tuch vors Gesicht und sah ziemlich elend und verängstigt aus, aber er gehorchte und hielt seine Laterne hoch, damit ich in eine der Hängematten blicken konnte.
Der Mann wandte stöhnend sein Gesicht ab, als ihn der Lichtstrahl traf. Seine Haut glühte rot vor Fieber. Ich zog sein Hemd hoch und befühlte seinen Bauch: Er war hart und aufgebläht und fühlte sich ebenfalls heiß an. Als ich ihn behutsam betastete, wand sich der Kranke wie ein Wurm am Angelhaken und stöhnte mitleiderregend.
»Ist schon gut«, beruhigte ich ihn und forderte ihn auf, sich wieder auszustrecken. »Ja, ich helfe Ihnen, bald geht’s Ihnen besser. Lassen Sie mich jetzt Ihre Augen sehen. Ja, das ist gut.«
Ich zog ein Augenlid hoch; die Pupille verengte sich im Licht, das Auge war rotgerändert.
»Bei Gott, nehmen Sie das Licht weg!« keuchte er und riß den Kopf zurück. »Mir platzt der Schädel!« Fieber, Erbrechen, Bauchkrämpfe, Kopfschmerzen.
»Fröstelt es Sie?« fragte ich und bedeutete meinem Helfer, die Laterne wegzunehmen.
Aus dem Stöhnen, mit dem er antwortete, hörte ich ein Ja heraus. Selbst im Dunkeln konnte ich sehen, daß viele der Männer auf den Hängematten ungeachtet der drückenden Hitze in Decken gehüllt waren.
Ich war mir ziemlich sicher, worum es sich handelte - die Symptome, die ich hier beobachtete, waren typisch.
Allerdings hatte der Seemann keinen Hautausschlag auf dem Bauch, der zweite auch nicht, aber der dritte. Die hellroten Roseolen traten auf der klammen, weißen Haut deutlich hervor. Sie ließen sich nicht wegdrücken. Durch die Hängematten, in denen die schweren, schwitzenden Leiber dicht an dicht lagen, bahnte ich mir den Weg zurück zum Niedergang, wo Kapitän Leonard und zwei weitere Seekadetten auf mich warteten.
»Es ist Typhus.« Ich war meiner Sache so sicher, wie es ohne Mikroskop und Blutuntersuchung möglich war.
»Oh?« Trotz seiner Erschöpfung blickte mich der Kapitän aufmerksam an. »Wissen Sie, was in diesem Fall zu tun ist, Mrs. Malcolm?«
»Ja, aber es wird nicht leicht sein. Die Kranken müssen nach oben gebracht und gründlich gewaschen werden, dann brauchen sie ein Lager an der frischen Luft und sorgfältige Pflege. Sie benötigen flüssige Kost - und viel Wasser - abgekochtes Wasser - das ist überaus wichtig! Um das Fieber zu senken, sind regelmäßige Waschungen nötig. Aber vor allem gilt es zu verhindern, daß sich weitere Besatzungsmitglieder anstecken. Es müssen verschiedene Maßnahmen ergriffen werden -«
»Ergreifen Sie sie«, fiel er mir ins Wort. »Ich werde Befehl erteilen, daß Ihnen alle gesunden Männer zur Hand gehen, die wir erübrigen können. Ordnen Sie selbst alles Nötige an.«
»Gut.« Zweifelnd ließ ich den Blick über die Umstehenden schweifen. »Ich kann einen Anfang machen und Ihnen sagen, wie Sie weiter vorgehen müssen, aber es gibt viel zu tun. Kapitän Raines und mein Mann sind in großer Eile.«
»Mrs. Malcolm«, entgegnete der Kapitän. »Ich werde Ihnen für jegliche Hilfe, die Sie uns leisten können, ewig dankbar sein. Auch wir müssen auf schnellstem Wege nach Jamaika, aber wenn der Rest meiner Mannschaft nicht von dieser teuflischen Krankheit verschont bleibt, werden wir die Insel niemals erreichen.« Er sprach mit solchem Ernst, daß ich plötzlich Mitleid mit ihm hatte. »In Ordnung«, stimmte ich seufzend zu. »Schicken Sie mir für den Anfang ein Dutzend gesunde Matrosen.«
Ich kletterte aufs Achterdeck, ging an die Reling und winkte Jamie zu, der am Steuerrad der Artemis stand. Trotz der Entfernung konnte ich sein Gesicht klar erkennen. Es sah sorgenvoll aus, doch als er mich erblickte, lächelte er mich strahlend an.
»Kommst du jetzt runter?« rief er mir zu.
»Noch nicht!« schrie ich zurück. »Ich brauche zwei Stunden!« Um zu verdeutlichen, was ich meinte, hielt ich zwei Finger in die Höhe. Als ich von der Reling zurücktrat, sah ich noch, wie sich seine Miene wieder verdüsterte. Er hatte mich verstanden.
Ich sorgte dafür, daß die Kranken aufs Achterdeck gebracht wurden. Einige Seeleute mußten ihnen ihre schmutzigen Sachen ausziehen und sie mit Meerwasser aus der Pumpe abspritzen und abwaschen. Währenddessen begab ich mich in die Kombüse und erklärte dem Koch und seinen Helfern, wie sie die Krankenkost zubereiten mußten. Da spürte ich plötzlich, wie das Deck unter meinen Füßen erbebte.
Der Smutje, mit dem ich gerade sprach, streckte eine Hand aus und schlug hastig die Schranktür hinter ihm zu. Flink griff er nach einem Topf, der aus dem Regal zu springen drohte, warf einen großen Schinken in den unteren Schrank und wirbelte herum, um einen Deckel auf den brodelnden Topf zu setzen, der über dem Kombüsenfeuer hing.
Erstaunt starrte ich ihn an. Auf der Artemis hatte ich Murphy immer dann denselben merkwürdigen Tanz aufführen sehen, wenn das Schiff den Kurs wechselte oder ablegte.
Ich hastete mit größter Eile zum Achterdeck. Das Schiff nahm Fahrt auf; die Porpoise war zwar groß und solide, doch ich spürte das Beben, das den Kiel erfaßte.
Als ich aufs Deck gelangte, sah ich über mir eine Wolke von Segeln, und hinter mir die Artemis, die immer mehr zurückfiel. Kapitän Leonard stand beim Steuermann, der den Männern in der Takelage Kommandos zubrüllte, und blickte der Artemis nach.
»Was machen Sie da?« rief ich. »Sie verdammter Bastard. Was geht hier vor?«
Ziemlich verlegen, aber mit einem halsstarrigen Zug um den Mund, sah mich der Kapitän an.
»Wir müssen auf schnellstem Wege nach Jamaika«, erklärte er. Wären seine Wangen nicht ohnehin vom Seewind gerötet gewesen, so wäre er in diesem Moment gewiß rot geworden. »Es tut mir leid, Mrs. Malcolm - ich bedaure die Notwendigkeit sogar zutiefst, aber -«
»Aber nichts!« entgegnete ich wütend. »Ändern Sie den Kurs! Drehen Sie bei! Werfen Sie den Anker aus, verdammt noch mal! Sie können mich doch nicht einfach entführen!«
»Ich bedaure die Notwendigkeit«, wiederholte er verbissen. »Aber ich glaube, daß wir Ihre Dienste weiterhin äußerst dringend benötigen, Mrs. Malcolm. Seien Sie unbesorgt.« Er streckte die Hand aus, als wollte er meine Schulter tätscheln, besann sich dann aber eines Besseren und ließ den Arm wieder sinken.
»Ich habe Ihrem Gatten versprochen, daß die Marine für Ihre Unterbringung auf Jamaika Sorge trägt, bis die Artemis dort eintrifft.«
Er zuckte zusammen, als er meinen Gesichtsausdruck sah. Offenbar fürchtete er einen tätlichen Angriff - und zwar nicht ganz grundlos.
»Was soll das?« zischte ich. »Soll das heißen, daß J… daß Mr. Malcolm Ihnen erlaubt hat, mich zu entführen?«
»Äh… nein. Das hat er nicht.« Der Kapitän fand das Gespräch offenbar ziemlich nervenaufreibend. Er zog ein schmutziges Taschentuch aus der Tasche und wischte sich damit Stirn und Nacken ab. »Ich fürchte, er wollte gar nicht mit sich reden lassen.«
»Aha? Nun gut, ich lasse auch nicht mit mir reden!« Ich stampfte mit dem Fuß auf und verfehlte seine Zehen nur, weil er flink zurücksprang. »Wenn Sie denken, daß ich Ihnen helfe, Sie niederträchtiger Entführer, haben Sie sich gründlich getäuscht!«
Der Kapitän steckte sein Taschentuch ein und bekam wieder seinen verbissenen Ausdruck. »Mrs. Malcolm. Sie zwingen mich, Ihnen zu sagen, was ich auch Ihrem Gatten bereits klargemacht habe. Die Artemis segelt unter französischer Flagge und mit französischen Papieren, aber über die Hälfte der Besatzung besteht aus Engländern und Schotten. Ich hätte diese Männer in unseren Dienst pressen können - und ich hätte sie dringend brauchen können. Statt dessen habe ich mich bereit erklärt, sie unbehelligt zu lassen, wenn Sie uns als Gegenleistung Ihre medizinischen Kenntnisse zur Verfügung stellen.«
»Also haben Sie beschlossen, an ihrer Stelle mich zu schanghaien. Und mein Mann hat diesem Handel… zugestimmt
»Nein, das hat er nicht«, entgegnete der junge Mann ungerührt. »Der Kapitän der Artemis hingegen fand meine Argumente überzeugend.« Er blinzelte mich an; seine geschwollenen Augen verrieten, daß er viele Nächte nicht geschlafen hatte, und die weite Jacke schlackerte um seinen schlanken Körper. Trotz seiner Jugend und seines heruntergekommenen Äußeren strahlte er eine gewisse Würde aus.
»Ich bitte Sie um Verzeihung, denn mein Verhalten muß Ihnen im höchsten Maße unhöflich erscheinen, Mrs. Malcolm - aber die Wahrheit ist, daß ich verzweifelt bin«, sagte er schlicht. »Sie sind unsere einzige Rettung. Mir bleibt keine andere Wahl.«
Die Antwort, die mir auf der Zunge lag, schluckte ich hinunter. Trotz meiner Wut - und meines Unbehagens, wenn ich daran dachte, was Jamie bei unserem Wiedersehen sagen würde - konnte ich den Kapitän verstehen. Zweifellos lief er Gefahr, den größten Teil seiner Mannschaft zu verlieren, wenn ihm niemand beistand. Und selbst wenn ich ihm half, würden einige der Leute sterben - aber daran wollte ich jetzt lieber nicht denken.
»Gut«, entgegnete ich schließlich mit zusammengebissenen Zähnen. »In Ordnung!« über die Reling warf ich einen letzten Blick auf die Artemis. Ich neigte zwar nicht zur Seekrankheit, aber mir wurde dennoch flau im Magen, als ich das Schiff - und Jamie - in der Ferne entschwinden sah. »Offenbar bleibt auch mir keine andere Wahl. Ich brauche alle Männer, die Sie erübrigen können, um die Zwischendecks zu schrubben - und haben Sie Alkohol an Bord?«
Überrascht sah er mich an. »Alkohol? Wir haben Rum für den Grog der Matrosen, und vielleicht auch etwas Wein. Reicht das?«
»Wenn Sie sonst nichts haben, muß es reichen.« Ich versuchte, meine Gefühle so gut es ging zu unterdrücken, um die Lage in den Griff zu bekommen. »Wahrscheinlich muß ich mit dem Proviantmeister sprechen?«
»Ja, natürlich, kommen Sie mit.« Leonard ging auf einen Niedergang zu, der unter Deck führte, besann sich dann aber, trat errötend zurück und ließ mir mit einer verlegenen Geste den Vortritt - wohl damit er nicht in die peinliche Lage kam, beim Hinuntersteigen meine Beine zu betrachten, dachte ich und biß mir halb wütend, halb amüsiert auf die Lippen.
Als ich gerade unten angekommen war, hörte ich oben ein Stimmengewirr.
»Nein, der Kapitän darf jetzt nicht gestört werden! Was du ihm zu sagen hast, muß -«
»Laß mich! Wenn ich jetzt nicht mit ihm sprechen darf, ist es zu spät!«
Dann hörte ich Kapitän Leonards Stimme. Sie klang plötzlich scharf, als er sich an die Eindringlinge wandte. »Stevens? Was soll das? Was ist los?«
»Gar nichts, Sir«, erklärte der Angesprochene unterwürfig. »Nur daß Tompkins sich sicher ist, daß er den Burschen kennt, der auf dem Schiff war - den großen mit den roten Haaren. Er sagt -«
»Ich habe jetzt keine Zeit«, entgegnete der Kapitän barsch. »Sagen Sie es dem Maat, Tompkins. Ich werde mich später darum kümmern.«
Natürlich war ich inzwischen die Leiter schon halb wieder hochgeklettert und lauschte aufmerksam.
Die Luke verdunkelte sich, als Leonard herunterstieg. Der junge Mann musterte mich scharf, aber ich sagte nur mit betont ausdrucksloser Miene: »Haben Sie noch ausreichend Lebensmittelvorräte, Kapitän? Die Kranken müssen äußerst sorgfältig verköstigt werden. Milch werden Sie wohl kaum an Bord haben, aber -«
»Wir haben Milch«, erklärte er beinahe fröhlich. »Wir haben sogar sechs Milchziegen. Die Frau des Ersten Kanoniers, Mrs. Johansen, kümmert sich großartig um die Tiere. Ich schicke sie zu Ihnen, sobald wir mit dem Proviantmeister gesprochen haben.«
Kapitän Leonard stellte mich Mr. Overholt, dem Proviantmeister, vor und wies ihn an, mir alles zur Verfügung zu stellen, was ich benötigte. Mr. Overholt, ein kleiner, rundlicher Mann mit einer glänzenden Halbglatze, beäugte mich neugierig und jammerte dann leise, daß gegen Ende einer Ozeanüberquerung alles zur Neige gehe und wie schrecklich die Lage sei, aber ich schenkte ihm nur wenig Aufmerksamkeit. Nach dem Wortwechsel, den ich soeben belauscht hatte, war ich viel zu erregt.
Wer war dieser Tompkins? Die Stimme war mir völlig fremd, und auch den Namen hatte ich ganz bestimmt noch nie gehört. Noch wichtiger war jedoch die Frage, was er über Jamie wußte. Und was würde Kapitän Leonard tun, nachdem er Tompkins’ Geschichte gehört hatte? Wie die Dinge lagen, konnte ich im Augenblick nichts tun als meine Ungeduld zügeln, sinnlose Spekulationen zurückzustellen und mich darauf konzentrieren, welche Vorräte Mr. Overholt für die Verpflegung der Kranken zu bieten hatte.
Wie sich bald herausstellte, war es nicht viel.
»Nein, gepökeltes Rindfleisch können sie auf keinen Fall essen«, erklärte ich mit Nachdruck. »Zwieback auch noch nicht. Wenn wir ihn in abgekochter Milch einweichen, könnten wir ihn allenfalls für die Genesenden verwenden. Aber zuvor müssen Sie die Getreidekäfer entfernen«, fügte ich hinzu.
»Fisch«, schlug Mr. Overholt ziemlich entmutigt vor. »Auf dem Weg in die Karibik stoßen wir oft auf große Makrelenschwärme. Manchmal hat die Besatzung Glück beim Angeln.«
»Vielleicht wäre das das Richtige«, erwiderte ich geistesabwesend. »Abgekochte Milch und Wasser reichen fürs erste, aber wenn sich die Männer langsam wieder erholen, brauchen sie etwas Leichtes und Nahrhaftes - Suppe zum Beispiel. Ich nehme an, wir könnten Fischsuppe zubereiten, wenn Sie sonst nichts Geeignetes haben?«
»Nun…« Mr. Overholt fühlte sich anscheinend nicht besonders wohl in seiner Haut. »Wir haben noch eine kleinere Menge Trockenfeigen, zehn Pfund Zucker, etwas Kaffee, Kekse und ein großes Faß Madeira, aber das können wir selbstverständlich nicht nehmen.«
»Warum nicht?« wollte ich wissen. Mr. Overholt scharrte verlegen mit den Füßen.
»Weil diese Vorräte unserem Passagier vorbehalten sind«, erklärte er.
»Welchem Passagier?« fragte ich verdutzt.
Mr. Overholt schien überrascht. »Hat es Ihnen der Kapitän nicht gesagt? Mit uns reist der neue Gouverneur von Jamaika. Das ist der Grund - einer der Gründe«, korrigierte er sich, wobei er sich nervös die Glatze abwischte, »für unsere Eile.«
»Wenn der Gouverneur selbst nicht krank ist, kann er gepökeltes Rindfleisch essen«, erklärte ich mit Nachdruck. »Das wird ihm gewiß nicht schaden. Und nun lassen Sie den Wein bitte in die Kombüse bringen, ich habe viel zu tun.«
 
Unterstützt von einem der verbliebenen Seekadetten, einem kleinen, stämmigen Burschen mit kurzgeschorenen braunen Locken namens Pound, machte ich meine Runde durch das Schiff und bemächtigte mich dabei skurpellos sämtlicher Vorräte und Arbeitskräfte, die ich brauchte. Pound, der wie eine kleine, bissige Bulldogge neben mir her trottete, teilte den überraschten und aufgebrachten Köchen, Zimmerleuten, Matrosen, Schwabberern, Segelmachern und Lagerverwaltern mit, daß alle meine Anweisungen - wie unsinnig sie auch scheinen mochten - umgehend zu befolgen seien, und zwar auf Befehl des Kapitäns.
Am wichtigsten war die Quarantäne. Sobald die Zwischendecks geschrubbt und gelüftet waren, mußten die Kranken wieder hinuntergebracht werden, allerdings sollte zwischen den Hängematten genügend Platz freibleiben. Wer sich noch nicht angesteckt hatte, mußte auf Deck übernachten und separate Toiletten benutzen. In der Kombüse hatte ich zwei große Kessel gesehen, die ich für geeignet hielt. Ich notierte den Punkt auf der Liste, die ich in Gedanken führte, und hoffte im stillen, daß der Chefkoch nicht ebenso eifersüchtig über seine Gefäße wachte wie Murphy.
Ich folgte Pound in den Laderaum hinunter, um ausgediente Segel zu holen, aus denen wir Lappen machen konnten. Ich war nur halb bei meiner Liste. Mich beschäftigte die Ursache der Infektion. Typhus wird von einer Salmonellenart hervorgerufen und durch orale Aufnahme der Erreger - da Urin und Stuhl eines Erkrankten hochgradig infektiös sind, werden die Erreger oft durch unzureichend gereinigte Hände übertragen - verbreitet.
Wenn man bedachte, daß Hygiene und Sauberkeit für die Seeleute Fremdwörter waren, konnte jedes Mitglied der Besatzung ursprünglich Überträger der Krankheit sein. Wahrscheinlich war der Schuldige unter denen zu suchen, die das Essen ausgaben, zumal die Krankheit so plötzlich ausgebrochen war und sich so viele angesteckt hatten. Vielleicht war es der Koch oder einer seiner beiden Maate oder einer der Proviantmeister. Ich mußte herausfinden, wie viele Leute mit dem Essen hantierten, welche Messen sie bedienten und ob vor vier Wochen jemand seinen Dienst neu angetreten hatte - nein, vor fünf bis acht Wochen korrigierte ich mich, man mußte auch die Inkubationszeit berücksichtigen.
»Mr. Pound«, rief ich, und er wandte sich am Fuße der Leiter zu mir um.
»Ja, Madam?«
»Mr. Pound - wie heißen Sie eigentlich mit Vornamen?« fragte ich.
»Elias, Madam.« Er sah mich verwundert an.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Sie so nenne?« Am Fuße der Leiter angekommen, lächelte ich ihn an. Zögernd erwiderte er mein Lächeln.
»Nein… Madam. Aber vielleicht würde es den Kapitän stören«, fügte er vorsichtig hinzu. »Bei der Marine redet man sich nicht mit dem Vornamen an, wissen Sie.«
Elias Pound konnte nicht älter als siebzehn oder achtzehn sein, und Kapitän Leonard schätzte ich auf Mitte Zwanzig. Dennoch, das Protokoll mußte eingehalten werden.
»In der Öffentlichkeit werde ich mich an die Gepflogenheiten der Marine halten«, versicherte ich ihm und unterdrückte ein Lächeln. »Aber wenn Sie mit mir zusammenarbeiten, wäre es leichter, Sie beim Vornamen zu nennen.« Im Gegensatz zu ihm wußte ich, was vor uns lag - stunden-, tage-, vielleicht wochenlange Arbeit bis zur völligen Erschöpfung. Am Ende würden nur strikte Disziplin, blinder Instinkt - und die Führung eines unermüdlichen Chefs - die Krankenpfleger auf den Beinen halten.
Unermüdlich war ich keineswegs, aber wenigstens die Illusion mußte aufrechterhalten werden. Dies könnte ich durch die Unterstützung von zwei oder drei Helfern, die ich ausbilden würde, erreichen. Sie konnten für mich einspringen, wenn ich selbst Ruhe brauchte. Das Schicksal - und Kapitän Leonard - hatten mir Elias Pound als rechte Hand zugewiesen. Es war das beste, von Anfang an ein gutes Verhältnis zu ihm aufzubauen.
»Wie lange fahren Sie schon zur See, Elias?« fragte ich, während er sich gerade unter eine niedrige Plattform duckte, auf der eine riesige Kette lag. Jedes ihrer Glieder war zweimal so groß wie meine Faust. Die Ankerkette? Neugierig faßte ich sie an. Sie sah aus, als könnte sie die Queen Elizabeth halten - ein tröstlicher Gedanke.
»Seit meinem siebten Lebensjahr, Madam.« Einen großen Kasten hinter sich her schleifend, arbeitete er sich rückwärts wieder heraus. Keuchend richtete er sich auf und wischte sich das runde, offene Gesicht ab. »Mein Onkel befehligt die Triton, da konnte er mir einen Platz auf dem Schiff besorgen. Auf der Porpoise tue ich nur für diese eine Fahrt Dienst.« Er öffnete den Kasten, und es kam eine Ansammlung rostiger Operationsinstrumente nebst einem bunten Durcheinander verkorkter Flaschen und Gefäße zum Vorschein. Ein Glasbehälter war zerbrochen und über dem gesamten Inhalt lag eine feine, weiße Staubschicht.
»Das war die Ausrüstung von Mr. Hunter, dem Schiffsarzt«, erklärte Elias. »Haben Sie Verwendung dafür?«
»Das weiß nur Gott«, meinte ich und beäugte den Kasten mißtrauisch. »Aber ich sehe mir die Sachen mal an. Beauftragen Sie jemanden, den Kasten ins Schiffslazarett zu bringen, Elias. Sie müssen jetzt mit mir kommen und ein ernstes Wort mit dem Koch reden.«
 
Während ich die Säuberung des Zwischendecks mit kochendem Meerwasser überwachte, hing ich meinen Gedanken nach.
Ich ließ mir durch den Kopf gehen, welche Maßnahmen ergriffen werden mußten, um die Seuche zu bekämpfen. Zwei der Männer, die schon zu entkräftet waren, waren gestorben, als man sie aus dem Zwischendeck geholt hatte. Sie lagen nun hinten auf dem Achterdeck, wo der Segelmacher sie für die Beerdigung mit emsigen Stichen in ihre Hängematten einnähte - nebst zwei Kanonenkugeln zu ihren Füßen. Vier weitere würden die Nacht nicht überleben. Die übrigen Patienten hatten teils ausgezeichnete, teils recht schlechte Überlebenschancen. Mit etwas Glück und viel Arbeit würde ich die meisten von ihnen retten können. Aber wie viele neue Fälle kamen noch auf uns zu?
Auf meinen Befehl hin wurden riesige Kessel mit Wasser in der Kombüse zum Kochen aufgesetzt: Meerwasser zum Putzen, Süßwasser zum Trinken. Mir fielen weitere Punkte für die Liste ein, die ich in Gedanken führte. Ich mußte Mrs. Johansen aufsuchen, die sich um die Ziegen kümmerte, und dafür sorgen, daß auch die Milch sterilisiert wurde.
Anschließend wollte ich alle, die in der Kombüse arbeiteten, nach ihren Aufgaben befragen. Wenn ich den Krankheitsüberträger aufspüren und isolieren konnte, würde das schon viel zur Eindämmung der Seuche beitragen.
Zu Mr. Overholts Entsetzen hatte ich den gesamten Alkoholvorrat ins Schiffslazarett bringen lassen. Man konnte ihn zwar verwenden, wie er war, aber besser wäre es, reinen Alkohol zur Verfügung zu haben. Ich mußte mit dem Proviantmeister klären, ob es möglich war, den Rum zu destillieren.
Als nächstes galt es, die Hängematten auszukochen und zu trocknen, bevor die gesunden Matrosen darin schliefen. Das mußte schnell geschehen, noch vor dem nächsten Schichtwechsel. Elias sollte einen Trupp Schwabberer dafür abkommandieren - die große Wäsche fiel wahrscheinlich in ihren Aufgabenbereich.
Daneben machte ich mir nach wie vor Gedanken um den mysteriösen Tompkins und die Mitteilungen, die er dem Kapitän hatte machen wollen. Was immer er gesagt hatte, es hatte nicht dazu geführt, daß der Kurs geändert wurde, um zur Artemis zurückzukehren. Entweder hatte Kapitän Leonard die Aussage des Mannes nicht ernst genommen oder er hatte es einfach zu eilig, nach Jamaika zu kommen, als daß er sich durch irgend etwas hätte aufhalten lassen.
Ich blieb eine Weile an der Reling stehen und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Ich strich mir die Haare aus der Stirn, hielt mein Gesicht in den frischen Wind und ließ ihn den Gestank der Seuche wegblasen, übelriechende Dampfwolken stiegen aus der Luke neben mir auf. Wenn die Matrosen mit dem Scheuern fertig waren, würde es dort unten zwar angenehmer sein, aber von frischer Luft konnte man noch nicht reden.
Ich blickte aufs Meer hinaus und gab mich der Hoffnung hin, daß ein Segel am Horizont auftauchen möge, aber wir hatten die Artemis - und Jamie - weit hinter uns gelassen.
Rasch unterdrückte ich das Gefühl der Einsamkeit und Panik, das in mir aufstieg. Ich mußte mit Kapitän Leonard sprechen. Bei mindestens zwei der Fragen, die mich beschäftigten, konnte er mir weiterhelfen: wo die Ursache des Typhus zu suchen sei und was der unbekannte Mr. Tompkins mit Jamie zu tun hatte. Aber im Augenblick gab es Dringlicheres.
»Elias!« rief ich, denn ich wußte, daß er sich in Hörweite befand. »Bitte bringen Sie mich zu Mrs. Johansen und den Ziegen.«
Ferne Ufer
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