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Die Jagd beginnt
Inverness, 2. Mai 1968
»Natürlich ist er tot!« Claires Stimme klang
schneidend durch das Arbeitszimmer. Bleich wie eine Gefangene, die
auf die tödliche Salve aus den Gewehren wartet, stand sie vor der
Pinnwand aus Kork und starrte abwechselnd ihre Tochter und Roger
Wakefied an.
»Ich glaube nicht.« Müde strich sich Roger mit der
Hand über die Stirn. Dann nahm er den Ordner vom Schreibtisch, in
dem er sämtliche Unterlagen abgeheftet hatte, seit Claire und ihre
Tochter vor drei Wochen zu ihm gekommen waren und ihn um Hilfe
gebeten hatten.
Langsam blätterte er durch die Seiten. Die
Jakobiten und die Schlacht von Culloden. Der Aufstand von 1745. Die
Edlen Schottlands, die sich unter dem Banner von Bonnie Prince
Charlie gesammelt und sich mit der Kraft des Schwerts durch
Schottland gekämpft hatten - nur um auf dem grauen Moor von
Culloden gegen den Herzog von Cumberland eine vernichtende
Niederlage zu erleiden.
»Hier«, sagte er und nahm mehrere zusammengeheftete
Bögen heraus. Zwischen den schwarzen Rändern, die vom Fotokopierer
stammten, wirkte die alte Handschrift eigenartig und fremd. »Dies
sind die Musterungslisten aus dem Regiment des Herrn von
Lovat.«
Er streckte die Bögen Claire entgegen, aber es war
ihre Tochter Brianna, die sie ihm abnahm und unschlüssig darin
herumblätterte.
»Lies den Anfang«, bat Roger. »Wo es ›Offiziere‹
heißt.«
»Gut. ›Offiziere‹«, begann sie. »Simon, Herr von
Lovat…«
»Der junge Fuchs«, ergänzte Roger. »Lovats Sohn.
Und dann noch fünf Namen, nicht wahr?«
Brianna zog spöttisch die Braue hoch, las dann aber
doch weiter.
»William Chisholm Fraser, Leutnant; George D’Amerd
Fraser Shaw, Hauptmann; Duncan Joseph Fraser, Leutnant; Bayard
Murray Fraser, Major.« Vor dem letzten Namen machte sie eine Pause
und schluckte. »Und James Alexander Malcolm MacKenzie Fraser,
Hauptmann.« Sie war blaß geworden, als sie die Bögen sinken ließ.
»Mein Vater.«
Claire eilte rasch zu ihrer Tochter und strich ihr
über den Arm. Auch sie war bleich.
»Ja«, sagte sie zu Roger, »ich weiß, daß er in die
Schlacht ging, als er mich verließ… am Steinkreis… er wollte zurück
aufs Feld von Culloden, um seine Männer zu retten, die dort im Heer
von Charles Stuart warteten. Und wir wissen, daß es ihm gelungen
ist.« Sie wies mit dem Kopf auf den Ordner. »Sie haben sie ja
gefunden. Aber… aber… Jamie…« Bei seinem Namen schien sie der
Schmerz zu überwältigen, und sie preßte die Lippen zusammen.
Jetzt war es an Brianna, ihrer Mutter Trost zu
spenden.
»Er wollte zurückkehren, hast du gesagt.«
Ermutigend richtete sie die tiefblauen Augen auf Claire. »Er wollte
seine Männer vor der Schlacht retten und dann selbst in den Kampf
ziehen.«
Claire, die sich etwas erholt hatte, nickte.
»Er wußte, wie schlecht seine Aussichten standen.
Wenn er den Engländern in die Hände fiel… lieber wollte er im
Kampfgetümmel sterben. So hatte er sich das vorgestellt.« Sie
wandte sich zu Roger um. »Ich kann nicht glauben, daß er
davongekommen ist, wo so viele Männer getötet wurden und er sterben
wollte!«
Fast die halbe Hochlandarmee war dem Kanonenfeuer
und den Musketensalven der Engländer zum Opfer gefallen. Aber nicht
Jamie Fraser.
»Nach dem Absatz aus Linklaters Buch zu urteilen…«
Roger nahm den weißen Band mit dem Titel Der Prinz in der
Heide aus dem Regal.
»Nach der Entscheidungsschlacht von Culloden«, las
er, »suchten achtzehn jakobitische Offiziere, allesamt verwundet,
Zuflucht in einer alten Kate. Zwei Tage lagen sie dort in
Schmerzen, ohne
daß ihre Wunden versorgt wurden. Dann führte man sie zur
Hinrichtung hinaus. Einer der Männer, ein Fraser aus dem Regiment
des Herrn von Lovat, entkam dem Gemetzel; die anderen wurden am
Rande des Feldes bestattet.
Seht ihr?« Er ließ das Buch sinken und blickte die
beiden Frauen ernst an. »Ein Offizier aus dem Regiment des Herrn
von Lovat.« Dann nahm er die Blätter mit der Musterungsliste wieder
auf.
»Und hier sind sie. Aber nur sechs. Inzwischen
wissen wir, daß der Mann in der Kate nicht der junge Simon gewesen
sein kann. Der ist eine namhafte Figur, und wir kennen sein
Schicksal. Er zog sich mit einer Gruppe seiner Männer aus dem
Schlachtgetümmel zurück - und zwar unverwundet - und kämpfte sich
nach Norden durch, bis sie Burg Beaufort hier ganz in der Nähe
erreichten.« Er wies auf das wandbreite Fenster, durch das blaß die
Abendlichter von Inverness schimmerten.
»Aber der Mann, der aus dem Bauernhaus entkam,
gehörte auch nicht zu den vier Offizieren - William, George, Duncan
und Bayard«, sagte Roger. »Und warum nicht?« Fast schon
triumphierend nahm er einen anderen Bogen aus dem Ordner. »Weil sie
alle vier in Culloden getötet wurden. Ihre Namen stehen auf einer
Tafel in der Kirche von Beauly.«
Claire atmete langsam aus. Dann ließ sie sich in
den alten ledernen Drehstuhl hinter dem Schreibtisch sinken.
»Herr im Himmel!« seufzte sie. Sie schloß die
Augen, stützte die Ellenbogen auf und senkte den Kopf auf die
Hände, so daß die dichten, haselnußbraunen Locken ihr Gesicht
verdeckten. Brianna legte ihr die Hand auf den Rücken und beugte
sich besorgt über sie. Anders als ihre Mutter war sie groß und
schmal. Ihr rotes Haar schimmerte im Licht der
Schreibtischlampe.
»Wenn er nicht gestorben ist…«, setzte Brianna
vorsichtig an.
Claire fuhr auf. »Aber er ist tot!« rief sie. Ihr
Gesicht wirkte angespannt, und feine Linien zeichneten sich unter
ihren Augen ab. »Um Himmels willen, das ist zweihundert Jahre her!
Ob er nun in Culloden starb oder nicht, jetzt ist er tot!«
Bei der heftigen Antwort ihrer Mutter wich Brianna
zurück.
»Stimmt«, flüsterte sie. Roger sah, daß sie mit den
Tränen kämpfte. Kein Wunder, dachte er. Schließlich mußte sie
zuerst erfahren, daß der Mann, den sie ihr ganzes Leben lang
geliebt und
Vater genannt hat, gar nicht ihr Vater war, und dann stellte sich
heraus, daß ihr richtiger Vater aus dem schottischen Hochland
stammte und vor zweihundert Jahren gelebt hatte. Und überdies
deutete alles darauf hin, daß er eines schrecklichen Todes
gestorben war, undenkbar weit fort von seiner Frau und dem Kind,
für das er sich geopfert hatte. Das alles war wohl mehr als genug,
um einen gründlich durcheinanderzubringen.
Er ging auf Brianna zu und strich ihr über den Arm.
Sie sah ihn geistesabwesend an und rang sich ein Lächeln ab. Rasch
schloß er sie in die Arme. Obwohl sie ihm in ihrem Schmerz leid
tat, genoß er es, ihren weichen, warmen Körper zu spüren.
Claire saß reglos am Schreibtisch. Die gelben
Falkenaugen schienen weicher geworden, versunken in Erinnerungen.
Blicklos hingen sie an der Pinnwand voller Notizen und
Gedächtnisstützen, die Reverend Wakefield, Rogers verstorbener
Adoptivvater, hinterlassen hatte.
Als Roger seinen Blick dorthin wandte, sah er die
Einladung zur Jahresversammlung der Gesellschaft der Weißen Rose -
jener fanatischen Exzentriker, die noch immer nach der schottischen
Unabhängigkeit strebten und Charles Stuart und den Helden, die ihm
gefolgt waren, schwärmerisch huldigten.
Roger räusperte sich leise.
»Äh… wenn Jamie nicht in Culloden gestorben ist…«,
sagte er.
»Dann wahrscheinlich kurze Zeit später.« Claire sah
Roger geradewegs in die Augen. »Ihr habt keine Ahnung, wie es
damals war«, sagte sie, »welcher Hunger im Hochland herrschte.
Keiner der Männer hat in den Tagen vor der Schlacht noch etwas zu
essen gehabt. Und Jamie war verwundet, das wissen wir. Selbst wenn
er entkommen ist, es gab niemanden, der… der für ihn sorgte.« Ihre
Stimme brach, als sie das sagte. Mittlerweile war sie Ärztin, aber
schon in jenen Tagen hatte sie Menschen geheilt. Damals, vor
zwanzig Jahren, als sie durch den Steinkreis ging und ihrem
Schicksal in Gestalt von James Alexander Malcolm MacKenzie Fraser
begegnete.
Überdeutlich war sich Roger der beiden Frauen im
Raum bewußt - des zitternden Mädchens in seinen Armen und der
stillen, so gefaßt wirkenden Frau am Schreibtisch. Sie war durch
die Zeit gereist, als Spionin verdächtigt und als Hexe eingekerkert
worden
- durch ein unvorstellbares Zusammentreffen von Zufällen aus den
Armen ihres ersten Mannes Frank Randall gerissen. Und drei Jahre
später hatte ihr zweiter Mann, James Fraser, sie und ihr
ungeborenes Kind durch die Steine zurückgeschickt, um ihnen das
Leid, das ihm bevorstand, zu ersparen.
Sie hat wirklich genug durchgemacht, dachte er.
Aber er war Historiker und wurde von der unstillbaren, skrupellosen
Neugier des Wissenschaftlers getrieben, die zu mächtig war, um sich
durch schlichtes Mitleid aufhalten zu lassen.
»Wenn er nicht in Culloden gestorben ist«, setzte
er an, resoluter als zuvor, »kann ich vielleicht herausfinden, was
wirklich mit ihm geschah. Soll ich es versuchen?« Mit angehaltenem
Atem wartete er auf die Antwort. Jamie Fraser hatte gelebt, und
Roger gelangte immer mehr zu der Überzeugung, daß es seine Pflicht
war, die Wahrheit über sein Leben und seinen Tod herauszufinden. Es
stand Jamie Frasers Frauen zu, alles über ihn zu wissen. Für
Brianna waren die Fakten womöglich das einzige, was sie je über ihn
erfahren würde. Und was Claire betraf - offenbar hatte sie noch
nicht begriffen, welche Möglichkeiten sich für sie eröffneten: Sie
hatte die Zeitschranke schon zweimal überwunden. Vielleicht konnte
sie es noch einmal tun. Und wenn Jamie Fraser in Culloden nicht
gestorben war…
Am Ausdruck der verhangenen bernsteinfarbenen Augen
sah er, wie ihr die Erkenntnis dämmerte. Schon unter normalen
Umständen war sie blaß, doch jetzt wurden ihre Wangen so bleich wie
der Elfenbeingriff des Brieföffners, der vor ihr auf dem
Schreibtisch lag.
Lange Zeit sagte sie kein Wort. Unverwandt hielt
sie den Blick auf Brianna gerichtet. Dann sah sie Roger an.
»Ja«, flüsterte sie so leise, daß es kaum zu hören
war. »Ja, finden Sie es heraus. Bitte! Finden Sie es heraus.«