5
Denn uns ist ein Kind geboren
Drei Wochen später hatte die Familie immer noch
nichts von Ian gehört. Fergus war seit mehreren Tagen nicht mehr
zur Höhle gekommen, und so wurde Jamie von einer fast schon
unerträglichen Sorge um seine Angehörigen im Gutshaus geplagt. Wenn
Jenny nichts mehr zu essen aufgetrieben hatte, war der Hirsch
sicher schon seit Tagen aufgebraucht, bei den vielen Mäulern, die
es zu stopfen galt. Und in dieser Jahreszeit gab nicht einmal der
Gemüsegarten etwas her.
Seine Sorge war so groß, daß er einen vorzeitigen
Besuch wagen, noch vor Sonnenuntergang aus den Hügeln herabsteigen
und unterwegs nach seinen Schlingen sehen wollte. Für alle Fälle
zog er seine braune, aus grobem Garn gestrickte Mütze über den
Kopf, damit sein Haar nicht unter einem verirrten Sonnenstrahl
aufleuchtete. Allein schon seine auffällige Größe erregte Verdacht.
Doch er vertraute auf die Kraft seiner Beine. Sollte er tatsächlich
auf eine englische Patrouille stoßen, würde er einfach die Flucht
ergreifen. Rechtzeitig gewarnt, hätte Jamie Fraser bei einer
Verfolgungsjagd in der Heide leichtes Spiel.
Als er sich dem Anwesen näherte, kam es ihm
ungewohnt ruhig vor. Kein Lärm von den Kindern - Jennys fünf und
die sechs Rangen der Pächter, ganz zu schweigen von Fergus und
Rabbie MacNab, die längst noch nicht zu alt waren, um sich
kreischend durch die Ställe zu jagen.
Abwartend blieb Jamie in der Tür stehen. Das Haus
wirkte leer. Er befand sich am Hintereingang, hatte die
Vorratskammer auf der einen Seite, die Spülküche auf der anderen
und die geräumige Küche vor sich. Gespannt lauschte er, während er
den überwältigenden Duft des Hauses in sich aufnahm. Nein, da war
etwas. Aus
der Küche kam ein leises Rascheln, gefolgt von einem regelmäßigen
Scheppern.
Da es sich nach einer vertrauten häuslichen Arbeit
anhörte, stieß er vorsichtig, aber nicht besonders ängstlich, die
Tür auf. Seine Schwester Jenny stand am Tisch und rührte in einer
gelben Schüssel.
»Was machst du da? Wo ist Mrs. Crook?«
Mit einem erschreckten Schrei ließ Jenny den Löffel
fallen.
»Jamie!« Sie war kreidebleich, preßte die Hand an
die Brust und schloß die Augen. »Du meine Güte! Mir wäre fast das
Herz stehengeblieben!« Sie öffnete die Augen, die ebenso blau
leuchteten wie seine, und musterte ihn durchdringend. »Und was um
alles in der Welt machst du hier? Ich hätte dich frühestens in
einer Woche erwartet.«
»Weil Fergus nicht mehr zur Höhle gekommen ist,
habe ich mir Sorgen gemacht«, antwortete er schlicht.
»Du bist ein lieber Kerl, Jamie.« In ihre Wangen
kehrte allmählich die Farbe zurück. Lächelnd trat sie auf ihren
Bruder zu und umarmte ihn. Kein leichtes Unterfangen bei dem
fortgeschrittenen Stadium ihrer Schwangerschaft, aber tröstlich.
Jamie ließ das Kinn auf ihrem dunklen, schimmernden Schopf ruhen
und atmete ihren Duft nach Kerzenwachs und Zimt, nach Talgseife und
Wolle ein.
»Wo sind die anderen?« fragte er, als er sie
widerstrebend freigab.
»Mrs. Crook ist gestorben«, antwortete sie. Die
feinen Falten zwischen ihren Brauen wurden tiefer.
»Aye?« fragte er leise und bekreuzigte sich. »Das
tut mir leid.« Mrs. Crook war als Küchenmagd zur Familie gekommen,
als seine Eltern vor über vierzig Jahren geheiratet hatten, und
später Haushälterin geworden. »Wann?«
»Gestern nachmittag, es kam nicht überraschend. Die
gute Seele hatte einen sanften Tod, ganz so, wie sie es sich
gewünscht hatte. Sie starb in ihrem Bett, während Vater McMurtry
ein Gebet für sie sprach.«
Nachdenklich blickte Jamie auf die Tür, die von der
Küche zu den Kammern der Dienstboten führte. »Ist sie noch
da?«
Seine Schwester schüttelte den Kopf. »Nein. Ich
habe ihrem Sohn vorgeschlagen, die Totenfeier bei uns abzuhalten,
aber die Crooks
hielten es angesichts der Umstände…« - mit dieser Umschreibung war
nicht nur Ians Verhaftung gemeint, sondern auch umherstromernde
Rotröcke, unterkriechende Pächter, der Mangel an Nahrung und Jamies
gefahrvoller Aufenthalt in der Höhle - »für besser, in Broch Mordha
im Haus ihrer Schwester zusammenzukommen. Die anderen sind jetzt
gerade dort. Aber ich habe mich entschuldigt, ich würde mich unwohl
fühlen.« Schelmisch lächelte sie ihn an. »In Wirklichkeit wollte
ich nur mal meine Ruhe haben.«
»Und jetzt komme ich und störe dich«, sagte Jamie
zerknirscht. »Soll ich gehen?«
»Nein, du Dummkopf«, entgegnete Jenny herzlich.
»Setz dich hin und schau mir beim Kochen zu.«
»Was gibt’s denn?« fragte er erwartungsvoll.
»Das hängt davon ab, was du mitgebracht hast.«
Schwerfällig stapfte Jenny durch die Küche, holte Zutaten aus
Schrank und Regal und rührte in dem Kessel über dem Feuer, aus dem
ein blasser Dampf aufstieg.
»Wenn du Wild dabeihast, essen wir heute Fleisch.
Wenn nicht, bleiben uns nur Brühe und Gerstenbrei.«
Jamie schnitt eine Grimasse. Die Aussicht erschien
ihm nicht gerade verlockend.
»Gott sei Dank hatte ich Glück.« Er knüpfte seine
Jagdtasche auf und ließ drei Kaninchen auf den Tisch fallen. »Und
Schlehen«, fügte er hinzu, während er den Inhalt seiner Kappe, die
nun von Saftflecken geziert war, auf einen Teller kippte.
Jenny riß die Augen auf. »Kaninchenpastete also«,
erklärte sie. »Zwar nicht mit Johannisbeeren, aber vielleicht sind
Schlehen ja sogar noch besser. Zum Glück reicht die Butter.«
Plötzlich entdeckte sie, daß sich in dem Fellhaufen etwas bewegte.
Resolut schlug sie mit der Hand auf den Tisch und machte dem
Eindringling den Garaus.
»Bring sie nach draußen und häute sie, Jamie, sonst
hüpfen uns die Flöhe noch durch die ganze Küche.«
Als er mit den gehäuteten Kaninchen zurückkam, war
der Pastetenteig schon fast fertig. Jenny hatte Mehlflecken auf dem
Kleid.
»Willst du die Tiere in Stücke schneiden und die
Knochen brechen, Jamie?« bat sie mit einem Blick in das Rezeptbuch,
das aufgeschlagen auf dem Tisch lag.
»Du kannst doch wohl eine Hasenpastete zubereiten,
ohne ins Buch zu sehen!« meinte er, während er gehorsam den großen
Holzhammer aus dem Küchenschrank holte. Er verzog das Gesicht, als
er das Gewicht in der Hand spürte. Nicht viel anders hatte der
Hammer ausgesehen, mit dem man ihm vor einigen Jahren in einem
englischen Gefängnis die rechte Hand gebrochen hatte.
»Aye, schon«, erwiderte Jenny abwesend, während sie
umblätterte. »Nur wenn einem die Hälfte der Zutaten für ein Rezept
fehlen, findet man hier manchmal Dinge, die man als Ersatz
verwenden kann.« Sie runzelte die Stirn. »Normalerweise nehme ich
Bordeaux für die Sauce. Aber außer den Fässern von Jared im
Priesterloch haben wir keinen mehr. Und die möchte ich nicht
anbrechen, denn womöglich brauchen wir sie noch.«
Wofür, lag auf der Hand. Ein Fäßchen Bordeaux
konnte Ians Freilassung erkaufen - oder zumindest Neuigkeiten über
seinen Verbleib. Verstohlen musterte Jamie Jennys runden Leib.
Selbst mit seiner beschränkten Erfahrung konnte er sagen, daß ihre
Zeit bald kommen würde. Ohne nachzudenken, griff er nach dem
Wasserkessel, tauchte seinen Dolch in das kochende Wasser und
schwenkte ihn darin herum, bevor er ihn trockenwischte.
»Warum machst du das, Jamie?« Jenny starrte ihn an.
Einige Strähnen hatten sich aus ihrem Haarband gelöst, und es
versetzte ihm einen Stich, als er in dem Dunkelbraun vereinzelte
silberne Haare schimmern sah.
»Ach«, sagte er mit übertriebener Gleichgültigkeit,
»das hat Claire mir beigebracht. Sie hat gesagt, man soll ein
Messer mit kochendem Wasser abwaschen, bevor man Fleisch damit
schneidet.«
Jennys fragenden Blick spürte er mehr, als daß er
ihn sah. Sie hatten nur ein einziges Mal von Claire gesprochen,
damals, als er halbtot und fast bewußtlos aus Culloden
zurückgebracht worden war.
»Sie ist fort«, hatte er erklärt und den Kopf
abgewandt. »Erwähne ihren Namen nie wieder.« Jenny hatte seinen
Wunsch befolgt. Auch er hatte Claires Namen nie wieder in den Mund
genommen. Warum er es heute tat, wußte er nicht, aber vielleicht
lag es an seinen Träumen.
Sie kamen oft, immer in anderer Form, und stets
ließen sie ihn mit dem beunruhigenden Gefühl zurück, Claire sei ihm
so nahe gewesen,
daß er sie hätte berühren können, bevor sie entschwand. Manchmal
war er beim Aufwachen überzeugt, daß ihr Geruch an ihm haftete,
moschusartig und kräftig, gewürzt mit dem scharfen, frischen Duft
nach Blättern und Kräutern. Und mehr als einmal hatte er in den
Träumen seinen Samen vergossen, was ihn leicht beunruhigte. Um dem
Gespräch eine andere Wendung zu geben, wies Jamie auf Jennys
Bauch.
»Wann ist es denn soweit?« fragte er. »Du siehst
aus wie einer von diesen Pilzen, die man nur ansticht, und puff,
ist die Luft raus.«
»Ach ja? Wenn es mit einem Puff doch nur getan
wäre!« Sie bog den Rücken durch, so daß sich ihr Bauch beängstigend
vorwölbte, und rieb sich das Kreuz. Jamie trat zurück an die Wand,
um ihr Platz zu machen. »Was deine Frage betrifft, es kann
jederzeit losgehen. Genau weiß ich es nicht.« Sie nahm einen Becher
und maß aus einem besorgniserregend leeren Sack Mehl ab.
»Schicke jemanden zur Höhle, wenn du Wehen hast«,
sagte er plötzlich. »Ich komme, ganz gleich, was mit den Rotröcken
ist.«
Jenny hielt inne und starrte ihn an.
»Du? Warum denn?«
»Na, weil Ian nicht da ist.« Er nahm eins der
gehäuteten Kaninchen und schnitt geübt einen Schenkel ab. Dann
löste er das Fleisch vom Knochen.
»Der wäre mir auch keine große Hilfe«, entgegnete
Jenny. »Seinen Teil hat er vor neun Monaten erledigt.« Sie zog die
Nase kraus und griff nach der Butterdose.
»Mmmpf.« Zum Weiterarbeiten ließ er sich auf einen
Schemel sinken, so daß er ihren Bauch in Augenhöhe vor sich hatte.
Als ihre Schürze verrutschte, sah er, daß das Baby in ihrem Leib
strampelte. Er konnte nicht anders, er mußte die Hand ausstrecken
und Jenny sanft über den Bauch streichen.
»Schick Fergus zu mir, wenn deine Zeit gekommen
ist«, wiederholte er.
Jenny sah ihn entnervt an und schob seine Hand mit
dem Löffel fort. »Hab’ ich dir nicht gerade eben gesagt, daß ich
dich nicht brauchen kann? Um Himmels willen, ich habe schließlich
schon Sorgen genug - das Haus voller Leute, für die das Essen nicht
reicht, Ian im Gefängnis und überall Rotröcke, die mir in die
Fenster
spähen, kaum daß ich mich umdrehe. Soll ich auch noch Angst haben,
daß man dir auf die Spur kommt?«
»Um mich brauchst du dich nicht zu sorgen. Ich
passe schon auf mich auf.« Bei diesen Worten richtete er seine
ganze Aufmerksamkeit auf das Vorderbein, das er gerade
bearbeitete.
»Dann sieh dich vor und bleib in den Bergen.« Sie
blickte ihn über den Rand der Schüssel hinweg an. »Ich habe schon
sechs Kinder geboren. Meinst du nicht, ich weiß allmählich, wie das
geht?«
»Du mußt aber auch immer das letzte Wort haben,
was?«
»Genau«, entgegnete sie. »Also, du bleibst in der
Höhle!«
»Ich komme!«
Jenny kniff die Augen zusammen und fixierte ihn
streng. »Du bist wirklich der größte Dickkopf zwischen Lallybroch
und Aberdeen!«
Ein breites Lächeln zog über Jamies Gesicht.
»Vielleicht«, erwiderte er. Dann strich er ihr über
den runden Bauch. »Vielleicht aber auch nicht. Ich komme. Schick
Fergus, wenn es soweit ist.«
Drei Tage später, gegen Morgengrauen, stolperte
Fergus keuchend den Abhang zur Höhle hoch. Da er in der Dunkelheit
den Pfad verfehlt hatte, machte er so viel Lärm, daß Jamie ihn
kommen hörte, lange bevor er den Eingang erreicht hatte.
»Mylord…«, setzte er außer Atem an. Aber Jamie, der
sich im Gehen den Mantel überwarf, war schon an ihm
vorbeigestürmt.
»Aber Mylord…!« Fergus, der noch immer nach Luft
schnappte, hatte Angst. »Mylord, die Soldaten!«
»Soldaten?« Jamie blieb unvermittelt stehen und
drehte sich um. Ungeduldig wartete er, bis der junge Franzose ihn
wieder einholte. »Welche Soldaten?« fragte er, als Fergus den
letzten Schritt auf ihn zurutschte.
»Englische Dragoner. Die Herrin hat mich geschickt.
Ich soll Ihnen sagen, daß Sie die Höhle auf gar keinen Fall
verlassen dürfen. Einer der Männer hat gesehen, wie die Soldaten
gestern bei Dunmaglas ihr Lager aufgeschlagen haben.«
»Verdammt!«
»Ja, Mylord.« Fergus setzte sich auf einen Stein
und fächelte sich Luft zu. Noch immer atmete er schwer.
Jamie zögerte. Alles in ihm wehrte sich dagegen, in
die Höhle zurückzukehren. Seit Fergus aufgetaucht war, klopfte ihm
das Herz vor lauter Aufregung bis zum Halse, und es widerstrebte
ihm, wie ein Schwächling in sein Versteck zurückzukriechen.
»Mmmpf.« Nachdenklich sah er Fergus an. Dessen
schlanke Gestalt zeichnete sich unscharf im Dämmerlicht vor dem
dunklen Stechginster ab. Sein Gesicht war nicht mehr als ein heller
Fleck. Plötzlich keimte in Jamie ein Verdacht. Warum hatte seine
Schwester Fergus zu dieser ungewohnten Stunde zu ihm gesandt?
Wenn er so dringend vor den Dragonern gewarnt
werden mußte, wäre es sicherer gewesen, Fergus bei Nacht zu
schicken. Und wenn es nicht so dringend war, warum nicht bis
nächste Nacht warten? Die Antwort lag auf der Hand - Jenny glaubte
wohl, daß sie in der kommenden Nacht keinen Boten mehr ausschicken
konnte.
»Wie geht es meiner Schwester?« erkundigte er sich
bei Fergus.
»Ach, gut, Mylord, ganz gut.« Der herzhafte Ton, in
dem das gesagt wurde, bestätigte Jamies Verdacht.
»Das Kind kommt, oder?« forschte er nach.
»Nein, Herr! Ganz bestimmt nicht!«
Jamie packte Fergus an den Schultern. Die Glieder
kamen ihm zart und zerbrechlich vor. Sie erinnerten ihn an die
Kaninchenknochen, die er für Jenny zerschmettert hatte.
Nichtsdestotrotz griff er fester zu, und Fergus versuchte, sich aus
seiner Hand zu winden.
»Sag die Wahrheit, Junge!«
»Nein, Mylord, ehrlich!«
Jamies Griff wurde unerbittlich. »Hat sie dir
verboten, davon zu sprechen?« Jenny mußte ihr Verbot mit
drastischen Drohungen unterstrichen haben, denn Fergus beantwortete
die Frage mit offensichtlicher Erleichterung.
»Ja, Mylord.«
»Aha!« Er gab den Jungen frei, und Fergus sprang
auf die Füße. Die Worte sprudelten aus ihm heraus, während er sich
die knochige Schulter rieb.
»Sie hat gesagt, ich darf nur von den Soldaten
erzählen. Wenn nicht, würde sie mir die Eier abschneiden und sie
wie Wurst mit Rüben zu einem Eintopf verarbeiten.«
Jamie konnte sich ein Lächeln nicht
verkneifen.
»Wir haben zwar nicht genug zu essen«, versicherte
er seinem Schützling, »aber so knapp sind wir nun auch nicht dran.«
Er blickte zum Horizont, wo sich hinter den zackigen Wipfeln der
Kiefern eine schimmernde rote Linie abzeichnete. »Laß uns
aufbrechen. In einer halben Stunde wird es hell.«
Als sie an diesem Morgen am Haus eintrafen, wirkte
es weder einsam noch verlassen. Jeder, der Augen im Kopf hatte,
konnte sehen, daß die Dinge in Lallybroch nicht ihren gewohnten
Verlauf nahmen. Der gefüllte Waschkessel stand auf der erloschenen
Feuerstelle im Hof, flehendes Brüllen aus dem Stall zeigte an, daß
die Kuh gemolken werden wollte, und gereiztes Blöken aus dem
Ziegenschlag verkündete, daß die Insassinnen der gleichen
Aufmerksamkeit bedurften.
Als Jamie in den Hof kam, stoben drei Hühner vor
Jehu, dem Terrier, in wilder Flucht davon. Jamie sprang vor und
versetzte dem Hund einen Tritt in die Rippen. Der wurde
herumgeschleudert und landete mit einem erstaunten Ausdruck und
einem Japsen vor Jamie im Staub. Dann rappelte er sich auf und
trollte sich.
Jennys Kinder, die älteren Jungen, Mary MacNab und
Sukie, die zweite Küchenmagd, hatten sich unter dem wachsamen Auge
von Mrs. Kirby im Wohnzimmer versammelt. Die strenge Witwe las
ihnen aus der Bibel vor.
»Und Adam ward nicht verführt; das Weib aber ward
verführt und ist der Übertretung verfallen.« Da kam von oben ein
lauter Schrei, der einfach nicht enden wollte. Mrs. Kirby schwieg
einen Moment lang, damit die anderen ihn würdigen konnten, dann
fuhr sie fort. Ihre Augen, blaß und grau und feucht wie frische
Austern, blickten zur Decke, bevor sie befriedigt auf den besorgten
Gesichtern der anderen zur Ruhe kamen.
»Sie wird aber selig werden dadurch, daß sie Kinder
zur Welt bringt…«, las sie. Kitty brach in verzweifeltes Schluchzen
aus. Maggie Ellen wurde rot, während bei ihrem älteren Bruder alle
Farbe aus dem Gesicht gewichen war.
»Mrs. Kirby«, sagte Jamie. »Würden Sie bitte
aufhören!«
Die Worte waren höflich, doch in seinen Augen lag
derselbe Ausdruck, den Jehu vor seinem Salto auf dem Hof gesehen
hatte. Mrs. Kirby schnappte nach Luft und ließ die Bibel
fallen.
»Ihr geht jetzt alle besser in die Küche und macht
euch nützlich«, wies er sie an. Sukie, die Küchenmagd, flatterte
davon. Mit weitaus mehr Würde, aber ohne zu zögern, stand Mrs.
Kirby auf und folgte ihr.
Beflügelt von seinem Sieg, teilte Jamie den anderen
gleichfalls Aufgaben zu. Witwe Murray und ihre drei Töchter sollten
sich des Waschkessels annehmen, und die kleineren Kinder mußten
unter Mary MacNabs Aufsicht die Hühner einfangen. Und die älteren
Jungen zogen offensichtlich erleichtert davon, um das Vieh zu
versorgen.
Als sich der Raum geleert hatte, blieb Jamie stehen
und überlegte, was er selbst tun sollte. Er mußte im Haus bleiben
und Wache halten, obwohl er - wie Jenny ihm klargemacht hatte -
nicht weiter helfen konnte. Im Hofeingang stand ein fremdes
Maultier mit Fußfesseln, also war die Hebamme wahrscheinlich schon
oben bei seiner Schwester.
Da er nicht stillsitzen konnte, schlenderte er mit
der Bibel in der Hand durch das Wohnzimmer und besah sich die
vertrauten Dinge: Jennys Bücherregal, das beim letzten Einfall der
Rotröcke vor drei Monaten lauter Dellen und Schrammen davongetragen
hatte, und den großen, silbernen Tafelaufsatz, der wohl zu schwer
gewesen war, um im Rucksack eines Soldaten fortgetragen zu werden.
Ohnehin hatten die Engländer nicht viel ergattert, denn die wenigen
Wertsachen und der kleine Goldvorrat lagen sicher verwahrt bei
Jareds Wein im Priesterloch.
Als er von oben ein Stöhnen hörte, fiel sein Blick
unwillkürlich auf die Bibel. Er schlug sie auf und las die
Eintragungen auf den ersten Seiten, wo die Hochzeiten, Geburten und
Todesfälle der Familie verzeichnet waren.
Zuoberst die Hochzeit seiner Eltern, Brian Fraser
und Ellen MacKenzie. Namen und Daten waren in der sauberen, runden
Handschrift seiner Mutter festgehalten, doch darunter stand in den
resoluten Buchstaben seines Vaters: Zusammengeführt durch die
Liebe. Eine treffende Ergänzung, wenn man den nächsten Eintrag
- Willies Geburt kaum zwei Monate nach der Hochzeit - las.
Wie immer mußte Jamie bei diesen Worten lächeln. Er
blickte auf das Gemälde, das ihn im Alter von zwei Jahren neben
Willie und Nairn, dem großen Jagdhund, zeigte. An Willie, der mit
elf
Jahren an den Pocken gestorben war, erinnerte sonst nichts mehr im
Haus. In der Leinwand des Gemäldes klaffte ein Loch -
wahrscheinlich das Werk eines Bajonetts, mit dem der Besitzer der
Waffe seiner Enttäuschung Luft gemacht hatte.
»Wenn du nicht gestorben wärst«, fragte er leise
seinen Bruder auf dem Bild, »was wäre dann wohl geschehen?«
Ja, was wohl? Da fiel sein Blick auf den letzten
Eintrag. Caitlin Maisri Murray, geboren am 3. Dezember 1749,
gestorben am 3. Dezember 1749. Aye, was? Wenn die Rotröcke
nicht am 2. Dezember ins Haus gestürmt wären, wäre Jennys Kind dann
auch zu früh geboren worden? Wenn Jenny genug zu essen gehabt und
nicht wie die anderen auch nur aus Haut und Knochen bestanden
hätte, wäre es dann anders gekommen?
»Das werden wir nie erfahren«, sagte er zu dem
Bild. Auf dem Gemälde lag Willies Hand auf seiner Schulter, und er
wußte noch, wie sicher er sich immer gefühlt hatte, wenn Willie in
seiner Nähe war.
Wieder kam ein Schrei von oben, und ihn überkam
plötzlich Angst.
»Bete für uns, Bruder!« flüsterte er und
bekreuzigte sich. Dann legte er die Bibel hin und ging zur Scheune,
um bei den Tieren zu helfen.
Aber dort gab es nicht viel für ihn zu tun. Für
Rabbie und Fergus war es ein leichtes, die wenigen Tiere zu
versorgen, die sie noch besaßen, und der zehnjährige Jamie konnte
ihnen schon gut zur Hand gehen. Um sich zu beschäftigen, sammelte
Jamie verstreutes Heu vom Boden und brachte es zum Maultier der
Hebamme. Wenn das Heu aufgebraucht war, würden sie die Kuh
schlachten müssen, denn für sie gab es in den winterlichen Bergen
nicht mehr genug Futter, selbst wenn man die Kinder ausschickte, um
Gras und Kräuter zu sammeln. Mit etwas Glück würde ihr Fleisch bis
zum Frühjahr reichen.
Als er in die Scheune zurückkehrte, sah Fergus von
seiner Mistgabel auf.
»Ist das eine erfahrene Hebamme?« wollte er wissen.
»Hat sie einen guten Ruf?« Trotzig schob er sein schmales Kinn vor.
»Wir dürfen Madame nicht irgendeiner Bäuerin anvertrauen.«
»Wie soll ich das wissen?« entgegnete Jamie
unwirsch. »Ich hatte noch nicht oft die Gelegenheit, eine Hebamme
zu bestellen.« Mrs. Martin, die den anderen Kindern der Murrays auf
die Welt geholfen hatte, war während der Hungersnot nach Culloden
gestorben. Die neue Hebamme, Mrs. Innes, war weitaus jünger, und er
hoffte, daß sie ihr Handwerk verstand.
Rabbie schien geneigt, seinem Freund zu
widersprechen. Wütend wandte er sich zu Fergus um. »Was meinst du
mit Bäuerin? Du bist selber ein Bauer, hast du das noch nicht
gemerkt?«
Würdevoll sah Fergus seinen Freund an, obwohl er
dafür den Kopf zurücklegen mußte, weil dieser ein paar Zoll größer
war.
»Ob ich ein Bauer bin oder nicht, spielt keine
Rolle«, erwiderte er hochmütig. »Ich versuche mich ja schließlich
nicht als Hebamme.«
»Aber als Angeber!« Rabbie versetzte seinem Freund
einen Stoß. Fergus stieß einen überraschten Schrei aus und fiel
nach hinten auf den harten Stallboden. Aber im nächsten Moment war
er schon wieder auf den Beinen. Er wollte sich auf Rabbie stürzen,
der lachend auf dem Rand einer Futterkrippe hockte, doch Jamie
packte ihn beim Kragen und zog ihn fort.
»Schluß damit!« befahl er. »Wir wollen doch nicht
das bißchen Heu verderben, das uns noch geblieben ist.« Er stellte
Fergus wieder auf die Füße. »Was weißt du schon von Hebammen?«
fragte er, um ihn abzulenken.
»Eine ganze Menge, Mylord.« Großspurig klopfte sich
Fergus den Staub von der Jacke. »Viele der Damen bei Madame Elise
waren im Bett, als ich dort wohnte…«
»Kein Wunder, bei dem Gewerbe«, fiel Jamie ihm
trocken ins Wort. »Oder meinst du das Wochenbett?«
»Natürlich, Wochenbett. Ich bin schließlich auch
dort geboren.« Stolz blähte der junge Franzose die Brust.
»In der Tat.« Jamies Mundwinkel zuckten. »Und da
hast du wohl sorgfältige Beobachtungen angestellt, so daß du jetzt
weißt, wie eine Geburt vonstatten gehen sollte.«
Fergus ließ sich von Jamies Spott nicht aus der
Ruhe bringen.
»Natürlich«, erwiderte er ungerührt. »Die Hebamme
muß ein Messer unters Bett legen, um die Schmerzen zu
zerschneiden.«
»Ich glaube nicht, daß sie das getan hat«, murmelte
Rabbie. »Es
hört sich jedenfalls nicht danach an.« In der Scheune bekam man
zwar nicht alles mit, aber einige Schreie drangen doch bis zu ihnen
durch.
»Und dann muß ein Ei mit Weihwasser besprengt und
ans Fußende des Bettes gelegt werden, damit das Kind leichter auf
die Welt kommt«, fuhr Fergus ungerührt fort. Er runzelte die
Stirn.
»Ich habe der Hebamme ein Ei gegeben, aber sie
schien nicht zu wissen, was sie damit anfangen sollte. Dabei halte
ich es schon seit einem Monat bereit«, fügte er klagend hinzu. »Wo
unsere Hennen doch kaum noch legen! Ich wollte sichergehen, daß
alles, was gebraucht wird, zur Verfügung steht. Nach der Geburt muß
die Hebamme aus der Plazenta einen Tee kochen und der Frau zu
trinken geben, damit die Milch reichlich fließt.«
Rabbie gab Geräusche von sich, als müßte er sich
erbrechen. »Von der Nachgeburt?« fragte er ungläubig. »Herr im
Himmel!«
Jamie wurde selbst ein wenig mulmig bei diesem
Gedanken.
»Ach«, sagte er betont beiläufig zu Rabbie. »Die
Franzosen essen schließlich auch Frösche und Schnecken. Was ist da
schon eine Nachgeburt?« Insgeheim aber fragte er sich, wie lange es
noch dauern würde, bis auch sie Frösche und Schnecken aßen. Doch
das behielt er lieber für sich.
Rabbie tat so, als müßte er würgen. »Mein Gott,
diese Franzosen!«
Fergus, der neben Rabbie stand, wirbelte herum und
hieb ihm die Faust in den Bauch. Zwar war er klein und schmächtig
für sein Alter, aber er besaß Kraft und wußte aus seiner Zeit als
Taschendieb in den Straßen von Paris, wo der schwächste Punkt eines
Mannes war. Der Hieb raubte Rabbie den Atem, und mit einem matten
Keuchen sank er in sich zusammen.
»Wo bleibt dein Respekt?« schimpfte Fergus. Rabbies
Gesicht färbte sich rot, und er schnappte nach Luft. Seine Augen
quollen hervor, und er sah so komisch aus, daß Jamie sich trotz
seiner Sorge um Jenny und seines Ärgers über die Jungen kaum das
Lachen verkneifen konnte.
»Wenn Ihr Lausejungen eure Pfoten nicht -«, setzte
er an. Aber da unterbrach ihn ein Schrei vom jungen Jamie, der bis
dahin stumm und gespannt dem Gespräch gelauscht hatte.
»Was gibt’s?« Jamie wirbelte herum. In einem Reflex
fuhr seine
Hand zur Pistole, die er immer bei sich trug, wenn er die Höhle
verließ. Aber es war nicht die englische Patrouille, die er
befürchtet hatte.
»Zum Teufel, was ist los?« Aber als er in die
angewiesene Richtung blickte, sah er es selbst. Drei kleine
schwarze Punkte, die über dem Kartoffelacker ihre Kreise
zogen.
»Krähen«, sagte er leise und spürte, wie sich seine
Nackenhaare aufstellten. Wenn diese Vögel, Symbole des Kriegs und
des Gemetzels, bei einer Geburt über das Haus flogen, war das ein
böses Omen. Eine der üblen Kreaturen ließ sich sogar auf dem Dach
nieder.
Ohne nachzudenken, zog Jamie die Pistole und zielte
sorgfältig. Es war nicht gerade einfach, auf die große Entfernung
von der Stalltür bis zum Dach des Haupthauses zu treffen,
aber…
Er feuerte, und die Krähe zerbarst in einer Wolke
schwarzer Federn. Ihre beiden Freundinnen stoben aufgeschreckt in
die Lüfte, und gleich darauf hörte man nur noch ihr heiseres
Krächzen.
»Mon Dieu!« staunte Fergus. »C’est bien,
çà!«
»Aye, ein guter Schuß, Sir!« Rabbie, der noch immer
mit rotem Gesicht nach Luft schnappte, hatte sich rechtzeitig
aufgerappelt, um die Ereignisse verfolgen zu können. Jetzt wies er
auf das Haus. »Da, Sir! Ist das nicht die Hebamme?«
Er hatte recht. Mrs. Innes steckte im ersten Stock
den Kopf aus dem Fenster und spähte hinunter in den Hof.
Wahrscheinlich hatte sie den Schuß gehört und befürchtete
Schwierigkeiten. Jamie trat ins Freie und winkte ihr beruhigend
zu.
»Alles in Ordnung«, rief er. »Nur ein kleines
Mißgeschick.« Die Krähen erwähnte er lieber nicht, denn sonst würde
die Hebamme womöglich noch Jenny davon erzählen.
»Kommen Sie rauf«, rief sie, ohne auf seine Worte
zu achten. »Das Kind ist da. Ihre Schwester will Sie
sprechen.«
Jenny blinzelte ihn erschöpft an.
»Dann bist du also doch gekommen.«
»Irgend jemand mußte doch dasein - und sei es auch
nur, um für dich zu beten«, entgegnete er unwirsch.
Sie schloß die Augen, und ihre Lippen kräuselten
sich zu einem Lächeln.
»Du bist ein dummer Junge! Aber froh bin ich
trotzdem«, flüsterte sie. Dann richtete sie sich auf und blickte
auf das Bündel in ihrem Arm.
»Möchtest du ihn sehen?«
»Aha, ein Junge ist es also!« Mit der
Geschicklichkeit, die er sich in all den Jahren als Onkel erworben
hatte, nahm er ihr das Kind ab und schloß es in die Arme. Dann
schlug er die Decke zurück, die dem Kleinen übers Gesicht gefallen
war.
Das Neugeborene hatte die Augen so fest
zugekniffen, daß sogar die Wimpern in seiner tiefen Lidfalte
verschwunden waren. Die Augenlider selbst stiegen über den weichen,
roten Backen schräg nach oben, was erkennen ließ, daß er zumindest
darin seiner Mutter ähnelte.
Der kleine, runde Mund hatte sich entspannt
geöffnet, und die feuchte, rosige Unterlippe bebte leise, als er
sich leise schnarchend von den Anstrengungen der Geburt
erholte.
»Ein hartes Stück Arbeit, oder?« fragte Jamie das
Kind. Doch die Antwort kam von der Mutter.
»Aye, das war es wirklich! Im Wandschrank steht
Whisky. Würdest du mir bitte ein Glas holen?« Sie räusperte sich
heiser.
»Whisky? Nicht lieber Ale mit einem zerschlagenen
Ei darin?« fragte er und versuchte, den Gedanken an das kräftigende
Gebräu, das Fergus den Frauen nach einer Geburt kredenzen wollte,
zu verdrängen.
»Nein, Whisky«, bestimmte seine Schwester. »Als du
todkrank unten in deinem Zimmer gelegen hast und an deinem
entzündeten Bein fast gestorben wärst, habe ich dir da Ale mit
zerschlagenem Ei gegeben?«
»Sogar noch Schlimmeres«, erwiderte ihr Bruder
grinsend. »Aber es stimmt, den Whisky hast du mir nicht
vorenthalten.« Er legte das schlafende Kind vorsichtig auf die
Bettdecke und ging zum Schrank.
»Weißt du schon, wie er heißen soll?« fragte er,
als er einen großzügigen Schluck von der bernsteinfarbenen
Flüssigkeit einschenkte.
»Ich will ihn Ian nennen, nach seinem Vater.«
Zärtlich ließ Jenny die Hand auf dem goldbraunen Flaum des runden
Schädels ruhen. Der Kleine wirkte unglaublich zerbrechlich, aber
die Hebamme
hatte Jamie versichert, er sei ein prächtiger Bursche, und so
mußte er ihr wohl Glauben schenken. Plötzlich wurde Jamie von dem
Wunsch überwältigt, dieses empfindliche Wesen zu schützen, und er
nahm es wieder auf.
»Mary MacNab hat mir von deinem Zusammenprall mit
Mrs. Kirby erzählt«, meinte Jenny. »Schade, daß ich nicht dabei war
- sie meint, die elende alte Schachtel hätte vor Schreck beinahe
ihre Zunge verschluckt.«
Jamie lächelte und klopfte dem Baby, das auf seiner
Schulter lag, sachte auf den Rücken.
»Hätte sie es doch nur getan! Wie erträgst du es
nur, daß diese Frau in deinem Haus wohnt? Ich würde sie erwürgen,
wenn ich jeden Tag hier wäre.«
Seine Schwester schnaubte und schloß die Augen.
»Ach, ein anderer ärgert einen nur dann, wenn man sich ärgern läßt.
Und ich habe ihr keine Gelegenheit dazu gegeben. Trotzdem, leid
täte es mir nicht, wenn sie fortginge. Ich habe vor, sie dem alten
Kettrick aus Broch Mordha unterzuschieben. Im letzten Jahr sind
seine Frau und seine Tochter gestorben, und er braucht jemanden für
den Haushalt.«
»Aye, aber an Samuel Kettricks Stelle würde ich
lieber die Witwe Murray als die Witwe Kirby nehmen«, wandte Jamie
ein.
»Peggy Murray ist schon vergeben«, versicherte ihm
seine Schwester. »Im Frühjahr heiratet sie Duncan Gibbins.«
»Da hat Duncan ja rasch zugegriffen«, meinte er
überrascht. Aber nach kurzem Nachdenken grinste er Jenny an. »Oder
wissen die beiden noch nichts von ihrem Glück?«
»Nein«, grinste sie zurück. Dann trat ein fragender
Ausdruck auf ihr Gesicht.
»Es sei denn, du hast selbst ein Auge auf Peggy
geworfen.«
»Ich?« Jamie war so verdutzt, als hätte sie ihm
vorgeschlagen, aus dem Fenster zu springen.
»Sie ist erst fünfundzwanzig, kann also noch viele
Kinder kriegen«, führte Jenny ins Feld. »Und eine gute Mutter ist
sie auch.«
»Wieviel Whisky hast du heute eigentlich schon
getrunken?« Den Kopf des Babys schützend in der Hand geborgen,
beugte sich Jamie über seine Schwester und gab vor, in ihr Glas zu
spähen.
»Ich lebe wie ein Tier in einer Höhle, und du
meinst, ich soll mir
eine Frau nehmen?« Plötzlich fühlte er sich leer. Um vor ihr zu
verbergen, wie sehr ihn der Vorschlag aus der Fassung brachte,
stand er auf und ging mit dem Bündel im Zimmer auf und ab.
»Wie lange ist es her, daß du bei einer Frau
gelegen hast, Jamie?« fragte Jenny im Plauderton. Aufgebracht
wandte er sich auf dem Absatz um und starrte sie an.
»So etwas fragt man einen Mann nicht!« schimpfte
er.
»Jedenfalls hattest du kein Mädchen hier aus der
Gegend«, fuhr sie fort, ohne ihn zu beachten. »Denn davon hätte ich
gehört. Und auch keine von den Witwen, nehme ich an.« Sie schwieg
abwartend.
»Du weißt verdammt gut, daß ich keine Frau
angerührt habe«, entgegnete er. Er merkte, wie er vor Ärger rot
wurde.
»Warum nicht?« fragte seine Schwester direkt.
»Warum nicht?« Verdutzt starrte er sie an. »Hast du
den Verstand verloren? Hältst du mich etwa für einen dieser Kerle,
die sich nachts von Haus zu Haus schleichen und sich zu jeder Frau
legen, die ihn nicht mit dem Gürtel wieder hinausprügelt?«
»Als ob das bei dir eine täte. Nein, du bist ein
guter Kerl, Jamie.« Jenny lächelte traurig. »Du nutzt keine Frau
aus, um deinen Spaß zu haben. Erst würdest du sie heiraten,
oder?«
»Nein«, entgegnete er heftig. Das Baby wand sich
und grunzte im Schlaf. Er schob es auf seine andere Schulter und
klopfte ihm beruhigend auf den Rücken. Gleichzeitig funkelte er
seine Schwester wütend an. »Ich habe nicht die Absicht, wieder zu
heiraten. Versuch bloß nicht, mich zu verkuppeln, Jenny Murray! Ich
will das nicht, hast du verstanden?«
»Ich habe es vernommen«, erklärte sie, nicht im
geringsten beeindruckt. Dann setzte sie sich noch ein bißchen
weiter auf, um ihm in die Augen sehen zu können.
»Willst du bis ans Ende deiner Tage wie ein Mönch
leben?« fragte sie. »Und wenn du begraben wirst, keinen haben, der
dich betrauert oder für dich betet?«
»Kümmere dich um deinen eigenen Kram, verdammt noch
mal!« Mit klopfendem Herzen drehte er ihr den Rücken zu, ging ans
Fenster und starrte blicklos in den Hof hinunter.
»Ich weiß, daß du um Claire trauerst.« Seine
Schwester sprach leise. »Glaubst du, ich könnte Ian vergessen, wenn
er nicht mehr
zurückkäme? Aber du mußt weiterleben, Jamie! Claire hätte sicher
nicht gewollt, daß du dein Leben lang allein bleibst.«
Lange Zeit sagte er nichts. Er stand einfach nur da
und spürte den warmen Babykopf mit dem weichen Flaum, der an seinem
Hals lag. Undeutlich zeichnete sich in dem Fensterglas sein
Spiegelbild ab, eine hochgewachsene, dunkle Männergestalt mit einem
weißen Bündel unter dem grimmigen Gesicht.
»Sie war schwanger«, sagte er schließlich leise zu
seinem Spiegelbild. »Damals, als ich - sie verloren habe.« Wie
sollte er es sonst ausdrücken? Er konnte seiner Schwester nicht
erzählen, wo Claire war - wo sie hoffentlich war. Daß er an keine
andere Frau denken konnte, weil er hoffte, daß sie - obwohl er sie
für immer verloren hatte - am Leben war.
Jenny schwieg. Schließlich fragte sie: »Bist du
deshalb heute zu mir gekommen?«
Er seufzte, drehte sich zu ihr um und lehnte den
Kopf an die kühle Scheibe. Seine Schwester hatte sich wieder
hingelegt. Die dunklen Haare auf dem Kissen umrahmten ihr Gesicht
wie ein Heiligenschein, und die Augen, mit denen sie ihn musterte,
waren sanft.
»Aye, vielleicht. Da ich meiner Frau schon nicht
helfen konnte, wollte ich wenigstens dir beistehen. Nicht, daß ich
von großem Nutzen war«, fügte er hinzu. »Dir konnte ich ebensowenig
helfen wie damals ihr.«
Jenny streckte den Arm nach ihm aus. Ihr Gesicht
war voller Kummer. »Jamie, mo chridhe!« seufzte sie. Und
dann kam von unten ein Poltern, Krachen und lautes Gebrüll.
Entsetzt riß Jenny die Augen auf.
»Heilige Jungfrau Maria!« rief sie. »Die
Engländer!«
»Herr im Himmel!« Es war sowohl ein Stoßgebet als
auch ein Ausdruck der Überraschung. In aller Eile schätzte Jamie
die Entfernung vom Bett zum Fenster ab, erwog, ob er flüchten oder
sich verstecken sollte. Auf der Treppe war schon Stiefelgetrappel
zu hören.
»In den Schrank, Jamie«, zischte Jenny. Ohne Zögern
trat er in den Wandschrank und zog die Tür hinter sich zu.
Im nächsten Augenblick wurde die Tür aufgestoßen,
und ein Rotrock mit Dreispitz und gezogenem Schwert stand auf der
Schwelle. Der Dragonerhauptmann ließ den Blick durch den Raum
schweifen und heftete ihn schließlich auf die zierliche Person im
Bett.
»Mrs. Murray?« fragte er.
Jenny richtete sich mühsam auf.
»Ja. Und was, in drei Teufels Namen, wollen Sie in
meinem Haus?« herrschte sie ihn an. Ihr Gesicht war blaß und von
einem Schweißfilm überzogen, ihre Hände zitterten, aber sie reckte
das Kinn vor und funkelte den Mann wütend an. »Machen Sie, daß Sie
rauskommen!«
Ohne auf ihre Worte zu achten, durchquerte der
Hauptmann den Raum und trat ans Fenster. »Einer meiner Späher hat
in der Umgebung dieses Hauses einen Schuß gehört. Wo sind Ihre
Männer?«
»Wir haben hier keine. Sie haben meinen Mann doch
schon mitgenommen - und mein ältester Sohn ist gerade erst zehn.«
Von Rabbie und Fergus sprach sie nicht; ein Junge in ihrem Alter
wurde bereits als Mann be- oder auch mißhandelt. Mit etwas Glück
hatten sie sich noch aus dem Staub machen können, als die Dragoner
auftauchten.
Aber der Hauptmann, ein Mann mittleren Alters,
hatte schon so allerhand erlebt und war daher nicht sonderlich
gutgläubig.
»Waffenbesitz ist im Hochland ein schweres
Verbrechen«, erklärte er und wandte sich zu dem Soldaten um, der
nach ihm eingetreten war. »Durchsuchen Sie das Haus,
Jenkins!«
Er mußte schreien, um seinen Befehl zu erteilen,
denn im Treppenhaus wurden Stimmen laut. Als sich Jenkins zur Tür
umdrehte, schoß Mrs. Innes, die Hebamme, an ihm vorbei.
»Lassen Sie die arme Frau in Frieden!« schrie sie
den Hauptmann an und stemmte die Hände in die Hüften. Obwohl ihre
Stimme zitterte und sich die Haare aus ihrem Knoten gelöst hatten,
wich und wankte sie nicht. »Scheren Sie sich raus! Lassen Sie die
Frau in Ruhe.«
»Aber ich habe Ihrer Herrin doch gar nichts getan«,
beschwerte sich der Hauptmann, der unsicher geworden war und Mrs.
Innes offensichtlich für eins der Hausmädchen hielt. »Ich wollte
doch nur…«
»Und dabei ist seit der Geburt noch keine Stunde
vergangen. Finden Sie das anständig, daß Sie hier hereinplatzen und
-«
»Geburt?« Die Stimme des Hauptmanns war schärfer
geworden, und mit neuer Wachsamkeit sah er von der Hebamme zum
Bett. »Sie haben ein Kind bekommen, Mrs. Murray? Wo ist es
denn?«
Das fragliche Kind begann, sich in seinen Decken zu
rühren, weil es von seinem schreckensstarren Onkel zu fest an die
Brust gepreßt wurde. Aus seinem Versteck konnte Jamie sehen, wie
das Gesicht seiner Schwester kreidebleich wurde und wie sie die
Lippen zusammenpreßte.
»Das Kind ist tot«, erklärte sie.
Entsetzt riß die Hebamme den Mund auf, doch zum
Glück richtete der Hauptmann seine ganze Aufmerksamkeit auf
Jenny.
»Oh!« sagte er. »War es -«
»Mama!« Mit einem verzweifelten Aufschrei wand sich
der kleine Jamie an der Türschwelle aus dem Griff eines Soldaten
und stürzte zu seiner Mutter. »Mama, ist das Kind tot? Nein! Nein!«
Schluchzend sank er auf die Knie und vergrub den Kopf im
Bettzeug.
Als wollte er die Worte seines Bruders Lügen
strafen, gab der kleine Ian allerlei Lebenszeichen von sich. Er
trat seinem Onkel mit erstaunlicher Kraft in die Rippen und stieß
leise Grunztöne aus, die glücklicherweise von dem Lärm draußen
übertönt wurden.
Jenny bemühte sich, ihren Ältesten zu trösten, Mrs.
Innes versuchte, ihn auf die Beine zu ziehen, obwohl er sich am Arm
seiner Mutter festgeklammert hatte, der Hauptmann unternahm große
Anstrengungen, sich über dem Klagen und Jammern des jungen Jamie
Gehör zu verschaffen, und zu allem Überfluß ertönten im ganzen Haus
das Getrampel und Geschrei der Soldaten.
Jamie nahm an, daß sich der Hauptmann gerade nach
dem Verbleib des Kindes erkundigte. Er wiegte den Kleinen in seinen
Armen, damit er nicht zu schreien begann. Dann legte er die Hand an
den Dolch, eine überflüssige Geste, denn er wußte ja nicht einmal,
ob ihm noch die Zeit bliebe, sich die Kehle durchzuschneiden - und
ob damit besonders viel gewonnen wäre.
Mit einem wütenden Laut gab Klein Ian zu verstehen,
daß er im Augenblick nicht gewiegt zu werden wünsche. Jamie, der
das Haus schon in Flammen und seine Bewohner niedergemetzelt sah,
kam sein Protest ebenso laut vor wie das Klagen seines ältesten
Neffen.
»Das ist Ihre Schuld!« Jennys Ältester war auf die
Beine gesprungen. Mit wutverzerrtem Gesicht ging er auf den
Hauptmann los. »Sie haben meinen Bruder umgebracht, Sie englischer
Schuft!«
Der Hauptmann, offensichtlich überrascht von dieser
Attacke, wich einen Schritt zurück und blinzelte den Jungen an.
»Nein, nein! Du irrst dich. Ich habe nur -«
»Sie Schweinehund! A mhic an diabhoil!«Außer
sich vor Wut stapfte der Junge auf den Hauptmann zu und schleuderte
ihm jedes englische und gälische Schimpfwort an den Kopf, das er
kannte.
»Eeeeh«, sagte das Baby an Jamies Ohr. »Eeh! Eeh!«
Es klang ganz so, als wollte es gleich losbrüllen, und in seiner
Verzweiflung ließ Jamie den Dolch los und steckte seinen Daumen in
den weichen, feuchten Babymund. Die zahnlosen Kiefer saugten sich
daran mit einer solchen Kraft fest, daß er fast aufgeschrien
hätte.
»Raus hier! Raus hier, oder ich bringe Sie um!«
brüllte der junge Jamie den Hauptmann an. Hilflos blickte der
englische Soldat zum Bett, als wollte er Jenny bitten, ihren
wutschnaubenden Sprößling zurückzurufen. Aber die lag mit
wachsbleichem Gesicht da und hatte die Augen geschlossen.
»Dann warte ich eben unten bei meinen Männern«,
sagte der Hauptmann mit dem Rest Würde, der ihm noch verblieben
war, und zog hastig die Tür hinter sich zu. So plötzlich seines
Feindes beraubt, ließ sich der kleine Jamie auf den Boden fallen
und brach in hemmungsloses Schluchzen aus.
Durch seinen Spalt sah Jamie, wie Mrs. Innes den
Mund zu einer Frage öffnete. Jenny erhob sich vom Krankenlager wie
einst Lazarus und hielt den Finger an die Lippen. Währenddessen
saugte Baby Ian kräftig an Jamies Daumen. Als sein Bemühen kein
Ergebnis zeitigte, wurde es allmählich unruhig.
Abwartend blieb Jenny auf dem Bettrand sitzen. Noch
immer durchstöberten die Soldaten lärmend das Haus. Obwohl Jenny
vor Schwäche zitterte, winkte sie Jamie in seinem Versteck
zu.
Jamie holte tief Luft und wappnete sich. Aber er
mußte es wagen, denn der Kleine war nicht mehr zu halten.
Schweißnaß vor Angst stolperte er aus dem Schrank und drückte Jenny
das Baby in die Arme. Mit einer einzigen Bewegung machte sie den
Busen frei und zog das kleine Bündel an die Brust. Auf der Stelle
wurden die Unmutsäußerungen von einem gierigen Schmatzen abgelöst.
Jamie
ließ sich so plötzlich auf den Boden sinken, als hätte ihm jemand
ein Schwert in die Kniekehlen gestoßen.
Als sich der Schrank öffnete, fuhr der junge Jamie
auf. Er lehnte sich an die Tür und blickte fassungslos von seiner
Mutter zu seinem Onkel. Mrs. Innes kniete sich neben ihn und
flüsterte ihm etwas ins Ohr, doch auf dem tränenverschmierten
Gesicht zeigte sich keine Spur von Verständnis.
Aber schon kündeten im Hof Rufe und Hufgetrappel
davon, daß die Soldaten aufbrechen wollten. Der kleine Ian lag
mittlerweile ruhig im Arm seiner Mutter und schnarchte leise. Jamie
huschte neben das Fenster und sah zu, wie die Soldaten
abmarschierten.
Abgesehen von dem Plätschern des Whiskys, den Mrs.
Innes sich einschenkte, war kein Laut zu hören. Jennys Ältester
kniete sich neben seine Mutter und legte die Wange an ihre
Schulter. Seit sie das Baby stillte, hatte sie nicht aufgeblickt.
Und auch jetzt noch beugte sie den Kopf über das Kind, so daß ihr
Gesicht hinter dem dunklen Haar verborgen war.
Jamie ging zu ihr hin und strich ihr über die
Schulter. Überrascht stellte er fest, wie warm sie war - ganz als
wäre ihm die kalte Furcht zur zweiten Natur und die Berührung eines
Menschen fremd geworden.
»Ich gehe ins Priesterloch«, sagte er leise, »und
wenn es dunkel wird, zurück zur Höhle.«
Ohne zu ihm aufzusehen, nickte Jenny. Auf ihrem
Scheitel zogen sich einzelne silberne Fäden durch das Haar.
»Ich glaube, es ist besser, wenn ich nicht mehr
komme«, sagte er schließlich. »Wenigstens eine Zeitlang.«
Jenny antwortete nicht, sondern nickte nur.