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Die Seuche
Zwei Tage später hatte ich immer noch nicht mit Kapitän Leonard gesprochen. Zweimal war ich vor seiner Kajüte gestanden, aber der junge Kapitän hatte anderweitig zu tun - er bestimmte unsere Position, hieß es, oder studierte die Karten oder war mit anderen rätselhaften nautischen Angelegenheiten beschäftigt.
Mr. Overholt hatte sich angewöhnt, mir und meinen maßlosen Forderungen aus dem Weg zu gehen. Er hängte sich eine Parfümkugel mit Salbei und Ysop gegen die Ansteckungsgefahr um den Hals und schloß sich in seiner Kajüte ein. Die gesunden Matrosen, die die Decks schrubben und die Kranken transportieren sollten, taten diese zunächst widerwillig und zweifelnd. Ich aber schalt und schikanierte sie, stampfte mit dem Fuß auf, brüllte herum und durchbohrte sie mit Blicken, bis sie allmählich in Fahrt kamen. Ich fühlte mich kaum noch wie eine Ärztin, eher wie ein Schäferhund, der knurrend und bellend seiner Herde auf die Sprünge hilft, und nach all meinen Anstrengungen war ich nun ziemlich heiser.
Aber es half: Hoffnung und Entschlossenheit machten sich breit. Heute wurden vier Todesfälle und zehn Neuerkrankungen gemeldet, aber das verzweifelte Stöhnen aus dem Zwischendeck war nahezu verstummt, und auf den Gesichtern der Gesunden zeigte sich die Erleichterung, die sich einstellt, wenn man etwas tut - egal was. Den Ursprung der Krankheit hatte ich bisher noch nicht ausfindig gemacht. Wenn mir dies gelingen würde und ich eine weitere Ausbreitung der Seuche verhindern konnte, so bestand die Möglichkeit, innerhalb einer Woche eine Wende herbeizuführen, so daß die Porpoise noch genügend Matrosen hatte, um weiterzusegeln.
Inzwischen hatte ich herausgefunden, daß zwei der überlebenden Matrosen aus einem Kreisgefängnis zwangsrekrutiert worden waren, wo sie wegen Schwarzbrennerei einsaßen. Ich spannte sie sofort für meine Zwecke ein und beauftragte sie damit, einen Destillierapparat zu bauen, in dem - zum Entsetzen der Mannschaft - der halbe Rumvorrat für Desinfektionszwecke zu reinem Alkohol destilliert wurde.
Neben dem Eingang zum Schiffslazarett und an der Tür zur Kombüse postierte ich je einen jungen Seekadetten, jeden mit einer Schüssel purem Alkohol bewaffnet. Sie erhielten Anweisung, niemanden durchzulassen, der nicht zuvor seine Hände in den Alkohol tunkte. Zur Unterstützung stellte ich ihnen einen Marinesoldaten mit geladenem Gewehr zur Seite. Ihm oblag die Pflicht, dafür zu sorgen, daß sich niemand am Inhalt des Eimers vergriff, in den der gebrauchte Alkohol gekippt wurde.
In Mrs. Johansen, der Frau des Kanoniers, fand ich eine unerwartete Verbündete. Sie war eine intelligente Frau in den Dreißigern und hatte - obwohl sie nur gebrochen Englisch und ich gar kein Schwedisch sprach - bald begriffen, was ich erreichen wollte. Sie unterstützte mich tatkräftig.
Annekje Johansen übernahm das Abkochen der Ziegenmilch, zerstampfte geduldig den harten Schiffszwieback - nicht ohne zuvor die Getreidekäfer zu entfernen -, vermischte ihn mit Milch und fütterte eigenhändig die kräftigsten der kranken Matrosen mit dem Brei.
Ihr Gatte, der Kanonier, war ebenfalls erkrankt, gehörte aber glücklicherweise zu den leichteren Fällen und würde sich, wie ich hoffte, dank seiner kräftigen Konstitution und der aufopfernden Pflege seiner Frau bald erholen.
»Madam, Ruthven sagt, daß wieder jemand von dem reinen Alkohol getrunken hat.« Elias Pound tauchte neben mir auf. Er sah ziemlich erschöpft aus.
Ich stieß einen ziemlich üblen Fluch aus, und er riß erstaunt die braunen Augen auf.
»Tut mir leid.« Ich strich mir die Haare aus der Stirn. »Ich wollte Ihre empfindlichen Ohren nicht beleidigen, Elias.«
»Ich habe dergleichen schon gehört, Madam«, versicherte er mir. »Nur noch nicht von einer Dame.«
»Ich bin keine Dame, Elias«, erwiderte ich müde. »Ich bin eine Ärztin. Schicken Sie jemanden los, der den Übeltäter sucht. Wahrscheinlich liegt er bewußtlos in einer Ecke.« Er nickte und wandte sich zum Gehen.
»Ich schau’ mal im Kabelgatt nach«, sagte er. »Da verkriechen sie sich meistens, wenn sie besoffen sind.«
Das war der vierte innerhalb von drei Tagen. Trotz der Soldaten, die über den Destillierapparat und den reinen Alkohol wachten, gelang es den trunksüchtigen Matrosen, die mit der Hälfte ihrer täglichen Grogration auskommen mußten, irgendwie immer wieder, an den reinen Alkohol heranzukommen, den ich zum Desinfizieren benötigte.
»Meine Güte, Mrs. Malcolm«, hatte der Proviantmeister gesagt und seinen kahlen Kopf geschüttelt, als ich ihm das Problem schilderte. »Seeleute trinken, was sie in die Finger kriegen! Verdorbenen Pflaumenschnaps, in Gummistiefeln zermatschte und vergorene Pfirsiche - ich habe sogar mal gehört, daß ein Matrose altes Verbandszeug vom Schiffsarzt gestohlen und eingeweicht hat, in der Hoffnung, daß noch eine Spur Alkohol drinsteckt. Nein, Madam, auch wenn man ihnen sagt, daß sie an dem Zeug sterben, lassen sie sich nicht davon abhalten, es zu trinken.«
Und sie starben tatsächlich daran. Einer der vier Männer, die davon getrunken hatten, war schon tot. Zwei weitere lagen in einem abgetrennten Abteil des Schiffslazaretts im Koma. Wenn sie überlebten, würden sie wahrscheinlich einen Hirnschaden davontragen.
»Und das, wo eine Reise auf einem schwimmenden Höllenpfuhl wie diesem hier sowieso schon einen Hirnschaden hinterläßt«, sagte ich zu einer Seeschwalbe, die sich neben mir auf der Reling niedergelassen hatte. »Als reichte es nicht schon, daß ich die eine Hälfte dieses elenden Haufens vom Typhus heilen will, jetzt versucht auch noch die andere Hälfte, sich mit meinem Alkohol umzubringen! Sollen sie doch alle zur Hölle fahren!«
Die Seeschwalbe legte den Kopf schief, kam anscheinend zu dem Schluß, daß ich nicht eßbar sei, und flog von dannen. Nach allen Himmelsrichtungen erstreckte sich der leere Ozean. Vor mir lagen die Westindischen Inseln, auf denen Ian seinem unbekannten Schicksal entgegensah; hinter mir weit abgeschlagen waren Jamie und die Artemis. Und ich steckte in der Mitte mit lauter versoffenen englischen Seeleuten und einem Zwischendeck voller Todeskandidaten.
Ich stand noch eine Weile da und gab mich meinem Zorn hin, dann schlug ich den Weg zur Kapitänskajüte ein. Mir war es gleich, ob Kapitän Leonard gerade eigenhändig damit beschäftigt war, den Kielraum auszupumpen. Er würde mit mir reden.
 
In der Tür zu seiner Kajüte blieb ich stehen. Obwohl es noch nicht Mittag war, schlief der Kapitän, den Kopf auf die Unterarme gebettet, auf einem offenen Buch. Die Feder war ihm aus der Hand gefallen, und das geschickt in einer Halterung verankerte Tintenglas schwankte sachte im Rhythmus der Schiffsbewegungen. Leonard lag auf der Seite, so daß ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Trotz seiner Bartstoppeln sah er lächerlich jung aus.
Ich beschloß, es später noch einmal zu versuchen und machte kehrt, streifte dabei jedoch eine Kiste, auf der inmitten von Papieren, Navigationsinstrumenten und halb aufgerollten Karten ein Stapel Bücher lag. Der oberste Band fiel mit einem dumpfen Schlag zu Boden.
In dem allgemeinen Lärm, der auf einem Segelschiff stets herrscht - das Ächzen der Planken, das Knattern der Segel, das Geheul in der Takelage - war der Aufprall kaum zu hören. Dennoch erwachte der Kapitän, blinzelte verschlafen und sah mich verblüfft an.
»Mrs. Fra - Mrs. Malcolm!« sagte er, rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf. »Was… das heißt… brauchen Sie etwas?«
»Ich wollte Sie nicht aufwecken«, sagte ich. »Aber ich brauche noch mehr Alkohol - wenn nötig, kann ich auch den Rum verwenden. Und Sie müssen wirklich mit den Matrosen reden und Sie irgendwie davon abbringen, den destillierten Alkohol zu trinken. Heute hat sich wieder einer damit vergiftet. Und wenn es eine Möglichkeit gäbe, das Schiffslazarett besser mit Frischluft zu versorgen…« Ich hielt inne, da ich ihn offensichtlich überforderte.
Er blinzelte, kratzte sich am Kopf und versuchte, allmählich seine Gedanken zu ordnen. Die Knöpfe an seinem Ärmel hatten runde rote Abdrücke auf seiner Wange hinterlassen, und seine Haare waren an der Seite flachgedrückt.
»Ich verstehe«, sagte er benommen. Als er langsam erwachte, wurde sein Gesichtsausdruck klarer. »Ja. Natürlich. Ich werde mich um die Belüftung kümmern, aber was den Alkohol betrifft, muß ich Sie bitten, den Proviantmeister zu Rate zu ziehen, weil ich selbst nicht weiß, über welche Vorräte wir noch verfügen.« Er holte Luft, um zu rufen, doch da fiel ihm ein, daß sein Steward nicht mehr in Hörweite war - auch er hatte ins Schiffslazarett umziehen müssen. In diesem Augenblick ertönte das gedämpfte Bimmeln der Schiffsglocke.
»Bitte entschuldigen Sie mich, Mrs. Malcolm«, sagte er höflich. »Es ist beinahe Mittag. Ich muß gehen und unsere Position bestimmen. Wenn Sie noch einen Augenblick hierbleiben möchten, werde ich den Proviantmeister zu Ihnen schicken.«
»Vielen Dank.« Ich setzte mich auf den Stuhl, von dem er sich soeben erhoben hatte. Als er sich zum Gehen wandte, versuchte er den viel zu großen Uniformrock zurechtzurücken.
»Kapitän Leonard?« fragte ich, einem jähen Impuls folgend. Er wandte sich zu mir um.
»Wenn Sie die Frage erlauben - wie alt sind Sie?«
Er blinzelte, und sein Mund wurde schmal, aber er blieb mir die Antwort nicht schuldig.
»Ich bin neunzehn, Madam. Ihr Diener, Madam.« Mit diesen Worten entfernte er sich. Ich hörte noch, wie er auf dem Niedergang mit vor Müdigkeit heiserer Stimme Befehle erteilte.
Neunzehn! Wie gelähmt vor Schreck saß ich da. Für so jung hatte ich ihn nun auch wieder nicht gehalten. Sein Gesicht war vom Wetter gegerbt und von Schlaflosigkeit gezeichnet, so daß er mindestens wie Mitte Zwanzig aussah. Mein Gott! dachte ich entsetzt. Er ist ja noch ein Kind!
Neunzehn. Genau in Briannas Alter. Aus heiterem Himmel war ihm das Kommando eines Schiffes in die Hände gelegt worden - und nicht einfach eines Schiffes, sondern eines englischen Kriegsschiffes mit einer Seuche an Bord, die ein Viertel seiner Mannschaft und praktisch das gesamte Kommando niedergestreckt hatte. Ich spürte, wie meine Angst und der Zorn, die seit Tagen an mir nagten, allmählich verebbten, denn mir wurde klar, daß die Willkür, mit der mich der Kapitän entführt hatte, weder auf Arroganz noch auf Dummheit beruhte, sondern auf schierer Verzweiflung.
Er brauchte auf jeden Fall Hilfe, und diese Hilfe war ich. Ich holte tief Luft und stellte mir die Unordnung vor, die ich im Schiffslazarett hinterlassen hatte. Es war einzig und allein meine Sache, hier mein Bestes zu tun.
Kapitän Leonard hatte das offene Logbuch mit dem halbfertigen Eintrag auf seinem Schreibtisch liegenlassen. Auf der Seite war ein kleiner feuchter Felck. Er hatte im Schlaf ein wenig gesabbert. In einem Anfall von wütendem Mitleid schlug ich die Seite um, damit ich diesen weiteren Hinweis auf seine Verletzlichkeit nicht länger vor Augen hatte.
Auf der vorhergehenden Seite stach mir jedoch ein Wort in die Augen. Ich hielt inne, und es lief mir kalt den Rücken hinunter, denn plötzlich fiel mir wieder ein, daß mich der Kapitän, als er aus dem Schlaf aufgefahren war, mit »Mrs. Fra-« angesprochen hatte, bevor er seinen Fehler bemerkt hatte. Und der Name auf der Seite vor mir lautete »Fraser«. Der Kapitän wußte, wer wir waren.
Hastig stand ich auf, schloß die Tür und schob den Riegel vor. So wäre ich gewarnt, wenn jemand kam. Dann setzte ich mich an den Schreibtisch des Kapitäns, drückte die Seiten flach und las.
Ich blätterte zurück, bis ich den Eintrag über die Begegnung mit der Artemis fand. Kapitän Leonards Aufzeichnungen unterschieden sich von denen seines Vorgängers und waren in der Regel ziemlich kurz - was mich nicht überraschte, wenn man bedachte, daß er nun wirklich alle Hände voll zu tun hatte. Die meisten Einträge umfaßten nur die üblichen Navigationsdaten sowie die Namen der Männer, die seit dem Vortag verstorben waren. Das Treffen mit der Artemis und meine Anwesenheit hatte er jedoch festgehalten.
3. Februar 1767. Gegen acht Glasen die Artemis getroffen, eine kleine zweimastige Brigg unter französischer Flagge. Nach der Begrüßung um die Hilfe ihres Schiffsarztes, C. Malcolm, gebeten, der an Bord genommen wurde und bei uns bleibt, um bei der Pflege der Kranken zu helfen.
Der Schiffsarzt C. Malcolm, ach ja? Kein Wort davon, daß ich eine Frau bin - vielleicht hielt er es für unwichtig oder wollte vermeiden, daß man Erkundigungen einzog, ob sein Verhalten den guten Sitten entsprochen habe. Ich las den nächsten Eintrag.
4. Februar 1767. Den heutigen Tag habe ich vom Vollmatrosen Harry Tompkins die Mitteilung erhalten, daß der Frachtaufseher der Brigg Artemis ihm als Verbrecher unter dem Namen James Fraser, alias Jamie Roy, alias Alexander Malcolm bekannt sei. Besagter Fraser ist ein Aufwiegler und ein notorischer Schmuggler, auf dessen Ergreifung von der Zollbehörde des Königs ein beträchtlicher Preis ausgesetzt ist. Mitteilung von Tompkins erhalten, nachdem wir uns von der Artemis getrennt hatten; die Artemis zu verfolgen erschien mir nicht ratsam, da wir wegen unseres Passagiers den Befehl haben, Jamaika mit höchster Eile anzusteuern. Da ich jedoch versprochen habe, den Schiffsarzt der Artemis dortselbst wieder zu übergeben, kann Fraser bei dieser Gelegenheit festgenommen werden.
Zwei Mann an der Seuche gestorben - wie mir der Schiffsarzt der Artemis mitteilt, handelt es sich um Typhus. Jno. Jaspers, Vollmatrose, E. Harty Kepple, Kochsmaat, E.
Das war alles. Die Eintragung des folgenden Tages beschränkte sich auf Navigation und Vermerke über den Tod von weiteren sechs Männern, hinter deren Namen ebenfalls E. stand. Ich fragte mich, was das heißen sollte, war aber zu besorgt, um mir darüber den Kopf zu zerbrechen.
Da hörte ich Schritte auf dem Gang, und es gelang mir gerade noch, die Tür zu entriegeln, bevor der Proviantmeister anklopfte. Mr. Overholts Entschuldigungen hörte ich kaum, denn ich war viel zu sehr damit beschäftigt, mir auf diese neuen Enthüllungen einen Reim zu machen.
Wer in Teufels Namen war dieser Tompkins? Auf jeden Fall hatte ich ihn noch nie zu Gesicht bekommen oder von ihm gehört. Und doch wußte er offenbar viel zuviel über Jamies gesetzwidrige Aktivitäten. Daraus folgten zwei Fragen. Wie kam ein englischer Seemann an diese Informationen - und wer wußte noch davon?
»…die Grogration noch weiter beschneiden, damit ich Ihnen noch ein Faß Rum geben kann«, meinte Mr. Overholt skeptisch. »Das wird den Matrosen nicht gefallen, aber wir könnten es schaffen. Es sind jetzt nur noch zwei Wochen bis Jamaika.«
»Ob es den Leuten gefällt oder nicht, ich brauche den Alkohol dringender als sie ihren Grog«, entgegnete ich schroff. »Wenn sie sich zu sehr beklagen, können Sie ihnen sagen, daß es vielleicht keiner von ihnen bis nach Jamaika schafft, wenn ich den Rum nicht bekomme.«
Seufzend wischte sich Mr. Overholt kleine Schweißperlen von der Stirn.
»Das werde ich ihnen sagen«, meinte er, zu ermattet, um noch Widerstand zu leisten.
»Gut. Ach, Mr. Overholt?« Er wandte sich fragend zu mir um. »Was bedeutet eigentlich die Abkürzung E.? Ich habe gesehen, daß der Kapitän sie in seinem Logbuch verwendet.«
Ein humorvolles Funkeln belebte die eingesunkenen Augen des Proviantmeisters.
»Exitus, Madam«, erwiderte er. »Für die meisten der einzige Weg, unbehelligt von der Königlichen Marine Abschied zu nehmen.«
 
Während ich die Waschung der Kranken und die Verabreichung von gesüßtem Wasser und abgekochter Milch überwachte, beschäftigte mich wieder das Problem des geheimnisvollen Tompkins.
Wie er aussah, wußte ich nicht; ich hatte nur seine Stimme gehört. Er konnte einer aus der gesichtslosen Horde sein, die hoch oben in der Takelage herumkletterte, wenn ich an Deck kam, um frische Luft zu schnappen, oder einer der anonymen Matrosen, die sich nur noch im Laufschritt auf den Decks bewegten und versuchten, die Arbeit von drei Männern zu bewältigen.
Wenn er sich ansteckte, würde ich ihn natürlich kennenlernen; ich kannte die Namen all meiner Patienten im Schiffslazarett. Aber ich konnte nicht einfach abwarten und mich der makabren Hoffnung hingeben, daß Tompkins sich mit Typhus ansteckte. Schließlich beschloß ich, einfach zu fragen. Wahrscheinlich wußte der Mann ohnehin, wer ich war. Selbst wenn er herausfand, daß ich mich nach ihm erkundigt hatte, würde das den Schaden kaum vergrößern.
Natürlich wandte ich mich zuerst an Elias. Ich wartete mit meiner Frage aber bis zum Abend, weil ich offte, daß die Erschöpfung seine angeborene Neugier dämpfen würde.
»Tompkins?« Der Junge runzelte die Stirn. »Ach ja, Madam, das ist einer von den Vorderdeckmatrosen.«
»Wissen Sie vielleicht, wo er an Bord gekommen ist?« Mir fiel keine gute Ausrede ein, warum ich mich plötzlich für einen Mann interessierte, den ich noch nie gesehen hatte, aber glücklicherweise war Elias zu müde, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
»Ach«, meinte er geistesabwesend, »in Spithead, glaube ich. Oder - nein! Jetzt erinnere ich mich. Es war in Edinburgh.« Er unterdrückte ein Gähnen. »Edingburgh, genau. Ich wüßte es nicht mehr, wenn er nicht einer von den Zwangsrekrutierten wäre, und er hat ein Mordstheater veranstaltet, behauptet, wir dürften ihn nicht mitnehmen, weil er Zollbeamter sei und als solcher unter dem Schutz von Sir Percival stünde!« Das Gähnen ließ sich nun nicht mehr unterdrücken, und er riß den Mund weit auf. »Aber er konnte nichts Schriftliches von Sir Percival vorweisen«, schloß er blinzelnd, »also war nichts zu machen.«
»Ein Zollbeamter war er?« Das erklärte einiges.
»Mhm. Ja, Madam, meine ich.« Elias bemühte sich mannhaft, wach zu bleiben, aber er fixierte die schwankende Laterne am anderen Ende des Lazaretts mit glasigem Blick.
»Sie gehen jetzt ins Bett, Elias«, riet ich, mich seiner erbarmend. »Ich werde hier allein fertig.«
Hastig schüttelte er den Kopf, um seine Müdigkeit zu vertreiben.
»Aber nein, Madam! Ich bin kein bißchen müde!« Unbeholfen griff er nach der Flasche und dem Becher in meiner Hand. »Geben Sie mir das, Madam, und legen Sie sich selbst hin.« Er ließ sich nicht überreden, sondern bestand hartnäckig darauf, mir beim Verteilen der letzten Runde Wasser zu helfen, bevor er in seine Koje sank.
Nach getaner Arbeit war ich ebenso müde wie Elias, aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Ich lag in der Kajüte des verstorbenen Schiffsarztes, starrte auf den Balken an der schattenhaften Decke, lauschte dem Ächzen und Knarren des Schiffes und überlegte.
Also arbeitete Tompkins für Sir Percival. Und Sir Percival wußte auf jeden Fall, daß Jamie Schmuggler war. Aber steckte noch mehr hinter der Geschichte? Tompkins kannte Jamie vom Sehen. Wie das? Und wenn Sir Percival bereit gewesen war, für eine kleine Gegenleistung über Jamies Gesetzesüberschreitungen hinwegzusehen, dann - na, vielleicht war von diesen Bestechungsgeldern nichts in Tompkins’ Tasche gewandert. Aber in diesem Fall… und was war mit dem Hinterhalt bei Arbroath? War ein Verräter unter den Schmugglern? Und wenn ja…
Meine Gedanken wurden immer wirrer und drehten sich nur noch im Kreis. Das bleiche gepuderte Gesicht von Sir Percival wurde zur blutroten Fratze des erhängten Zollbeamten an der Straße nach Arbroath, und dann flammten vor meinem geistigen Auge das rotgoldene Feuer einer explodierenden Laterne auf. Ich drehte mich auf dem Bauch, preßte das Kopfkissen an meine Brust und schlief mit dem Gedanken ein, daß ich Tompkins finden mußte.
 
Schließlich löste sich das Problem von selbst, indem Tompkins mich fand. An den folgenden zwei Tagen war die Lage im Schiffslazarett so angespannt, daß ich praktisch unabkömmlich war. Am dritten Tag beruhigte sich die Situation ein wenig, so daß ich mich in die Arztkajüte zurückziehen konnte, um mich zu waschen und ein wenig auszuruhen, bevor der Trommelschlag zum Mittagessen rief.
Mit einem feuchten Tuch über meinen müden Augen lag ich auf der Koje, als ich auf dem Gang vor der Tür Schritte und Stimmen hörte. Ein zögerndes Klopfen folgte, und ein Unbekannter sagte: »Mrs. Malcolm? Es hat einen Unfall gegeben, bitte, Madam.«
Ich öffnete die Tür und erblickte zwei Seeleute, die einen dritten stützten, der wie ein Storch auf einem Bein stand, das Gesicht bleich vor Schreck und Schmerz.
Mit einem Blick erfaßte ich, wen ich vor mir hatte. Das Gesicht des Mannes zeigte auf einer Seite die Narben einer bösen Verbrennung, und das Lid entblößte die milchige Pupille eines blinden Auges. Vor mir stand der einäugige Seemann, den Ian glaubte, getötet zu haben. Das schüttere braune Haar war zu einem dünnen Zopf zusammengefaßt und enthüllte große durchscheinende Ohren.
»Mr. Tompkins«, sagte ich mit fester Stimme, und sein verbliebenes Auge weitete sich vor Erstaunen. »Laden Sie ihn bitte dort ab.«
Die Männer setzten Tompkins auf einen Hocker an der Wand und kehrten zu ihrer Arbeit zurück. Es herrschte ein solcher Mangel an Matrosen auf dem Schiff, daß niemand mehr Zeit für Zerstreuungen irgendwelcher Art hatte. Mit pochendem Herzen kniete ich nieder, um das verwundete Bein zu untersuchen.
Er wußte sehr wohl, wer ich war. Ich hatte es an seinem Gesicht gesehen, als ich die Tür öffnete. Das verletzte Bein bereitete ihm offensichtlich starke Schmerzen. Die Wunde blutete, war aber, wenn sie ordentlich versorgt wurde, nicht ernst. Die Blutung war schon zum Stillstand gekommen, als ich den provisorischen Verband löste.
»Wie haben Sie denn das angestellt, Mr. Tompkins?« Ich stand auf und griff nach einer Flasche Alkohol. Aus seinem einen Auge sah er mich mißtrauisch an.
»Ein Splitter, Madam«, entgegnete er mit seiner mir wohlbekannten näselnden Stimme. »Eine Spiere ist durchgebrochen, als ich draufstand.« Verstohlen fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen.
»Verstehe.« Ich drehte mich um, öffnete meinen leeren Medizinkasten und tat so, als suchte ich das richtige Mittel. Unterdessen beobachtete ich ihn aus den Augenwinkeln und überlegte, wie ich mit ihm fertig werden konnte. Er war auf der Hut. Ihm mit List irgend etwas zu entlocken oder sein Vertrauen zu gewinnen kam offensichtlich nicht in Frage.
Auf der Suche nach Inspiration ließ ich meinen Blick über den Tisch schweifen - und wurde fündig. In Gedanken entschuldigte ich mich bei Äskulap und griff nach der Knochensäge meines verblichenen Vorgängers - ein tückisches Ding aus rostigem Stahl und knapp einen halben Meter lang. Ich betrachtete es nachdenklich, drehte mich dann um und legte die gezähnte Schneide direkt oberhalb des Knies auf das verletzte Bein. Ich blickte in das verstörte Auge des Seemanns und lächelte freundlich.
»Mr. Tompkins«, sagte ich, »lassen Sie uns offen reden.«
 
Eine Stunde später kehrte Vollmatrose Tompkins, zusammengeflickt und verbunden und körperlich unversehrt, wenn auch an allen Gliedern zitternd, in seine Hängematte zurück. Auch ich fühlte mich nach der Begegnung ein wenig zittrig.
Tompkins war, wie er der Preßpatrouille in Edinburgh versichert hatte, ein Agent von Sir Percival Turner. Als solcher trieb er sich auf den Piers und in den Lagerhäusern aller Handelshäfen am Firth of Forth herum - von Culross und Donibristle bis nach Restalrig und Musselburgh -, hörte sich Klatschgeschichten an und suchte nach Anzeichen gesetzwidrigen Treibens.
Da die Schotten nicht viel von englischen Steuergesetzen hielten, herrschte kein Mangel an Berichtenswertem. Die Maßnahmen, die aufgrund solcher Berichte getroffen wurden, waren jedoch recht unterschiedlich. Kleine Schmuggler, die mit ein, zwei Flaschen unverzollten Rums oder Whiskys auf frischer Tat ertappt wurden, konnten im Schnellverfahren festgenommen, vor den Richter gestellt und verurteilt werden - ihnen blühte eine Zwangsarbeit oder sogar die Deportation, und ihr gesamter Besitz fiel an die Krone.
Mit den großen Fischen verfuhr Sir Percival allerdings nach Gutdünken. Das heißt, sie durften ansehnliche Bestechungssummen zahlen und genossen dafür das Privileg, unter dem blinden Auge (hier lachte Tompkins hämisch und deutete auf seine entstellte Gesichtshälfte) der königlichen Beamten ihre Tätigkeit fortsetzen.
»Sir Percival hat der Ehrgeiz gepackt.« Tompkins konnte sich zwar nicht recht entspannen, aber er taute immerhin soweit auf, daß er sich etwas zu mir vorbeugte. »Er steht sich gut mit Dundas und all denen. Wenn alles glattgeht, kann er die Peerswürde erhalten und in den Hochadel aufgenommen werden, verstehen Sie? Aber dafür braucht es mehr als nur Geld.«
Zustatten kommen würde ihm beispielsweise ein aufsehenerregender Beweis der eigenen Tüchtigkeit und Königstreue.
»Zum Beispiel eine Verhaftung, bei der die hohen Herren aufhorchen würden. Ooh! Das tut weh, Madam. Wissen Sie, was Sie da machen?« Argwöhnisch beobachtete Tompkins, wie ich die Umgebung der Wunde mit verdünntem Alkohol reinigte.
»Keine Sorge«, sagte ich. »Erzählen Sie weiter. Ich vermute, ein einfacher Schmuggler, und sei es auch ein großer Fisch, hätte für diesen Zweck nicht genügt.«
Offensichtlich nicht. Als Sir Percival jedoch erfuhr, daß er eines politischen Verbrechers größeren Kalibers habhaft werden könnte, war er vor Aufregung nicht mehr zu halten gewesen.
»Aber Aufwiegelung ist schwerer zu beweisen als Schmuggeln, nicht wahr? Selbst wenn man einen von den kleinen Fischen erwischt, spucken die rein gar nicht aus, was einem weiterbringt. Idealisten sind das, die Aufwiegler«, meinte Tompkins und schüttelte empört den Kopf. »Die würden einander nicht verpfeifen, die nicht.«
»Also haben Sie nicht gewußt, nach wem Sie suchen?« Aus einer Büchse nahm ich einen Katzendarmfaden und fädelte ihn ein. Obwohl ich Tompkins’ verängstigten Blick auffing, tat ich nichts, um ihn zu beruhigen. Er sollte ruhig zittern - und plaudern.
»Nein, wir wußten nicht, wer der große Fisch war - bis ein anderer von Sir Percivals Agenten einen Mitarbeiter Frasers aufspürte, der ihm verriet, es handle sich um Malcolm, den Drucker, und seinen wahren Namen preisgab. Dann war natürlich alles klar.«
Mein Herzschlag setzte aus.
»Wer war dieser Mitarbeiter?« fragte ich. Die Namen und Gesichter der sechs Schmuggler schossen mir durch den Kopf - kleine Fische. Sie waren alle sechs keine Idealisten. Aber für welchen von ihnen hatte Treue keinen Wert?
»Ich weiß es nicht. Nein, bestimmt nicht, das schwöre ich! Autsch!« beteuerte er panisch, als ich ihm die Nadel unter die Haut bohrte.
»Ich will Ihnen nicht weh tun«, versicherte ich ihm und ließ meine Stimme so falsch wie möglich klingen. »Aber ich muß die Wunde nähen.«
»Oh! Au! Ich weiß es nicht, auf keinen Fall! Ich würde es Ihnen sagen, wenn ich’s wüßte, Gott ist mein Zeuge!«
»Das glaube ich gern«, entgegnete ich, eifrig stichelnd.
»O bitte, Madam, aufhören! Nur für eine Sekunde! Ich weiß nur eins, er war Engländer! Das ist alles!«
Ich hielt inne und starrte ihn an. »Engländer?« fragte ich verdutzt.
»Ja, Madam. Das hat mir Sir Percival gesagt.« Tompkins sah mich mit Tränen in den Augen an. So sanft ich konnte, machte ich einen letzten Stich und verknotete den Faden. Wortlos stand ich auf, schenkte einen kleinen Schluck Weinbrand aus meiner Privatflasche ein und gab ihm einen Becher. Freudig trank er davon und schien sich sogleich zu erholen. Sei es aus Dankbarkeit oder aus Erleichterung, weil die Tortur ein Ende hatte, erzählte er mir den Rest der Geschichte. Auf der Suche nach Beweismaterial hatte er die Druckerei in der Carfax Close aufgesucht.
»Ich weiß, was dort passiert ist«, versicherte ich ihm und drehte sein Gesicht zum Licht, um die Brandnarben zu untersuchen. »Haben Sie noch Schmerzen?«
»Nein, Madam, aber eine Zeitlang war es recht schlimm.« Da er aufgrund seiner Verletzungen außer Gefecht gesetzt war, hatte Tompkins an dem Hinterhalt bei Arbroath nicht teilnehmen können, aber er hatte gehört, was geschehen war.
Sir Percival hatte Jamie vor einem Hinterhalt gewarnt, um den Anschein zu erwecken, er habe mit der Sache nichts zu tun, denn er wollte verhindern, daß Einzelheiten von ihren finanziellen Vereinbarungen in Kreisen bekannt wurden, in denen dergleichen Sir Percivals Interessen geschadet hätte.
Zugleich hatte Sir Percival von jenem geheimnisvollen Engländer erfahren, welche Absprachen im Falle einer Verzögerung mit den französischen Lieferanten galten und hatte den Hinterhalt am Strand von Arbroath geplant.
»Aber was ist mit dem Zollbeamten, der an der Straße ermordet wurde?« fragte ich barsch. Bei der Erinnerung an die schreckliche Fratze konnte ich ein Schaudern kaum unterdrücken. »Wer hat das getan? Von den Schmugglern kommen nur fünf für diese Tat in Frage, und keiner von ihnen ist Engländer!«
Tompkins fuhr sich mit der Hand über den Mund. Er schien unschlüssig, ob es ratsam sei, mir das zu erzählen oder nicht. Ich nahm die Weinbrandflasche und stellte sie neben ihn auf den Tisch.
»Danke bestens, Mrs. Fraser! Sie sind eine echte Christenseele, das werde ich jedem sagen, der fragt!«
»Die Empfehlungen können Sie sich sparen«, entgegnete ich trocken. »Sagen Sie mir nur, was Sie über den Zollbeamten wissen.«
Er füllte seinen Becher und leerte ihn schlückchenweise. Dann stellte er ihn mit einem zufriedenen Seufzer ab und leckte sich die Lippen.
»Keiner der Schmuggler hat ihn um die Ecke gebracht, Missus. Es war sein eigener Kamerad.«
»Was!« Verblüfft machte ich einen Satz nach hinten, aber er nickte und zwinkerte mir zum Zeichen seiner Aufrichtigkeit zu.
»Ehrlich, Madam. Es waren doch zwei, oder? Und der eine hatte seine Befehle, ja, ja.«
Der Befehl lautete abzuwarten, bis jene Schmuggler, die dem Hinterhalt entgangen waren, die Straße erreichten. Daraufhin sollte der Zollbeamte seinem Kollegen im Dunkeln eine Schlinge um den Hals werfen, ihn erdrosseln, aufknüpfen und als Beweis für die Mordlust der Schmuggler zurücklassen.
»Aber warum?« fragte ich gleichermaßen erstaunt und entsetzt. »Was sollte damit bezweckt werden?«
»Verstehen Sie das nicht?« Tompkins musterte mich überrascht, als wäre die Sache vollkommen logisch. »Es war uns nicht gelungen, Beweismaterial aus der Druckerei sicherzustellen, um Fraser der Aufwiegelung anklagen zu können, und nachdem der Laden niedergebrannt war, sah es nicht so aus, als würde noch was draus werden. Außerdem hatten wir Fraser nie auf frischer Tat mit der Schmuggelware dingfest machen können, sondern nur ein paar kleine Fische, die für ihn arbeiteten. Einer unserer Agenten meinte, er könnte rausfinden, wo das Zeug gelagert würde, aber ihm ist etwas zugestoßen - vielleicht hat Fraser ihn geschnappt oder gekauft. Auf jeden Fall ist er eines Tages im November verschwunden und nie wieder aufgetaucht, und auch das Versteck der Schmuggelware wurde nicht bekannt.«
»Verstehe.« Ich schluckte bei dem Gedanken an den Mann, der mich im Treppenhaus des Bordells angesprochen hatte. Was war wohl aus jenem Faß mit crème de menthe geworden? »Aber -«
»Gut, ich erklär’s Ihnen, Madam, warten Sie mal.« Tompkins hob mahnend die Hand. »Also - hier ist Sir Percival, der weiß, seine Sache steht gut, er hat einen Fisch an der Angel, der nicht nur der größte Schmuggler am Firth und der Verfasser der staatsfeindlichsten Schmähschriften ist, die mir je unter die Augen gekommen sind, sondern auch noch ein begnadigter Jakobit, dessen Name aus dem Prozeß eine Sensation machen würde - und zwar im ganzen Königreich. Das einzige Problem - wir haben keine Beweise.«
Grauen stieg in mir auf, als Tompkins den Plan darlegte. Die Ermordung eines Zollbeamten im Dienst war ein Kapitalverbrechen, das einen Aufschrei der Öffentlichkeit zur Folge haben würde. Schmuggeln galt in der Bevölkerung als Kavaliersdelikt, aber ein Mörder durfte nicht mit Nachsicht rechnen.
»Ihr Sir Percival hat das Zeug zu einem hochkarätigen Scheißkerl«, bemerkte ich ungnädig. Tompkins nickte versonnen und tat einen tiefen Blick in seinen Becher.
»Ja, da würde ich Ihnen recht geben. Da liegen Sie gar nicht so falsch.«
»Und der ermordete Zollbeamte - ich vermute, den wollte man ohnehin beseitigen?«
Tompkins kicherte. Auch mit seinem gesunden Auge konnte er kaum noch geradeaus schauen.
»Ach ja, das kam gerade recht. Dem hat niemand nachgetrauert. Es gab einen Haufen Leute, die Tom Oakie mit Freuden baumeln sahen - nicht zuletzt Sir Percival selbst.«
»Verstehe.« Ich befestigte den Verband an seiner Wade. Es wurde langsam spät - ich mußte bald zurück ins Schiffslazarett.
»Am besten rufe ich jemanden, der Sie in Ihre Hängematte befördert«, sagte ich und nahm die fast leere Weinbrandflasche an mich, von der er sich widerstandslos trennte. »Sie dürfen Ihr Bein mindestens drei Tage lang nicht belasten. Sagen Sie Ihrem Offizier, daß Sie erst wieder in die Takelage dürfen, wenn ich die Fäden gezogen habe.«
»Das werde ich, Madam, und herzlichen Dank für die Freundlichkeit, die Sie einem armen, unglücklichen Seemann bezeugt haben.« Tompkins versuchte aufzustehen und war überrascht, als es ihm nicht gelang. Ich half ihm auf und brachte ihn bis zur Tür.
»Um Harry Tompkins brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Madam«, sagte er, als er unsicheren Schritts auf den Korridor hinauswankte. Dann drehte er sich um und zwinkerte mir übertrieben zu. »Der alte Harry kommt immer wieder auf die Beine, und wenn’s noch so übel aussieht.« Ich betrachtete seine lange, vom Alkohol gerötete Nase, die großen, durchscheinenden Ohren und sein schlaues, braunes Knopfauge. Plötzlich wurde mir klar, woran er mich erinnerte.
»Wann wurden Sie geboren, Mr. Tompkins?« fragte ich.
Er zwinkerte verwirrt, sagte aber dann: »Im Jahre des Herrn 1713, Missus. Warum?«
»Nur so«, erwiderte ich und verabschiedete mich mit einem Winken. Ich beobachtete noch, wie er den Gang entlangtorkelte und schwerfällig entschwand. Um sicherzugehen, mußte ich Mr. Willoughby fragen, aber im Augenblick hätte ich mein Hemd verwettet, daß 1713 ein Jahr der Ratte war.
Ferne Ufer
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