42
Der Mann im Mond
Wie sein Titel verriet, waren Jamies Pflichten als Frachtaufseher nicht sehr beschwerlich. Solange wir auf See waren, hatte er nichts weiter zu tun, als die geladenen Waren mit den Frachtpapieren zu vergleichen und sicherzustellen, daß die Artemis tatsächlich die angegebene Menge an Häuten, Kupfer, Zinn und Schwefel beförderte. Seine eigentliche Arbeit begann erst, wenn wir Jamaica erreichten, denn dann galt es die Fracht auszuladen, erneut zu prüfen und zu verkaufen, die entsprechenden Zölle zu bezahlen, Provisionen abzuführen und den Papierkram zu erledigen.
In der Zwischenzeit hatten er - und ich - wenig zu tun. Obwohl Mr. Picard, der Bootsmann, Jamies breiten Rücken begehrlich musterte, lag auf der Hand, daß aus ihm niemals ein Seemann werden würde. Zwar bewegte er sich ebenso rasch und gewandt wie die besten Matrosen, aber von Seilen und Segeln hatte er keine Ahnung, so daß er nur zu Aufgaben taugte, die nichts als reine Muskelkraft erforderten. Offensichtlich war Jamie ein Soldat und kein Seefahrer.
Er nahm mit Begeisterung an den Kanonenübungen teil, die jeden zweiten Tag stattfanden, half mit, die vier gewaltigen Kanonen auf ihren Lafetten unter großem Getöse hinein- und herauszuschieben, und brachte Stunden damit zu, mit dem Kanonier Tom Sturgis zu fachsimpeln. Während der lautstarken Übungen hielten Marsali, Mr. Willoughby und ich uns abseits - ebenso wie Fergus, der aufgrund seiner fehlenden Hand nicht an den Feuerübungen teilnehmen sollte.
Es überraschte mich, daß mich die Mannschaft ohne großes Murren als Schiffsärztin akzeptierte. Fergus erklärte mir, daß auf kleinen Handelschiffen nicht einmal einfache Wundärzte mitreisten. Für gewöhnlich war es die Frau des Kanoniers, so er denn eine hatte, die kleinere Verletzungen und Krankheiten der Matrosen behandelte.
Ich wurde wegen der üblichen Quetschungen, Verbrennungen, Hautausschläge, Abszesse und Verdauungsbeschwerden konsultiert, aber da die Besatzung nur aus zweiunddreißig Mann bestand, hatte ich recht wenig zu tun.
So hatten Jamie und ich sehr viel Freizeit. Und während die Artemis allmählich südwärts in den Atlantik segelte, verbrachten wir den Großteil dieser Zeit miteinander.
Zum erstenmal seit meiner Rückkehr nach Edinburgh hatten wir Muße für Gespräche. Wir erinnerten uns jener halbvergessenen Dinge, die wir voneinander wußten, entdeckten die neuen Facetten, die durch Lebenserfahrung an Glanz gewonnen hatten, oder freuten uns einfach aneinander, ohne durch irgendwelche Gefahren oder Alltagspflichten abgelenkt zu werden.
Auf dem Deck hin und her wandernd, unterhielten wir uns über Gott und die Welt. Wir sprachen über die erstaunlichen Phänomene einer Seereise, die malerischen Sonnenauf- und -untergänge, die Schwärme seltsamer grüner und silberner Fische, die glänzenden Delphine, die das Schiff oft tagelang begleiteten und hin und wieder aus dem Wasser sprangen, als wollten sie die merkwürdigen Wesen, die auf dem Meer dahinsegelten, näher betrachten.
 
Wie Phönix aus der Asche erhob sich ein riesiger, goldener Mond aus dem Wasser. Das Meer war jetzt dunkel, und obwohl ich die Delphine nicht mehr sah, dachte ich aus irgendeinem Grund, sie wären noch da und hielten Schritt mit dem Schiff, das durchs Dunkel dahinflog.
Der Anblick nahm selbst alten Seebären den Atem. Sie hielten in ihrer Arbeit inne und seufzten vor Vergnügen, als die riesenhafte Scheibe zum Greifen nahe über dem Horizont schwebte.
Jamie und ich standen an der Reling und betrachteten staunend den gewaltigen Mond, der so nah schien, daß wir mühelos die dunklen Flecken und Schatten auf der Oberfläche erkennen konnten.
»Er ist so nah, daß man mit dem Mann im Mond sprechen könnte«, meinte er lächelnd und winkte dem verträumten goldenen Antlitz zu.
»›Die weinenden Plejaden blickten westwärts, und der Mond versank im Meer‹«, zitierte ich. »Und sieh nur, da unten ist er auch.« Ich deutete über die Reling, wo das Mondlicht im Wasser leuchtete, als wäre dort sein Zwillingsbruder versunken.
»Als ich ging«, sagte ich, »wollten die Menschen auf den Mond fliegen. Ich frage mich, ob sie’s schaffen.«
»Können die Flugmaschinen so hoch hinauf?« fragte Jamie und beäugte kritisch den Mond. »Ich würde sagen, es ist ziemlich weit, so nah es jetzt auch scheinen mag. Ich habe ein Buch von einem Astronomen gelesen - er meinte, es wäre an die neunhundert Meilen von der Erde bis zum Mond. Irrt er sich, oder können die Flugzeuge - so heißen sie doch? - so weit fliegen?«
»Dazu braucht man eine sogenannte Rakete«, erklärte ich. »Eigentlich ist es sogar noch viel weiter bis zum Mond, und draußen im Weltraum gibt es keine Luft zum Atmen. Man muß Luft mit auf die Reise nehmen, so wie Essen und Wasser. Die Luft wird in eine Art Kanister gefüllt.«
»Wirklich?« Verwundert blickt er auf. »Wie es dort oben wohl aussieht?«
»Das weiß ich. Ich habe Bilder gesehen. Es ist felsig und öde, überhaupt kein Leben - aber sehr schön, mit Klippen und Bergen und Kratern -, du kannst die Krater von hier aus sehen, das sind die dunklen Flecken.« Ich nickte dem lächelnden Mond zu. »Es ist dort nicht viel anders als in Schottland - nur daß es nicht grün ist.«
Er lachte. Anscheinend hatte ihn das Wort »Bilder« an etwas erinnert, denn er griff in seine Rocktasche und holte das Päckchen mit den Fotografien heraus. Das tat er nur, wenn uns niemand beobachten konnte, nicht einmal Fergus, aber hier hinten waren wir allein und ungestört.
Im hellen Mondlicht sah Briannas Gesicht leuchtend aus und schien sich immer wieder zu verändern. Die Bilder, die er langsam durchblätterte, waren an den Kanten schon ganz abgegriffen.
»Wird sie auf dem Mond herumlaufen, was meinst du?« fragte er leise und hielt bei dem Schnappschuß inne, auf dem Brianna verträumt aus dem Fenster sah und nicht merkte, daß sie fotografiert wurde. Wieder blickte er zum Himmel auf, und mir wurde klar, daß ihm eine Reise zum Mond kaum schwieriger oder unwahrscheinlicher vorkam als die, die wir gerade machten. Der Mond war schließlich auch nichts weiter als ein ferner, unbekannter Ort.
»Ich weiß nicht«, entgegnete ich lächelnd.
Ganz vertieft in den Anblick seiner Tochter, die ihm so sehr ähnelte, blätterte er weiter. Schweigend beobachtete ich ihn und teilte seine stille Freude über die Verheißung unserer Unsterblichkeit.
Jener Stein in Schottland, in den sein Name eingraviert war, fiel mir wieder ein, und ich fand es tröstlich, daß er so weit weg war - genauso fern wie die Stunde des Abschieds. Und nach unserem Tod würde Brianna weiterleben.
Wieder gingen mir Housmans Verse durch den Sinn - Sieh jenen Namen auf dem Steine / Das Herz wird ruhig am Grabe dort / Und sag, er, der dich liebte / Er stand zu seinem Wort.
Ich trat näher zu Jamie, und als ich seine Wärme durch Rock und Hemd spürte, lehnte ich meinen Kopf an seinen Arm.
»Sie ist schön«, sagte er bei jedem Bild, das er betrachtete. »Und auch klug, hast du gesagt?«
»Genau wie ihr Vater.« Ich spürte, wie er in sich hineinlachte.
Doch beim nächsten Foto versteifte er sich. Es war eine Aufnahme vom Strand, als Brianna sechzehn war. Sie stand knietief in der Brandung, mit wirrem, sandigem Haar, und bespritzte ihren Freund Rodney mit Wasser; er wich lachend zurück und schützte sich mit erhobenen Händen vor dem Wasserschwall.
Jamie runzelte die Stirn.
»Das -« fing er an. »Was machen sie -« Er hielt inne und räusperte sich. »Ich will dich ja nicht kritisieren, Claire«, sagte er vorsichtig, »aber findest du nicht, daß dies ein klein wenig… ungehörig ist?«
Ich unterdrückte ein Lachen.
»Nein«, erwiderte ich gefaßt. »Das ist wirklich ein ziemlich sittsamer Badeanzug - für die Zeit.« Es handelte sich zwar um einen Bikini, aber er saß keineswegs knapp, und das Unterteil reichte Brianna fast bis zum Nabel. »Ich habe dieses Bild ausgesucht, weil ich dachte, du willst… soviel wie möglich von ihr sehen.«
Er sah aus, als fände er diesen Gedanken empörend, aber offenbar übte das Bild eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn aus, und schließlich wurden seine Züge weicher.
»Aye«, sagte er. »Aye, sie ist wunderschön, und ich bin froh, es zu wissen.« Er betrachtete das Bild eingehend. »Nein, ich habe nicht das gemeint, was sie anhat. Frauen, die draußen baden, sind meistens nackt, und ihre Haut macht ihnen keine Schande. Es ist nur - dieser Kerl. Gewiß sollte sie sich nicht halbnackt vor einem Mann zeigen, oder?« Er blickte den unglücklichen Rodney finster an, und ich biß mir auf die Lippen bei dem Gedanken, daß der magere, kleine Junge, den ich so gut kannte, eine Bedrohung jungfräulicher Reinheit sein sollte.
Ich holte tief Luft, denn wir bewegten uns hier auf gefährlichem Boden. »Nein. Ich meine, Jungen und Mädchen spielen so miteinander. Weißt du, in jener Zeit kleiden sich die Leute anders, das habe ich dir doch gesagt. Niemand hat viel an, es sei denn, es ist kalt.«
»Mmmpf«, sagte er. »Aye, das hast du mir erzählt.« Auch ohne große Worte vermittelte er mir unmißverständlich, daß er die moralischen Bedingungen, unter denen seine Tochter nach meinen Schilderungen lebte, keineswegs befriedigend fand.
Wieder warf er einen finsteren Blick auf das Bild, und ich war froh, daß weder Brianna noch Rodney hier waren. Ich hatte Jamie als Liebhaber, Ehemann, Bruder, Onkel, Gutsherr und Krieger erlebt, aber nie in der Rolle des grimmigen schottischen Vaters. Er wirkte wahrhaft furchteinflößend.
Zum erstenmal kam mir der Gedanke, daß es vielleicht gar nicht so schlecht war, daß Jamie nicht persönlich über seine Tochter wachen konnte - er hätte jedem jungen Mann, der den Mut gehabt hätte, ihr den Hof zu machen, einen Höllenschrecken eingejagt.
Jamie warf noch einen hastigen Blick auf das Bild, dann holte er Luft, und ich merkte, daß er sich überwinden mußte, die nächste Frage zu stellen.
»Glaubst du, sie ist - Jungfrau?«
»Natürlich ist sie das«, entgegnete ich mit Nachdruck. Ich hielt es tatsächlich für wahrscheinlich, aber in diesem Augenblick war es nicht angebracht, irgendwelche Zweifel aufkommen zu lassen. Manche Eigenheiten meiner Zeit konnte ich Jamie durchaus erklären, aber das Konzept sexueller Freizügigkeit gehörte nicht dazu.
»Oh«, seufzte er unaussprechlich erleichtert, und ich biß mir auf die Lippen, um nicht loszulachen. »Aye. Ich war mir ganz sicher, ich wollte nur… das heißt…« Er hielt inne und schluckte.
»Brianna ist ein liebes Mädchen.« Ich drückte seinen Arm. »Auch wenn Frank und ich uns nicht immer verstanden haben, wir waren ihr gute Eltern.«
»Aye. Ich weiß. Das wollte ich nicht in Zweifel ziehen.« Er besaß den Anstand, beschämt zu wirken, und schob das Strandfoto sorgfältig unter den Stapel. Dann steckte er die Bilder wieder in die Tasche und klopfte darauf.
Er blickte erneut zum Mond auf und runzelte die Stirn. Der Meerwind spielte mit seinen Haaren und löste einige Strähnen aus dem Band, das sie hielt. Gedankenverloren strich er sie sich aus der Stirn. Offenbar hatte er noch etwas auf dem Herzen.
»Glaubst du«, begann er, ohne mich anzusehen. »Glaubst du, es war gut, daß du gerade jetzt zu mir gekommen bist, Claire? Nicht, daß ich dich nicht wollte«, fügte er hastig hinzu, da er merkte, wie ich mich verspannte. Er nahm meine Hand, so daß ich mich nicht von ihm abwenden konnte.
»Nein. Das habe ich überhaupt nicht gemeint! Bei Gott, ich will dich doch!« Er zog mich an sich und drückte meine Hand an sein Herz. »Ich will dich manchmal so sehr, daß ich glaube, mein Herz zerspringt vor Freude, daß ich dich wirklich habe«, sagte er zärtlich. »Es ist nur - Brianna ist jetzt allein. Frank ist tot, und du bist fort. Sie hat keinen Mann, der sie beschützt, keine männlichen Verwandten, die einen Ehemann für sie suchen. Hätte sie dich nicht noch eine Weile gebraucht? Hättest du nicht noch ein wenig warten sollen?«
Ich versuchte, meine Gefühle zu zügeln, bevor ich antwortete.
»Ich weiß nicht«, sagte ich schließlich, konnte aber nicht verhindern, daß meine Stimme zitterte. »In meiner Zeit ist vieles anders.«
»Das weiß ich!«
»Nein!« Ich entriß ihm meine Hand und starrte ihn wütend an. »Du weißt es nicht, Jamie, und ich kann es dir auch nicht erklären, weil du mir nicht glauben würdest. Aber Brianna ist eine erwachsene Frau. Sie entscheidet selbst, wen und wann sie heiratet, und wartet nicht darauf, daß jemand es für sie arrangiert. Und abgesehen davon muß sie nicht heiraten. Sie hat eine gute Ausbildung, sie kann sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Sie muß keinen Mann nehmen, damit er sie beschützt -«
»Wenn eine Frau keinen Mann mehr braucht, der sie beschützt und für sie sorgt, ist das wahrhaft eine armselige Zeit!« entgegnete er wütend.
Ich holte tief Luft und versuchte, mich zu beruhigen.
»Ich habe nicht gesagt, daß sie keinen braucht.« Ich legte meine Hand auf seine Schulter und sagte etwas leiser: »Sie hat die Wahl. Sie muß nicht aus einer Zwangslage heraus einen Mann nehmen, sondern kann aus Liebe heiraten.«
Sein Gesicht entspannte sich, aber nur ein wenig.
»Du hast mich in einer Zwangslage geheiratet«, sagte er.
»Und zurückgekommen bin ich aus Liebe. Glaubst du, ich brauche dich nicht, nur weil ich mich selbst ernähren kann?«
Der harte Zug um seinen Mund wurde weicher, und er sah mir in die Augen.
»Nein«, sagte er leise. »Das glaube ich nicht.«
Er zog mich an sich, und ich legte meine Arme um seine Taille und hielt ihn fest; unter meiner Wange spürte ich das Päckchen mit den Bildern.
»Es ist mir schwergefallen, sie allein zu lassen«, flüsterte ich. »Sie wollte es. Wir haben befürchtet, daß ich dich nicht mehr finde, wenn ich noch länger warte. Aber ich habe mir Sorgen um sie gemacht.«
»Ich weiß. Ich hätte nichts sagen sollen.« Er strich mir über die Haare.
»Ich habe ihr einen Brief dagelassen. Das war alles, was ich tun konnte, weil ich doch wußte, daß ich sie… daß ich sie vielleicht nie wiedersehe.« Ich schluckte hart.
Ganz sanft streichelte er meinen Rücken.
»Aye? Das war gut, Sassenach. Was hast du ihr geschrieben?« Ich lachte unsicher.
»Alles, was mir eingefallen ist. Mütterliche Ratschläge und Lebensweisheiten - was ich aufbieten konnte. Alle praktischen Dinge - wo die Schenkungsurkunde für das Haus und die Familienpapiere sind. Und alles, was ich weiß über das Leben. Ich denke, sie wird jeden Rat in den Wind schlagen und ein wunderbares Leben führen - aber wenigstens weiß sie, daß ich an sie gedacht habe.« Ich hatte fast eine Woche gebraucht, bis ich all die Schränke und Schreibtischschubladen in Boston durchstöbert und die Geschäftspapiere, die Sparbücher, die Unterlagen über die Hypothek und die Familienurkunden beisammen hatte. Über Franks Familie war ziemlich viel Material vorhanden: riesige Alben und Dutzende von Stammbäumen, Fotos, stapelweise alte Briefe. Meine Familie hatte wesentlich weniger hinterlassen.
Ich hatte die Schachtel aus meinem Schrank geholt. Onkel Lambert war zwar wie alle Gelehrten ein leidenschaftlicher Sammler, aber bei mir gab es wenig zu sammeln. Die Papiere einer kleinen Familie - die Geburtsurkunden von mir und meinen Eltern, ihr Trauschein, die Zulassung für das Auto, in dem sie umgekommen waren - welche verrückte Laune hatte Onkel Lambert bewogen, sie aufzubewahren? Wahrscheinlich hatte er die Schachtel nie aufgemacht, sondern sie nur aufgehoben - in der blinden Überzeugung des Gelehrten, daß Informationen nie vernichtet werden dürfen - vielleicht würden sie irgendwann einmal gebraucht.
Natürlich hatte ich mir den Inhalt schon früher angesehen. Als junges Mädchen hatte ich manchmal Abend für Abend die wenigen Fotos betrachtet, die ich in der Schachtel fand. Ich erinnerte mich an die schmerzliche Sehnsucht nach der Mutter, die ich nicht kannte, an die vergeblichen Versuche, sie mir vorzustellen, sie anhand der kleinen, matten Bilder in der Schachtel wieder lebendig werden zu lassen.
Am besten hatte mir immer eine Nahaufnahme von ihr gefallen: ihre warmen Augen, ihr feiner Mund, ihr Lächeln unter dem Glockenhut aus Filz. Die Fotografie war handkoloriert, ihre Wangen und Lippen unnatürlich rosarot, die Augen braun. Onkel Lamb sagte, das sei falsch; ihre Augen seien golden gewesen, so wie meine.
Ich dachte, für Brianna sei die Zeit, in der sie ihre Mutter wirklich brauchte, schon vorbei, aber ich war mir nicht sicher. Eine Woche zuvor hatte ich eine Atelieraufnahme von mir machen lassen, sie in die Schachtel gelegt und diese mitten auf meinen Schreibtisch gestellt; da würde Brianna sie finden. Dann hatte ich mich hingesetzt und zu schreiben begonnen.
Meine liebe Brianna -, schrieb ich und hielt inne. Ich konnte nicht. Wie hatte ich auch nur daran denken können, mein Kind zu verlassen? Die drei schwarzen Wörter auf dem Papier rückten diese wahnsinnige Idee ins kalte Licht der Vernunft, und es traf mich bis ins Mark.
Meine Hand mit dem Füller zitterte über dem Papier. Ich legte ihn weg, klemmte die Finger zwischen die Schenkel und schloß die Augen.
»Reiß dich zusammen, Beauchamp«, murmelte ich. »Schreib das verdammte Ding, bring es hinter dich. Wenn sie es nicht braucht, schadet es niemandem, und wenn sie es braucht, ist es da.« Ich nahm den Füller und begann noch einmal.
Ich weiß nicht, ob Du diesen Brief je lesen wirst, aber vielleicht ist es ja ganz gut, das alles festzuhalten. Ich will Dir erzählen, was ich über Deine Großeltern (Deine echten), Deine Urgroßeltern und die Krankheiten, die Du durchgemacht hast, weiß…
Ich schrieb eine Zeitlang und füllte eine Seite nach der anderen. Die Anstrengung, mich zu erinnern und alles klar und deutlich festzuhalten, ließ mich ruhiger werden. Dann hielt ich inne und dachte nach.
Was konnte ich ihr noch mitteilen, abgesehen von diesen blutleeren Tatsachen? Wie konnte ich das bescheidene Wissen weitergeben, das ich in achtundvierzig Jahren eines ziemlich ereignisreichen Lebens gesammelt hatte? Gequält verzog ich den Mund. Gab es Töchter, die auf ihre Mutter hörten? Hätte ich es getan, wenn meine Mutter mir etwas erzählt hätte?
Doch das spielte keine Rolle. Ich würde meine Eingebungen festhalten, damit Brianna nötigenfalls darauf zurückgreifen konnte.
Aber was war echt, was würde die Moden und Zeiten überdauern, was würde ihr von Nutzen sein? Und vor allem, wie sollte ich ihr sagen, wie sehr ich sie liebte?
Die Ungeheuerlichkeit meiner Aufgabe überwältigte mich, und ich umklammerte den Füller. Ich konnte nicht gleichzeitig klar denken und diesen Brief verfassen. Es blieb mir nur, den Stift aufs Papier zu setzen und zu hoffen.
Du bist mein Mädchen und wirst es immer sein. Was das bedeutet, wirst Du erst erfahren, wenn Du ein eigenes Kind hast, aber jetzt sage ich Dir - Du wirst immer ein Teil von mir sein, so wie damals, als ich mit Dir schwanger war und Deine Bewegungen in mir spürte. Immer.
Wenn ich Dich schlafen sehe, denke ich an all die Nächte, in denen ich Dich zudeckte, in denen ich im Dunkeln hereinkam und Deinem Atem lauschte, mit meiner Hand spürte, wie sich Deine Brust hob und senkte, und wußte, daß, ganz gleich, was geschieht, alles in Ordnung ist, weil Du lebst.
Alle Namen, die ich Dir im Lauf der Jahre gegeben habe - Häschen, Tolpatsch, Täubchen, Liebling, Süße, Kleine, Schatz… Ich weiß, warum die Juden und Muslime neunhundert Namen für Gott kennen: Ein kleines Wort ist nicht genug für die Liebe. Jede Kleinigkeit an Dir hat sich in mir eingeprägt, angefangen mit dem goldenen Flaum an Deinem Haaransatz, als Du erst einige Stunden alt warst, bis hin zu dem unebenen Nagel am großen Zeh, den Du Dir letztes Jahr gebrochen hast, als Du nach dem Streit mit Jeremy gegen die Tür seines Lieferwagens getreten hast.
Bei Gott, es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke, daß es nun vorbei ist - daß ich all die kleinen Veränderungen nicht mehr wahrnehmen kann. Aber erinnern werde ich mich immer, Brianna.
Wahrscheinlich gibt es niemanden auf Erden, der weiß, wie Deine Ohren aussahen, als Du drei Jahre alt warst. Ich saß oft neben Dir, las Dir Märchen vor und sah, wie Deine Ohren vor Freude glühten. Deine Haut war so hell und empfindlich, daß ich dachte, eine Berührung würde Fingerabdrücke darauf hinterlassen.
Ich sagte Dir, daß Du wie Jamie aussiehst. Du hast aber auch etwas von mir. Sieh Dir das Bild meiner Mutter in der Schachtel an und die kleine Schwarzweißaufnahme von ihrer Mutter und ihrer Großmutter. Du hast, genau wie ich, ihre breite, hohe Stirn geerbt.
Paß gut auf Dich auf, Brianna - ach, ich wünschte - ich wünschte, ich könnte auf Dich aufpassen und Dich Dein Leben lang beschützen, aber das kann ich nicht, ob ich nun bleibe oder gehe. Paß aber gut auf Dich auf - um meinetwillen.
Meine Tränen tropften auf den Brief; ich mußte eine Pause einlegen und sie mit Löschpapier trocknen, damit die Worte nicht völlig unleserlich wurden.
Eines sollst Du wissen, Brianna - ich bereue nichts. Trotz allem bereue ich es nicht. Du weißt jetzt, wie einsam ich ohne Jamie war. Aber es ist nicht wichtig. Wenn der Preis unserer Trennung Dein Leben war, so können weder Jamie noch ich es je bereuen - ich weiß, er hätte nichts dagegen, daß ich für ihn spreche. Brianna… Du bist meine Freude. Du bist vollkommen, Du bist wunderbar - ich höre, wie Du jetzt ärgerlich sagst: »Natürlich glaubst du das - du bist meine Mutter!« Ja, genau deshalb weiß ich es.
Brianna, Du bist jedes Opfer wert - und mehr. Ich habe in meinem Leben vieles getan, aber das Wichtigste von allem war meine Liebe zu Deinem Vater und zu Dir.
Ich putzte mir die Nase und griff nach einem leeren Blatt Papier. Ich konnte niemals alle meine Gefühle ausdrücken, aber ich hatte mein Bestes getan. Was konnte ich noch hinzufügen, was würde ihr im Leben, beim Erwachsenwerden und beim Altwerden von Nutzen sein? Welche Erfahrungen hatte ich gemacht, die ich ihr weitergeben konnte?
Such Dir einen Mann, der Deinem Vater gleicht, schrieb ich, einem Deiner Väter. Ich schüttelte den Kopf - gab es zwei Männer, die unterschiedlicher waren? -, ließ es aber stehen, weil ich an Roger Wakefield dachte. Wenn Du Dich für einen Mann entschieden hast, versuch nicht, ihn zu ändern, schrieb ich mit größerem Selbstvertrauen. Es geht nicht. Noch wichtiger - laß nicht zu, daß er versucht, Dich zu ändern. Er kann es auch nicht, aber Männer versuchen es immer.
Ich kaute an meinem Füller und schmeckte das bittere Aroma der Tusche. Schließlich schrieb ich den letzten und besten Rat, den ich zum Thema Altwerden wußte.
Halt Dich gerade und versuche, nicht fett zu werden.
In Liebe
Mama
 
Jamie lehnte an der Reling. Seine Schultern bebten, ob vor Lachen oder vor Rührung, wußte ich nicht. Sein Leinenhemd leuchtete weiß im matten Licht, und sein Kopf zeichnete sich dunkel vom Mond ab. Schließlich wandte er sich um und zog mich an sich.
»Ich glaube, sie wird sich wacker schlagen«, flüsterte er. »Denn ganz gleich, was für ein armer Einfaltspinsel sie gezeugt hat, kein Mädel auf der Welt hat eine bessere Mutter.
Küß mich, Sassenach, und glaube mir - ich würde dich um nichts in der Welt ändern wollen.«
Ferne Ufer
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