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Der Mann im Mond
Wie sein Titel verriet, waren Jamies Pflichten als
Frachtaufseher nicht sehr beschwerlich. Solange wir auf See waren,
hatte er nichts weiter zu tun, als die geladenen Waren mit den
Frachtpapieren zu vergleichen und sicherzustellen, daß die
Artemis tatsächlich die angegebene Menge an Häuten, Kupfer,
Zinn und Schwefel beförderte. Seine eigentliche Arbeit begann erst,
wenn wir Jamaica erreichten, denn dann galt es die Fracht
auszuladen, erneut zu prüfen und zu verkaufen, die entsprechenden
Zölle zu bezahlen, Provisionen abzuführen und den Papierkram zu
erledigen.
In der Zwischenzeit hatten er - und ich - wenig zu
tun. Obwohl Mr. Picard, der Bootsmann, Jamies breiten Rücken
begehrlich musterte, lag auf der Hand, daß aus ihm niemals ein
Seemann werden würde. Zwar bewegte er sich ebenso rasch und gewandt
wie die besten Matrosen, aber von Seilen und Segeln hatte er keine
Ahnung, so daß er nur zu Aufgaben taugte, die nichts als reine
Muskelkraft erforderten. Offensichtlich war Jamie ein Soldat und
kein Seefahrer.
Er nahm mit Begeisterung an den Kanonenübungen
teil, die jeden zweiten Tag stattfanden, half mit, die vier
gewaltigen Kanonen auf ihren Lafetten unter großem Getöse hinein-
und herauszuschieben, und brachte Stunden damit zu, mit dem
Kanonier Tom Sturgis zu fachsimpeln. Während der lautstarken
Übungen hielten Marsali, Mr. Willoughby und ich uns abseits -
ebenso wie Fergus, der aufgrund seiner fehlenden Hand nicht an den
Feuerübungen teilnehmen sollte.
Es überraschte mich, daß mich die Mannschaft ohne
großes Murren als Schiffsärztin akzeptierte. Fergus erklärte mir,
daß auf kleinen Handelschiffen nicht einmal einfache Wundärzte
mitreisten.
Für gewöhnlich war es die Frau des Kanoniers, so er denn eine
hatte, die kleinere Verletzungen und Krankheiten der Matrosen
behandelte.
Ich wurde wegen der üblichen Quetschungen,
Verbrennungen, Hautausschläge, Abszesse und Verdauungsbeschwerden
konsultiert, aber da die Besatzung nur aus zweiunddreißig Mann
bestand, hatte ich recht wenig zu tun.
So hatten Jamie und ich sehr viel Freizeit. Und
während die Artemis allmählich südwärts in den Atlantik
segelte, verbrachten wir den Großteil dieser Zeit
miteinander.
Zum erstenmal seit meiner Rückkehr nach Edinburgh
hatten wir Muße für Gespräche. Wir erinnerten uns jener
halbvergessenen Dinge, die wir voneinander wußten, entdeckten die
neuen Facetten, die durch Lebenserfahrung an Glanz gewonnen hatten,
oder freuten uns einfach aneinander, ohne durch irgendwelche
Gefahren oder Alltagspflichten abgelenkt zu werden.
Auf dem Deck hin und her wandernd, unterhielten wir
uns über Gott und die Welt. Wir sprachen über die erstaunlichen
Phänomene einer Seereise, die malerischen Sonnenauf- und
-untergänge, die Schwärme seltsamer grüner und silberner Fische,
die glänzenden Delphine, die das Schiff oft tagelang begleiteten
und hin und wieder aus dem Wasser sprangen, als wollten sie die
merkwürdigen Wesen, die auf dem Meer dahinsegelten, näher
betrachten.
Wie Phönix aus der Asche erhob sich ein riesiger,
goldener Mond aus dem Wasser. Das Meer war jetzt dunkel, und obwohl
ich die Delphine nicht mehr sah, dachte ich aus irgendeinem Grund,
sie wären noch da und hielten Schritt mit dem Schiff, das durchs
Dunkel dahinflog.
Der Anblick nahm selbst alten Seebären den Atem.
Sie hielten in ihrer Arbeit inne und seufzten vor Vergnügen, als
die riesenhafte Scheibe zum Greifen nahe über dem Horizont
schwebte.
Jamie und ich standen an der Reling und
betrachteten staunend den gewaltigen Mond, der so nah schien, daß
wir mühelos die dunklen Flecken und Schatten auf der Oberfläche
erkennen konnten.
»Er ist so nah, daß man mit dem Mann im Mond
sprechen könnte«, meinte er lächelnd und winkte dem verträumten
goldenen Antlitz zu.
»›Die weinenden Plejaden blickten westwärts, und
der Mond versank im Meer‹«, zitierte ich. »Und sieh nur, da unten
ist er auch.« Ich deutete über die Reling, wo das Mondlicht im
Wasser leuchtete, als wäre dort sein Zwillingsbruder
versunken.
»Als ich ging«, sagte ich, »wollten die Menschen
auf den Mond fliegen. Ich frage mich, ob sie’s schaffen.«
»Können die Flugmaschinen so hoch hinauf?« fragte
Jamie und beäugte kritisch den Mond. »Ich würde sagen, es ist
ziemlich weit, so nah es jetzt auch scheinen mag. Ich habe ein Buch
von einem Astronomen gelesen - er meinte, es wäre an die
neunhundert Meilen von der Erde bis zum Mond. Irrt er sich, oder
können die Flugzeuge - so heißen sie doch? - so weit
fliegen?«
»Dazu braucht man eine sogenannte Rakete«, erklärte
ich. »Eigentlich ist es sogar noch viel weiter bis zum Mond, und
draußen im Weltraum gibt es keine Luft zum Atmen. Man muß Luft mit
auf die Reise nehmen, so wie Essen und Wasser. Die Luft wird in
eine Art Kanister gefüllt.«
»Wirklich?« Verwundert blickt er auf. »Wie es dort
oben wohl aussieht?«
»Das weiß ich. Ich habe Bilder gesehen. Es ist
felsig und öde, überhaupt kein Leben - aber sehr schön, mit Klippen
und Bergen und Kratern -, du kannst die Krater von hier aus sehen,
das sind die dunklen Flecken.« Ich nickte dem lächelnden Mond zu.
»Es ist dort nicht viel anders als in Schottland - nur daß es nicht
grün ist.«
Er lachte. Anscheinend hatte ihn das Wort »Bilder«
an etwas erinnert, denn er griff in seine Rocktasche und holte das
Päckchen mit den Fotografien heraus. Das tat er nur, wenn uns
niemand beobachten konnte, nicht einmal Fergus, aber hier hinten
waren wir allein und ungestört.
Im hellen Mondlicht sah Briannas Gesicht leuchtend
aus und schien sich immer wieder zu verändern. Die Bilder, die er
langsam durchblätterte, waren an den Kanten schon ganz
abgegriffen.
»Wird sie auf dem Mond herumlaufen, was meinst du?«
fragte er leise und hielt bei dem Schnappschuß inne, auf dem
Brianna verträumt aus dem Fenster sah und nicht merkte, daß sie
fotografiert wurde. Wieder blickte er zum Himmel auf, und mir wurde
klar, daß ihm eine Reise zum Mond kaum schwieriger oder
unwahrscheinlicher vorkam als die, die wir gerade machten. Der Mond
war schließlich auch nichts weiter als ein ferner, unbekannter
Ort.
»Ich weiß nicht«, entgegnete ich lächelnd.
Ganz vertieft in den Anblick seiner Tochter, die
ihm so sehr ähnelte, blätterte er weiter. Schweigend beobachtete
ich ihn und teilte seine stille Freude über die Verheißung unserer
Unsterblichkeit.
Jener Stein in Schottland, in den sein Name
eingraviert war, fiel mir wieder ein, und ich fand es tröstlich,
daß er so weit weg war - genauso fern wie die Stunde des Abschieds.
Und nach unserem Tod würde Brianna weiterleben.
Wieder gingen mir Housmans Verse durch den Sinn -
Sieh jenen Namen auf dem Steine / Das Herz wird ruhig am Grabe
dort / Und sag, er, der dich liebte / Er stand zu seinem
Wort.
Ich trat näher zu Jamie, und als ich seine Wärme
durch Rock und Hemd spürte, lehnte ich meinen Kopf an seinen
Arm.
»Sie ist schön«, sagte er bei jedem Bild, das er
betrachtete. »Und auch klug, hast du gesagt?«
»Genau wie ihr Vater.« Ich spürte, wie er in sich
hineinlachte.
Doch beim nächsten Foto versteifte er sich. Es war
eine Aufnahme vom Strand, als Brianna sechzehn war. Sie stand
knietief in der Brandung, mit wirrem, sandigem Haar, und bespritzte
ihren Freund Rodney mit Wasser; er wich lachend zurück und schützte
sich mit erhobenen Händen vor dem Wasserschwall.
Jamie runzelte die Stirn.
»Das -« fing er an. »Was machen sie -« Er hielt
inne und räusperte sich. »Ich will dich ja nicht kritisieren,
Claire«, sagte er vorsichtig, »aber findest du nicht, daß dies ein
klein wenig… ungehörig ist?«
Ich unterdrückte ein Lachen.
»Nein«, erwiderte ich gefaßt. »Das ist wirklich ein
ziemlich sittsamer Badeanzug - für die Zeit.« Es handelte sich zwar
um einen Bikini, aber er saß keineswegs knapp, und das Unterteil
reichte Brianna fast bis zum Nabel. »Ich habe dieses Bild
ausgesucht, weil ich dachte, du willst… soviel wie möglich von ihr
sehen.«
Er sah aus, als fände er diesen Gedanken empörend,
aber offenbar übte das Bild eine unwiderstehliche Anziehungskraft
auf ihn aus, und schließlich wurden seine Züge weicher.
»Aye«, sagte er. »Aye, sie ist wunderschön, und ich
bin froh, es zu wissen.« Er betrachtete das Bild eingehend. »Nein,
ich habe nicht das gemeint, was sie anhat. Frauen, die draußen
baden, sind meistens nackt, und ihre Haut macht ihnen keine
Schande. Es ist nur - dieser Kerl. Gewiß sollte sie sich nicht
halbnackt vor einem Mann zeigen, oder?« Er blickte den
unglücklichen Rodney finster an, und ich biß mir auf die Lippen bei
dem Gedanken, daß der magere, kleine Junge, den ich so gut kannte,
eine Bedrohung jungfräulicher Reinheit sein sollte.
Ich holte tief Luft, denn wir bewegten uns hier auf
gefährlichem Boden. »Nein. Ich meine, Jungen und Mädchen spielen so
miteinander. Weißt du, in jener Zeit kleiden sich die Leute anders,
das habe ich dir doch gesagt. Niemand hat viel an, es sei denn, es
ist kalt.«
»Mmmpf«, sagte er. »Aye, das hast du mir erzählt.«
Auch ohne große Worte vermittelte er mir unmißverständlich, daß er
die moralischen Bedingungen, unter denen seine Tochter nach meinen
Schilderungen lebte, keineswegs befriedigend fand.
Wieder warf er einen finsteren Blick auf das Bild,
und ich war froh, daß weder Brianna noch Rodney hier waren. Ich
hatte Jamie als Liebhaber, Ehemann, Bruder, Onkel, Gutsherr und
Krieger erlebt, aber nie in der Rolle des grimmigen schottischen
Vaters. Er wirkte wahrhaft furchteinflößend.
Zum erstenmal kam mir der Gedanke, daß es
vielleicht gar nicht so schlecht war, daß Jamie nicht persönlich
über seine Tochter wachen konnte - er hätte jedem jungen Mann, der
den Mut gehabt hätte, ihr den Hof zu machen, einen Höllenschrecken
eingejagt.
Jamie warf noch einen hastigen Blick auf das Bild,
dann holte er Luft, und ich merkte, daß er sich überwinden mußte,
die nächste Frage zu stellen.
»Glaubst du, sie ist - Jungfrau?«
»Natürlich ist sie das«, entgegnete ich mit
Nachdruck. Ich hielt es tatsächlich für wahrscheinlich, aber in
diesem Augenblick war es nicht angebracht, irgendwelche Zweifel
aufkommen zu lassen. Manche Eigenheiten meiner Zeit konnte ich
Jamie durchaus erklären, aber das Konzept sexueller Freizügigkeit
gehörte nicht dazu.
»Oh«, seufzte er unaussprechlich erleichtert, und
ich biß mir auf
die Lippen, um nicht loszulachen. »Aye. Ich war mir ganz sicher,
ich wollte nur… das heißt…« Er hielt inne und schluckte.
»Brianna ist ein liebes Mädchen.« Ich drückte
seinen Arm. »Auch wenn Frank und ich uns nicht immer verstanden
haben, wir waren ihr gute Eltern.«
»Aye. Ich weiß. Das wollte ich nicht in Zweifel
ziehen.« Er besaß den Anstand, beschämt zu wirken, und schob das
Strandfoto sorgfältig unter den Stapel. Dann steckte er die Bilder
wieder in die Tasche und klopfte darauf.
Er blickte erneut zum Mond auf und runzelte die
Stirn. Der Meerwind spielte mit seinen Haaren und löste einige
Strähnen aus dem Band, das sie hielt. Gedankenverloren strich er
sie sich aus der Stirn. Offenbar hatte er noch etwas auf dem
Herzen.
»Glaubst du«, begann er, ohne mich anzusehen.
»Glaubst du, es war gut, daß du gerade jetzt zu mir gekommen bist,
Claire? Nicht, daß ich dich nicht wollte«, fügte er hastig hinzu,
da er merkte, wie ich mich verspannte. Er nahm meine Hand, so daß
ich mich nicht von ihm abwenden konnte.
»Nein. Das habe ich überhaupt nicht gemeint! Bei
Gott, ich will dich doch!« Er zog mich an sich und drückte meine
Hand an sein Herz. »Ich will dich manchmal so sehr, daß ich glaube,
mein Herz zerspringt vor Freude, daß ich dich wirklich habe«, sagte
er zärtlich. »Es ist nur - Brianna ist jetzt allein. Frank ist tot,
und du bist fort. Sie hat keinen Mann, der sie beschützt, keine
männlichen Verwandten, die einen Ehemann für sie suchen. Hätte sie
dich nicht noch eine Weile gebraucht? Hättest du nicht noch ein
wenig warten sollen?«
Ich versuchte, meine Gefühle zu zügeln, bevor ich
antwortete.
»Ich weiß nicht«, sagte ich schließlich, konnte
aber nicht verhindern, daß meine Stimme zitterte. »In meiner Zeit
ist vieles anders.«
»Das weiß ich!«
»Nein!« Ich entriß ihm meine Hand und starrte ihn
wütend an. »Du weißt es nicht, Jamie, und ich kann es dir auch
nicht erklären, weil du mir nicht glauben würdest. Aber Brianna ist
eine erwachsene Frau. Sie entscheidet selbst, wen und wann sie
heiratet, und wartet nicht darauf, daß jemand es für sie
arrangiert. Und abgesehen davon muß sie nicht heiraten. Sie hat
eine gute Ausbildung, sie
kann sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Sie muß keinen
Mann nehmen, damit er sie beschützt -«
»Wenn eine Frau keinen Mann mehr braucht, der sie
beschützt und für sie sorgt, ist das wahrhaft eine armselige Zeit!«
entgegnete er wütend.
Ich holte tief Luft und versuchte, mich zu
beruhigen.
»Ich habe nicht gesagt, daß sie keinen braucht.«
Ich legte meine Hand auf seine Schulter und sagte etwas leiser:
»Sie hat die Wahl. Sie muß nicht aus einer Zwangslage heraus einen
Mann nehmen, sondern kann aus Liebe heiraten.«
Sein Gesicht entspannte sich, aber nur ein
wenig.
»Du hast mich in einer Zwangslage geheiratet«,
sagte er.
»Und zurückgekommen bin ich aus Liebe. Glaubst du,
ich brauche dich nicht, nur weil ich mich selbst ernähren
kann?«
Der harte Zug um seinen Mund wurde weicher, und er
sah mir in die Augen.
»Nein«, sagte er leise. »Das glaube ich
nicht.«
Er zog mich an sich, und ich legte meine Arme um
seine Taille und hielt ihn fest; unter meiner Wange spürte ich das
Päckchen mit den Bildern.
»Es ist mir schwergefallen, sie allein zu lassen«,
flüsterte ich. »Sie wollte es. Wir haben befürchtet, daß ich dich
nicht mehr finde, wenn ich noch länger warte. Aber ich habe mir
Sorgen um sie gemacht.«
»Ich weiß. Ich hätte nichts sagen sollen.« Er
strich mir über die Haare.
»Ich habe ihr einen Brief dagelassen. Das war
alles, was ich tun konnte, weil ich doch wußte, daß ich sie… daß
ich sie vielleicht nie wiedersehe.« Ich schluckte hart.
Ganz sanft streichelte er meinen Rücken.
»Aye? Das war gut, Sassenach. Was hast du ihr
geschrieben?« Ich lachte unsicher.
»Alles, was mir eingefallen ist. Mütterliche
Ratschläge und Lebensweisheiten - was ich aufbieten konnte. Alle
praktischen Dinge - wo die Schenkungsurkunde für das Haus und die
Familienpapiere sind. Und alles, was ich weiß über das Leben. Ich
denke, sie wird jeden Rat in den Wind schlagen und ein wunderbares
Leben führen - aber wenigstens weiß sie, daß ich an sie gedacht
habe.«
Ich hatte fast eine Woche gebraucht, bis ich all die Schränke und
Schreibtischschubladen in Boston durchstöbert und die
Geschäftspapiere, die Sparbücher, die Unterlagen über die Hypothek
und die Familienurkunden beisammen hatte. Über Franks Familie war
ziemlich viel Material vorhanden: riesige Alben und Dutzende von
Stammbäumen, Fotos, stapelweise alte Briefe. Meine Familie hatte
wesentlich weniger hinterlassen.
Ich hatte die Schachtel aus meinem Schrank geholt.
Onkel Lambert war zwar wie alle Gelehrten ein leidenschaftlicher
Sammler, aber bei mir gab es wenig zu sammeln. Die Papiere einer
kleinen Familie - die Geburtsurkunden von mir und meinen Eltern,
ihr Trauschein, die Zulassung für das Auto, in dem sie umgekommen
waren - welche verrückte Laune hatte Onkel Lambert bewogen, sie
aufzubewahren? Wahrscheinlich hatte er die Schachtel nie
aufgemacht, sondern sie nur aufgehoben - in der blinden Überzeugung
des Gelehrten, daß Informationen nie vernichtet werden dürfen -
vielleicht würden sie irgendwann einmal gebraucht.
Natürlich hatte ich mir den Inhalt schon früher
angesehen. Als junges Mädchen hatte ich manchmal Abend für Abend
die wenigen Fotos betrachtet, die ich in der Schachtel fand. Ich
erinnerte mich an die schmerzliche Sehnsucht nach der Mutter, die
ich nicht kannte, an die vergeblichen Versuche, sie mir
vorzustellen, sie anhand der kleinen, matten Bilder in der
Schachtel wieder lebendig werden zu lassen.
Am besten hatte mir immer eine Nahaufnahme von ihr
gefallen: ihre warmen Augen, ihr feiner Mund, ihr Lächeln unter dem
Glockenhut aus Filz. Die Fotografie war handkoloriert, ihre Wangen
und Lippen unnatürlich rosarot, die Augen braun. Onkel Lamb sagte,
das sei falsch; ihre Augen seien golden gewesen, so wie
meine.
Ich dachte, für Brianna sei die Zeit, in der sie
ihre Mutter wirklich brauchte, schon vorbei, aber ich war mir nicht
sicher. Eine Woche zuvor hatte ich eine Atelieraufnahme von mir
machen lassen, sie in die Schachtel gelegt und diese mitten auf
meinen Schreibtisch gestellt; da würde Brianna sie finden. Dann
hatte ich mich hingesetzt und zu schreiben begonnen.
Meine liebe Brianna -, schrieb ich und
hielt inne. Ich konnte nicht. Wie hatte ich auch nur daran denken
können, mein Kind zu verlassen? Die drei schwarzen Wörter auf dem
Papier rückten diese wahnsinnige Idee ins kalte Licht der Vernunft,
und es traf mich bis ins Mark.
Meine Hand mit dem Füller zitterte über dem Papier.
Ich legte ihn weg, klemmte die Finger zwischen die Schenkel und
schloß die Augen.
»Reiß dich zusammen, Beauchamp«, murmelte ich.
»Schreib das verdammte Ding, bring es hinter dich. Wenn sie es
nicht braucht, schadet es niemandem, und wenn sie es braucht, ist
es da.« Ich nahm den Füller und begann noch einmal.
Ich weiß nicht, ob Du diesen Brief je lesen
wirst, aber vielleicht ist es ja ganz gut, das alles festzuhalten.
Ich will Dir erzählen, was ich über Deine Großeltern (Deine
echten), Deine Urgroßeltern und die Krankheiten, die Du
durchgemacht hast, weiß…
Ich schrieb eine Zeitlang und füllte eine Seite
nach der anderen. Die Anstrengung, mich zu erinnern und alles klar
und deutlich festzuhalten, ließ mich ruhiger werden. Dann hielt ich
inne und dachte nach.
Was konnte ich ihr noch mitteilen, abgesehen von
diesen blutleeren Tatsachen? Wie konnte ich das bescheidene Wissen
weitergeben, das ich in achtundvierzig Jahren eines ziemlich
ereignisreichen Lebens gesammelt hatte? Gequält verzog ich den
Mund. Gab es Töchter, die auf ihre Mutter hörten? Hätte ich es
getan, wenn meine Mutter mir etwas erzählt hätte?
Doch das spielte keine Rolle. Ich würde meine
Eingebungen festhalten, damit Brianna nötigenfalls darauf
zurückgreifen konnte.
Aber was war echt, was würde die Moden und Zeiten
überdauern, was würde ihr von Nutzen sein? Und vor allem, wie
sollte ich ihr sagen, wie sehr ich sie liebte?
Die Ungeheuerlichkeit meiner Aufgabe überwältigte
mich, und ich umklammerte den Füller. Ich konnte nicht gleichzeitig
klar denken und diesen Brief verfassen. Es blieb mir nur, den Stift
aufs Papier zu setzen und zu hoffen.
Du bist mein Mädchen und wirst es immer sein.
Was das bedeutet, wirst Du erst erfahren, wenn Du ein eigenes Kind
hast, aber jetzt sage ich Dir - Du wirst immer ein Teil von mir
sein, so wie damals, als ich mit Dir schwanger war und Deine
Bewegungen in mir spürte. Immer.
Wenn ich Dich schlafen sehe, denke ich an all
die Nächte, in denen ich Dich zudeckte, in denen ich im Dunkeln
hereinkam und Deinem Atem lauschte, mit meiner Hand spürte, wie
sich Deine Brust hob und senkte, und wußte, daß, ganz gleich, was
geschieht, alles in Ordnung ist, weil Du lebst.
Alle Namen, die ich Dir im Lauf der Jahre
gegeben habe - Häschen, Tolpatsch, Täubchen, Liebling, Süße,
Kleine, Schatz… Ich weiß, warum die Juden und Muslime neunhundert
Namen für Gott kennen: Ein kleines Wort ist nicht genug für die
Liebe. Jede Kleinigkeit an Dir hat sich in mir eingeprägt,
angefangen mit dem goldenen Flaum an Deinem Haaransatz, als Du erst
einige Stunden alt warst, bis hin zu dem unebenen Nagel am großen
Zeh, den Du Dir letztes Jahr gebrochen hast, als Du nach dem Streit
mit Jeremy gegen die Tür seines Lieferwagens getreten
hast.
Bei Gott, es bricht mir das Herz, wenn ich
daran denke, daß es nun vorbei ist - daß ich all die kleinen
Veränderungen nicht mehr wahrnehmen kann. Aber erinnern werde ich
mich immer, Brianna.
Wahrscheinlich gibt es niemanden auf Erden, der
weiß, wie Deine Ohren aussahen, als Du drei Jahre alt warst. Ich
saß oft neben Dir, las Dir Märchen vor und sah, wie Deine Ohren vor
Freude glühten. Deine Haut war so hell und empfindlich, daß ich
dachte, eine Berührung würde Fingerabdrücke darauf
hinterlassen.
Ich sagte Dir, daß Du wie Jamie aussiehst. Du
hast aber auch etwas von mir. Sieh Dir das Bild meiner Mutter in
der Schachtel an und die kleine Schwarzweißaufnahme von ihrer
Mutter und ihrer Großmutter. Du hast, genau wie ich, ihre breite,
hohe Stirn geerbt.
Paß gut auf Dich auf, Brianna - ach, ich
wünschte - ich wünschte, ich könnte auf Dich aufpassen und Dich
Dein Leben lang beschützen, aber das kann ich nicht, ob ich nun
bleibe oder gehe. Paß aber gut auf Dich auf - um
meinetwillen.
Meine Tränen tropften auf den Brief; ich mußte
eine Pause einlegen und sie mit Löschpapier trocknen, damit die
Worte nicht völlig unleserlich wurden.
Eines sollst Du wissen, Brianna - ich bereue
nichts. Trotz allem bereue ich es nicht. Du weißt jetzt, wie einsam
ich ohne Jamie war. Aber es ist nicht wichtig. Wenn der Preis
unserer Trennung Dein Leben war, so können weder Jamie noch ich es
je bereuen - ich weiß, er hätte nichts dagegen, daß ich für ihn
spreche. Brianna… Du bist meine Freude. Du bist vollkommen, Du bist
wunderbar - ich höre, wie Du jetzt ärgerlich sagst: »Natürlich
glaubst du das - du bist meine Mutter!« Ja, genau deshalb weiß ich
es.
Brianna, Du bist jedes Opfer wert - und mehr.
Ich habe in meinem Leben vieles getan, aber das Wichtigste von
allem war meine Liebe zu Deinem Vater und zu Dir.
Ich putzte mir die Nase und griff nach einem
leeren Blatt Papier. Ich konnte niemals alle meine Gefühle
ausdrücken, aber ich hatte mein Bestes getan. Was konnte ich noch
hinzufügen, was würde ihr im Leben, beim Erwachsenwerden und beim
Altwerden von Nutzen sein? Welche Erfahrungen hatte ich gemacht,
die ich ihr weitergeben konnte?
Such Dir einen Mann, der Deinem Vater
gleicht, schrieb ich, einem Deiner Väter. Ich schüttelte
den Kopf - gab es zwei Männer, die unterschiedlicher waren? -, ließ
es aber stehen, weil ich an Roger Wakefield dachte. Wenn Du Dich
für einen Mann entschieden hast, versuch nicht, ihn zu ändern,
schrieb ich mit größerem Selbstvertrauen. Es geht nicht. Noch
wichtiger - laß nicht zu, daß er versucht, Dich zu ändern. Er kann
es auch nicht, aber Männer versuchen es immer.
Ich kaute an meinem Füller und schmeckte das
bittere Aroma der Tusche. Schließlich schrieb ich den letzten und
besten Rat, den ich zum Thema Altwerden wußte.
Halt Dich gerade und versuche, nicht fett zu
werden.
In Liebe
Mama
Mama
Jamie lehnte an der Reling. Seine Schultern
bebten, ob vor Lachen oder vor Rührung, wußte ich nicht. Sein
Leinenhemd leuchtete weiß im matten Licht, und sein Kopf zeichnete
sich dunkel vom Mond ab. Schließlich wandte er sich um und zog mich
an sich.
»Ich glaube, sie wird sich wacker schlagen«,
flüsterte er. »Denn ganz gleich, was für ein armer Einfaltspinsel
sie gezeugt hat, kein Mädel auf der Welt hat eine bessere
Mutter.
Küß mich, Sassenach, und glaube mir - ich würde
dich um nichts in der Welt ändern wollen.«