31
Schmugglermond
Rastlos brauste der Wind durch Büsche und Bäume und übertönte das Geräusch meiner Schritte auf der Straße ebenso wie die eines möglichen Verfolgers. Es war kaum zwei Wochen nach dem Fest Samhain und in dieser wilden Nacht hätte man wahrhaftig glauben können, daß Geister ihr Unwesen trieben.
Es war jedoch kein Geist, der mich plötzlich von hinten packte und mir seine Hand auf den Mund preßte. Wäre ich nicht auf einen derartigen Überfall vorbereitet gewesen, hätte ich vor Schreck den Verstand verloren. So aber setzte mein Herz nur kurz aus, und ich zuckte heftig zusammen.
Er hatte mich von links gepackt, so daß mein linker Arm bewegungsunfähig gegen meinen Körper gedrückt wurde. Seine rechte Hand lag auf meinem Mund, mein rechter Arm war frei. Ich trat mit dem Absatz gegen seine Kniescheibe, so daß sein Bein einknickte, und während er taumelte, holte ich aus und schlug ihm den Stein, den ich in der Hand hielt, an den Schädel.
Mit diesem Schlag streifte ich den Angreifer zwar nur, aber er stöhnte verblüfft auf, und sein Griff lockerte sich. Ich trat und zappelte, bekam schließlich mit den Zähnen einen Finger seiner Hand zu fassen und biß so fest zu, wie ich konnte.
Dunkel erinnerte ich mich an eine Passage in Grey’s Anatomy, in der es unter anderem hieß, daß der menschliche Kiefer im Schnitt eine Kraft von über dreihundert Pfund auszuüben in der Lage sei.
Ich weiß nicht, ob ich den Durchschnitt übertraf, doch die Wirkung war nicht zu leugnen. Der Angreifer zappelte verzweifelt, um seinen Finger wieder freizubekommen.
Während unseres Kampfes lockerte sich sein Griff, und er war gezwungen, mich abzusetzen. Sobald ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, ließ ich seinen Finger los, wirbelte herum und versetzte ihm mit dem Knie einen herzhaften Schlag in die Eier.
Ich landete einen Treffer. Er gab ein entsetzliches Pfeifen von sich und krümmte sich vor Schmerzen.
»Bist du das, Sassenach?« raunte eine Stimme aus der Dunkelheit zu meiner Linken. Ich machte einen Satz wie eine erschrockene Gazelle und schrie unwillkürlich auf.
Erneut legte sich eine Hand über meinen Mund.
»Um Gottes willen, Sassenach!« murmelte mir Jamie ins Ohr. »Ich bin’s.«
Ich biß ihn nicht, obwohl die Versuchung groß war.
»Ich weiß«, zischte ich, als er mich freigab. »Aber wer ist der andere Kerl, der mich gepackt hat?«
»Fergus, nehme ich an.« Jamies schemenhafte Gestalt trat zu dem Niedergestreckten, der nicht weit von uns auf der Straße lag und leise stöhnte. »Bist du’s, Fergus?« wisperte er. Ein erstickter Laut war die Antwort, und Jamie half ihm auf die Beine.
»Seid leise!« flüsterte ich den beiden zu. »Nicht weit von hier lauern uns ein paar Zollbeamte auf!«
»Tatsächlich?« sagte Jamie, ohne die Stimme zu senken. »Der Lärm, den wir machen, scheint sie ja nicht sonderlich zu interessieren.«
Er hielt inne, als wartete er auf eine Antwort, aber es war nichts zu hören außer dem Wehklagen des Windes in den Erlen. Er legte seine Hand auf meinen Arm und rief in die Nacht.
»MacLeod! Raeburn!«
»Aye, Roy«, meldete sich eine etwas gereizte Stimme aus dem Unterholz. »Wir sind hier. Innes auch und Meldrum, oder?«
»Aye!«
Mehrere Gestalten kamen aus dem Gehölz hervor.
»…vier, fünf, sechs«, zählte Jamie. »Wo sind Hays und die Gordons?«
»Ich habe gesehen, wie Hays sich ins Wasser gerettet hat«, sagte einer von ihnen. »Wahrscheinlich ist er um die Klippe herumgeschwommen. Die Gordons und Kennedy haben es wohl genauso gemacht. Ich habe nicht mitbekommen, daß sie erwischt worden wären.«
»So weit, so gut«, erwiderte Jamie. »Und was hat es mit deinen Zollbeamten auf sich, Sassenach?«
Da weder Oakie noch sein Gefährte aufgetaucht waren, kam ich mir allmählich ziemlich albern vor, aber ich berichtete, was Ian und ich gehört hatten.
»Aye?« Jamie klang interessiert. »Kannst du schon wieder stehen, Fergus? Ja? Tapferer Kerl. Also dann, sehen wir uns vielleicht mal um. Meldrum, hast du einen Feuerstein dabei?«
Kurze Zeit später schritt er mit einer kleinen Fackel die Straße hinunter und um die Kurve. Die Schmuggler und ich warteten in gespanntem Schweigen und hielten uns bereit, entweder wegzulaufen oder ihm zu Hilfe zu eilen. Nach einer kleinen Ewigkeit hörten wir Jamies Stimme.
»Kommt her«, sagte er ruhig und gefaßt.
Er stand mitten auf der Straße bei einer großen Erle. Im flackernden Licht der Fackel sah ich erst nichts außer Jamie. Dann hörte ich den Mann neben mir keuchen, und ein anderer gab einen erstickten Schreckenslaut von sich.
Plötzlich nahm ich noch ein Gesicht wahr. Matt beleuchtet hing es unmittelbar über Jamies linker Schulter in der Luft. Es war grauenhaft geschwollen mit hervorquellenden Augen und heraushängender Zunge. In den strohblonden Haaren spielte der Wind. Ich spürte, wie ein Schrei in meiner Kehle aufstieg, und unterdrückte ihn.
»Du hattest recht, Sassenach«, sagte Jamie. »Da war tatsächlich ein Zöllner.« Er warf etwas zu Boden. »Die Bevollmächtigung. Er hieß Thomas Oakie. Kennt ihn einer von euch?«
»Bei Gott, den würde seine eigene Mutter nicht wiedererkennen!« sagte einer. Auch die anderen Männer verneinten Jamies Frage und scharrten unruhig mit den Füßen. Offenbar waren alle ebenso darauf erpicht, von hier wegzukommen, wie ich.
»Also gut.« Jamie gebot dem Rückzug Einhalt. »Die Fracht ist verloren, also bekommt ihr auch keine Anteile, aye? Braucht einer von euch dringend Geld?« Er griff in seine Tasche. »Ich kann euch etwas geben, damit ihr euch fürs erste über Wasser halten könnt - denn ich habe meine Zweifel, ob wir in nächster Zeit an der Küste arbeiten werden.«
Zögernd traten ein, zwei Männer in den Lichtkreis, um ihr Geld entgegenzunehmen, während die übrigen Schmuggler lautlos im Dunkeln verschwanden. Nach wenigen Minuten waren nur noch Fergus, Jamie und ich da.
»Jesus!« flüsterte Fergus und blickte zu dem Gehenkten auf. »Wer mag das nur getan haben?«
»Ich - das wird man zumindest behaupten, aye?« Jamie blickte auf, und seine Züge wirkten im flackernden Schein der Fackel hart. »Worauf warten wir noch?«
»Was ist mit Ian?« Plötzlich war mir der Junge wieder eingefallen. »Er ist zur Abtei gegangen, um euch zu warnen!«
»Wirklich?« fragte Jamie scharf. »Von daher bin ich gekommen, und er ist mir nicht begegnet. Welche Richtung hat er eingeschlagen, Sassenach?«
»Da hinunter.«
Fergus gab einen erstickten Laut von sich.
»Die Abtei liegt in der entgegengesetzten Richtung«, sagte Jamie amüsiert. »Kommt, wir werden ihn einholen, wenn er seinen Fehler bemerkt und umkehrt.«
»Wartet.« Fergus hob die Hand. Es raschelte im Gebüsch, und wir hörten Ians zaghafte Stimme. »Onkel Jamie?«
»Aye, Ian«, erwiderte sein Onkel. »Ich bin’s.«
Der Junge kroch aus dem Unterholz. Blätter hingen ihm in den Haaren, und die Augen hatte er vor Aufregung weit aufgerissen.
»Ich habe das Licht gesehen und gedacht, ich muß umkehren und sehen, ob Tante Claire in Schwierigkeiten ist«, erklärte er. »Onkel Jamie, du darfst hier nicht mit einer Fackel herumstehen - hier sind überall Zöllner!«
Jamie legte seinem Neffen den Arm um die Schultern und drehte ihn um, bevor er die Leiche erblickte, die an der Erle hing.
»Keine Sorge, Ian«, sagte er gefaßt. »Sie sind fort.«
Er schwenkte die Fackel durch das nasse Gebüsch, so daß sie zischend erlosch.
»Gehen wir. Mr. Willoughby wartet weiter unten mit den Pferden. Bei Tagesanbruch sind wir bereits in den Highlands.«
Ferne Ufer
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