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Schmugglermond
Rastlos brauste der Wind durch Büsche und Bäume
und übertönte das Geräusch meiner Schritte auf der Straße ebenso
wie die eines möglichen Verfolgers. Es war kaum zwei Wochen nach
dem Fest Samhain und in dieser wilden Nacht hätte man wahrhaftig
glauben können, daß Geister ihr Unwesen trieben.
Es war jedoch kein Geist, der mich plötzlich von
hinten packte und mir seine Hand auf den Mund preßte. Wäre ich
nicht auf einen derartigen Überfall vorbereitet gewesen, hätte ich
vor Schreck den Verstand verloren. So aber setzte mein Herz nur
kurz aus, und ich zuckte heftig zusammen.
Er hatte mich von links gepackt, so daß mein linker
Arm bewegungsunfähig gegen meinen Körper gedrückt wurde. Seine
rechte Hand lag auf meinem Mund, mein rechter Arm war frei. Ich
trat mit dem Absatz gegen seine Kniescheibe, so daß sein Bein
einknickte, und während er taumelte, holte ich aus und schlug ihm
den Stein, den ich in der Hand hielt, an den Schädel.
Mit diesem Schlag streifte ich den Angreifer zwar
nur, aber er stöhnte verblüfft auf, und sein Griff lockerte sich.
Ich trat und zappelte, bekam schließlich mit den Zähnen einen
Finger seiner Hand zu fassen und biß so fest zu, wie ich
konnte.
Dunkel erinnerte ich mich an eine Passage in
Grey’s Anatomy, in der es unter anderem hieß, daß der
menschliche Kiefer im Schnitt eine Kraft von über dreihundert Pfund
auszuüben in der Lage sei.
Ich weiß nicht, ob ich den Durchschnitt übertraf,
doch die Wirkung war nicht zu leugnen. Der Angreifer zappelte
verzweifelt, um seinen Finger wieder freizubekommen.
Während unseres Kampfes lockerte sich sein Griff,
und er war
gezwungen, mich abzusetzen. Sobald ich wieder festen Boden unter
den Füßen hatte, ließ ich seinen Finger los, wirbelte herum und
versetzte ihm mit dem Knie einen herzhaften Schlag in die
Eier.
Ich landete einen Treffer. Er gab ein entsetzliches
Pfeifen von sich und krümmte sich vor Schmerzen.
»Bist du das, Sassenach?« raunte eine Stimme aus
der Dunkelheit zu meiner Linken. Ich machte einen Satz wie eine
erschrockene Gazelle und schrie unwillkürlich auf.
Erneut legte sich eine Hand über meinen Mund.
»Um Gottes willen, Sassenach!« murmelte mir Jamie
ins Ohr. »Ich bin’s.«
Ich biß ihn nicht, obwohl die Versuchung groß
war.
»Ich weiß«, zischte ich, als er mich freigab. »Aber
wer ist der andere Kerl, der mich gepackt hat?«
»Fergus, nehme ich an.« Jamies schemenhafte Gestalt
trat zu dem Niedergestreckten, der nicht weit von uns auf der
Straße lag und leise stöhnte. »Bist du’s, Fergus?« wisperte er. Ein
erstickter Laut war die Antwort, und Jamie half ihm auf die
Beine.
»Seid leise!« flüsterte ich den beiden zu. »Nicht
weit von hier lauern uns ein paar Zollbeamte auf!«
»Tatsächlich?« sagte Jamie, ohne die Stimme zu
senken. »Der Lärm, den wir machen, scheint sie ja nicht sonderlich
zu interessieren.«
Er hielt inne, als wartete er auf eine Antwort,
aber es war nichts zu hören außer dem Wehklagen des Windes in den
Erlen. Er legte seine Hand auf meinen Arm und rief in die
Nacht.
»MacLeod! Raeburn!«
»Aye, Roy«, meldete sich eine etwas gereizte Stimme
aus dem Unterholz. »Wir sind hier. Innes auch und Meldrum,
oder?«
»Aye!«
Mehrere Gestalten kamen aus dem Gehölz
hervor.
»…vier, fünf, sechs«, zählte Jamie. »Wo sind Hays
und die Gordons?«
»Ich habe gesehen, wie Hays sich ins Wasser
gerettet hat«, sagte einer von ihnen. »Wahrscheinlich ist er um die
Klippe herumgeschwommen. Die Gordons und Kennedy haben es wohl
genauso gemacht. Ich habe nicht mitbekommen, daß sie erwischt
worden wären.«
»So weit, so gut«, erwiderte Jamie. »Und was hat es
mit deinen Zollbeamten auf sich, Sassenach?«
Da weder Oakie noch sein Gefährte aufgetaucht
waren, kam ich mir allmählich ziemlich albern vor, aber ich
berichtete, was Ian und ich gehört hatten.
»Aye?« Jamie klang interessiert. »Kannst du schon
wieder stehen, Fergus? Ja? Tapferer Kerl. Also dann, sehen wir uns
vielleicht mal um. Meldrum, hast du einen Feuerstein dabei?«
Kurze Zeit später schritt er mit einer kleinen
Fackel die Straße hinunter und um die Kurve. Die Schmuggler und ich
warteten in gespanntem Schweigen und hielten uns bereit, entweder
wegzulaufen oder ihm zu Hilfe zu eilen. Nach einer kleinen Ewigkeit
hörten wir Jamies Stimme.
»Kommt her«, sagte er ruhig und gefaßt.
Er stand mitten auf der Straße bei einer großen
Erle. Im flackernden Licht der Fackel sah ich erst nichts außer
Jamie. Dann hörte ich den Mann neben mir keuchen, und ein anderer
gab einen erstickten Schreckenslaut von sich.
Plötzlich nahm ich noch ein Gesicht wahr. Matt
beleuchtet hing es unmittelbar über Jamies linker Schulter in der
Luft. Es war grauenhaft geschwollen mit hervorquellenden Augen und
heraushängender Zunge. In den strohblonden Haaren spielte der Wind.
Ich spürte, wie ein Schrei in meiner Kehle aufstieg, und
unterdrückte ihn.
»Du hattest recht, Sassenach«, sagte Jamie. »Da war
tatsächlich ein Zöllner.« Er warf etwas zu Boden. »Die
Bevollmächtigung. Er hieß Thomas Oakie. Kennt ihn einer von
euch?«
»Bei Gott, den würde seine eigene Mutter nicht
wiedererkennen!« sagte einer. Auch die anderen Männer verneinten
Jamies Frage und scharrten unruhig mit den Füßen. Offenbar waren
alle ebenso darauf erpicht, von hier wegzukommen, wie ich.
»Also gut.« Jamie gebot dem Rückzug Einhalt. »Die
Fracht ist verloren, also bekommt ihr auch keine Anteile, aye?
Braucht einer von euch dringend Geld?« Er griff in seine Tasche.
»Ich kann euch etwas geben, damit ihr euch fürs erste über Wasser
halten könnt - denn ich habe meine Zweifel, ob wir in nächster Zeit
an der Küste arbeiten werden.«
Zögernd traten ein, zwei Männer in den Lichtkreis,
um ihr Geld
entgegenzunehmen, während die übrigen Schmuggler lautlos im
Dunkeln verschwanden. Nach wenigen Minuten waren nur noch Fergus,
Jamie und ich da.
»Jesus!« flüsterte Fergus und blickte zu dem
Gehenkten auf. »Wer mag das nur getan haben?«
»Ich - das wird man zumindest behaupten, aye?«
Jamie blickte auf, und seine Züge wirkten im flackernden Schein der
Fackel hart. »Worauf warten wir noch?«
»Was ist mit Ian?« Plötzlich war mir der Junge
wieder eingefallen. »Er ist zur Abtei gegangen, um euch zu
warnen!«
»Wirklich?« fragte Jamie scharf. »Von daher bin ich
gekommen, und er ist mir nicht begegnet. Welche Richtung hat er
eingeschlagen, Sassenach?«
»Da hinunter.«
Fergus gab einen erstickten Laut von sich.
»Die Abtei liegt in der entgegengesetzten
Richtung«, sagte Jamie amüsiert. »Kommt, wir werden ihn einholen,
wenn er seinen Fehler bemerkt und umkehrt.«
»Wartet.« Fergus hob die Hand. Es raschelte im
Gebüsch, und wir hörten Ians zaghafte Stimme. »Onkel Jamie?«
»Aye, Ian«, erwiderte sein Onkel. »Ich
bin’s.«
Der Junge kroch aus dem Unterholz. Blätter hingen
ihm in den Haaren, und die Augen hatte er vor Aufregung weit
aufgerissen.
»Ich habe das Licht gesehen und gedacht, ich muß
umkehren und sehen, ob Tante Claire in Schwierigkeiten ist«,
erklärte er. »Onkel Jamie, du darfst hier nicht mit einer Fackel
herumstehen - hier sind überall Zöllner!«
Jamie legte seinem Neffen den Arm um die Schultern
und drehte ihn um, bevor er die Leiche erblickte, die an der Erle
hing.
»Keine Sorge, Ian«, sagte er gefaßt. »Sie sind
fort.«
Er schwenkte die Fackel durch das nasse Gebüsch, so
daß sie zischend erlosch.
»Gehen wir. Mr. Willoughby wartet weiter unten mit
den Pferden. Bei Tagesanbruch sind wir bereits in den
Highlands.«