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Schlafende Ungeheuer
Loch Ness, August 1968
Brianna blinzelte und strich eine Strähne fort,
die ihr der Wind ins Gesicht geblasen hatte. »Ich wußte fast nicht
mehr, wie die Sonne aussieht«, sagte sie, während sie auf besagtes
Objekt wies, das mit ungewohnter Kraft auf die dunkle Wasserfläche
des Loch Ness herabstrahlte.
Ihre Mutter räkelte sich wohlig in der milden
Brise. »Von frischer Luft ganz zu schweigen. Ich komme mir vor wie
ein Pilz im dunklen Keller - bleich und matschig.«
»Ein paar tolle Forscher würdet ihr abgeben!«
beschwerte sich Roger. Aber er grinste. Alle drei waren sie bester
Laune. Nach der mühseligen Suche in den Gefängnislisten, die vom
Fund von Ardsmuir gekrönt war, hatten sie eine Glückssträhne. Die
Aufstellungen von Ardsmuir waren vollständig und ausgesprochen
sorgfältig geführt. Aber die Gebäude hatten nur fünfzehn Jahre als
Gefängnis gedient. Im Anschluß an die Renovierung durch die
jakobitischen Insassen war es zu einem Garnisonsstützpunkt
geworden, während die Gefangenen an andere Orte verlegt worden
waren - die meisten in die amerikanischen Kolonien.
»Ich verstehe immer noch nicht, warum Fraser nicht
mit den anderen nach Amerika geschickt wurde«, sagte Roger. Als er
die Listen mit den Deportierten studierte und keinen Fraser fand,
hatte ihn kurzfristig Panik ergriffen. Für ihn stand plötzlich
fest, daß Jamie im Gefängnis gestorben war, und bei der
Vorstellung, dies den beiden Frauen berichten zu müssen, trat ihm
der kalte Schweiß auf die Stirn - bis er auf einer Seite las, daß
Fraser an einen Ort namens Helwater gebracht worden war.
»Ich auch nicht«, sagte Claire. »Aber er hatte
verdammt Glück.
Er wird - er wurde«, verbesserte sie sich rasch, »nämlich
furchtbar schnell seekrank.«
Roger warf Brianna einen neugierigen Blick zu. »Du
auch?«
Sie schüttelte so heftig den Kopf, daß ihr die
leuchtendroten Haare ums Gesicht flogen. »Nö!« Zufrieden klopfte
sie sich auf den Bauch. »Eiserne Konstitution!«
Roger lachte. »Wollen wir dann ein bißchen
rausfahren? Schließlich habt ihr Urlaub.«
»Au ja, wollen wir? Kann man hier angeln?« Brianna
blickte eifrig auf den See hinaus.
»Aber sicher. Ich habe im Loch Ness schon viele
Lachse und Aale gefangen«, versicherte ihr Roger. »Kommt mit. Wir
mieten uns in Drumnadrochit ein Boot.«
Die Fahrt nach Drumnadrochit war ein einziges
Vergnügen. Es war einer jener klaren, sonnigen Sommertage, der die
Touristen in der Urlaubszeit in wahren Heerscharen nach Schottland
zieht. Mit Fionas üppigem Frühstück im Magen, dem vollgepackten
Picknickkorb im Boot und Brianna Randall neben sich war Roger mit
sich und der Welt im reinen.
Und höchst zufrieden dachte er an das Ergebnis
seiner Nachforschungen. Zwar hatte er sich dafür das Sommersemester
freinehmen müssen, aber es war die Sache wert gewesen.
Nachdem sie den Eintrag von Jamies Verlegung
gelesen hatten, waren noch einmal zwei Wochen anstrengender Arbeit
nötig gewesen - und ein Wochenendausflug in den Lake District und
eine gemeinsame Fahrt nach London -, bis Brianna im hochheiligen
Lesesaal des British Museum einen Freudenschrei ausgestoßen hatte,
woraufhin sie, umgeben von eisigem Schweigen, hastig dem Ausgang
zustrebten. Doch sie hatten ihn gefunden, den königlichen
Gnadenerlaß mit dem Siegel George III., Rex Angleterre, anno
1764, ausgestellt auf den Namen »James Alexdr M’Kensie
Frazier.«
»Wir kommen ihm immer näher«, hatte Roger gesagt,
während er die Kopie der Begnadigung überflog.
»Näher?« hatte Brianna gefragt, doch dann war der
Bus gekommen, und später hatte sie das Ganze nicht weiter verfolgt.
Roger allerdings hatte gemerkt, daß Claires Blick auf ihm ruhte -
sie hatte ihn sehr wohl verstanden.
Natürlich dachte sie darüber nach. Claire war 1945
durch den Steinkreis auf dem Craigh na Dun in die Vergangenheit
gereist und 1743 herausgekommen. Fast drei Jahre lang hatte sie mit
Jamie zusammengelebt, und als sie zurückkehrte, war sie knapp drei
Jahre nach ihrem Verschwinden, im April 1948, wieder
aufgetaucht.
Und das bedeutete möglicherweise, daß sie - sollte
sie die Reise noch einmal wagen wollen - zwanzig Jahre nachdem sie
Jamie verlassen hatte, also 1766, eintreffen würde. Ihnen fehlten
nur noch zwei Jahre. Wenn Jamie in diesen zwei Jahren nicht
gestorben war und wenn Roger ihn finden könnte…
»Da ist es«, rief Brianna plötzlich. »Boote zu
vermieten.« Sie wies auf ein Schild an einer Gaststätte am Hafen,
und Roger steuerte den Wagen in eine Parklücke, ohne weiter über
Jamie Fraser nachzudenken.
Der See war ruhig und das Angeln nicht gerade von
Erfolg gekrönt. Aber die Augustsonne schien ihnen warm auf den
Rücken, und vom Ufer wehte der Duft nach Himbeeren und sonnenwarmen
Kiefern herüber. Nach dem Essen wurden sie müde, und schon bald
rollte sich Brianna im Bug zusammen und hielt, den Kopf auf Rogers
Jackett gebettet, ein Mittagsschläfchen. Auch Claire, die im Heck
saß, hatte Mühe, die Augen offenzuhalten.
»Werden Sie zurückgehen, wenn ich ihn finde?« Roger
legte die Ruder auf dem Bootrand ab und musterte sie.
Sie holte tief Luft. Die Brise hatte einen Hauch
von Röte auf ihre Wangen gezaubert. Zu jung für eine trauernde
Witwe, dachte er, zu schön, um allein zu bleiben.
»Ich weiß nicht«, antwortete sie mit bebender
Stimme. »Ich habe daran gedacht - oder vielmehr mit dem Gedanken
gespielt. Einerseits möchte ich Jamie finden, aber… aber wieder
durch die Steine zu gehen…« Sie schauderte und schloß die Augen.
»Es ist unbeschreiblich furchtbar. Nicht mit anderen furchtbaren
Dingen zu vergleichen. Es ist unvorstellbar.« Sie öffnete die Augen
und lächelte ihn traurig an. »Als wollte man einem Mann das Gefühl
beschreiben, wie es ist, ein Kind zu kriegen. Er kann sich zwar
mehr oder weniger vorstellen, daß es weh tut, aber nachvollziehen
kann er es nicht.«
Roger grunzte amüsiert. »Wirklich? Nun, mit einem
Unterschied:
Ich habe diese scheußlichen Steine gehört.« Unwillkürlich
fröstelte ihn. Er dachte nicht gern an jene Nacht vor drei Monaten,
in der Gillian Edgars durch die Steine gegangen war. Allerdings
verfolgten ihn die Bilder in Alpträumen.
»Es ist, als würde man auseinandergerissen, nicht
wahr?«
Er ließ Claire nicht aus den Augen. »Als würde an
einem gezogen und gezerrt, nicht nur von außen, sondern auch von
innen, und man denkt, jeden Augenblick zerspringt einem der
Schädel.« Er schüttelte sich. Claire war blaß geworden.
»Ich wußte nicht, daß Sie die Steine hören
konnten«, sagte sie. »Das haben Sie mir nicht erzählt.«
»Es schien mir auch nicht wichtig.« Er sah sie
schweigend an. »Brianna hat sie auch gehört.«
»Aha.« Sie wandte sich um und sah wieder auf den
See, wo ihr Boot eine keilförmige Spur auf dem Wasser hinterließ.
Weiter hinten wurden die glitzernden Wellen eines größeren Bootes
von den Felswänden zurückgeworfen. In der Mitte des Sees trafen sie
wieder zusammen und bildeten eine längliche, ungetüme Form - eine
stehende Welle, jenes Naturereignis, das oft fälschlicherweise für
das Ungeheuer von Loch Ness gehalten wurde.
»Es existiert wirklich«, sagte sie plötzlich und
wies auf die schwarze Wasserfläche.
Roger hatte schon den Mund geöffnet, um sie zu
fragen, was sie meinte. Doch plötzlich wußte er, wovon sie sprach.
Die meiste Zeit seines Lebens hatte er in der Nähe des Loch Ness
verbracht, hatte im Winter darin Aale und Lachse geangelt, hatte
jede nur denkbare Geschichte über das »furchterregende Ungeheuer«
gehört, die in den Kneipen erzählt wurde, und darüber
gelacht.
Vielleicht lag es an den ungewöhnlichen Umständen -
da saßen sie und besprachen allen Ernstes, ob die Frau neben ihm
das Wagnis eingehen und sich in eine unbekannte Vergangenheit
katapultieren lassen sollte. Ihm war zwar nicht klar, woher er die
Gewißheit nahm, doch plötzlich schien es ihm nicht nur möglich,
sondern sogar sicher, daß sich in den dunklen Wassern des Loch Ness
eine unbekannte, aber durchaus lebendige Bestie verbarg.
»Was glauben Sie, was es ist?« fragte er.
Claire beugte sich über den Bootsrand und
betrachtete angelegentlich einen Holzstamm, der vorbeitrieb.
»Das, was ich gesehen habe, war womöglich ein
Plesiosaurier«, sagte sie schließlich, den Blick in weite Ferne
gerichtet. »Obwohl ich mir damals keine Aufzeichnungen gemacht
habe.« Sie verzog den Mund.
»Wie viele Steinkreise gibt es in England und
Europa?« fragte sie unvermittelt. »Wissen Sie das?«
»Nicht genau. Aber vielleicht ein paar hundert«,
antwortete er vorsichtig. »Glauben Sie, daß die alle…«
»Woher soll ich das wissen?« unterbrach sie ihn
ungeduldig. »Jedenfalls könnten sie es sein. Man hat sie errichtet,
um irgend etwas zu markieren, also gibt es vielleicht verdammt
viele Plätze, wo dieses Irgendwas geschehen kann.« Sie wischte sich
eine Strähne aus dem Gesicht und lächelte ihn schief an.
»Immerhin wäre das eine Erklärung.«
»Wofür?«
Roger wurde fast schwindelig bei der Art, wie sie
ständig das Thema wechselte.
»Für die Ungeheuer.« Sie wies auf das Wasser.
»Vielleicht gibt es ja unter dem See auch eine von diesen… diesen
Stellen.«
»Einen Zeittunnel, einen Übergang oder so was?«
Roger verschlug es beinahe die Sprache.
»Das würde vieles erklären.« Ein verstecktes
Lächeln spielte um ihre Lippen. Roger wußte nicht, ob sie sich über
ihn lustig machte oder nicht. »Am nächsten kommen dem Ungeheuer die
Gattungen, die seit Hunderttausenden von Jahren ausgestorben sind.
Aber wenn es unter dem See einen Zeittunnel gibt, wären alle Rätsel
gelöst.«
»Das würde auch erklären, warum die Berichte
manchmal nicht übereinstimmen«, meinte Roger, der sich immer mehr
für diese Idee erwärmte. »Es kommen immer andere zu uns
herüber.«
»Und damit wäre klar, warum sie bis jetzt nicht
gefangen werden konnten, obwohl sie so oft gesehen wurden.
Vielleicht gehen sie immer wieder zurück, sind also die meiste Zeit
nicht hier im See.«
»Eine tolle Theorie!« staunte Roger. Claire und er
grinsten einander an.
»Ich glaube aber nicht«, gab Claire zu bedenken,
»daß sie sich je durchsetzen wird.«
Roger lachte und hob einen Krebs aus dem Wasser.
Dabei fielen ein paar Wassertropfen auf Briannas Gesicht. Sie
schnaubte, fuhr auf, blinzelte und ließ sich zurückfallen. Binnen
Sekunden war sie wieder in tiefen Schlaf gesunken.
»Sie ist gestern lange aufgeblieben und hat mir
geholfen, das Paket mit den letzten Unterlagen für die Universität
von Leeds zu packen, die wir zurückschicken wollen«, brachte Roger
zu ihrer Entschuldigung vor.
Claire nickte gedankenverloren.
»Jamie konnte das auch«, sagte sie leise. »Sich
hinlegen und auf der Stelle einschlafen, ganz gleich, wo er
war.«
Sie wurde still. Roger trieb das Boot mit
gleichmäßigen Ruderschlägen auf die mächtigen, furchteinflößenden
Ruinen der Burg Urquhart zu, die am Ufer zwischen den Kiefern
standen.
»Leider wird es immer schwerer«, sagte Claire
schließlich. »Die erste Reise durch die Steine war für mich das
Schrecklichste, was ich je erlebt hatte. Aber die Rückkehr war noch
tausendmal schlimmer.« Ihr Blick haftete auf den alten Felsmauern.
»Womöglich lag es daran, daß ich nicht den richtigen Tag gewählt
habe. Als ich in die Vergangenheit ging, hatten wir Beltene, aber
zurück kam ich etwas früher. Und Geillis - ich meine Gillian - ging
gleichfalls an Beltene durch die Steine.«
Trotz der sommerlichen Temperaturen fröstelte Roger
plötzlich. Vor seinen Augen entstand das Bild der Frau - seine
Ahnherrin und gleichzeitig seine Zeitgenossin -, die einen Moment
wie erstarrt im Licht des flackernden Opferfeuers stand, bevor sie
in dem gespaltenen Stein verschwand.
»So stand es in ihrem Notizbuch - an den alten
Sonnen- und Feuerfesten ist die Pforte offen. Vielleicht gibt es in
den Tagen davor und danach nur einen kleinen Spalt. Aber womöglich
hatte sie sich ja auch geirrt; schließlich glaubte sie, daß für den
Übergang ein Menschenopfer nötig war.«
Claire schluckte schwer. Am Morgen des ersten Mai
hatte die Polizei den mit Petroleum übergossenen Leichnam von
Gillians Mann, Greg Edgars, vom Craigh na Dun fortschaffen müssen.
In ihrem Bericht hieß es von seiner Frau: »Geflüchtet,
Aufenthaltsort unbekannt.«
Claire beugte sich über den Bootsrand und ließ die
Hand im
Wasser baumeln. Eine kleine Wolke schob sich vor die Sonne.
Plötzlich wurde der See grau, und unruhige Wellen kräuselten sich,
als der Wind sich hob. Die Wasserfläche unter ihnen wirkte wie ein
undurchsichtiger schwarzer Spiegel.
»Würden Sie hinuntertauchen, Roger?« fragte Claire
leise. »Über Bord springen und sich in die Tiefe stürzen, bis Ihnen
die Lungen platzen? Ohne zu wissen, ob es dort riesige Bestien mit
Reißzähnen gibt?«
Roger spürte, wie sich auf seinen Armen die Haare
aufstellten. »Aber das ist nicht alles«, fuhr Claire fort, während
sie weiter auf die blanke, schwarze Fläche starrte. »Würden Sie
springen, wenn Sie wüßten, daß Brianna Sie dort erwartet?« Sie
richtete sich auf und sah ihn an.
Er befeuchtete sich die Lippen und blickte kurz
hinter sich, auf das schlafende Mädchen. Dann wandte er sich wieder
zu Claire um.
»Ja, ich glaube, das würde ich.«
Sie sah ihn einen Moment lang schweigend an. Dann
nickte sie ernst.
»Ich auch«, sagte sie.