17
Schlafende Ungeheuer
Loch Ness, August 1968
Brianna blinzelte und strich eine Strähne fort, die ihr der Wind ins Gesicht geblasen hatte. »Ich wußte fast nicht mehr, wie die Sonne aussieht«, sagte sie, während sie auf besagtes Objekt wies, das mit ungewohnter Kraft auf die dunkle Wasserfläche des Loch Ness herabstrahlte.
Ihre Mutter räkelte sich wohlig in der milden Brise. »Von frischer Luft ganz zu schweigen. Ich komme mir vor wie ein Pilz im dunklen Keller - bleich und matschig.«
»Ein paar tolle Forscher würdet ihr abgeben!« beschwerte sich Roger. Aber er grinste. Alle drei waren sie bester Laune. Nach der mühseligen Suche in den Gefängnislisten, die vom Fund von Ardsmuir gekrönt war, hatten sie eine Glückssträhne. Die Aufstellungen von Ardsmuir waren vollständig und ausgesprochen sorgfältig geführt. Aber die Gebäude hatten nur fünfzehn Jahre als Gefängnis gedient. Im Anschluß an die Renovierung durch die jakobitischen Insassen war es zu einem Garnisonsstützpunkt geworden, während die Gefangenen an andere Orte verlegt worden waren - die meisten in die amerikanischen Kolonien.
»Ich verstehe immer noch nicht, warum Fraser nicht mit den anderen nach Amerika geschickt wurde«, sagte Roger. Als er die Listen mit den Deportierten studierte und keinen Fraser fand, hatte ihn kurzfristig Panik ergriffen. Für ihn stand plötzlich fest, daß Jamie im Gefängnis gestorben war, und bei der Vorstellung, dies den beiden Frauen berichten zu müssen, trat ihm der kalte Schweiß auf die Stirn - bis er auf einer Seite las, daß Fraser an einen Ort namens Helwater gebracht worden war.
»Ich auch nicht«, sagte Claire. »Aber er hatte verdammt Glück. Er wird - er wurde«, verbesserte sie sich rasch, »nämlich furchtbar schnell seekrank.«
Roger warf Brianna einen neugierigen Blick zu. »Du auch?«
Sie schüttelte so heftig den Kopf, daß ihr die leuchtendroten Haare ums Gesicht flogen. »Nö!« Zufrieden klopfte sie sich auf den Bauch. »Eiserne Konstitution!«
Roger lachte. »Wollen wir dann ein bißchen rausfahren? Schließlich habt ihr Urlaub.«
»Au ja, wollen wir? Kann man hier angeln?« Brianna blickte eifrig auf den See hinaus.
»Aber sicher. Ich habe im Loch Ness schon viele Lachse und Aale gefangen«, versicherte ihr Roger. »Kommt mit. Wir mieten uns in Drumnadrochit ein Boot.«
 
Die Fahrt nach Drumnadrochit war ein einziges Vergnügen. Es war einer jener klaren, sonnigen Sommertage, der die Touristen in der Urlaubszeit in wahren Heerscharen nach Schottland zieht. Mit Fionas üppigem Frühstück im Magen, dem vollgepackten Picknickkorb im Boot und Brianna Randall neben sich war Roger mit sich und der Welt im reinen.
Und höchst zufrieden dachte er an das Ergebnis seiner Nachforschungen. Zwar hatte er sich dafür das Sommersemester freinehmen müssen, aber es war die Sache wert gewesen.
Nachdem sie den Eintrag von Jamies Verlegung gelesen hatten, waren noch einmal zwei Wochen anstrengender Arbeit nötig gewesen - und ein Wochenendausflug in den Lake District und eine gemeinsame Fahrt nach London -, bis Brianna im hochheiligen Lesesaal des British Museum einen Freudenschrei ausgestoßen hatte, woraufhin sie, umgeben von eisigem Schweigen, hastig dem Ausgang zustrebten. Doch sie hatten ihn gefunden, den königlichen Gnadenerlaß mit dem Siegel George III., Rex Angleterre, anno 1764, ausgestellt auf den Namen »James Alexdr M’Kensie Frazier.«
»Wir kommen ihm immer näher«, hatte Roger gesagt, während er die Kopie der Begnadigung überflog.
»Näher?« hatte Brianna gefragt, doch dann war der Bus gekommen, und später hatte sie das Ganze nicht weiter verfolgt. Roger allerdings hatte gemerkt, daß Claires Blick auf ihm ruhte - sie hatte ihn sehr wohl verstanden.
Natürlich dachte sie darüber nach. Claire war 1945 durch den Steinkreis auf dem Craigh na Dun in die Vergangenheit gereist und 1743 herausgekommen. Fast drei Jahre lang hatte sie mit Jamie zusammengelebt, und als sie zurückkehrte, war sie knapp drei Jahre nach ihrem Verschwinden, im April 1948, wieder aufgetaucht.
Und das bedeutete möglicherweise, daß sie - sollte sie die Reise noch einmal wagen wollen - zwanzig Jahre nachdem sie Jamie verlassen hatte, also 1766, eintreffen würde. Ihnen fehlten nur noch zwei Jahre. Wenn Jamie in diesen zwei Jahren nicht gestorben war und wenn Roger ihn finden könnte…
»Da ist es«, rief Brianna plötzlich. »Boote zu vermieten.« Sie wies auf ein Schild an einer Gaststätte am Hafen, und Roger steuerte den Wagen in eine Parklücke, ohne weiter über Jamie Fraser nachzudenken.
 
Der See war ruhig und das Angeln nicht gerade von Erfolg gekrönt. Aber die Augustsonne schien ihnen warm auf den Rücken, und vom Ufer wehte der Duft nach Himbeeren und sonnenwarmen Kiefern herüber. Nach dem Essen wurden sie müde, und schon bald rollte sich Brianna im Bug zusammen und hielt, den Kopf auf Rogers Jackett gebettet, ein Mittagsschläfchen. Auch Claire, die im Heck saß, hatte Mühe, die Augen offenzuhalten.
»Werden Sie zurückgehen, wenn ich ihn finde?« Roger legte die Ruder auf dem Bootrand ab und musterte sie.
Sie holte tief Luft. Die Brise hatte einen Hauch von Röte auf ihre Wangen gezaubert. Zu jung für eine trauernde Witwe, dachte er, zu schön, um allein zu bleiben.
»Ich weiß nicht«, antwortete sie mit bebender Stimme. »Ich habe daran gedacht - oder vielmehr mit dem Gedanken gespielt. Einerseits möchte ich Jamie finden, aber… aber wieder durch die Steine zu gehen…« Sie schauderte und schloß die Augen. »Es ist unbeschreiblich furchtbar. Nicht mit anderen furchtbaren Dingen zu vergleichen. Es ist unvorstellbar.« Sie öffnete die Augen und lächelte ihn traurig an. »Als wollte man einem Mann das Gefühl beschreiben, wie es ist, ein Kind zu kriegen. Er kann sich zwar mehr oder weniger vorstellen, daß es weh tut, aber nachvollziehen kann er es nicht.«
Roger grunzte amüsiert. »Wirklich? Nun, mit einem Unterschied: Ich habe diese scheußlichen Steine gehört.« Unwillkürlich fröstelte ihn. Er dachte nicht gern an jene Nacht vor drei Monaten, in der Gillian Edgars durch die Steine gegangen war. Allerdings verfolgten ihn die Bilder in Alpträumen.
»Es ist, als würde man auseinandergerissen, nicht wahr?«
Er ließ Claire nicht aus den Augen. »Als würde an einem gezogen und gezerrt, nicht nur von außen, sondern auch von innen, und man denkt, jeden Augenblick zerspringt einem der Schädel.« Er schüttelte sich. Claire war blaß geworden.
»Ich wußte nicht, daß Sie die Steine hören konnten«, sagte sie. »Das haben Sie mir nicht erzählt.«
»Es schien mir auch nicht wichtig.« Er sah sie schweigend an. »Brianna hat sie auch gehört.«
»Aha.« Sie wandte sich um und sah wieder auf den See, wo ihr Boot eine keilförmige Spur auf dem Wasser hinterließ. Weiter hinten wurden die glitzernden Wellen eines größeren Bootes von den Felswänden zurückgeworfen. In der Mitte des Sees trafen sie wieder zusammen und bildeten eine längliche, ungetüme Form - eine stehende Welle, jenes Naturereignis, das oft fälschlicherweise für das Ungeheuer von Loch Ness gehalten wurde.
»Es existiert wirklich«, sagte sie plötzlich und wies auf die schwarze Wasserfläche.
Roger hatte schon den Mund geöffnet, um sie zu fragen, was sie meinte. Doch plötzlich wußte er, wovon sie sprach. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er in der Nähe des Loch Ness verbracht, hatte im Winter darin Aale und Lachse geangelt, hatte jede nur denkbare Geschichte über das »furchterregende Ungeheuer« gehört, die in den Kneipen erzählt wurde, und darüber gelacht.
Vielleicht lag es an den ungewöhnlichen Umständen - da saßen sie und besprachen allen Ernstes, ob die Frau neben ihm das Wagnis eingehen und sich in eine unbekannte Vergangenheit katapultieren lassen sollte. Ihm war zwar nicht klar, woher er die Gewißheit nahm, doch plötzlich schien es ihm nicht nur möglich, sondern sogar sicher, daß sich in den dunklen Wassern des Loch Ness eine unbekannte, aber durchaus lebendige Bestie verbarg.
»Was glauben Sie, was es ist?« fragte er.
Claire beugte sich über den Bootsrand und betrachtete angelegentlich einen Holzstamm, der vorbeitrieb.
»Das, was ich gesehen habe, war womöglich ein Plesiosaurier«, sagte sie schließlich, den Blick in weite Ferne gerichtet. »Obwohl ich mir damals keine Aufzeichnungen gemacht habe.« Sie verzog den Mund.
»Wie viele Steinkreise gibt es in England und Europa?« fragte sie unvermittelt. »Wissen Sie das?«
»Nicht genau. Aber vielleicht ein paar hundert«, antwortete er vorsichtig. »Glauben Sie, daß die alle…«
»Woher soll ich das wissen?« unterbrach sie ihn ungeduldig. »Jedenfalls könnten sie es sein. Man hat sie errichtet, um irgend etwas zu markieren, also gibt es vielleicht verdammt viele Plätze, wo dieses Irgendwas geschehen kann.« Sie wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht und lächelte ihn schief an.
»Immerhin wäre das eine Erklärung.«
»Wofür?«
Roger wurde fast schwindelig bei der Art, wie sie ständig das Thema wechselte.
»Für die Ungeheuer.« Sie wies auf das Wasser. »Vielleicht gibt es ja unter dem See auch eine von diesen… diesen Stellen.«
»Einen Zeittunnel, einen Übergang oder so was?« Roger verschlug es beinahe die Sprache.
»Das würde vieles erklären.« Ein verstecktes Lächeln spielte um ihre Lippen. Roger wußte nicht, ob sie sich über ihn lustig machte oder nicht. »Am nächsten kommen dem Ungeheuer die Gattungen, die seit Hunderttausenden von Jahren ausgestorben sind. Aber wenn es unter dem See einen Zeittunnel gibt, wären alle Rätsel gelöst.«
»Das würde auch erklären, warum die Berichte manchmal nicht übereinstimmen«, meinte Roger, der sich immer mehr für diese Idee erwärmte. »Es kommen immer andere zu uns herüber.«
»Und damit wäre klar, warum sie bis jetzt nicht gefangen werden konnten, obwohl sie so oft gesehen wurden. Vielleicht gehen sie immer wieder zurück, sind also die meiste Zeit nicht hier im See.«
»Eine tolle Theorie!« staunte Roger. Claire und er grinsten einander an.
»Ich glaube aber nicht«, gab Claire zu bedenken, »daß sie sich je durchsetzen wird.«
Roger lachte und hob einen Krebs aus dem Wasser. Dabei fielen ein paar Wassertropfen auf Briannas Gesicht. Sie schnaubte, fuhr auf, blinzelte und ließ sich zurückfallen. Binnen Sekunden war sie wieder in tiefen Schlaf gesunken.
»Sie ist gestern lange aufgeblieben und hat mir geholfen, das Paket mit den letzten Unterlagen für die Universität von Leeds zu packen, die wir zurückschicken wollen«, brachte Roger zu ihrer Entschuldigung vor.
Claire nickte gedankenverloren.
»Jamie konnte das auch«, sagte sie leise. »Sich hinlegen und auf der Stelle einschlafen, ganz gleich, wo er war.«
Sie wurde still. Roger trieb das Boot mit gleichmäßigen Ruderschlägen auf die mächtigen, furchteinflößenden Ruinen der Burg Urquhart zu, die am Ufer zwischen den Kiefern standen.
»Leider wird es immer schwerer«, sagte Claire schließlich. »Die erste Reise durch die Steine war für mich das Schrecklichste, was ich je erlebt hatte. Aber die Rückkehr war noch tausendmal schlimmer.« Ihr Blick haftete auf den alten Felsmauern. »Womöglich lag es daran, daß ich nicht den richtigen Tag gewählt habe. Als ich in die Vergangenheit ging, hatten wir Beltene, aber zurück kam ich etwas früher. Und Geillis - ich meine Gillian - ging gleichfalls an Beltene durch die Steine.«
Trotz der sommerlichen Temperaturen fröstelte Roger plötzlich. Vor seinen Augen entstand das Bild der Frau - seine Ahnherrin und gleichzeitig seine Zeitgenossin -, die einen Moment wie erstarrt im Licht des flackernden Opferfeuers stand, bevor sie in dem gespaltenen Stein verschwand.
»So stand es in ihrem Notizbuch - an den alten Sonnen- und Feuerfesten ist die Pforte offen. Vielleicht gibt es in den Tagen davor und danach nur einen kleinen Spalt. Aber womöglich hatte sie sich ja auch geirrt; schließlich glaubte sie, daß für den Übergang ein Menschenopfer nötig war.«
Claire schluckte schwer. Am Morgen des ersten Mai hatte die Polizei den mit Petroleum übergossenen Leichnam von Gillians Mann, Greg Edgars, vom Craigh na Dun fortschaffen müssen. In ihrem Bericht hieß es von seiner Frau: »Geflüchtet, Aufenthaltsort unbekannt.«
Claire beugte sich über den Bootsrand und ließ die Hand im Wasser baumeln. Eine kleine Wolke schob sich vor die Sonne. Plötzlich wurde der See grau, und unruhige Wellen kräuselten sich, als der Wind sich hob. Die Wasserfläche unter ihnen wirkte wie ein undurchsichtiger schwarzer Spiegel.
»Würden Sie hinuntertauchen, Roger?« fragte Claire leise. »Über Bord springen und sich in die Tiefe stürzen, bis Ihnen die Lungen platzen? Ohne zu wissen, ob es dort riesige Bestien mit Reißzähnen gibt?«
Roger spürte, wie sich auf seinen Armen die Haare aufstellten. »Aber das ist nicht alles«, fuhr Claire fort, während sie weiter auf die blanke, schwarze Fläche starrte. »Würden Sie springen, wenn Sie wüßten, daß Brianna Sie dort erwartet?« Sie richtete sich auf und sah ihn an.
Er befeuchtete sich die Lippen und blickte kurz hinter sich, auf das schlafende Mädchen. Dann wandte er sich wieder zu Claire um.
»Ja, ich glaube, das würde ich.«
Sie sah ihn einen Moment lang schweigend an. Dann nickte sie ernst.
»Ich auch«, sagte sie.
Ferne Ufer
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