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Die Nordstraße · Der Rote Ritter

Die Kolonne rollte mit beachtlicher Geschwindigkeit nach Osten, und schon nach wenigen Stunden wurden die Vorsichtsmaßnahmen des Hauptmanns durch einige Jäger gerechtfertigt, die berichteten, Kreaturen der Wildnis erspäht zu haben: zwei Kobolde und einen einsamen Irk.

Früh schlugen sie das Lager auf, hoben einen Graben aus und stellten Wachen auf.

Der Hauptmann lag den größten Teil der Nacht wach.

Am Morgen brachen sie in der Dämmerung auf, und da wurde ihm wieder etwas leichter ums Herz. Das Aufschlagen des Lagers, das Abbauen, die Geräusche der Pferde und Wagen, der Menschen und Tiere – all dies verhalf ihm zu besserer Laune.

Es dauerte drei Tage, bis sie zur Südfurt durch den Albin kamen. Albinkirks Trümmer rauchten noch immer auf dem Berg. Die königliche Standarte flatterte nach wie vor auf der Burg, und der Hauptmann und seine Offiziere ritten zum Stadttor, wurden eingelassen und speisten mit Ser John Crayford.

Ser Alcaeus, der sich in die Truppe eingefügt hatte, als hätte er ihr schon immer angehört, ging danach mit ihnen über die Stadtmauer. »Hier haben wir den ersten Angriff abgewehrt«, sagte er an der zerstörten Westmauer. »Und hier haben ein Dutzend von uns das Tor gehalten.« Und mit einem schiefen Lächeln erklärte er an einer anderen Stelle: »Hier hätten wir die Mauer fast verloren.«

Crayford schüttelte den Kopf. »Ihr seid jetzt wohl der König der Söldner, wie ich vermute«, meinte er und grinste den Hauptmann an. »Mein Knappe ist älter als Ihr! Wie schafft Ihr das bloß?«

Der Hauptmann hob eine Braue. »Ich führe ein sauberes Leben.«

Crayford schüttelte erneut den Kopf. »Das ist gut für Euch, mein Junge. Ich bin ein eifersüchtiger alter Mann. Falls ich noch für die Schlacht taugte, würde ich mit Euch ziehen.«

Der Hauptmann lächelte. »Obwohl zwei Eurer Männer Euch verlassen und sich meiner Truppe anschließen?«, fragte er.

Der alte Mann nickte freundlich. »Trotzdem, Ihr Taugenichts.«

Er gab ihnen noch ein feines Mahl und ein Fass Wein mit auf den Weg.

»Es ist keiner mehr hier, der es trinken könnte«, murmelte er.

Allmählich fanden einige Einwohner den Weg zurück in die Stadt. Der Hauptmann kaufte bei einer hohläugigen Frau, die jedoch großen Geschäftssinn bewies, für die ganze Kompanie Brot.

»Sie haben mein Haus niedergebrannt«, sagte sie und hielt den Blick starr nach Osten gerichtet. »Aber sie konnten die Öfen nicht verbrennen, diese kleinen Mistviecher.«

Am nächsten Morgen ritten sie am Ostufer des Albin nach Norden, und Ranald berichtete ihnen, dass er die Königin an der Furt getroffen habe, als ihre Boote vorbeigeschwommen seien.

Hinter Albinkirk schwärmten die Jäger über die Hügel zu beiden Seiten aus. Der Sommer nahte, und die verlassenen Gehöfte wirkten in ihren Umhüllungen aus üppigem Grün geradezu unheimlich. Das Getreide stand hoch, doch es gab keine Seele mehr, die es hätte ernten können.

Der Hauptmann betrachtete es im Vorbeireiten.

Ser Alcaeus setzte sich neben ihn. »Als ich im letzten Winter hier durchgekommen bin, waren diese Höfe noch bewirtschaftet.«

Der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Ich frage mich, ob hier je wieder Menschen Ackerbau betreiben werden.«

Zwei Tage nördlich von Albinkirk kamen sie an eine Straßenkreuzung und schlugen ihr Lager auf. Die Oststraße führte über die Pässe und hinunter in das Tal von Delf – und von dort aus weiter nach Morea.

Die Nordstraße führte in die Berge, an der Herberge von Dormling vorbei und schließlich zu den Seen und der großen Mauer.

An jenem Abend legte der Hauptmann während des Essens in seinem Zelt eine Karte auf den Tisch. »Jehannes, du führst die Truppe ostwärts nach Morea. Such uns ein sicheres Lager. Ich werde in zehn Tagen zu dir stoßen.«

Jehannes machte ein langes Gesicht und sah Tom Lachlan an. »Wenn das so wichtig ist, warum gehen wir dann nicht alle zusammen?«

Tom lachte. »Weder statten wir einer Dame einen Besuch ab, noch räuchern wir ein Räubernest aus, Jehannes. Wir suchen den Wyrm auf.«

Der Hauptmann beugte sich über den Tisch. »Der Wyrm ist eine Kreatur der Wildnis. Eine Macht wie Thorn. Und die Truppe wird ihn gewiss nicht beeindrucken.«

Er ist nicht wie Thorn, sagte Harmodius in seinen Gedanken.

Jehannes schüttelte den Kopf. »Das gefällt mir nicht.«

»Einwand entgegengenommen«, sagte der Hauptmann.

Tom setzte sich zurück und legte die gestiefelten Füße auf einen der Schemel des Hauptmanns. »Ah. Ich kann die Berge schon riechen.«

Ranald nickte. »Irgendwann müssen wir einmal über die Herde sprechen«, sagte er.

Tom nickte.

Der Hauptmann sah Ser Alcaeus an. »Wir werden nicht lange fort sein«, bemerkte er. »Jehannes wird mit jedem Notfall fertig.«

Der moreanische Ritter hob eine Braue. »Ich hatte auch nichts anderes angenommen, Messire«, sagte er, »aber ich werde Euch begleiten.«

Ranald schüttelte den Kopf. »Ich will Euch nicht beleidigen, aber warum habt Ihr das vor?«

Der Moreaner zuckte die Achseln und kräuselte seinen Schnauzbart. »Ich will eine Heldentat vollbringen«, gestand er ein. »Ich möchte einen Drachen sehen.«

Der Hauptmann lächelte.

Als die Wagen der Truppe wieder rollten, lenkte der Hauptmann sein anmutiges Reitpferd in den Schatten einer großen Eiche und sah seinen Leuten nach. Die Männer salutierten ihm. Am liebsten hätte er geweint.

Da war Bent, der zusammen mit Langpfote ritt; hinter ihm befanden sich Ohnekopf und Cuddy. Sie lachten, als sie an ihm vorbeikamen, und alle schenkten ihm ein Lächeln und nickten ihm zu. Hinter ihnen kamen die jüngeren Männer. Tippit stritt sich mit Ben Carter und Kanny über irgendetwas. Sie hörten damit auf, als sie ihn sahen, und salutierten. Ben Carter zog zwar sein Schwert, schien deswegen aber sogleich verlegen zu werden.

Dan Favor ritt mit Ser Milus und Francis Atcourt, der gerade eine besondere Turniertechnik erklärte, indem er einen Spazierstock benutzte, den er sich unter den Arm geklemmt hatte.

Und viele, viele Weitere folgten: Soldaten, Diener, Knappen, Bogenschützen. Fuhrleute, Schneider, Huren und Näherinnen.

Pampe – jetzt Ser Alison Graves – brachte ihr Pferd dazu, sich kurz aufzubäumen, und entbot ihm einen prächtigen Salut. Und am Ende der Kolonne umarmte die Näherin Meg ihren Mann und ritt auf ihrem Esel aus der Reihe und auf den Hauptmann zu. »Wenn Mylord erlauben«, sagte sie.

»Dein schüchtern gesenkter Blick ist an mich verschwendet«, sagte er.

»Ich würde Euch gern begleiten«, erwiderte sie.

Er rollte mit den Augen. »Warum willst du dir das antun?«, fragte er sie. »Viele Tage auf dem Boden schlafen und nur schlechtes Essen bekommen?«

In seinem Kopf sagte Harmodius: Ausgezeichnet.

Als die Kolonne vorbeigezogen war, richtete Ranald den Kopf seines Pferdes nach Norden aus. »Ich weiß nicht, wo Ihr heute Nacht schlafen werdet, Hauptmann«, begann er, »aber ich werde in der Herberge von Dormling sein.« Zu Meg sagte er: »Das ist etwas bequemer als der kalte, harte Erdboden.«

Die Herberge von Dormling · Der Rote Ritter

Der Wirt trat in den Hof, und seine Augen waren so groß wie frisch geprägte Münzen. Seine Männer hatten auf den Mauern Stellung bezogen, während das Tor einladend offen stand.

Sein Blick ging an Ranald vorbei, der die Rüstung eines Ritters sowie einen roten Umhang trug. Er nickte dem Hauptmann zu. »Ihr seid hier willkommen, Messire. Ihr werdet nur das Beste erhalten, und das zu vernünftigen Preisen.«

»Erkennst du deine eigenen Verwandten nicht mehr?«, knurrte Ranald.

Unter dem lauten Klappern seiner Rüstung stieg Tom ab. »Ich habe gehört, dass mein Bruder deine Sarah geheiratet hat«, sagte er.

Die Augen des Wirts wanderten hin und her. »Bei Gott!«, rief er.

Tom umarmte ihn wie ein Bär.

»Wir alle dachten, ihr alle … wäret tot«, sagte der Wirt.

»Noch nicht, du Bastard«, brummte Tom.

Er sah an dem Wirt vorbei und bemerkte eine junge Frau, die auf der Veranda stand. »Sei gegrüßt, Augenstern. Du musst Sarah sein. Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du kleiner als ein Schweinchen.«

»Und jetzt bin ich groß genug, um den Samen deines Bruders in mir zu tragen«, erwiderte sie.

Er ließ den Wirt los und umarmte sie.

Der Hauptmann hatte noch nie gesehen, dass Tom Schlimm einen Menschen umarmte. Es erschütterte ihn ein wenig.

»Hochländer!«, meinte Ser Alcaeus. »Ich mag sie ziemlich gern.«

»Das hört sich an, als würdet Ihr über Hunde reden«, sagte Meg.

Alcaeus schnaubte. »Touché, Madame. Aber sie gleichen eher uns als euch Albiern. Sie sind heißblütig.«

Ranald stieg ab und küsste zuerst Sarah. Dann umarmte er den Wirt. Und schließlich holte er aus seinem Gepäck, das über den Rücken seines Pferdes gebunden war, einen kleinen ledernen Umschlag von der Größe eines Briefes.

Und warf ihn dem Wirt zu.

Mit fragendem Blick sah der Wirt den Gegenstand an.

»Das sind sechshundert Silberleoparden«, sagte Ranald. »Und zwar in der Verschreibung an eine Bank in Etruskien. Das Geld gehört dir. Und weitere zwölfhundert erhält Sarah.« Er schenkte dem Mädchen ein schiefes Lächeln. »Ich habe die Herde verkauft.«

Sie klatschte in die Hände.

Die Männer im Hof grinsten. Es waren zwei Dutzend Hochländer – örtliche Viehtreiber, Kleinbauern und dergleichen. Jeder von ihnen wusste in diesem Augenblick, dass sein Geld nicht verloren war.

Sie grinsten. Umarmten einander. Versammelten sich um Ranald, klopften ihm auf den Rücken und schüttelten ihm die Hand.

Der Rote Ritter lachte; ihm gefiel, selbst so weit vom Mittelpunkt der Aufmerksamkeit entfernt zu sein.

Aber der Wirt machte sich von den Freudenbekundungen los und trat vor ihn hin. »Ich bin der Wirt«, sagte er. »Und ich vermute, dass Ihr der Rote Ritter seid.«

Der Hauptmann nickte. »Die Männer nennen mich den Hauptmann. Und meine Freunde ebenfalls.«

Der Wirt nickte. »Ja – Roter Ritter ist ein großer Ausdruck, der nicht leicht über die Zunge geht. Steigt ab; meine Leute werden sich um Euch kümmern. Schiebt Eure Sorgen beiseite und lasst es Euch gut ergehen.«

Und gut war es. In seinem Zimmer legte der Hauptmann die Reiterrüstung ab und überließ sie Toby, dann ging er in den Schankraum hinunter, wo er seinen Bruder und Ser Alcaeus beim Verkosten des Bieres antraf.

Meg kam und setzte sich etwas abseits der anderen, aber das ließ der Hauptmann nicht zu. Er ging zu ihrem Tisch und bot ihr seine Hand. »Madame«, sagte er, »komm, und setz dich zu uns.«

»Die Näherin Meg bei drei Rittern?«, fragte sie. In ihren Augen lag ein schelmisches Glitzern, aber ihre Worte schienen aufrichtig gemeint.

»Spielst du Piquet?«, fragte Gawin.

Sie senkte den Blick. »Ich kenne die Regeln«, sagte sie; dabei schien ihr unbehaglich zu sein.

»Wir spielen nur um kleine Einsätze«, erklärte Ser Gawin.

»Könnten wir nicht um Liebe spielen?«, fragte sie.

Gawin schenkte ihr einen seltsamen Blick. »Seit einem Monat habe ich die Karten nicht mehr in meiner Hand gespürt«, sagte er. »Sie könnten ein wenig Feuer benötigen.«

Meg hielt den Blick gesenkt. »Wenn ich dabei all mein Geld verliere …«

»Dann bestelle ich bei dir ein Dutzend deiner Kappen«, sagte der Hauptmann.

Er sah die Näherin an und musste innerlich grinsen. Wie mächtig ist sie, Magus?

Schwer zu sagen, junger Mann. Ihre Gabe ist nicht ausgebildet. Sie musste alles für sich selbst erlernen, von Grund auf.

Aha.

Vielleicht ist sie sogar die Beste von uns allen. Sie hat niemals eine Ausbildung erhalten. Also kennt sie keinerlei Beschränkungen.

Der Hauptmann setzte sich und sah Gawin beim Geben der Karten zu. Etwas an Megs falkenartigem Gesichtsausdruck verriet sie.

Aber ein sehr begrenztes Repertoire …

Trink endlich etwas Wein, damit ich ihn schmecken kann, rief Harmodius im Palast des Hauptmanns. Sie hat vielleicht beschränkte Zauberkräfte, aber mehr auch nicht, oder? Sie hat deine Phantasmata, und meine, und die der Äbtissin. Und auch die von Amicia.

Genau wie ich. Und wie …

Ja.

Meg sortierte ihre Karten. Ein Junge brachte einen Stapel gesägtes Brennholz und machte sich daran, ein Feuer zu entzünden. Der Duft von Lammbraten erfüllte die Schankstube.

Gawin setzte sich zurück. »Hauptmann? Ich muss ein wenig Geld borgen.«

Der Hauptmann sah ihn an.

Meg grinste. »Ich verdopple«, sagte sie.

»Wenn das so weitergeht, werde ich nie heiraten können«, meinte Gawin.

»Heiraten?«, fragte der Hauptmann.

Ser Alcaeus lächelte sanft in sein Bier hinein. »Lady Mary, die Hofdame der Königin, wenn ich mich nicht irre«, sagte er.

Der Hauptmann lachte, konnte gar nicht mehr aufhören, als er sich an sie erinnerte. »Eine sehr schöne Dame«, sagte er.

»Die älteste Tochter von Lord Bain.« Gawin richtete den Blick in die Ferne. »Sie liebt mich«, sagte er plötzlich und musste husten. »Ich … ich bin ihrer Aufmerksamkeit nicht würdig.«

Der Hauptmann legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter, doch der schien dies gar nicht zu bemerken.

Jugend. Sie ist an die Jungen verschwendet.

Alcaeus stieß ein bellendes Lachen aus. »Hört mir zu, Messire. Ich kenne etliche Ritter, und Ihr seid genauso würdig wie jeder von ihnen.«

Darauf sagte Gawin nichts. Er trank den Rest seines Weins und hob dem Schankjungen den Becher entgegen. »Noch mehr, Junge. Und …« Er stand auf. »Ich muss mal.«

Alcaeus räusperte sich, als Gawin gegangen war. »Ich konnte nicht umhin zu bemerken, dass er Euch Bruder nennt«, sagte er mit einer gewissen Befangenheit und verstummte.

Der Hauptmann lachte. »Diese Ehre erweist er mir wenigstens.« Jetzt ist es heraus.

»Ich hatte geglaubt … ich bitte um Pardon, Messire …« Ser Alcaeus lehnte sich zurück.

»Ihr habt geglaubt, ich sei irgendein Bastard. Und plötzlich nennt mich der Sohn des großen Herzogs von Strathnith seinen Bruder.« Der Hauptmann beugte sich vor.

Alcaeus wich seinem Blick nicht aus. »Ja.«

Der Hauptmann nickte. »Ich hatte geglaubt – und jetzt bitte ich um Pardon, Messire –, dass Ihr eine freie Lanze wäret, ein fahrender Ritter, der sich meiner Truppe angeschlossen hat. Doch manchmal …« Er lächelte. »Manchmal hege ich noch einen anderen Gedanken. Und dieser Gedanke …« Er lehnte sich zurück.

Meg blickte zwischen ihnen hin und her. »Männer«, sagte sie leise.

»Was ist das denn für ein Gedanke?«, flüsterte Ser Alcaeus.

Der Hauptmann trank ein wenig von dem ausgezeichneten Bier. »Manchmal habe ich den Eindruck, dass alles, was ich zu Euch sage, unmittelbar zum Kaiser gelangt.« Er zuckte die Achseln. »Das soll keine Beleidigung sein. Schließlich seid Ihr sein Lehensherr.«

»Ja«, gab Ser Alcaeus zu.

»Und sein Vetter«, fuhr der Hauptmann fort.

»Ah, das wisst Ihr also?«, seufzte Ser Alcaeus.

»Ich hatte es vermutet. Und was meine eigene Abstammung angeht …«

Ser Alcaeus beugte sich vor. »Ja?«

»Sie geht Euch gar nichts an, Messire. Habe ich mich klar ausgedrückt?«, sagte er, während er sich weiter vorbeugte.

Ser Alcaeus bewegte sich nicht. »Die Männer werden Vermutungen aussprechen«, sagte er.

»Sollen sie doch«, entgegnete der Hauptmann.

Meg legte die Hand auf den Tisch und hob die Karten auf – große, schön bemalte Rechtecke. »Die Leute beobachten Euch, Mylords. Ihr seht aus wie zwei Männer, die gleich den Dolch ziehen werden.«

Alcaeus trank sein Bier aus. »Bier macht Männer melancholisch«, sagte er. »Ab jetzt trinken wir Wein und denken nicht mehr darüber nach.«

Der Hauptmann nickte. »Ich will kein empfindlicher Bastard sein. Aber ich bin einer.«

Alcaeus streckte ihm die Hand entgegen. »Bei mir ist es genauso. Ich bin ebenfalls ein Bastard.«

Der Hauptmann riss die Augen auf, dann ergriff er die ihm dargebotene Hand. »Danke.«

Alcaeus lachte. »Noch nie hat mir jemand dafür gedankt, dass ich ein Bankert bin.« Er wandte sich an Meg. »Soll ich mischen?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Glaubt Ihr reichen Jungen denn wirklich, dass es irgendeine Bedeutung hat, ein Bastard zu sein?«, fragte sie. »Seht Euch doch an – Goldringe, feine Schwerter, Wollmäntel, die gut und gern fünfzig Leoparden wert sind. Feine Pferde. Beim süßen Jesus, Mylords! Wisst Ihr eigentlich, was ein armer Mann hat?«

»Eltern?«, riet Ser Alcaeus.

»Hunger«, antwortete Meg.

»Gottes Segen«, fügte der Hauptmann hinzu. Er hatte einen spröden Humor. In seinen Augen aber glitzerte es. »Das hier ist eine feine Herberge – vielleicht die beste, die ich je gesehen habe. Seht euch nur dieses Mädchen an – rote Haare! Rot! So rotes Haar habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen.« Er sah sich um. »Das Feuer der Rothaarigen brennt heißer. Das sagt man jedenfalls.«

Meg lächelte, griff unter ihre Kappe und zog die Spitzen ihrer Zöpfe hervor. Ihr Haar war hellrot. »Wirklich, Ritter?«, fragte sie.

Gawin lehnte sich zurück und lachte. Der Hauptmann lachte noch lauter, und Alcaeus ließ sich ebenfalls davon anstecken.

Als wäre dieses Lachen ein Signal gewesen, brach nun die ganze Herberge in Lebendigkeit aus. Tom und Ranald kamen herein, setzten sich an den Tisch des Hauptmanns, und weitere Männer und Frauen strömten herbei. Bauern und Schäfer aus den Bergen trafen ein, ein Kesselflicker und seine Gesellen, und auch der Schmied und dessen Lehrlinge.

Die Schankstube war groß genug für sie alle.

Einige riefen nach Musik, und Tom stimmte einen überraschend melodischen Gesang an. In dem Aufruhr wandte sich Gawin an den Hauptmann. »Du hast doch früher Harfe gespielt«, sagte er.

Der Hauptmann runzelte die Stirn. »Schon seit Jahren nicht mehr. Und hier würde ich auf gar keinen Fall spielen.«

Aber der Wirt hatte ihn gehört. Er nahm eine Harfe von der Wand und legte sie dem Hauptmann in die Arme. Dann bat er um Ruhe im Raum – es gelang ihm so leicht, wie ein Magus einen Zauber wirkte.

»Unter uns ist ein Mann, der Harfe spielen kann«, sagte der Wirt.

Leise verfluchte der Hauptmann seinen Bruder.

»Gebt mir etwas Zeit«, sagte er, als deutlich wurde, dass man ihn nicht in Ruhe lassen würde. Er nahm die Harfe und seinen zweiten Becher Wein und trat in die Sommernacht hinaus.

Hier im Hof war es sehr still.

Schafe blökten, Kühe muhten, und die Geräusche der Menschen in der Herberge waren gedämpft und klangen wie das Plätschern eines fernen Baches.

Er stimmte die Harfe. Er fand das Plektrum dort am Klangkörper, wo er es erwartet hatte, und überdies einen raffinierten mechanischen Schlüssel zum Nachziehen der Saiten.

Lass mich dies tun, sagte Harmodius. Das ist nur Mathemagie.

Er zog die Macht in sich zusammen – und sie manifestierte sich in den Saiten.

Die Herrschaft der Acht, in Sehnen ausgedrückt, sagte der tote Magus.

Danke, gab der Hauptmann zurück. Ich hasse es, Instrumente stimmen zu müssen.

Er ging im Hof herum, zupfte eine einfache Melodie – die erste, die er je gelernt hatte – und begab sich dann wieder in die Schankstube.

Als er erschien, verstummte jedermann, und er setzte sich zu Gawin und spielte ein einfaches Lied – Es war einmal ein Knapp’ von großem Ruhme. Alle sangen mit. Danach spielte er Mit grünem Wamse und Wie lieblich auf dem Wasser. Er machte zwar einige Fehler, aber die Zuhörer waren gnädig.

»Spielt was zum Tanzen!«, rief die junge Witwe.

Der Hauptmann wollte gerade zugeben, dass er keine Tänze kannte, aber Harmodius kam ihm zuvor.

Gestattest du?

Seine Finger zupften langsam die Saiten, und ein Jig kam heraus – gemächlich zunächst, dann aber immer schneller werdend. Er wurde zum Reel, und schließlich war es ein Tanzlied der Hochländer, traurig und wild zugleich, und auch schrill …

Der Hauptmann sah zu, wie seine Finger über die Saiten flogen, und war nicht vollkommen erfreut darüber. Aber die Musik floss so dahin, die Röcke wurden geschürzt, Beine blitzten auf, Köpfe drehten sich. Dann sprang Meg auf und stürzte sich in den Kreis.

Die Harfe wurde unter seinen Händen wärmer.

Sarah Lachlan sprang und huschte umher wie ein Lachs. Meg drehte sich, und eine Dienstmagd des Hauses rauschte in ihren aufgebauschten Röcken umher. Die Männer klatschten wild, als die Hände auf der Harfe innehielten und der Hauptmann die Kontrolle über sich selbst wieder zurückgewonnen hatte.

Ah, meinte Harmodius. Ich hatte es ganz vergessen …

Bitte tu das nicht noch einmal, alter Mann. Der Hauptmann atmete wieder ruhiger. Die Leute drängten sich um ihn und klopften ihm auf den Rücken.

»Meiner Treu«, sagte der Wirt, »Ihr spielt ja wie ein Besessener.«

Als die Männer und Frauen später paarweise weggegangen waren, als sich auch Meg mit glitzernden Augen auf ihr Zimmer begeben hatte, Ranald von jedem Mann und jeder Frau beglückwünscht worden war und Ser Alcaeus das hübscheste Dienstmädchen der Herberge auf dem Schoß sitzen hatte, da ging der Hauptmann nach draußen.

Er stand unter den Sternen und lauschte dem Vieh.

Er spielte ihnen Grün blühen die Binsen vor.

Harmodius schnaubte verächtlich.

Am Morgen machten sie sich zum Ritt nach Norden bereit. Keiner der Gefährten des Hauptmanns schien einen schweren Kopf zu haben, außerdem war er überrascht zu sehen, dass auch der Wirt ein feines Pferd bestieg, das so viel östliches Blut in den Adern hatte wie das des Hauptmanns.

Der Wirt nickte ihm zu. »Zweifellos seid Ihr ein prächtiger Harfespieler, Mylord. Und Ihr seid kein Spielverderber.«

Der Hauptmann verneigte sich vor ihm. »Euer Haus ist eines der besten, das ich je besucht habe«, sagte er. »Ich könnte mir sogar vorstellen, hier zu leben.«

»Dann müsstest du aber zuerst noch ein paar weitere Melodien lernen«, meinte Gawin.

»Kommt Ihr mit auf die Reise zum Wyrm?«, fragte Ranald den Wirt.

Dieser nickte. »Das geht nicht nur Euch und Tom, sondern auch mich etwas an.«

Sie ritten los.

Der Weg war gut und – während er sich durch die Berge schlängelte – breit genug für zwei Pferde. Die Täler waren feucht, die Höhen hingegen felsig. Besonders schnell waren sie nicht unterwegs.

Die Durchquerung des Flusses Irkill dauerte einen halben Tag, denn die Brücke war stark beschädigt. Der Wirt bat den Hauptmann, Toby mit dieser Neuigkeit zurück zur Herberge schicken zu dürfen.

»Das fällt in meinen Verantwortungsbereich«, sagte er. »Und das mag ich gar nicht.« Die Brücke sah aus, als hätte ein Rammbock sie getroffen. Die schweren Eichenbalken waren völlig zersplittert.

In jener Nacht schliefen sie in einer Kate, die an einem stillen Bach stand. Der Bauer und seine Familie zogen in eine steinerne Scheune, damit der Adel in den Betten schlafen konnte.

Am Morgen ließ der Hauptmann einen Silberpfennig zurück, und bei Sonnenaufgang reisten sie weiter – gut gefüllt mit frischem Joghurt, Honig und Walnüssen.

Sie ritten immer tiefer ins Gebirge hinein und kamen dabei an zwei schweren Wagen vorbei, die bis zum hohen Sitzbock mit gerade gewachsenen, mächtigen Baumstämmen beladen waren: Eiche, Ahorn und Walnuss. Die Stämme waren so dick, dass ein einzelner Mann sie nicht umfassen konnte, und dabei standen sie so gerade wie gewaltige Pfeilschäfte. Die Fuhrmänner sagten, dass Holzfäller in den Tälern arbeiteten.

»Es muss schwierig sein, diese Baumriesen zu bewegen«, meinte Gawin.

Die Fuhrleute zuckten mit den Achseln. »Vielleicht, vielleicht auch nicht.«

Ser Alcaeus wartete, bis sie vorbeigefahren waren. »Die größten Stämme lassen sie den Fluss runtertreiben.«

Der Wirt nickte grimmig. »Und dabei wurde meine Brücke zerstört.« Er führte die Gruppe in eine Senke, und dort trafen sie auf die hart arbeitenden Holzfäller. Es waren keine Männer aus der Umgebung, sie kamen vielmehr aus dem Osten.

Sie hatten eine Schneise durch die Senke geschlagen und einen Damm in dem Fluss errichtet, der in den Irkill mündete. Der Anführer der Holzfäller stand in der Lichtung; er war an seinem langen Umhang zu erkennen und hielt eine Axt mit langem Stiel und gebogener Klinge in der Hand. Seine Arbeiter waren groß und stark und trugen lange Bärte.

Der Wirt ritt zu ihm. »Einen guten Tag wünsche ich«, sagte er.

Der Mann nickte. In seinen Augen lag Wachsamkeit. Er betrachtete die Reiter argwöhnisch. Sie stellten eine Macht dar, die niemand gern sah, insbesondere nicht weit entfernt von der Heimat.

»Was kann ich für Euch tun?«, fragte er mit schwerem Akzent.

Der Wirt lächelte ihn freundlich an. »Packt alles zusammen, verlasst diesen Ort – und lasst das Wasser langsam abfließen.«

Der Waldarbeiter machte zuerst große Augen, dann kniff er sie zusammen. »Wer seid Ihr denn?«

Seine Männer sammelten sich um ihn, dann wurden Hörner geblasen.

Der Wirt griff nicht an seine Waffen. »Ich bin der Wirt von Dormling«, sagte er. »Ihr schuldet mir die Kosten für eine neue Brücke, und noch mehr. Ohne meine Erlaubnis schlägt in diesen Tälern niemand Holz. Die richtige Zeit zum Fällen der Bäume wäre der frühe Frühling gewesen, als der letzte Schnee noch auf dem Boden lag.«

Der Hauptmann verscheuchte eine Fliege.

Der Waldarbeiter runzelte die Stirn. »Der Wald gehört allen und keinem. Dies hier ist das Land der Wildnis.«

»Nein. Diese Berge liegen im Kreis des Wyrm«, erklärte der Wirt.

Die Holzfäller hatten Speere und Äxte. Sie formierten sich.

Gawin stieg ab, zog sein großes Schwert und saß so schnell und anmutig wie ein Tänzer wieder auf.

Der Wirt hob die Hand. »Friede, Ritter«, sagte er und sah dabei die Holzfäller an. »Wir brauchen hier keine Waffen.«

»Ihr seid weise, alter Mann«, rief der Anführer der Waldarbeiter.

»Und ihr seid gewarnt«, sagte der Wirt.

Der Holzfäller spuckte aus. »Über Eure Warnung kann ich nur lachen. Was geht es Euch an? Und wenn eine Eurer Brücken durch meine Stämme weggerissen wurde …« Er zuckte die Achseln. »Es gibt doch überall genug Holz. Baut Euch eine neue.«

Der Wirt sah die Menge der Holzarbeiter an. »Wenn ihr hierbleibt, wird jeder von euch sterben.«

Sie wirkten nicht besonders beeindruckt.

Der Wirt wendete sein Pferd. »Wir reiten weiter«, sagte er.

Er führte die Gruppe an, und sie ließen ihre Pferde traben, bis sie die Senke hinter sich gelassen hatten und auf dem nächsten grünen Hügelkamm waren.

»Ich fühle mich, als wäre ich weggelaufen«, sagte Gawin.

Der Hauptmann verzog das Gesicht. »Ich auch.«

Der Wirt drehte sich im Sattel um. »Wenn es dem Wyrm beliebt, wird er sie dafür allesamt töten – und uns übrigens auch.«

In jener Nacht schlugen sie zum ersten Mal ein Lager auf. Es gab nur wenig Gras für die Pferde, und so banden sie ihnen Futtersäcke um und legten den Hafer hinein, den die Packtiere trugen. Meg beobachtete Gawin dabei, wie er sich daranmachte, das Essen zuzubereiten, und schob ihn schließlich beiseite.

»Beim gütigen und lieben Christus«, sagte sie. »Nehmt wenigstens ein sauberes Messer.«

Alcaeus lachte, trug die Kochmesser zum Fluss, wusch sie und rieb sie danach mit Sand ab.

Der Wirt ritt mit den Hochländern aus und kam mit zwei großen Truthähnen zurück.

Gawin legte zwei große Forellen dazu. »Ich vermute, in dieser Gegend wird nicht viel geangelt«, meinte er. »Gut, dass ich meine Rute mitgenommen habe.«

Meg betrachtete die Vögel und die Fische. »Was Ihr fangt, müsst Ihr auch selbst säubern und ausnehmen«, sagte sie. »Ich bin zwar eine Köchin, aber keine Dienerin.«

Der Hauptmann musste lachen. Den späten Nachmittag verbrachte er damit, einen Unterschlupf zu errichten und eine Feuerstelle auszuheben; dann half er gutmütig dabei, die Fische zu säubern. Im Feuerschein tranken sie den letzten Wein.

»Morgen«, sagte der Wirt.

Bei Tagesanbruch ritten sie los.

Die nächsten Hügelkämme waren nicht bewaldet; es schien, als hätte eine Schafsherde sie abgefressen. Gras wogte im Wind wie ein grünes Meer, und die Hügel rollten dahin wie ein noch gewaltigerer Ozean. Vom ersten Grat aus sahen sie mindestens zwanzig weitere Kämme, die sich wie Falten in grüner Wolle hintereinander aufschichteten.

Meg hob die Hand. »Ist das ein Adler?«, fragte sie.

Weit im Nordosten erhob sich ein großer Vogel über die Berge.

Der Wirt beschattete sich die Augen mit der Hand.

Der Hauptmann blickte ebenfalls hin. Die große Kreatur befand sich weiter entfernt, als er es sich vorgestellt hatte, und er schaute und schaute, bis er endlich begriff, was er da eigentlich sah. Vor reiner Angst schlug sein Herz rasend schnell.

»Gütiger Christus«, sagte Meg.

»Mein Gott«, sagte Gawin.

»Das ist der Wyrm von Erch«, erklärte der Wirt.

Das Wesen flog. Es war größer als eine Burg und schwebte über den Bergen im Norden. Während sie zusahen, drehte sich der gigantische Drache in der Luft um. Einen Augenblick lang hob sich sein gewaltiger, mit Stacheln besetzter Schwanz deutlich vor dem nördlichen Himmel ab, während die mächtigen Schwingen an den Flanken hervorsprossen.

»Gütiger Christus«, sagte Meg noch einmal.

Es war ungeheuer schnell.

Der Hauptmann konnte den Blick nicht von ihm abwenden.

Aha, sagte Harmodius in seinem Kopf. Aha. Der tote Magus klang noch ehrfürchtiger, als dem lebendigen Hauptmann zumute war.

Der Schlag der Schwingen hallte als Echo über den Bergen. Der einzige Laut, der ihm gleichkam, war das Schlagen der großen Mühlenflügel, die der Hauptmann in Gallyen gehört und gesehen hatte.

Wuusch.

Wuusch.

Dieses Wesen war so groß wie die Berge selbst.

Sein Reitpferd geriet in Panik. Megs Tier warf sie mit einer plötzlichen Drehung ab und scheute. Aber auch alle anderen Tiere wurden nervös. Der Hauptmann stieg ab, riss den Kopf seines Pferdes herunter und kniete sich neben die Näherin.

»Nichts wurde verletzt außer meinem Stolz«, fuhr sie ihn an. »Und es gibt an mir nicht mehr viel, das geprellt werden könnte.«

Nun hielt der Wyrm auf sie zu.

Er hob die Schwingen, bis sich die Spitzen beinahe berührten, und senkte sie dann wieder. Durch die Macht dieser Bewegung wurde das Gras tief unter ihm zu Boden gedrückt. Es war ungeheuerlich. Der Hauptmann zählte bis zehn, als das Wesen über sie hinwegflog. Sein Pferd stand gebannt vor Schrecken da, als der Schatten des Drachen den Boden hundert Schritte weit in alle Richtungen verdunkelte – und auch die Sonne.

Der Hauptmann blinzelte und sah wieder hin.

Schau in den Äther, sagte Harmodius.

Der Hauptmann hob den Blick und hielt in neuer Ehrfurcht inne. Wenn Thorn eine Säule aus Grün gewesen war, denn war der Wyrm – die Sonne selbst.

Der Hauptmann schüttelte den Kopf.

Gawin warf den Kopf in den Nacken und stieß einen Schrei aus.

Tom Schlimm lachte laut.

»Das ist fraglos eine wahre Macht der Wildnis, meine Freunde«, sagte er.

Sie ritten in das nächste Tal ein, während sich Regenwolken über dem Nordende des Sees bildeten. Eine Reihe dieser Seen setzte sich meilenweit fort; sie wurden größer und größer, bis sie in einer Entfernung von zwanzig oder mehr Meilen gleichsam zu einem Laken aus Wasser wurden. Es war ein großartiger Anblick. Vor ihnen, kurz vor dem ersten See, befand sich eine Furt, die durch einen kleinen Fluss führte. Sie nahmen ihre Umhänge von den Sätteln, als sie ihn erreichten. Niemand sprach jetzt viel.

Hinter ihnen waren nur Regen und schwarzes Gewölk.

»Wie das Ende der Welt«, sagte Meg.

Der Hauptmann nickte. Ser Alcaeus bekreuzigte sich.

Sie durchquerten den Fluss vorsichtig in der Umgebung eines Steinhaufens. Der Hauptmann ritt ein wenig zur Seite und kam dann zur Gruppe zurück. »Wir sollten uns beeilen«, sagte er. »Das Wasser hier steigt sehr schnell und sehr hoch.«

Gawin betrachtete den Strom. »In dem See da hinten gibt es Lachse«, sagte er wehmütig.

Auf der anderen Seite des Wassers befand sich ein schmaler Pfad, der in die Berge hinaufführte. Er war gerade breit genug für ein einzelnes Pferd, also ritten sie hintereinander, wobei der Wirt die Führung und Tom Schlimm die Nachhut übernahm.

Sie benötigten eine Stunde, um den Hang zu erklimmen, und der Regen erwischte sie wieder einmal im offenen Gelände. Es war kalt, und trotz ihrer schweren Umhänge und Kapuzen waren sie schon bald durchnässt.

Höher und höher stiegen sie.

Auf dem Gipfelkamm befand sich ein steinerner Sitz, der nach Westen ausgerichtet war.

Der Hauptmann betrachtete ihn, ebenso wie Meg. Er enthielt Reste von Macht.

Der Wirt hielt nicht an, sondern ritt auf der anderen Seite wieder abwärts.

Vom Grat aus sah der Hauptmann hinter dem Sitz die geisterhaften Umrisse von weiß glitzernden Berggipfeln, die weit im Norden lagen. Fast alles andere ging im Regen unter, auch wenn sie sich nun einige Hundert Schritte über den Wolken befanden. Doch bald stiegen sie wieder in diese hinab.

Als es immer tiefer ging, vertraute der Hauptmann ganz auf sein Pferd. Sein leichter Sattel war durchweicht, und er machte sich Sorgen um seine Kleidung. Dieser Regen war für den Sommer ungewöhnlich kalt.

Seine Gedanken überschlugen sich.

»Wir suchen also wirklich diese Kreatur auf?«, fragte er und klang dabei mehr wie Michael, als es ihm lieb war.

Ranald drehte sich im Satten um und schaute zurück. »Jawohl.«

Es war bereits Nachmittag, als sie unter den Wolken hervorkamen und durch den Regenvorhang ein weiteres Tal mit vielen Seen erkennen konnten. Es wirkte ganz anders als das vorherige – hier wurden die Seen immer kleiner, je mehr das Tal nach Nordosten anstieg.

Der Wirt erreichte die erste Furt, die wieder durch einen Steinhaufen markiert war, der in der leeren Landschaft aus grünem Gras und Fels und Wasser sogleich ins Auge sprang.

»Das Wasser steht hoch!«, rief er.

Der Hauptmann beugte sich vor und betrachtete es eine ganze Minute lang. Sie konnten hören, wie Steine unter Wasser herumgerollt wurden.

Der Strom stürzte sich eine schmale Klamm oberhalb von ihnen herunter, sammelte zwischen zwei gewaltigen Felsen Kraft und ergoss sich rechts von ihnen in den See – bildete einen Vorhang aus Wasser, der etwa dreihundert Schritte breit und sehr tief war.

Tom Schlimm lachte und rief: »Folgt mir.« Er wendete sein Pferd nach Süden. Es schien geradewegs in den See hineinzuschreiten, wurde jedoch nicht nass, obwohl es in einem Halbkreis nur wenige Schritte vom Ufer entfernt dahintrottete.

Der Hauptmann folgte ihm, ebenso wie Ranald. Er warf einen Blick ins Wasser hinunter und sah einen Damm aus Fels und Kieseln unmittelbar unter der Oberfläche.

»In der Schneeschmelze des Frühlings drückt die Kraft des Wassers alle Steine aus dem Flussbett«, erklärte Ranald. »Das führt zu Dämmen wie diesem.« Er lachte. »Jeder Hochländer weiß das.«

Tom schaute zu dem Wirt zurück. »Ja. Jeder wahre Hochländer.«

Der Wirt warf ihm einen bösen Blick zu, doch er war gegen solche Blicke immun.

Sie ritten das Tal hinauf, waren nass und mürrisch.

Der Pfad folgte dem Fluss an einem großartigen Wasserfall vorbei, dann mussten sie einen Grat erklettern – der Weg war gerade breit genug für einen erfahrenen Reiter und wand sich hin und her. Dorthin gelangten sie über neun Serpentinen, die sie einige Hundert Fuß hochführten. Ser Alcaeus’ Kriegspferd scheute und wollte nicht mehr weiter steigen, bis Ser Alcaeus abstieg und das Tier an der Leine führte.

Meg saß ebenfalls in einer Kehre ab und sah den Hauptmann an.

Er verstand. Sie wollte nicht um Hilfe bitten. Er packte ihr Pferd bei den Zügeln.

»Danke«, sagte sie.

Dann ging sie zu Fuß den Weg entlang.

Er führte ihr Pferd.

Oben auf dem Berg lag ein weiterer See. Er war kleiner und tiefer und in einer schmalen Kluft gefangen. Oberhalb dieses Sees erstreckte sich ein langer, grasbewachsener Kamm, der immer höher stieg. Darüber thronte ein mächtiger Gipfel, der mit Schnee bedeckt war – aber die Schneegrenze war noch weit von ihnen entfernt.

Der Weg führte am Ufer des Sees entlang durch das hohe Gras.

Ganz oben auf den Bergflanken befanden sich Schafe.

Die einzigen Geräusche waren das gedämpfte Brausen des Wasserfalls hinter ihnen und das ferne Gurgeln des Flusses, der von den Gletschern in den See strömte.

Am oberen Ende des Sees war das Ufer mit Kies bedeckt. Der Hauptmann setzte sich neben den Wirt und zeigte darauf. »Ein Platz für ein Lager?«, fragte er.

Der Wirt schüttelte den Kopf. »Er sagt uns, dass wir weiterziehen sollen. Dieses Wetter ist äußerst seltsam.« Er zuckte mit den Achseln. »Wir werden eine schlimme Nacht bekommen.«

Der Hauptmann blickte durch den Regen auf das ferne Ufer. »Ich erkenne, dass da drüben Bäume stehen.«

Meg nickte. »Eschen habe ich schon in den höchsten Tälern gesehen«, sagte sie.

»Eschen, Erlen und ältere Arten«, stimmte der Wirt zu. »So nahe am Wyrm können wir kein Feuer machen.«

»Warum nicht?«, fragte der Hauptmann.

Der Wirt schüttelte den Kopf. »Wenn wir lebendes Holz dazu nehmen, beschwören wir den Zorn der Macht herauf«, erklärte er. »Totes Holz am Strand allerdings …« Er versuchte zu lächeln und schüttelte den Regen ab. »Da hinten ist ein Vorsprung. Stellt alle Pferde dagegen; das bricht den Wind.«

Der Wirt zuckte mit den Schultern. »Auf Eure Verantwortung. Wenn wir jetzt umkehren, könnten wir noch vor Sonnenuntergang in besseres Wetter gelangen.«

Gawin rieb sich das Wasser aus dem Schnauzbart. »Warum haben wir unser Lager nicht an diesem See aufgeschlagen – wo die Fische wären?«, wollte er wissen.

Der Hauptmann schaute in den Regenschleier. »Ich wette einen Goldleopard gegen eine Kupfermünze, dass es in diesem Gewässer Lachse gibt«, sagte er. »Aber ich könnte keinen davon fangen.«

Gawin grinste. »Du weißt nicht genug über Lachse, Bruder, wenn du glaubst, sie könnten einen hundert Fuß hohen Wasserfall hochsteigen.«

»Meine Wette steht«, sagte der Hauptmann. »Aber wenn wir einen Lachs fangen, wäre das eine tödliche Beleidigung der Macht der Wildnis, und wie der Wirt schon bemerkt hat, sie ist uns im Augenblick nicht wohlgesinnt.«

Meg kicherte. »Ihr macht Euch so große Sorgen über das bisschen Nässe. Ich bin doppelt so alt wie die meisten von Euch, und ich kann mich durchaus in einen nassen Umhang einrollen und schlafen. Meine Gelenke werden am Morgen zwar wehtun, aber was soll’s? In der Morgendämmerung habe ich einen Drachen im Flug gesehen.« Sie sah die Männer an. »Ich werde nicht zurückkehren, meine Herren.«

Sie errichteten einen Unterschlupf aus Speerschäften und schweren Wolldecken und beschwerten diese mit den dicksten Steinen am Ufer. Der Wind blies eine Weile hinein, schien das Gebilde aber nicht umwehen zu wollen.

Der Hauptmann ritt mit Ser Alcaeus davon, und gemeinsam hoben sie jeden Stecken vom Ufer auf – es ergab einen beachtlichen Holzstoß.

»Ich frage mich, woher es kommt«, meinte der Wirt.

Der Hauptmann zuckte die Achseln. »Ich vermute, unser Gastgeber hat es für uns dorthin gelegt.«

Gawin, ein erfahrener Jäger, nahm alles, was er zum Feuermachen brauchte, aus seinem Gepäck und sah seinen Bruder über die Feuergrube hinweg an. »Es ist, als wären wir wieder Kinder«, sagte er.

»Wir haben nie versucht, in einem solchen Sturm ein Feuer zu entzünden«, meinte der Hauptmann.

»Doch, das haben wir«, entgegnete Gawin. »Ich habe es nicht anbekommen, du hast die Macht dazu benutzt, und Vater hat dich verflucht.«

»Das erfindest du gerade«, sagte der Hauptmann und schüttelte den Kopf.

Gawin schenkte ihm einen höchst seltsamen Blick. »Nein«, sagte er. Mit seinem Körper und seinem durchweichten Mantel schützte er die Feuergrube, und die flinken Hände des Hauptmanns schichteten ein Bett aus Zweigen auf. Sie waren zwar feucht, aber doch so trocken, wie Treibholz überhaupt sein konnte. Gawin fügte trockenes Werg und Birkenrinde aus seiner Ausrüstung hinzu und hielt es wie ein Nest in der Hand.

»Borke von zu Hause«, sagte er.

Der Hauptmann zuckte mit den Achseln.

Gawin legte angesengtes Leinen auf das Werg und schlug seinen Feuerstahl gegen einen kleinen Flint, bis die Funken flogen. Das Tuch fing Feuer; er ließ es zwischen die Borke und das Werg fallen und blies hinein. Rauch stieg auf. Er blies ein zweites Mal – langsam und lange –, und noch mehr Rauch quoll hervor.

Der Hauptmann beugte sich darüber und blies ebenfalls.

Bevor ihm der Atem ausging, blies Gawin erneut, und das ganze Nest brach in Flammen aus. Gawin warf es auf die wartenden Zweige, und beide Männer taten immer mehr Holz in die Flammen – sie waren die verkörperte Schnelligkeit und Genauigkeit.

Dann loderte das Feuer hell.

Meg lachte. »Ihr hättet es auch mit Magie entzünden können«, sagte sie, »anstatt mit Eurer Waidmannskunst zu prahlen.«

Gawin runzelte die Stirn.

Der Hauptmann lächelte. »Ich habe es seit vielen Jahren vermieden, die Macht einzusetzen.« Er zuckte die Achseln. »Warum sollte ich sie verschwenden?«

Sie nickte verständnisvoll.

Sie kochten Tee mit Wasser aus dem See, aßen kaltes Fleisch dazu und rollten sich zum Schlafen zusammen. Die Steine am Ufer waren kalt und nass, aber das Wollzelt und die Wärme der Pferde waren am Ende siegreich.

Abwechselnd hielten sie Wache. Der Hauptmann hatte die Mittelwache übernommen und saß nun hoch über dem Ufer auf einem Felsen. Der Wind war abgeflaut, und mit ihm hatte auch der Regen aufgehört. So war es ihm möglich, tausend Sterne und den Mond am Himmel zu beobachten.

Können wir sprechen?

Nein.

Du hast deine Tür geschlossen und reagierst nicht auf Meg. Sie ist verwirrt. Du bist mit ihr verbunden. Die Höflichkeit der Magi gebietet es …

Nein. Der Hauptmann schaute hinaus über den See. Geh fort. Ich bin nicht zu Hause.

Sein Kopf schmerzte.

Am Morgen trank er heißen Tee, aß ein wenig von dem Fladenbrot, das Meg auf einem flachen Stein in der Asche gebacken hatte, und dann ritten sie weiter. Die Pferde waren müde, außerdem froren sie, aber wie durch ein Wunder lahmte keines von ihnen, und die kalte Nacht in den Bergen hatte sie auch nicht krank gemacht. Sie folgten dem Pfad über einen begrünten Kamm am Nordende des Sees, begaben sich dann in ein hoch gelegenes Tal, durch dessen Grasboden der Fluss strömte, der vom Regenwasser stark angeschwollen war. Von dort aus ging es über einen steinigen Weg zu einer weiteren Anhöhe. Das Grün der Berge täuschte – was wie ein endloser Kamm aussah, war in Wirklichkeit eine ganze Reihe von Kämmen; im grauen Licht ging einer in den anderen über.

Der Wirt schüttelte den Kopf. »So war es beim letzten Mal nicht«, sagte er.

Ranald lachte. »Es ist nie zweimal dasselbe, nicht wahr, Wirt?«

Der Wirt zuckte mit den Schultern. »Das ist erst meine zweite Reise, Ranald.«

Tom Schlimm stieß ein Grunzen aus. »Ich selbst bin noch nie hier gewesen. Aber Hector hat gesagt, dass es jedes Mal anders ist.«

Immer höher ging es hinauf.

Sie erkletterten den nächsten Kamm, als sich die Sonne durch die Wolkendecke kämpfte, und auf der Anhöhe sahen sie in einer Senke vor sich einen Schäferkotten, aus dessen niedrigem Kamin der Rauch eines Torffeuers aufstieg.

Schafspferche waren rechts an die Mauern des steinernen Hauses gebaut.

Der Pfad führte von der Anhöhe geradewegs zur Tür des Kottens.

»Das sind die größten Schafe, die ich je gesehen habe.« Alcaeus rieb sich das Wasser aus den Haaren.

Sie ritten den Pfad hinunter. In der Steinmauer, die den Kotten umgab, befand sich ein Tor mit reich verzierten Eisenangeln. Der Hauptmann lehnte sich darüber und öffnete es.

Auf der anderen Seite stand ein Pferdestall aus Ziegelsteinen, der elf Boxen aufwies.

Der Hauptmann grinste. »Das nehme ich als ein Zeichen des Willkommens«, sagte er.

Das Ziegelgebäude wirkte recht fehl am Platze.

»Ich kenne diesen Stall«, sagte Gawin. »Das ist Diccon Pyles Stall.« Er sah Ranald an, der mit einem Nicken darauf antwortete.

»Aus Harndon«, sagte Ranald. »Ich hatte gerade dasselbe gedacht. Warm, gemütlich …« Er stieß den Atem aus.

Sie führten die Pferde in den Stall. Das Hufgeklapper hallte lauter von dem geziegelten Boden wider, als der Hauptmann es für möglich erachtet hätte. In jeder Krippe lag Hafer, sauberes Stroh war auf den Boden gestreut, und in den Kübeln befand sich frisches Wasser.

Sie sattelten ihre Pferde ab und befreiten die Packtiere von ihrer Ausrüstung. Der Hauptmann bürstete sein neues Schlachtross und legte eine Decke darüber, die ebenfalls griffbereit dalag. Gawin und Alcaeus taten das Gleiche, ebenso wie der Wirt und Ranald. Tom Schlimm blieb in der Tür stehen und hatte sein Schwert in die Hand genommen.

»Das gefällt mir nicht. Das ist Feenwerk.« Er fuhr mit dem Daumen vorsichtig über die Klinge.

»Wenn es so ist, dann richtet eine scharfe Waffe nichts dagegen aus«, wandte der Hauptmann ein und nahm Toms großem Wallach das Zaumzeug ab. »Entspann dich.«

Tom blieb in der Tür stehen. »Ich will das nicht.«

Ranald ging zu ihm und ergriff seinen Arm. »Nimm’s leicht, Tom. Hier läuft es nun mal nicht so, wie du willst.«

Meg lächelte Ser Alcaeus an. »Wäret Ihr so freundlich, den Sattel von meinem Pferd zu heben, Ritter? Ich bin eine arme, schwache Frau.«

Ser Alcaeus grinste.

Meg nahm ihren Mantel, drückte sich an Tom Schlimm vorbei und ging zur Haustür. Sie klopfte höflich.

Das Klopfen klang in der völligen Stille so laut wie das Knacken einer Blide.

Die Tür wurde geöffnet.

Meg trat ein. Der Wirt hörte auf, sein Pferd zu striegeln, und ließ die Bürste fallen. »Verdammt«, sagte er und rannte zur Haustür, die aber schon wieder geschlossen war. Er klopfte ebenfalls, die Tür wurde erneut geöffnet, und er war verschwunden.

»Ich glaube, der Rest von uns sollte gemeinsam hineingehen«, sagte der Hauptmann und wischte sich die Hände am Stroh sauber. Dann ging er zur Tür. »Du auch, Tom.«

Tom atmete schwer. »Das ist alles Magie

Der Hauptmann nickte und sagte vorsichtig, als spreche er mit einem nervösen Pferd oder einem verängstigten Kind: »Das ist es wirklich. Wir sind in seiner Hand, Tom. Aber wir wissen das.«

Tom richtete sich auf. »Glaubt Ihr etwa, ich habe Angst?«

Ranald machte eine verneinende Geste.

Der Hauptmann nickte jedoch. »Ja, Tom, du hast Angst. Und um ehrlich zu sein, wenn du keine hättest, wärest du verrückt.«

»Das ist er sowieso«, meinte Ranald.

Tom quälte sich ein Lächeln ab. »Ich bin bereit.«

Der Hauptmann klopfte gegen die Tür.

Und sie öffnete sich.

Die Decke war niedrig, aber das Zimmer schien überraschend geräumig. Die Balken befanden sich knapp über dem Kopf des Hauptmanns, und Tom musste sich bücken. Es gab keinen richtigen Kamin, sondern einen Ofen, dessen Rohr hoch zum Dach führte. Das Feuer in diesem Ofen war so gewaltig, dass in dem lodernden Inferno keine einzelnen Scheite zu erkennen waren. Genug Wärme drang hinaus, um den ganzen Raum an einem kühlen Sommerabend angenehm zu wärmen.

Um die Feuerstelle standen schwere hölzerne Stühle, die mit Wolldecken ausgepolstert waren. Einige trugen Wappen, es war sogar ein uralter Wandbehang darunter, der zerschnitten und neu zusammengenäht war, sodass er den Stuhl ganz bedeckte.

Die Deckenbalken waren schwarz vor Alter, aber noch immer konnte man das Schnitzwerk auf ihnen sehen.

Über der Feuerstelle hingen zwei gekreuzte Schwerter, und am Hauptpfeiler war ein Speer sorgfältig inmitten einer langen Reihe von Eisennägeln angebracht.

Meg saß neben dem Wirt und hatte die Beine übereinandergeschlagen. Und hinter ihr saß ein kleiner Mann, der eine lange Pfeife schmauchte.

Er wirkte so gewöhnlich, dass sie ihn zunächst gar nicht wahrnahmen. Er trug eine einfache Weste aus grober Wolle und eine Hose aus dem gleichen Material. Sein wettergegerbtes Gesicht wirkte weder hübsch noch hässlich, weder alt noch jung. Seine Augen aber waren schwarz.

Er öffnete sie, und sie nahmen die Männer sofort gefangen.

»Willkommen«, sagte der Wyrm.

Der Hauptmann verneigte sich und sah sich um. Keiner seiner Gefährten bewegte sich – allerdings saßen die Männer hinter ihm bereits auf den Stühlen und hatten die Hände auf die Knie gelegt.

Er hängte seinen Mantel zu den ihren und nahm ebenfalls Platz.

»Warum sagt niemand etwas?«, fragte er.

»Ihr alle redet«, sagte der Wyrm. »Es ist einfacher für uns alle, wenn ich mich mit jedem von euch einzeln unterhalte.«

»Ah«, meinte der Hauptmann. »Dann warte ich, bis ich an der Reihe bin.«

Der Wyrm lächelte. »Ich kann auch mit euch allen gleichzeitig reden«, erklärte er. »Nicht ich, sondern du forderst eine Struktur.« Er zog an seiner Pfeife.

Der Hauptmann nickte.

Natürlich bedeutet ihnen Zeit gar nichts, sagte Harmodius.

»Seid ihr beiden zusammen?«, fragte der Wyrm.

»Nein, ich bin allein«, antwortete der Hauptmann. »Ich kann nicht für Harmodius sprechen.«

Der Wyrm lächelte erneut. »Es ist sehr weise von dir, das zu sagen. Du weißt, dass er irgendwann die Herrschaft über dich beanspruchen wird, wenn du dich seiner nicht entledigst. Er kann nicht anders handeln. Diese Erkenntnis schenke ich dir, ohne eine Gegenleistung dafür zu erwarten.«

Der Hauptmann nickte. Ein Becher mit Würzwein erschien neben seinem Ellbogen. Er nahm ihn und trank dankbar.

»Warum seid ihr gekommen?«, fragte der Wyrm. »Zumindest du musst doch gewusst haben, was ich bin und … war.«

Der Hauptmann nickte. »Ich hatte es vermutet.« Er sah sich um. »Gibt es Regeln? Habe ich drei Fragen? Oder fünfzig?«

Der Wyrm zuckte mit den Achseln. »Ich will keine Besucher. Ich versuche auch nie, in die Zukunft zu schauen. Das überlasse ich meinen ach so geschäftigen Anverwandten. Sie planen und streiten und streben. Ich aber lebe. Ich suche nach der Wahrheit.« Er lächelte. »Manchmal fühle ich mich einsam, und dann kommt ein glücklicher Reisender herein und bringt mir Abwechslung.« Sein Lächeln wurde zu einem düsteren Grinsen.

Der Hauptmann nahm noch einen Schluck Wein. »Was ist mit den Lachlans?«

Der Wyrm zog an seiner Pfeife, und Rauch wölkte zur Decke und geriet in den Zug des tosenden Feuers. »Das ist deine Frage?«

Der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Nein, aber sie sind mir verschworen, und ich muss wissen, ob sie gut behandelt werden.«

Der Wyrm lächelte. »Diese Art von Eidgenossenschaft ist so natürlich für die Menschen – ich aber habe meine Schwierigkeiten damit. Und doch werde ich gerecht mit Tom und Ranald umgehen. Stell jetzt deine eigene Frage.«

Der Hauptmann wirbelte den Wein im Becher herum und schluckte eine Frage nach Amicia herunter. »Kann der Konflikt zwischen den Menschen und der Wildnis gelöst werden?«

»Ist das jetzt deine Frage?«, wollte der Wyrm wissen.

»Ja«, sagte der Hauptmann.

Die sitzende Gestalt rauchte. »Wie erfreulich.« Der Wyrm erhob sich, ging zu einem Schrank, nahm einen Steinkrug heraus und öffnete ihn. Er holte eine Handvoll alter Blätter hervor und stopfte sie in seinen Pfeifenkopf. »Glaubst du an den freien Willen, Prinz?«

Dem Hauptmann wurde allmählich heiß. Er stand auf, zog seinen Wappenrock aus, hängte ihn am Ofen zum Trocknen auf und murmelte: »Ich bitte um Verzeihung.« Dann setzte er sich wieder. »Ja«, sagte er schließlich.

»Warum?«, fragte der Wyrm.

Der Hauptmann zuckte mit den Schultern. »Wenn ich keinen freien Willen habe, dann hat doch nichts mehr einen Sinn.«

Der Wyrm nickte langsam und bedächtig. »Was wäre, wenn ich dir sage, dass du nur bei gewissen Dingen einen freien Willen hättest, bei anderen aber nicht?«

Der Hauptmann bemerkte, dass er auf einem seiner Reithandschuhe herumkaute. Er hörte damit auf. »Ich würde sagen, dass meine Macht, das Universum zu beeinflussen, gleich groß ist, ob ich nun bei jeder Handlung oder nur bei einer einzigen meinen freien Willen ausüben kann.«

»Interessant«, sagte der Wyrm. »Menschheit und Wildnis sind nichts anderes als Konzepte. Philosophische Konstrukte. Wenn sie erschaffen worden wären, um Gegensätze zu repräsentieren oder zu symbolisieren, wie könnten sie dann je miteinander versöhnt werden? Kann im Alphabet das Alpha mit dem Omega den Platz tauschen?«

»Als Nächstes wirst du mir noch sagen, dass es gar keine Wildnis gibt. Und dass es keine Menschen gibt.« Der Hauptmann lächelte.

Der Wyrm lachte lauthals. »Offensichtlich hast du diese Lektion schon früher einmal erhalten.«

»Im Osten habe ich zu den Füßen einiger Philosophen gesessen«, sagte der Hauptmann. »Ich hatte keine Ahnung, dass es sich um Drachen handelte, aber wenn ich jetzt darüber nachdenke …«

Der Wyrm lachte noch einmal. »Du gefällst mir. Also werde ich deine Frage beantworten. Die Menschen und die Wildnis sind wie zwei Seiten einer Münze und können miteinander leben, so wie die Münze wohlig in der Börse lebt.«

»Getrennt?«, fragte der Hauptmann.

Der Wyrm zuckte die Achseln. »Nichts an einer Münze ist getrennt, oder?«, fragte er.

Der Hauptmann lehnte sich auf seinem sehr bequemen Stuhl zurück.

»Mein Bruder ist gestorben«, sagte Tom. »Er war dein Lehensmann, und er ist gestorben. Sag uns, wer ihn getötet hat.«

Der Wyrm zuckte die Schultern. »Er ist außerhalb meines Kreises gestorben«, sagte er. »Ich muss zugestehen, dass ich dieser Sache nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt habe. Ich gestehe weiterhin zu, dass einige Völker aus der Wildnis meine Ländereien ohne meine Erlaubnis durchquert haben, während ich mit anderen Dingen beschäftigt war. Aber um die Wahrheit zu sagen, Tom und Ranald, mein Kreis ist eine Schöpfung, die meiner eigenen Bequemlichkeit dient. Ich belästige die Menschen nur sehr selten, weder innerhalb noch außerhalb des Kreises, und ihr beiden seid die ersten seit einer unmessbar langen Zeit, die ein Tätigwerden von mir verlangen.«

»Du wirst ihn also nicht rächen«, sagte Tom. »Dann sag uns wenigstens, wer ihn getötet hat.«

»Willst du mir vorschreiben, was ich zu tun habe, oder stellst du lediglich eine Frage?«, erkundigte sich der Wyrm höflich. »Ist das deine Frage?«

Ranald beugte sich vor. »Ja«, sagte er. »Es klingt vielleicht komisch, aber es sind nicht die Sossag, hinter denen ich her bin, obwohl sie Hector und mich umgebracht haben. Es ist Thorn. Thorn hat sie geschickt – er hat sie gerufen. Er hat sie in den Krieg getrieben.«

Der Wyrm legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Bist du ein Einfaltspinsel, Ranald Lachlan? Die Völker der Wildnis tun nur das, was sie wollen. Sie sind keine Kinder. Wenn sie euren Bruder überfallen haben, dann haben sie das aus ihren eigenen Gründen getan.«

»Sie wären niemals an der Furt gewesen, wenn Thorn es ihnen nicht gesagt hätte«, beharrte Tom.

Der Wyrm stützte das Kinn auf die rechte Hand. »Wie viel Wahrheit kannst du ertragen, Hochländer? Soll ich dir so viel davon verraten, dass du eine Rache von epischem Ausmaß nehmen wirst? Oder soll ich dir so viel verraten, dass es dich handlungsunfähig macht? Was würdest du vorziehen?«

Ranald kaute auf dem Ende seines Schnauzbartes herum. »Was könntest du uns sagen, das uns handlungsunfähig macht?«, fragte er.

Tom sah ihn finster an.

Der Wyrm lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, legte seine Pfeife beiseite und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Der Sossag, der Hector getötet hat, heißt Ota Qwan. Er ist ein würdiger Feind für dich, Tom – getrieben, leidenschaftlich und überaus geschickt. Die Schwierigkeit besteht allerdings darin, dass ihn dein Hauptmann irgendwann als seinen Verbündeten gewinnen will.« Der Wyrm lächelte.

»Und deswegen soll Tom handlungsunfähig sein?«, fragte Ranald. »Du kennst Tom nicht.«

Der Wyrm schüttelte den Kopf. »Nein. Hinter Ota Qwan stand Skadai, der es gewagt hat, meinen Zorn auf sich zu ziehen, indem er die Hochländer und die Viehtreiber angegriffen hat. Er ist jetzt allerdings schon tot. Und hinter Skadai steht Thorn, der von einem meiner eigenen Art in den Krieg getrieben wurde.« Der Wyrm lächelte. »Für ihn seid ihr, du und dein Bruder, weniger wert als Ameisen. Er wollte nicht nur das Ende deines Bruders, sondern den Tod eines jeden Mannes und einer jeden Frau im gesamten Weltenkreis. Ich sollte dir dankbar sein, denn ich habe gerade begriffen, dass ich einen ganzen Dramenzyklus verschlafen habe. Die Dinge bewegen sich so schnell da draußen in der Welt. Verdammt seid ihr alle.«

»Sein Name?«, fragte Tom.

»Tom Lachlan, dein Name verbreitet Furcht unter den Menschen von Ost bis West. Dämonen und Lindwürmer benässen sich, wenn sie ihn hören.« Der Wyrm sah Tom liebevoll an. »Aber was meine eigene Art angeht, so kann nichts in deinem Waffenarsenal sie verletzen.«

»Sein Name?«, fragte Tom noch einmal.

Der Wyrm beugte sich vor. »Darum möchte ich mich selbst kümmern.«

Tom klopfte sich auf den Schenkel. »Das ist ein Wort, Wyrm. Ein guter Mann stellt sich vor seine Männer. Aber ich werde dir helfen. Sag mir seinen Namen, und wir werden ihn gemeinsam in den Staub treten.«

Der Wyrm schüttelte den Kopf. »Bist du ein Viehtreiber, Tom?«

Tom schüttelte den Kopf. »Ich bezweifle, dass ich je einer sein könnte. Ich würde jeden umbringen, der mir widerspricht.«

Der Wyrm nickte. »Und du, Ranald?«

»Ich wäre stolz, ein Viehtreiber zu sein. Aber ich will vom König zum Ritter geschlagen werden, damit ich ein bescheidenes Vermögen machen und eine Dame heiraten kann.« Ranald fühlte sich wie ein kleiner Junge, der den Diebstahl von Äpfeln beichtete.

»Das alles geht mich nichts an«, sagte der Wyrm. »Aber es ist ein Vergnügen, mit euch beiden zu sprechen.«

»Er ist der Verständigere von uns«, sagte Tom, »und ich bin der Mann des Krieges. Zwei Seiten einer Münze.«

»Nichts an einer Münze ist getrennt«, sagte der Wyrm.

Meg hatte die Hände in den Schoß gelegt.

»Und wie kann ich dir helfen?«, wandte sich der Wyrm ihr zu.

»Ich möchte den Zauberer namens Thorn besiegen und vernichten«, antwortete sie.

»Rache?«, fragte der Wyrm.

Sie zuckte mit den Schultern. »Vor einigen Jahren hat ein Hund eines meiner Kinder gebissen. Er hatte davor schon andere Kinder angefallen. Mein Mann ist mit seiner Armbrust hinausgegangen und hat den Hund erlegt.« Sie sah dem Wyrm in die Augen. »Ich bin sicher, dass es dabei auch um Rache gegangen ist.«

»Aber in der Hauptsache ging es um die anderen Kinder?«, fragte der Wyrm.

Sie nickte.

»Du bist eine sehr bescheidene Frau«, bemerkte der Wyrm. »Du erlaubst es den Männern, ihre Meinung frei zu äußern, aber deine eigene behältst du für dich.«

Sie lächelte und schaute auf die Hände, die in ihrem Schoß lagen.

»Aber du, eine Hausfrau aus Abbington, willst die Vernichtung Thorns herbeiführen, der sich aufgemacht hat, eine der großen Mächte zu sein.« Seine schwarzen Augen richteten sich auf sie.

Sie wollte ihn jedoch nicht in sich hineinlassen. »Das ist richtig«, sagte sie leichthin.

Der Wyrm stieß einen stummen Pfiff aus. »Dieser Krieg, den ihr alle gerade erlebt habt, hat deine Kräfte in einem geradezu wunderbaren Ausmaß verstärkt. Ich war in der Lage, dich aus großer Entfernung zu beobachten – von Albinkirk aus.«

Meg gab ein zufriedenes Glucksen von sich. »Ich wusste schon immer, dass ich die Gabe besitze«, sagte sie. »Aber dank des alten Magus und der Äbtissin weiß ich inzwischen ein paar Dinge mehr.« Sie schaute auf. »Schreckliche Dinge.«

»Zweifelst du an Gott?«, fragte der Wyrm.

Meg drehte den Kopf zur Seite. »Wer bist du, dass du das fragst? Der Satan?«

Der Wyrm lachte. »Wohl kaum, Meisterin. Vielleicht eher Satans junger und müßiger Vetter.«

»Wirst du meine Frage beantworten?«, wollte sie wissen.

»Du hast sie doch noch gar nicht gestellt«, antwortete er sanft. »Du hast zwar angedeutet, dass du meine Hilfe bei einem Angriff auf Thorn gebrauchen könntest, und du hast ebenfalls angedeutet, dass du gern wüsstest, ob es einen Gott gibt.«

Sie drückte das Rückgrat durch. »Ich kann meinen Weg zu Gott auch ohne dich finden.«

»Gut«, meinte der Wyrm.

»Ich wünsche mir deine Hilfe für den Kampf gegen Thorn«, sagte sie.

»Das ist die andere Seite derselben Münze«, sagte der Wyrm. »Wenn du für dich selbst zu einer Entscheidung über Gott gelangen kannst, brauchst du mich nicht zum Kampf gegen einen sterblichen Zauberer.«

»Es wäre so einfach für dich«, sagte Meg.

»Das ist kein Argument. Es würde darauf hinauslaufen, dass ich am Ende den Hund selbst erlege, und zwar aus meinen eigenen Gründen.« Er stützte das Kinn mit der Hand ab.

Sie schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich, aber ich möchte, dass du die beiden Seiten der Münze trennst.«

»Nichts an einer Münze ist getrennt«, gab der Wyrm zurück.

»Nichts an einer Münze ist getrennt«, sagte der Wyrm.

Der Hauptmann sah sich um und stellte fest, dass all seine Gefährten blinzelten, als wären sie gerade aus dem Schlaf erwacht.

»Es war mir eine große Freude, euch zu treffen«, sagte der Wyrm. »Die Betten sind warm, das Feuer ist wirklich vorhanden, und das Essen ist vorbildlich, wenn ich so sagen darf. Bitte haltet euch beim Wein nicht zurück. Und ich wäre beleidigt, solltet ihr die Harfe an der Wand nicht spielen.« Er lächelte sie an. »Ich habe nur ein geringes Interesse am Lauf der weltlichen Dinge, aber ich werde euch helfen, wenn auch fast ausschließlich zu meinem eigenen Nutzen. Und dieser ist, wie ich hinzufügen möchte, unendlich weniger schrecklich für euch und euresgleichen, als es die Absichten meiner Blutsgenossen wären. Ich möchte nur in Ruhe gelassen werden – ich habe meine eigenen Pläne, und diese haben nichts mit Krieg, Eroberung, Schmerz oder Hass zu tun.« Er lächelte, und einen Augenblick lang sahen sie ein gewaltiges Haupt mit Fängen von der Länge eines Kriegsschiffes und geschlitzte Augen, die so groß wie Kirchtürme waren. »Ihr werdet meine Verbündeten sein. Ihr werdet in die Welt hinausgehen und mit euren eigenen Plänen, Mitteln und eurem freien Willen meinen Zielen dienen.« Abermals lächelte er. »Ich bezweifle, dass wir erfolgreich sein werden, aber falls wir es doch sein sollten, dann werden wir uns daran erfreuen, gewaltig unterschätzt worden zu sein. Und nun zu den Geschenken. Ich habe einige Dinge hergestellt – oder sie gesammelt. Jedem das seine. Und zum Abschied …« Der Wyrm lächelte alle gleichzeitig an. »Ich möchte euch noch eine wirkliche Weisheit mit auf den Weg geben. Gehabt euch wohl. Handelt mit Ehre und Würde. Nicht weil es dafür eine Belohnung gibt, sondern weil es die einzige Art zu leben ist. Das gilt für meine Art ebenso wie für eure.«

Der Hauptmann dachte noch über eine kluge Entgegnung nach, als er erkannte, dass der Wyrm schon nicht mehr unter ihnen weilte.

Das war erstaunlich, sagte Harmodius.

Sie ließen sich das Frühstück schmecken.

»Die Marmelade ist wie …« Meg kicherte, hatte den Mund voll mit warmem, knusprigem Brot und fetter frischer Butter.

»Wie von Gott gemacht?«, ergänzte Ser Alcaeus.

»Ich fühle mich wie ein Dieb«, sagte Ranald. Er hatte eines der Schwerter genommen, die über dem Ofen hingen.

Tom nahm das andere und grinste. »Gut«, sagte er, als er mit dem Daumen vorsichtig über die Klinge fuhr. Er gab ein Stöhnen der Befriedigung von sich, als die Waffe, die er sich ausgesucht hatte, durch die Luft schwirrte.

Der Wirt schüttelte den Kopf. Er hielt eine Schachtel im Schoß. »Ich habe Angst, sie zu öffnen.«

Ser Alcaeus stand auf und nahm das Schwert ab, das hinter dem Hauptpfeiler hing – zusammen mit einem Gürtel und einer Scheide. Das alles passte hervorragend zu seiner eigenen Waffe, einem überraschend kurzen Schwert mit einem schweren Radgriff. »Dies alles ist für uns hier zurückgelassen worden. Wenn ich mich nicht sehr irre, wurde die ganze Kate sogar bloß für uns erbaut.«

»Ich gehe nicht eher von hier weg, als bis die Marmelade aufgegessen ist«, lachte Meg und tupfte sich mit ihrer Serviette klebrige Rückstände aus den Mundwinkeln. Neben ihr stand ein Kästchen aus Gold, Silber und Emaille auf dem Tisch, in dem sich eine scharfe Stahlschere, ein Nadelkissen voller Nadeln und noch ein Dutzend anderer Dinge befanden – einschließlich einiger Schlüssel.

»Oh«, sagte sie und errötete, während ihre Hand an den Busen fuhr. »Oh, par dieu. Das ist ja großartig.«

Gawin probierte die Marmelade. »Ich hatte einen höchst bemerkenswerten Traum«, sagte er. »Darin habe ich einen grünen Gürtel getragen …« Er verstummte. Um seine Hüfte lag tatsächlich ein grüner Gürtel mit Einlegearbeiten aus Emaille und Gold, und daran hing ein schwerer Dolch in grüner und goldener Farbe.

Der Hauptmann stand unter dem Deckenbalken und schaute zu dem Speer empor.

»Nehmt ihn doch einfach!«, rief Tom.

Der Hauptmann rieb sich das bärtige Kinn. »Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich ihn wirklich haben möchte«, sagte er.

Nimm ihn! Nimm ihn! Harmodius konnte sich nicht mehr beherrschen.

Fünf Fuß alten Schwarzdorns, knotig und doch so gerade wie ein Pfeil. Und an der Spitze schimmerte eine lange und schwere Klinge.

»Jemand hat einen Magisterstab genommen und eine Gleve daraus gemacht«, sagte der Hauptmann.

Nimm ihn, du Narr.

Der Hauptmann rieb sich wieder das Kinn. »Ich sehe erst einmal nach den Pferden.«

So viel zu meiner Macht. Er hätte diese Dinge nicht hergebracht, wenn er sie uns nicht hätte anvertrauen wollen.

»Ich kann nicht umhin zu bemerken, dass seine Gaben entweder binden oder eine Spitze haben oder aber eine doppelte Klinge«, sagte der Hauptmann. »Waffen und Gürtel.«

Sei kein Narr.

Bin ich ein Narr, nur weil ich nicht gleich Dinge benutze, die ich nicht verstehe?, fragte der Hauptmann. Hier geht es um sehr viel. Vermutlich werde ich ihn am Ende doch nehmen. Aber jetzt noch nicht …

Er striegelte die Pferde und nahm sich dafür Zeit. Sie wirkten satt und glücklich. So hatte er sich vor seinem Vater versteckt, als er noch jung gewesen war.

Als die Tiere wie die Sonne glänzten oder wie das Wasser des hochgelegenen Sees draußen, ging er wieder in die Kate zurück – die innen so viel größer war, als sie von draußen zu sein schien – und nahm den Speer aus der Halterung.

Das Ende des schweren Schwarzdornschafts war mit Bronzenägeln und Goldeinlagen versehen, der Kopf war großartig gearbeitet – er bestand aus gefaltetem und sorgfältig ziseliertem Stahl.

Oh. Leer. Harmodius verlor das Interesse an ihm. Nichts für mich.

Der Hauptmann hielt die Waffe lange in den Händen.

Dann runzelte er die Stirn und steckte den Speer unter den Arm.

Einer nach dem anderen verließ die Kate. Meg ging als Letzte und schloss die Tür hinter sich.

Sie wirkte verwirrt. »Ich dachte, alles würde … verschwinden«, sagte sie.

»Er ist nicht gerade prahlerisch«, erwiderte der Hauptmann.

Sie bestiegen ihre Pferde und ritten über den Bergkamm hinweg. Nach zwei Anhöhen war die Kate in den Falten der Erde verschwunden.

»Würde noch etwas da sein, wenn ich jetzt zurückritte?«, fragte Tom.

Der Hauptmann zuckte die Achseln. »Ist das von Belang?«

»Wisst Ihr was?«, meinte Tom. »Er hat mich an Euch erinnert. Und jetzt erst recht.« Er lachte.

Der Hauptmann hob eine Braue. »Ich glaube, ich fühle mich geschmeichelt, Tom«, sagte er.

Tom klopfte liebevoll auf das Schwert an seiner Seite. »Ich besitze ein magisches Schwert«, sagte er glücklich. »Ich möchte es an irgendetwas ausprobieren.«

Ranald schüttelte den Kopf. »Tom, du hasst doch Magie.«

Tom grinste. »Wenn du genug Geduld hast, kannst du sogar einem alten Hund noch einen neuen Trick beibringen.«

Gawin schüttelte den Kopf. »Warum ausgerechnet wir?«

Auch der Hauptmann schüttelte den Kopf.

Sie ritten weiter.

Die Waldarbeiter waren verschwunden. Es gab keinen Leichenhaufen, keine Gräberreihe, keine rostenden Werkzeuge. Sie waren einfach fort.

Über den Irkill führte nun eine Steinbrücke auf mächtigen Pfeilern, so breit wie zwei Pferde oder ein Wagen, und auf der anderen Seite erhob sich ein rechteckiger Turm mit einem kleinen Zollhäuschen daran.

Es roch nach solider, neuer Steinarbeit. Der Wirt betrachtete das alles von der Straßenmitte aus.

»Öffnet es«, sagte der Hauptmann.

Der Wirt sah ihn verständnislos an.

»Öffnet das Kästchen.« Der Hauptmann verschränkte die Arme vor der Brust.

Der Wirt wühlte so enttäuschend lange in seinem Gepäck, dass die ganze Spannung wich, doch schließlich hatte er das Kästchen hervorgeholt und öffnete es.

Darin befanden sich ein Haarreif, ein Armreif und ein Schlüssel.

Der Schlüssel passte zur Tür der kleinen Festung.

Der Haarreif passte auf seinen Kopf. Er setzte ihn auf, nahm ihn aber gleich wieder ab.

»Verdammt«, sagte er.

»Das sagt dir etwas«, meinte Ranald.

»Der Armreif ist für den Viehtreiber bestimmt«, erklärte der Wirt. »Ich weiß es.«

Ranald sah den Gegenstand an. »Lass ihn. Ich komme im nächsten Frühling wieder her, und dann werden wir sehen.«

Sie ritten zur Herberge zurück.

Toby packte die Habseligkeiten seines Herrn aus und trat dann neben ihn. »Mylord?«, fragte er.

Der Hauptmann spielte gerade Karten mit Meg. Er schaute auf.

»Was soll ich hiermit machen?«, fragte Toby und hielt zwei Samtbeutel hoch. Sie glänzten in einem tiefen, dunklen Rot.

»Die gehören mir nicht«, sagte der Hauptmann.

»Pardon, Mylord, aber sie befanden sich in Eurem Gepäck.« Toby hielt sie wieder in die Höhe.

Der Hauptmann blickte in den einen hinein und lachte. »Toby, ich habe soeben entdeckt, dass unser Gastgeber umsichtiger gewesen ist, als ich es mir hätte vorstellen können. Komm her.« Er winkte seinen neuen Knappen heran. »Ich glaube, die hier sind für dich.« Er gab ihm den Beutel.

Darin befanden sich zwei silberne Sporen. Nur reiche Knappen trugen so etwas.

Toby keuchte auf.

Der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Er hat gewusst, dass wir kommen, aber wir haben dich ja zurückgeschickt.« Dann sah er in den anderen Beutel. Und zog die Stirn kraus.

Ein kleiner, sehr schöner Ring glitzerte am Boden. Die Buchstaben »IHS« waren eingraviert. »Ah«, sagte er. »Das ist zu viel.« Er warf den Beutel quer durch den Raum.

Er prallte von der Wand ab.

Nun widmete sich der Hauptmann wieder seinem Kartenspiel.

Als er sich am Morgen zum Wirt aufmachte, um diesen zu bezahlen, fand er den Ring unter seinen Münzen wieder.

Gib es auf, sagte Magister Harmodius. Auch er hat es auf Amicia abgesehen. Es scheint, dass ihr beiden noch nicht fertig miteinander seid.

Der Hauptmann umarmte den Wirt. »Kennt Ihr jemanden, der nach Lissen Carak reist?«, fragte er.

Der Wirt grinste. »Im Herbst vielleicht, aber auch dann nur in Begleitung von zwanzig Schwertern«, antwortete er.

Der Hauptmann schrieb eine kurze Nachricht auf ein Pergamentblatt. »Dann gebt dieses mit.« Er wickelte den Ring in das Pergament ein. Dabei hatte er ein höchst seltsames Gefühl.

»Alles Gute, Hauptmann«, sagte der Wirt. »Macht hier Halt, wenn ihr nach Westen zum Turnier reitet.«

Der Hauptmann hob die Brauen.

»Ihr seid ein berühmter Ritter«, sagte der Wirt mit kindlicher Freude daran, dass er etwas wusste, was den anderen noch nicht bekannt war. »Die Königin hat bestimmt, dass es ein großes Turnier in Lorica geben werde, und zwar zu Pfingsten des nächsten Jahres.«

Der Hauptmann rollte mit den Augen. »Das ist nicht meine Art von Kampf, Wirt.«

Der Wirt zuckte mit den Schultern. »Wenn Ihr meint …«

Fünf Tage lang ritten sie durch das Gebirge nach Morea. Nördlich von Eva kamen sie den Pass herunter, und von dort aus führte sie der Hauptmann zunächst nach Süden und dann nach Osten über die Berge in Richtung Delf. Er schien in keiner großen Eile zu sein. Mit Gawin und Alcaeus verhielt es sich genauso, und Tom und Ranald betrachteten die ganze Reise als ein Abenteuer, bei dem sie hoch im Gebirge umherreiten und Höhlen durchstöbern konnten …

»Sie suchen nach einem Kampf«, bemerkte Meg angewidert. »Können wir nicht bald nach Hause ziehen?«

»Wo ist das Zuhause einer Truppe von Söldnern?«, fragte der Hauptmann zurück.

Meg sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Ja«, antwortete sie. »Wenn es also sein muss … Seid Ihr denn nicht aufgeregt? Hoffnungsvoll? Interessiert?«

Er beobachtete die beiden Hochländer, die hoch über ihnen entlangritten. Alcaeus hatte einen guten Habicht gekauft und ging mit ihm auf die Jagd nach Tauben. Gawin ritt voraus, hatte die Beine über den Sattelknauf geschlungen und las.

Er schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht«, sagte er. »Ich glaube, ich bin soeben von einer gewaltigen Macht angeworben worden, um gegen eine andere in einem Krieg zu kämpfen, der mich nichts angeht und um Dinge geführt wird, die ich nicht verstehe.« Er rieb sich das Kinn. »Schon als Kind hatte ich mir einmal geschworen, niemals mehr jemandes Werkzeug zu sein.«

»Der Wyrm ist gut.« Meg legte ihm die Hand auf den Arm. »Das kann ich spüren.«

Der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Meg, was bedeuten den Würmern auf der Straße meine Vorstellungen von Gut und Böse? Da kann ich der ehrenwerteste Ritter sein, der je gelebt hat, und doch werden die eisenbeschlagenen Hufe meines Pferdes ihre weichen Körper bei jedem Schritt nach dem Regen zerquetschen.« Er lächelte sie an. »Und ich bekomme es nicht einmal mit.«

Unten im tiefen Tal vor ihnen sah er eine Reihe von Zelten, eine Palisade, im Kreis aufgestellte schwere Wagen, und über allem wehte ein Banner mit goldenem Wappen auf schwarzem Grund.

»Verdammt«, sagte sie. »Warum können wir nicht einfach handeln? Nicht einfach gewinnen?«

Der Hauptmann seufzte. »Die Menschen lieben den Krieg, weil er einfach ist«, sagte er. »Aber das Gewinnen ist nie einfach. Ich kann einen Kampf gewinnen, und gemeinsam können wir eine Schlacht gewinnen.« Er rieb sich den Bart. Unten im Tal zeigten etliche Männer auf sie, und Boten sprangen auf ihre Pferde. »Aber den Sieg in einer Schlacht zu etwas Dauerhaftem zu machen, das ist wie ein Haus zu bauen, in dem man leben möchte. Es ist so viel komplizierter als das Erbauen einer Festung.«

Er deutete auf die Reiter. »Zu meinem Glück bringen mir diese Männer eine Nachricht, die zu meinem Vertrag gehört. Es geht um einen hübschen, überschaubaren Krieg.« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Um etwas, das wir gewinnen können.«

Harndon · Edward

Edward beendete die Arbeiten an seinem ersten Dolch – einer feinen Waffe mit einer dreieckigen Klinge und einer Spitze, die sogar eine Rüstung durchdringen konnte – und übergab ihn zitternd an Meister Pyle. Der ältere Mann betrachtete die Waffe, balancierte sie auf dem Handrücken und schleuderte sie auf den Boden, in dem sie mit einem befriedigenden dumpfen Geräusch stecken blieb.

»Sehr schön«, sagte er. »Gib ihn Danny, damit er den Griff anfertigen kann. In ein paar Tagen habe ich etwas Besonderes für dich zu tun. Bis dahin hilfst du im Laden.«

Nun, zwar war die Arbeit im Laden sauber, aber langweilig. Doch Edward warb an den langen Sommerabenden um seine Anne, und die Arbeit im Laden ermöglichte es ihm, sich gut zu kleiden – eine feine Hose, ein angemessenes Wams statt der Leinensachen, die von namenlosen Chemikalien fleckig und von tausend Funken verbrannt waren.

Anne war eine Näherin, und ihre Hände waren stets sauber.

An den meisten Abenden tanzte sie auf dem Platz neben ihrem Haus, und Edward übte sich mit Schwert und Schild gegen andere Gesellen – allmählich wurde ein guter Kämpfer aus ihm.

Er entwarf gerade einen ausgezeichneten Faustschild für sich – er führte den Kohlestift für die Umrisszeichnung mit sicherer Hand –, als die Ladentür geöffnet wurde und ein mittelgroßer und nicht besonders bemerkenswerter Mann hereintrat.

Er lächelte Edward an. Er hatte seltsame schwarze Augen und legte eine Goldmünze auf den schweren Eichentisch, auf dem die Kunden für gewöhnlich die Waren betrachteten. »Hol mir deinen Meister, junger Mann«, sagte er.

Edward nickte. Er läutete eine Glocke, auf deren Ton hin ein anderer Ladenjunge kam, und schickte diesen in den Hof. Wenige Minuten später erschien Meister Pyle. Der dunkeläugige Mann hatte inzwischen aus dem Fenster geblickt. Edward konnte den Blick nicht von ihm abwenden, denn es war so schwierig, ihn anzusehen.

Der Mann drehte sich gerade um, als der Meister erschien, und ging auf ihn zu.

»Meister Pyle«, sagte er. »Ich habe Euch einige Briefe geschickt.«

Meister Pyle wirkte verwirrt. Dann aber hellte sich seine Miene auf. »Meister Smith?«

»Derselbe«, sagte der seltsame Mann. »Habt Ihr mein Pulver ausprobiert?«

»Allerdings. Das war ein unheimliches Zeug. Hat mir ein Loch ins Dach meines Schuppens geblasen.« Meister Pyle hob eine Braue. »Ist aber nicht ganz beständig.«

In den dunklen Augen des Mannes glitzerte es. »Hm. Vielleicht habe ich es nicht ausreichend erklärt. Versucht beim nächsten Mal, es mit Urin anzufeuchten, nachdem Ihr es gemischt habt. Trocknet es an der Sonne – natürlich weit entfernt von jedem Feuer. Und dann zermahlt Ihr es zu grobem Pulver, und zwar sehr vorsichtig.«

»Wenn ich ein Alchemist wäre, würde mich das alles sehr begeistern, Meister Smith, aber ich bin Klingenschmied und habe viele Aufträge.«

Meister Smith schien verwirrt zu sein. »Ihr stellt aber doch Waffen her.«

»Alle Arten davon.« Meister Pyle nickte.

»Ihr seid der Beste in ganz Albia, wie mir gesagt wurde«, meinte Meister Smith.

Meister Pyle lächelte. »Das hoffe ich.«

Meister Smith nickte heftig. »Geht es um mehr Geld?«, fragte er.

»Ich fürchte, dem ist nicht so.« Meister Pyle schüttelte den Kopf. »Es ist einfach nicht mein Gebiet.«

Smith stieß einen Seufzer aus. »Warum nicht?«

Edward sah Meister Pyle sehr eindringlich an und wollte, dass ihm dieser den Kopf zudrehe.

»Ich habe mehr Aufträge, als ich bewältigen kann, und dieser hier ist besonders uninteressant.« Meister Pyle zuckte mit den Schultern. »Es würde Monate, vielleicht sogar Jahre dauern, bis ich diese Sache vervollkommnet hätte.«

»Wirklich?« Nun zuckte auch Meister Smith die Achseln.

Edward wäre beinahe auf und ab gesprungen. Meister Pyle wandte ihm endlich den Kopf zu und sah ihn düster an. Aber es war nicht sein düsterster Blick.

»Dies hier ist mein Geselle Edward. Er hat beide Proben hergestellt. Er ist äußerst fähig, und vielleicht wäre er ja bereit, die Arbeit für Euch anzufertigen.« Meister Pyle wandte sich an Edward. »Willst du es versuchen? Es wäre dein erster eigener Auftrag.«

Edward strahlte.

Der seltsame dunkeläugige Mann nickte wieder. »Ausgezeichnet.« Er legte zwei Pergamentblätter auf den Tisch. »Sieh dir das hier an und denk darüber nach«, sagte er. »Röhre, Stock, Pulver und Zündvorrichtung. Ich möchte, dass du das alles machst.«

»Nur einen einzigen Apparat?«, fragte Edward. »Wohin soll er geliefert werden?«

»Was das betrifft, so werde ich dir beizeiten meine Anweisungen schicken. Er ist für ein paar Freunde gedacht.« Er lachte. »Stell nur einen davon her und vernichte danach alle Aufzeichnungen. Ich werde dich schon finden. Klar?«

Edward sah den Mann an. Er machte keinen besonders gefährlichen Eindruck. Doch einen Augenblick lang schien er Schuppen auf den Handrücken zu haben.

»Wie viel?«, fragte Edward vorsichtig. »Werde ich dafür bezahlt?«

»Allerdings«, antwortete der seltsame Mann. »Fünfzig Goldnoble im Voraus, und fünfzig nach Fertigstellung des Werkes.«

Edward musste um Luft ringen.

Meister Pyle schüttelte den Kopf. »Ich hole den Schreiber.«

Der Palast von Harndon · Der König

Oberhalb von ihnen, in der großen Festung von Harndon, lag Meister Pyles Freund, der König, gerade bei seiner Frau. Er hatte zwei neue Narben an seinen muskulösen Oberschenkeln. Und sie hatte eine am Rücken.

Keiner fand den anderen deshalb weniger fesselnd.

Als der König seine Frau würdig und angemessen angebetet hatte, leckte er ihr über das Bein, biss sie sanft und erhob sich. »Die Männer werden mich verspotten«, sagte er. »Ein König, der nur seine Gemahlin liebt!«

Sie lachte, streckte sich wie eine Katze aus, ballte die Fäuste, und ihr Körper beschrieb eine Kurve, bei der Brüste und Rücken höchst vorteilhaft zur Geltung kamen. »Ich bitte um Erlaubnis, die Worte Eurer Majestät anzweifeln zu dürfen«, schnurrte sie.

Er lachte und warf sich wie ein viel jüngerer Mann neben sie. »Ich liebe dich«, sagte er.

Sie rollte sich auf ihn und küsste ihn. »Und ich liebe dich, mein Gebieter.«

Eine Weile lagen sie in kameradschaftlichem Schweigen da, bis die königlichen Knappen unten in der Halle Lärm schlugen, der andeutete, dass königliche Arbeit zu erledigen war.

»Ich habe den Zeitpunkt für dein Turnier in Lorica festgelegt«, sagte der König. Er wusste, wie sehr sie danach begehrte. »Es wird helfen – nach der Schlacht. Nach dem nächsten Pfingstfest.«

Sie holte tief Luft, was ihr ebenfalls gut stand, und schlug die Hände gegeneinander.

»Und ich habe Meister Pyle befohlen, zusammen mit der Fuhrmannsgilde zwei von deinen Militärwagen zu bauen, um den Entwurf zu testen«, sagte er. »Ich werde sie auf dem Turnier vorführen. Und ich werde Männer mit großem Gefolge bitten, eigene Wagen nach diesem Vorbild zu bauen. Es wird ein Anfang sein.«

»Und der Rote Ritter?«, fragte sie.

Er zuckte zusammen, als wäre er gestochen worden.

Sie schüttelte den Kopf. »Seine Truppe besitzt Standardwagen, die zum Einsatz in Gallyen erbaut wurden.« Sie zog die Stirn kraus. »Offenbar bin nicht ich es, die diese Idee zuerst hatte.«

Er schüttelte den Kopf. »Das hatte ich noch nicht bemerkt.«

Sie zuckte die Schultern, was bei ihr sehr schön aussah.

»Wenn du dich nicht bald anziehst, wird mich der neue Botschafter des Kaisers als einen sehr säumigen Gastgeber kennenlernen.« Er griff nach ihr.

»Ich habe mir erlaubt, ihn zum Turnier einzuladen«, sagte die Königin und beobachtete den König wie ein Falke.

Er gab keine Regung preis.

»Ah«, sagte er nur.

Morea · Der Rote Ritter

An diesem Spätsommerabend war es recht gemütlich im Lager. Und die Rückkehr dorthin war so sehr wie ein Nachhausekommen gewesen, dass er am liebsten geweint hätte. Doch er lächelte angestrengt und ritt durch das Lager.

Gelfred saß auf einem Wagen und fütterte einen Adler.

»Gütiger Gott, Gelfred! Haben wir Parcival zurück?« Der Hauptmann glitt von seinem Pferd und schockierte den Jäger damit, dass er ihn umarmte.

Der Adler stieß einen hohen Schrei aus.

Gelfred nickte. »Ein wunderbarer Vogel.« Er sah sich um. »Wenn er auch nicht ganz passt. Weder Ihr noch, pardon, die Äbtissin haben oder hatten die Königswürde inne.« Er machte eine Grimasse.

Der Hauptmann nickte kurz. »Wir werden den Kaiser um ein entsprechendes Privileg bitten«, lachte er. »Auch wenn ich mir fast sicher bin, dass die Äbtissin eigentlich so etwas wie eine Königin gewesen ist.«

Gelfred wirkte entsetzt.

Ser Alcaeus nickte jedoch. »Ich teile diese Vermutung.«

Ser Gawin sah den Hauptmann an. »Ich bin leider nur der Bruder, dessen Verstand langsamer arbeitet. Worüber reden wir gerade?«

Harmodius lachte im Kopf des Hauptmanns. Es war ein hässliches, geschwätziges Lachen. Aha! Du hast also erkannt, wer sie war.

»Über die Mätresse des alten Königs. So haben die Männer sie genannt. Sophia Rae. Hawthor der Große hatte ihr nach der Schlacht bei Chevin die Heirat angeboten, doch er wurde abgewiesen.« Der Hauptmann lächelte. »Man stelle sich das nur einmal vor – die Geliebte von Hawthor und Richard Plangere zur gleichen Zeit.« Er schüttelte den Kopf. »Und dann war sie dreißig Jahre lang Äbtissin.« Er streckte die Hand aus und glättete die Federn des Vogels. »Hawthor wird ihr diesen Vogel geschenkt haben. Er muss wohl schon sehr alt sein.«

Die Augen des Tieres waren tief und golden, mit einem schwarzen Mittelpunkt.

»Ich habe gehört, dass sie fünfzig Jahre alt werden können«, sagte Gelfred.

Die Augen des mürrischen Vogels waren jetzt starr auf die des Hauptmanns gerichtet.

»Ich verstehe«, sagte er.

Meg saß mit Johne le Bailli im Licht der Laternen auf Lagerstühlen, die zwar recht bequem, aber rückenlos waren – und sie spürte ihr Alter. Er betrachtete die Sterne.

»Ich sehe eine Menge unbekannter Gesichter«, sagte sie, während sie zwei Soldaten beobachtete, die an ihnen vorbeigingen. Sie blieben im Licht von Johnes Laternen kurz stehen, schenkten Meg einen anerkennenden Blick und verneigten sich.

»Wir haben einige neue Rekrutierungen vorgenommen«, gab er zu und fuhr mit der Hand über ihren Rücken. Dann drehte er ihr den Kopf zu und lächelte. »Na gut, sie hätten uns fast angegriffen. Sie sind gekommen, sobald wir das Lager aufgeschlagen hatten – jeder einzelne jüngere Sohn aus dem Nordland. Auch ein paar Moreaner. Bei Christus, ich vermute, wir verfügen jetzt über hundert Lanzen.«

Sie seufzte. »So viele«, sagte sie.

Er rutschte ein wenig auf dem Sitz zurück. »Das wird den jungen Hauptmann freuen, nicht wahr?«

Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn sanft. »Ich bin eine sündhafte alte Frau und muss nicht erst verführt werden, wenn es das ist, was deine Hand da in meinem Rücken versucht.«

Erst versteifte er sich, aber dann grinste er. »Ich bin wohl aus der Übung gekommen.«

Sie schwiegen kurz.

»Bin ich unbeholfen?«, murmelte er dann.

»Nein«, sagte sie und dachte daran, die Laternen auszublasen und sich schamlos auf den Teppich zu legen. »Nein«, wiederholte sie.

»Was dann?«, fragte er.

Mit einer abwehrenden Handbewegung machte sie sich daran, die Kerzen auszublasen.

»Du kannst es mir ruhig sagen«, meinte er.

»Ich hatte gerade an den Hauptmann gedacht – habe mich gefragt, ob er wohl erfreut ist.« Sie zuckte die Achseln. »Ihr alle glaubt, dass es ihm gut geht, aber das stimmt nicht. Er ist wie ein Pferd, das eine Wunde zugefügt bekommen hat und doch weiter läuft. Er sieht so aus, als ob es ihm gut ginge – bis er eines Tages tot umfällt.« Sie stellte fest, dass sie sich zu ihm hingebeugt hatte.

Er hielt sie fest. »Als ich jung war, habe ich mir nichts so sehr gewünscht wie ein Ritter zu sein«, sagte er. »Ich habe es gewollt, und ich habe dafür gekämpft. Aber ich habe es nicht erreicht. Und nach einiger Zeit und ein paar bösen Erlebnissen bin ich deinem Mann begegnet, und wir haben miteinander eine schlimme Zeit durchgemacht. Und dann bin ich zu einem ehrenwerten Mann in einer kleinen Stadt geworden. Ich hatte einige dunkle Tage, und ich hatte auch einige gute Tage.« Er zuckte mit den Schultern. »Und jetzt – par dieu, jetzt scheint es fast so, als könnte ich doch noch zum Ritter werden. Und als könnte ich dich bekommen, meine Herrin.« Er hielt sie sehr fest. »Unser kleiner Hauptmann wird noch viele Wunden davontragen. Ob sie ihn zerbrechen werden?« Er zuckte noch einmal die Achseln. »Vielleicht wird es so sein. So ist das nun einmal.«

Sie nickte. Und glitt ein wenig näher zum Teppich, der in ihrem gemeinsamen Zelt auslag.

Der Hauptmann saß mit Ser Alcaeus und seinem Bruder im Licht der Laternen. Der große Adler hockte auf einer Stange an dem verschatteten Ende des Zeltes. Sein Kopf war bedeckt, und er quiekte leise. Der Hauptmann ging zu ihm hinüber und beruhigte ihn. Währenddessen schenkte ihm Toby noch etwas Wein ein. Ser Jehannes klopfte gegen den Pfosten des Hauptmannszeltes.

»Herein«, sagte der Hauptmann.

Ser Jehannes hatte Ser Thomas und Pampe bei sich, und Toby schenkte ihnen allen Wein ein. In der Ferne drosch Eichbank auf Mutwill Mordling ein, der daraufhin zu Boden ging. Der Hauptmann beobachtete es durch die offene Zeltklappe und schüttelte den Kopf.

»Es ist gut, zu Hause zu sein«, sagte er.

Jehannes hielt ihm eine lederne Mappe hin. »Ich dachte eigentlich, dass dies eine Nacht des Feierns werde«, sagte er. »Aber die Boten, die das hier gebracht haben, waren wie Schmeißfliegen auf Pferdemist, Mylord. Sie haben uns bedrängt, bis sie ihre Pflichten erledigt hatten«, sagte er und verzog dabei das Gesicht. »Das meiste ist für unseren hochwohlgeborenen Rekruten hier.« Er deutete auf Alcaeus. »Euer Onkel scheint finster entschlossen zu sein, eine Botschaft von Euch zu erhalten.«

»Ich bitte um Pardon«, sagte Alcaeus und erbrach das Siegel an der Röhre aus dunklem Holz. Währenddessen gab Jehannes dem Hauptmann eine elfenbeinerne Röhre. Der betrachtete das Siegel und schmunzelte.

»Die Königin, meine Herren.«

Sie alle tranken auf ihr Wohl. Sogar Pampe.

Er erbrach das Siegel, während Alcaeus noch las.

Dann blickte Alcaeus auf. »Mylord«, sagte er förmlich. »Die Lage hat sich verschlechtert. Ich muss im Namen des Kaisers darum bitten, dass wir unverzüglich abreisen.«

Der Hauptmann las noch die an ihn gerichtete Botschaft. »Entspannt Euch, meine Herren«, sagte er. »Heute Nacht reiten wir nirgendwohin.«

Alcaeus war so weiß wie ein Laken. »Der Kaiser wurde … entführt. Er wurde als Geisel genommen. Vor etwas mehr als einer Woche.«

Der Hauptmann hob den Blick und kratzte sich am Bart. »Nun gut, das ist wirklich ein Notfall. Tom?«

»Wir könnten in der Morgendämmerung losreiten.« Tom grinste. »Es wird doch nie langweilig.«

»Wir leben halt in bemerkenswerten Zeiten«, sagte der Hauptmann. »Nun sollten aber alle schlafen gehen. Wir werden schnell reiten. Darf ich annehmen, dass dies ein Teil der Schwierigkeiten ist, wegen denen uns Euer Onkel angeworben hat?«

Alcaeus schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt – oder ob er noch der Kaiser ist.«

Der Hauptmann nickte. »Also bei Anbruch der Morgendämmerung«, sagte er. »Wir werden uns alle nötigen Einzelheiten auf dem Weg beschaffen.«

Jehannes warf einen Blick auf das andere Pergament. »Und was schreibt die Königin?«

Der Hauptmann seufzte. »Eine Einladung zu einem Turnier«, sagte er. »Im Frühling.« Er lächelte und blickte in die Dunkelheit hinaus. »Aber jemand hat den Kaiser entführt, und wir werden zu seiner Rettung gerufen«, sagte er leise. »Ich glaube, dieses Turnier werden wir verpassen.«

Er schaute sich am Tisch um. »Erinnert Euch immer an diese Nacht, meine Freunde. Atmet die Luft ein, und genießt den Wein. Denn heute Nacht ist alles im Gleichgewicht. Ich spüre es.«

»Was ist los?«, fragte Pampe, hob eine Braue und sah Tom an, als wollte sie sagen: Ist er betrunken?

»Alles«, sagte der Hauptmann und lachte laut. »Alles.«