17
Lissen Carak · Der Rote Ritter
Die Tage vergingen.
Die Verwundeten waren geheilt und schliefen.
Die toten Männer und Frauen wurden beklagt und begraben.
Die Kreaturen der Wildnis wurden verbrannt, ihre Asche wurde über die Felder verteilt.
Nicht alle Mitglieder der Truppe des Hauptmanns waren gefallen. Einige Soldaten waren verwundet und geheilt worden. Ser Jehannes und Ser Milus hatten nicht an dem Angriff teilgenommen; Tom Schlimm und Pampe waren unversehrt geblieben, auch wenn sie beide mehr als dreißig Stunden schliefen, nachdem man ihnen die Rüstung ausgezogen hatte. Und die Bogenschützen lebten noch, ebenso wie viele der Diener und einige Knappen.
Der Hauptmann war schwer aufzufinden. Einige behaupteten, er sei betrunken, andere sagten, er befinde sich bei seiner hübschen Novizin, und wieder andere gaben an, er warte dem König oder den Rittern vom heiligen Thomas auf.
Nichts davon traf zu.
Der Hauptmann verbrachte einen großen Teil der Zeit mit Weinen, und dann begrub er die Toten seiner Truppe. Sie lagen in langen Reihen nebeneinander, von Meg und ihren Freundinnen, die nun still im leichten Regen dastanden, in weißes Leinen eingenäht. Dora Candleswain stand neben Kaitlin Lanthorn, und die Carter-Schwestern beobachteten ihren geretteten Bruder, der zusammen mit Daniel Favor in den Reihen der überlebenden Soldaten stand.
Nun erschienen die Ritter des heiligen Thomas im Regen. Der Prior schritt ihnen voran und las die Totenmesse. Tom Schlimm, Pampe, Ranald und der Hauptmann senkten die Leichname in die Gruben. Da waren Carlus der Schmied, im Tod kleiner, aber nicht leichter als im Leben, dann Lyliard, der nun nicht mehr der schönste Mann der Truppe war. Sie hatten Grabsteine erhalten, in die der achtstrahlige Stern des Ritterordens eingelassen worden war. Das galt zahlreichen der Männer und Frauen besonders viel – es war ein besseres Begräbnis, als es sich die meisten Söldner vorstellen konnten.
Insbesondere ein Leichnam machte dem Hauptmann zu schaffen. Er weinte für sie alle, und er weinte über seine eigenen Fehler und die Irrtümer der anderen und auch noch wegen tausend anderer Dinge – aber Jacques war die letzte Verbindung zu seiner Kindheit gewesen. Die war nun unwiderruflich dahin.
Deine Mutter lebt noch, Junge. Zählt sie etwa nicht?, fragte der alte Magus in seinen Gedanken.
»Könntest du bitte den Mund halten?«, murmelte der Hauptmann dem Eindringling in seinem Kopf zu.
Pampe sah ihn an, denn in der letzten Zeit redete er oft mit sich selbst. Überdies half sie Dora Candleswain in jeder Nacht, das Weinen zu überwinden. Sie war sehr empfindsam und spürte, wenn die anderen Männer und Frauen in der Truppe kurz vor dem Zusammenbruch standen oder ihn bereits erlitten hatten. Nicht alle Wunden bluteten.
Nun standen alle Überlebenden im leichten Nieselregen. Atcourt und Brewes ebenso wie Langpfote. Ser Alcaeus, der den roten Wappenrock trug und sich zu den Rittern gestellt hatte. Johne le Bailli. Bent. Ohnekopf. Ritter und Knappen und Bogenschützen und Diener, Männer und Frauen, Soldaten und Huren und Wäscherinnen und Bauernmädchen. Und alle sahen den Hauptmann an und warteten darauf, dass er etwas sagte.
Er war ein Narr, denn er hatte sich gar nicht vorbereitet. Aber das Verlangen der anderen war deutlich zu spüren – wie ein zwingender Zauber.
»Wir haben gewonnen«, sagte er. Seine junge Stimme klang so rau wie das Krächzen eines Raben. »Wir haben die Festung gegen die Macht der Wildnis gehalten. Aber keiner dieser Männer und Frauen ist für die Festung gestorben, oder?«
Er sah Jehannes an. Der ältere Mann erwiderte seinen Blick und nickte knapp.
»Sie sind für uns gestorben. Wir sterben füreinander. Draußen in der Welt lügen und betrügen sie einander, aber wir hier tun das nicht.« Zwar war er sich der Tatsache nur allzu deutlich bewusst, dass sie es manchmal doch taten. Aber auf Beerdigungen waren große Worte angebracht. Auch das wusste er. »Wir tun unser Bestes, um die Linie zu halten, damit der Mann neben uns überleben kann. Wir, die wir noch leben, wir verdanken unser Leben den Gestorbenen. Es hätte uns erwischen können. Aber es hat sie erwischt.« Ihm gelang ein Lächeln. »Niemand kann etwas Größeres tun, als sein Leben für das seiner Freunde hinzugeben. Jeden Schluck Wein, den ihr von jetzt an trinken werdet, jedes Liebesspiel, jedes Erwachen, jedes Einatmen der Frühlingsluft habt ihr jenen zu verdanken, die hier in der Erde liegen.« Sein Blick fiel auf das kleinste Bündel – Sym. »Sie sind als Helden gestorben – gleichgültig wie sie gelebt haben.« Er zuckte die Achseln und sah den Prior an. »Ich vermute, das ist theologisch nicht korrekt.« Er wollte noch mehr sagen, aber nun musste er weinen und kniete auf dem feuchten Erdhügel nieder, unter dem Jacques lag.
Der ihm so viele Male das Leben gerettet hatte.
»Jesus sagt: Ich bin der Weg und das Leben«, sagte der Prior mit ruhiger, dunkler Stimme.
Der Hauptmann verschloss die Ohren vor den Gebeten seiner Truppe.
Schließlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Es war eine leichte Berührung. Er musste nicht erst die Augen öffnen, um zu sehen, von wem sie ausging.
Er stand auf, da wich sie zurück und betrachtete lächelnd den Boden. »Das Knien könnte deinem Rücken schaden«, sagte sie.
»Willst du mich heiraten?«, fragte er. Sein Gesicht schmerzte vom vielen Weinen, aber er wusste, dass es ihr gleichgültig war, wie er aussah oder klang. Das war höchst bemerkenswert.
Sie lächelte. »Das sage ich dir morgen«, erwiderte sie leichthin. »Öffnest du dich mir?«, fragte sie, und er glaubte, eine ungeheure Anspannung in ihrer Stimme zu bemerken. Er schrieb es ihrer Erschöpfung zu und öffnete seine
Tür, und sie trat ein. Sie hielt Abstand zu Harmodius, zog den Roten Ritter durch seine eigene Tür hinaus auf das grüne Wunder ihrer Brücke – aber es war kein einfaches Grün mehr. Der Himmel dort oben war von goldenem Blau, und die Sonne schien in ungeheurer Pracht, und das Wasser, das unter der Brücke dahinrauschte, war so klar wie Diamanten, und die Gischt war so weiß wie die hellste Wolke. Die Blätter der Bäume waren grün und golden, und jeder Baum stand in Blüte. Es roch nach reinem Wasser und köstlicher Luft und nach jedem Blumenduft, den er je wahrgenommen oder sich auch nur vorgestellt hatte.
»Gütiger Gott«, sagte er unwillkürlich.
Sie sah ihn mit ihren leicht schräg stehenden Augen lächelnd an, fuhr mit den Händen über ihn, und ein Dutzend kleiner Knoten wurden geglättet, während sich der Klumpen in seiner Kehle auflöste.
»Ich bin nicht so anmaßend, dass ich deinen Kummer heilen wollte«, sagte sie.
Er ergriff ihre Hände. »Du heilst meinen Kummer doch bereits«, sagte er.
Sie lächelte, drückte ihre Lippen auf die seinen und schloss die Augen.
Nach einiger Zeit löste sie sich wieder von ihm. »Lebe wohl«, sagte sie.
»Bis morgen«, gab er zurück. »Ich … ich liebe dich.«
Sie lächelte. »Natürlich tust du das«, meinte sie, und nun klang ihre Stimme wieder vertrauter. Doch dann wurde sie abermals sanft. »Ich liebe dich auch«, sagte sie.
Sie ging in den Regen hinaus, und er sah ihr nach, bis das Grau ihres Umhangs mit dem Himmel und dem Stein und der Erde verschmolz.
Der Hauptmann stellte fest, dass seine Dienste dringend benötigt wurden. Er nahm einen Auftrag im Osten an und würde mit Ser Alceus bald bei den Moreanern arbeiten. Sie schlossen den Vertrag eine Woche nach dem Tag der Schlacht – nach einer Stunde lauten und scheinbar wütenden Verhandelns unter Zuhilfenahme mehrerer Becher Wein und mit einer warmherzigen Umarmung am Ende.
Dann ergriff er seinen Kommandostab, verließ das Zelt – die Truppe befand sich wieder in ihren Zelten auf der Ebene, damit der königliche Haushalt die Festung ganz für sich beanspruchen konnte – und bestieg eine hübsche Stute, die aus dem Osten kam und Meister Random gehört hatte. Keine Wunderheilung war imstande, sein teilweise aufgefressenes Bein wiederherzustellen, und so würde der Kaufmann noch einige Zeit das Bett hüten müssen. Daher war er erfreut gewesen, das Tier dem Hauptmann mit einem hübschen Gewinn verkaufen zu können.
Der Hauptmann ritt die vertraute Straße bis hinauf zum Haupttor. Königliche Gardisten hielten davor Wacht, und er salutierte vor ihnen. Sie erwiderten den Salut.
Er gab sein Pferd einem neu bestellten königlichen Knappen – der jüngere Sohn irgendeines Adligen – und stieg die Stufen zur Kommandantur hinauf. Sie war nicht länger sein Arbeitszimmer.
Der Prior befand sich gerade im Gebet.
Der Hauptmann wartete geduldig.
Schließlich erhob sich der Prior und band sich den Rosenkranz wieder um die Hüfte. Er lächelte.
»Euer Diener, Hauptmann.«
Der Hauptmann erwiderte das Lächeln, griff in seine Börse und zog zwei schwere vergoldete Bronzeschlüssel heraus. »Das sind die Schlüssel zur Festung und zur Brücke«, erklärte er. »Die Äbtissin hatte sie in meine Obhut gegeben. Ich überreiche sie Euch in Frieden und Triumph«, sagte er förmlich und fügte dann mit einem Lächeln hinzu: »Ihr schuldet mit eine erhebliche Summe Geldes.«
Der Prior nahm die Schlüssel an sich und ließ sich auf einem Stuhl nieder. Er bedeutete dem Hauptmann, sich auf den anderen ihm gegenüber zu setzen, und nun überfiel ihn ein sehr merkwürdiges Gefühl – als hätte er diesen Augenblick schon einmal erlebt, vielleicht von der anderen Seite des Tisches aus.
Der Prior nahm sein Schreibzeug, überprüfte die Spitze der Feder, tauchte sie in die Tinte ein und begann zu schreiben.
»Ihr könntet Euch nicht vorstellen, zu Gott zu kommen, mein Sohn? Und zu einem Ritter in meinem Orden zu werden?«, fragte er und hob kurz den Blick.
»Nein«, antwortete der Hauptmann.
Der Prior lächelte. »Ihr seid so stolz. Amicia hat mir gesagt, dass Ihr Gott als Euren Feind betrachtet.« Er schüttelte den Kopf.
»Amicia hat die Mitteilungen, die ihr gemacht wurden, falsch verstanden«, wandte der Hauptmann ein. Dann schüttelte er den Kopf. »Oder auch nicht. Euer Gott und ich, wir sind keine Freunde.«
»Ah«, meinte der Prior, schüttelte Sand über das Papier und blies es fort. Nachdem er ein wenig mit einer Kerze gekämpft hatte, gelang es ihm, schweres schwarzes Wachs auf das Dokument zu tröpfeln, in das er das große Siegel des Rings drückte, den er am Daumen trug. »Eure Verteidigung der Festung werden meine Ritter niemals vergessen.« Er zuckte die Achseln. »Sogar außerhalb dieser Mauern sagen die Leute, der König habe die Schlacht gewonnen und die Wildnis besiegt.« Er gab dem Hauptmann das Pergament. »Mein Gott liebt Euch und auch jedes andere lebende Wesen, Hauptmann. Mein Gott liebt den Kranken, den Blinden, den Leprosen, den Unsauberen – den Irk, den Kobold und die Hexe.«
Der Hauptmann blickte auf die Summe, die ihm die Kirche auszahlen würde – und die er sich überall auszahlen lassen konnte –, und nickte. Er grinste sogar.
»Das ist mehr, als mir aufgrund des Vertrages zusteht«, sagte er.
»Ich vermute, Euer Vertrag sah zusätzliche Zahlungen für den Verlust von Menschen und Pferden sowie den üblichen Zuschlag für einen Sieg vor«, sagte der Prior.
Der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ich hatte keine Ahnung, auf was ich mich da einlasse.«
Der Prior nickte. »Ich weiß nicht, welche Schwierigkeiten Ihr mit meinem Gott habt«, fuhr er fort, »aber ich werde es nicht zulassen, dass Ihr auch die Undankbarkeit auf die Liste seiner angeblichen Unzulänglichkeiten setzt. Ohne Euch und das Opfer Eurer Truppe wäre dieser Ort verloren gewesen, und darunter hätte die gesamte Menschheit gelitten.«
Der Hauptmann stand auf und verneigte sich. »Ihr erweist mir eine zu große Ehre. Was meine Truppe angeht …« Ihm versagte die Stimme. Als er sich wieder gefangen hatte, fuhr er fort: »Ich werde neue Soldaten rekrutieren.«
»Ich vermute, das wird leicht sein«, erwiderte der Prior. »Hört mir zu, junger Mann. Ihr habt Interessen, die weit über das Alltägliche hinausgehen. Ihr wollt Euch nicht zu Gott hinwenden. Dann sei es eben so. Aber Ihr besitzt doch ein Hirn, und zwar ein gutes. Haben wir hier wirklich gewonnen?«
Diese Frage hatte der Hauptmann nicht erwartet. Mit seiner Bezahlung in der Hand blieb er in der Tür stehen.
Der Prior erhob sich und goss zwei Becher Wein ein. »Setzt Euch wieder.«
Er gehorchte und nahm einen Schluck. »Nein?«
Der Prior schüttelte den Kopf. »Natürlich haben wir gewonnen. Wenn wir verloren hätten, wäre der König jetzt tot, die albische Grenze würde südlich von Albinkirk verlaufen, und die königliche Armee wäre zerschlagen.« Er bekreuzigte sich. »Aber andererseits haben wir doch nicht gewonnen, oder?«
»Thorn hat jedes Haus und jede Scheune von hier bis Albinkirk niedergebrannt«, sagte der Hauptmann. »Er hat die Bevölkerung schwer getroffen.«
Der Prior nickte.
»Die meisten Überlebenden werden von hier fortgehen. Nach Süden.« Der Hauptmann trank noch einen Schluck Wein. »Ich vermute, das ist auch der Grund, warum es an der Mauer keine Kämpfe gab. Thorn hatte nie vorgehabt, dort zu kämpfen. Er ist tief in …«
»Nennt seinen Namen nicht«, sagte der Prior. »Er lebt noch und leckt seine Wunden.«
»Er lebt noch, und da draußen ist lediglich die diesjährige Ernte an Kobolden umgekommen«, sagte der Hauptmann verbittert. »Sowie sechzehn Trolle, ein Dutzend Lindwürmer und einige Dämonen.« Er rieb sich den Bart. »Wir verlieren diesen Krieg, wenn wir die Verhältnisse betrachten.«
»Wir verlieren. Punkt«, sagte der Prior. »In unserem Orden besitzen wir Aufzeichnungen, die sechshundert Jahre zurückreichen. Diesen Krieg gewinnen wir nicht.« Er zuckte die Achseln. »Wenn die Wildnis nicht so uneins mit sich selbst wäre, hätte sie uns schon vor tausend Jahren überrennen können.«
In seinem Kopf sagte Harmodius: Genau. Wer hätte geahnt, dass der Prior ein verwandter Geist ist?
»Was können wir denn tun?«, fragte der Hauptmann.
Der Prior beugte sich vor. »Wenigstens seid Ihr interessiert. Wohin führt Euch Euer nächster Vertrag?«
Der Hauptmann lehnte sich zurück »Nach Morea. Eine Rebellion und ein verrückt gewordener Magus.« Er sah aus dem Fenster. »Was werdet Ihr mit diesem Ort hier tun?«
»Ich werde für eine Weile Truppen hier stationieren. Ich gehe nicht gern von hier weg. Ich werde allen Familien, die dableiben und die Gehöfte wieder aufbauen, eine Entschädigung und die Befreiung vom Zehnten gewähren. Und auch ich werde rekrutieren. Südlich des Flusses gibt es bestimmt zweitgeborene Söhne, die nach Ackerland Ausschau halten. Ich werde sie herbringen.«
»Das wird ein Vermögen kosten«, wandte der Hauptmann ein.
»Mir steht ein Vermögen zur Verfügung«, entgegnete der Prior und beugte sich vor. »Und Ihr habt die Macht.«
Der Hauptmann zuckte die Achseln.
Der Prior schüttelte den Kopf. »Eure Macht kommt aus der Wildnis. Ich habe es gesehen.«
Abermals zuckte der Hauptmann die Achseln.
Nun nickte der Prior. »Also gut. Aber wenn Ihr jemals darüber reden wollt, solltet Ihr wissen, dass viele Ritter unseres Ordens die Wildnis kennen. Wir wissen mehr darüber, als Ihr Euch vorstellen könnt.«
Der Hauptmann trank den Rest seines Weins, stand auf, wurde vom Prior umarmt und hielt still, als ihn der Mann segnete.
»Wollt Ihr mir nicht sagen, warum Ihr Gott den Rücken zugekehrt habt?«, fragte der Prior.
Der Hauptmann sah ihn an, lächelte und schüttelte den Kopf. »Ihr habt mir angeboten, mich zu einem Ritter Eures Ordens zu machen …«, sagte er.
»Dieses Angebot besteht weiterhin«, sagte der Prior.
»Das weiß ich sehr zu schätzen«, erwiderte der Hauptmann.
»Euer Bruder hat mir ebenfalls eine Absage erteilt«, bemerkte der Prior.
Der Hauptmann nickte. »Gawin reitet mit mir nach Osten«, sagte er.
Er verließ die Kommandantur und stieg die steinernen Stufen hinunter. Ein Diener mit de Vraillys Wappen auf dem Umhang stand am Fuß der Treppe und hielt die Zügel eines wundervollen Schlachtrosses, das gewaltig wirkte und so grau wie Stahl aussah. Der Hauptmann verspürte nicht die geringste Notwendigkeit, sich vom König zu verabschieden. Oder von der Königin. Und auch nicht von ihrem neuen Favoriten, dem Captal de Ruth, der schon als der Sieger von Lissen bekannt war.
Stattdessen begab er sich zum Krankensaal, stieg die Treppe dorthin hinauf und trat an Meister Randoms Bettstelle. Drei örtliche Bauern und Meister Johne le Bailli befanden sich bei ihm.
»Einen Augenblick, gute Herren!«, rief Meister Random. »Dieser würdige Ritter hier hat das Vorrecht auf meine Zeit. Verdammt sei mein Fuß«, sagte er, als er versuchte, sich im Bett umzudrehen. »Wie kann etwas, das gar nicht mehr da ist, so wehtun?«
Der Hauptmann umarmte den Händler. »Ihr seht besser aus.«
»Es geht mir auch wirklich besser, mein Freund. Diese wundervolle junge Dame hat ihren Geist in mich eingegossen, und ich fühle mich nun um zwanzig Jahre jünger.« In seinen Augen glitzerte es. »Auch wenn meine gute Frau sagen würde, dass das nur dem Geschäft zuzuschreiben ist, das ich soeben mit diesen ehrenwerten Herren abgeschlossen habe.«
Der Hauptmann sah die Männer an. Meister Johne hatte sich sehr gut gegen den Feind geschlagen, und jeder anwesende Bauer hatte einen Speer oder eine Axt geführt. Der Hauptmann kannte ihre Namen: Raimond, Jacques, Ben Carter und der junge Bartholomew Lanthorn, der ein Schurke, aber auch ein erfolgreicher Bauer war.
»Er hat die ganze Getreideernte gekauft«, erklärte Johne le Bailli und grinste.
Der Hauptmann sah sich um. »Natürlich – sie ist in den Kellergewölben eingelagert.«
»Alles wurde ein wenig durcheinander gebracht«, bemerkte Random. »Aber Getreide ist Getreide, und der Bedarf flussabwärts – der Preis, wenn sie dort von dieser Schlacht und dem Niederbrennen der Gehöfte erfahren …«
»Wie wollt Ihr sie transportieren?«, fragte der Hauptmann aus Höflichkeit.
»Mit Booten!«, antwortete Random. »Alle Boote, die die Königin hergebracht haben, gehören inzwischen mir.«
Der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Das ist ein gelungener Schachzug, mein Freund. Er wird Euch sehr reich machen.«
»Es wird meine Verluste ausgleichen, und vielleicht bleibt sogar etwas übrig«, meinte Meister Random mit einem Lächeln. »Kommt, und trinkt mit mir.«
»Darf ich selbst etwas Geschäftliches mit Euch besprechen?«, fragte der Hauptmann.
Random nickte. »Für Geschäfte habe ich immer ein offenes Ohr.«
Der Hauptmann zog das Pergament, das er von dem Prior erhalten hatte, aus der Brusttasche seines Wamses. »Ihr tätigt doch auch Bankgeschäfte, nicht wahr?«
»Nicht von dem Umfang der etruskischen Banken, aber ich tue mein … Gütiger Gott!«, sagte er und sah den Hauptmann eindringlich an, nachdem er einen Blick auf das Pergament geworfen hatte.
»Ich möchte in Euch investieren«, sagte dieser. »Ich muss ein paar Auszahlungen vornehmen und einige Pferde kaufen, aber drei Viertel dieser Summe kann ich Euch für mindestens ein Jahr zur Verfügung stellen.«
Der Hauptmann trank mit den Männern einen Becher Wein, umarmte alle, die an dem Geschäft beteiligt waren, und sah le Bailli an. Der Mann nickte.
Dann ging er durch den Krankensaal auf das Bett zu, in dem sein Bruder lag und las. Er hatte die Beine hochgelegt, war aber vollständig angezogen, und seine Ausrüstung lag in Weidenkörben neben seinem Bett. »Sie ist nicht hier«, sagte er. »Tu nicht so, als wärest du nur gekommen, um mich zu besuchen.«
»Dann also nicht«, erwiderte der Hauptmann. »Wo ist sie?«
Gawin zuckte mit den Schultern. »Ich muss weg von hier, Gabriel. Ich werde den Ausländer umbringen, wenn ich noch länger hierbleibe.«
»Ich werde ein weiteres Bett in meinem Zelt aufstellen lassen. Morgen reiten wir los.« Er wandte sich um. »Wo ist sie, Gawin?«
Gawin sah seinem Bruder in die Augen. »Ich würde es dir sagen, wenn ich es wüsste«, meinte er.
Ihre Blicke hafteten aneinander, und Gawin machte eine Bewegung mit dem Finger. Die Gestalt einer Frau zeichnete sich hinter dem Vorhang des Fensters zum Hof ab.
Der Hauptmann hob eine Braue.
»Er ist nicht der Feind, Mary«, sagte Gawin, und die Hofdame der Königin trat hervor. Sie war errötet.
»Du vertreibst dir die Zeit mit anderem«, sagte der Hauptmann.
Gawin lachte. »Ich weiß wirklich nicht, wo sie ist«, gab er zu.
Der Hauptmann drehte sich um, winkte ihm noch einmal zu und verließ den Krankensaal. Er ging kurz in der Apotheke vorbei, und dann stieg er die Treppe zum Dormitorium hoch. Niemand hatte sie gesehen. Das Lächeln, das er stets hervorrief, schmerzte ihn.
Schließlich traf er im Hof auf Schwester Miram. Sie lächelte ihn ebenfalls an, nahm ihn bei der Hand und führte ihn zu ihrer Zelle in der Kapelle. »Ihr geht fort«, sagte sie und schenkte ihm Wein ein.
Er versuchte den Wein abzulehnen, aber sie war eine gebieterische Frau, auch wenn sie sehr freundlich war, und ihr Schweigen schüchterte ihn ein. Sie wartete ab. Schließlich trank er. »Morgen.«
»Morgen werden wir das Fest der Maria Magdalena feiern«, sagte sie und lächelte erneut. »Wir werden die alte Äbtissin beerdigen.« Schwester Miram schaute auf ihre Hände. »Ich werde zur neuen Äbtissin ernannt werden.«
»Herzlichen Glückwunsch«, meinte der Hauptmann.
»Es wird darüber geredet, dass der ganze Konvent nach Harndon im Süden umziehen soll«, sagte Schwester Miram und sah dem Hauptmann fest in die Augen. »Das will ich aber nicht.«
Der Hauptmann nickte.
»Morgen werden wir auch die ewigen Gelübde der Novizinnen entgegennehmen«, fügte sie hinzu.
Eis bildete sich im Magen des Hauptmanns.
»Im Augenblick führt sie die Vigil durch«, sagte die Schwester. »Trinkt Euren Wein, Hauptmann. Niemand hat sie dazu gezwungen.«
Der Hauptmann holte tief Luft.
»Wir haben Euch so vieles zu verdanken«, sagte Schwester Miram. »Glaubt Ihr etwa, das wüssten wir nicht? Aber sie ist nicht für Euch bestimmt, Hauptmann. Sie wird zu einer Braut Christi werden – das ist ihr Wille.« Sie erhob sich, trat zu ihrem Betpult und zog ein gefaltetes Blatt Pergament heraus. »Dies hier hat sie für Euch bestimmt. Falls Ihr herkommen solltet.«
Der Hauptmann nahm es mit einer Verbeugung entgegen. »Stets Euer Diener, ma sœur. Darf ich meine Glückwünsche zu Eurer Amtserhebung ausdrücken und meine …« Er hielt inne. Und schluckte. »Ich werde der Abtei eine Schenkung machen. Bitte übermittelt Schwester Amicia meine Glückwünsche und meine besten Empfehlungen.«
Irgendwie erreichte er den Hof.
Toby hielt sein Pferd bereit.
Der Hauptmann ergriff die Zügel, schwang sich in den Sattel und war sich mit dem Teil seiner selbst, der stets hellwach war, nur allzu deutlich bewusst, dass er ein Ritter war und die Hälfte der Ritterschaft Albias ihn beobachtete.
Er ritt den Hang zu seinem Lager hinunter. Beim Wachtfeuer hielt er an.
Sei kein Narr. Lies es.
Der Rote Ritter holte das Pergament hervor und warf es ungelesen ins Feuer.
Du Dummkopf.
Michael saß in seinem Zelt. Er sprang auf die Beine und fühlte sich offenbar aus irgendeinem Grunde schuldig. »Meister Ranald wartet auf Euch«, sagte er. »Ich habe ihm ein wenig die Zeit vertrieben.«
Ranald Lachlan saß mit einem Becher Bier da, und sein Bruder Tom hockte mit einem weiteren Bier in der Hand auf der anderen Seite des Hauptmannstisches, auf dem Würfel und Karten lagen.
»Es wäre eine Schande, wenn er jetzt nicht mehr weiterspielen dürfte«, sagte Tom. »Vor allem da ich ihm gerade sein ganzes Geld abnehme«, fügte er noch hinzu.
»Ich bin sehr froh, dass ihr beide eine so gute Verwendung für mein Zelt und meinen Tisch gefunden habt«, fuhr der Hauptmann sie an.
Tom hob eine Braue. »Der Knabe hat Euch etwas zu sagen«, meinte er.
Ranald stand auf. »Ich … muss eine Menge Geld machen«, sagte er. »Ich habe mich gefragt, ob Ihr mich als Soldat unter Vertrag nehmen würdet.« Er wirkte verlegen wegen dieser Frage.
»Ich dachte, der König hätte dich zum Ritter geschlagen«, erwiderte der Hauptmann.
Ranald zuckte mit den Schultern.
»Also gut«, sagte der Hauptmann. Er setzte sich und schenkte sich Wein ein. »Und jetzt gebt ihr mir ein Blatt aus.«
»Als Erstes muss ich dem Wyrm von Erch einen Besuch abstatten«, sagte Ranald.
Der Hauptmann hätte sich beinahe an seinem Wein verschluckt. »Dem Wyrm?«
»Unserem Lehnsherrn in den Bergen; so nennen wir ihn«, sagte Ranald. Tom nickte.
Der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht.« Er runzelte die Stirn. »Vielleicht weil ich betrunken bin.«
Tom zuckte mit den Achseln. »Die Art der Berge ist einfacher zu verstehen, wenn man betrunken ist. Es ist so, Mylord: Der Wyrm garantiert uns Frieden für den Zehnten unserer Herden. So ist es schon seit mehr als zwanzig Generationen. Diese Hinterwaller, die Hector getötet haben – die Sossag –, haben einer Macht der Wildnis gedient, die Thorn genannt wird. Stimmt’s?«
»Sprich seinen Namen nicht aus. Aber ja, es stimmt.« Der Hauptmann trank.
»So nenne ich ihn, und wenn ich ihn erwische, dann reiße ich ihm die Gedärme heraus«, sagte Tom. »Klar?«
»Vollkommen klar«, meinte der Hauptmann. »Sprich weiter.«
»Der Wyrm schuldet uns einiges für unsere Verluste«, sagte Ranald.
Der Hauptmann lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Ich bin nicht betrunken genug, um das zu glauben«, sagte er.
Tom und Ranald saßen mit ausdrucksloser Miene da.
Der Hauptmann trank seinen Becher leer. Michael goss ihm nach, und er wandte nichts dagegen ein. Dann sagte er: »Sie wird die Ordensgelübde ablegen, Tom.«
Tom zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen, dass doch alle Frauen gleich seien. »Dann solltet Ihr Euch besser eine andere suchen«, meinte er. Und als ob der Zusammenbruch aller Hoffnungen des Hauptmanns nicht das Wichtigste auf der ganzen Welt wäre, fügte er außerdem hinzu: »Wir bitten um Urlaub, damit wir den Wyrm aufsuchen können.«
Der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Ich habe eine bessere Idee«, sagte er. »Wir gehen alle zu ihm.«
Ranald sah zuerst ihn und dann seinen Bruder an und hob eine Braue.
»Ich liebe ihn«, sagte Tom zu seinem Bruder. »Er ist so verrückt wie eine Natter.«
Ranald grinste. »Dann wird also die ganze Truppe losziehen?«
Ja. Das ist ungeheuer wichtig.
Plötzlich verspürte der Hauptmann einen durchdringenden Schmerz zwischen den Augen.
Sei still. Du bist nur ein Gast.
Du betrinkst dich, weil du von einer Frau verschmäht wurdest. Wie romantisch von dir. Allerdings wäre es möglich, dass sie in ihrer Nachricht ihre unsterbliche Liebe zu dir und ihre Bereitschaft ausgedrückt hat, heute Nacht mit dir wegzulaufen und einer Zukunft als Hure eines Söldnerhauptmanns freudig ins Gesicht zu sehen. Hm? Aber du hast das Pergament verbrannt, darum wirst du es niemals erfahren. Die Jugend ist an die Jungen verschwendet.
Halt den Mund. Hau ab.
Hör mir zu, junger Mann. Der Prior hat recht; die Menschheit verliert. Aber er hat auch unrecht, was ich dir gern beweisen will. Die Welt ist nicht so, wie ich geglaubt habe, dass sie sei. Und dein Wunsch, zum Wyrm zu gehen, ist das Beste, was ich je von dir gehört habe. Du musst den Wyrm aufsuchen. Der Einsatz bei diesem Spiel ist ungeheuer hoch. Das Ergebnis einer Niederlage wäre die vollkommene Auslöschung – der Tod unserer Art. Dein Geplänkel mit einer Novizin – wenn auch mit einer, die die Macht im höchsten Maße besitzt – ist da wohl nicht ganz so wichtig.
Der Hauptmann nahm den Kopf zwischen die Hände.
Tom grinste ihn an. »Ihr seid betrunken, Mylord.«
Der Hauptmann hielt Ausschau nach Jacques, aber der war ja tot. Das letzte Stück seines alten Lebens … der letzte Mensch, der ihn verbunden hatte mit …
Ich bin praktischerweise schon tot, Prinz Gabriel.
Der Hauptmann holte tief Luft. »Ich habe Kopfschmerzen«, sagte er. »Ich finde es ungerecht, dass ich den Kater schon spüre, bevor ich mit dem Trinken fertig bin.«
Michael beugte sich vor und goss ihm weiteren Wein ein.
Ser Jehannes kam mit Ser Milus herein; beide waren ebenfalls betrunken. Sie sangen »Grün blühen die Binsen« und hatten die Arme um Pampe gelegt, die die beiden zu tragen schien.
Drei, drei, die lilienweißen Jungs, gekleidet ganz in Grün, oh.
Zwei zwei die Nebenbuhler.
Und einer ist einer und ganz allein und wird er immer sein, oh.
Ihr Versuch eines Duetts war fast genauso schrecklich wie ein Koboldangriff.
Tom lachte los.
Jehannes schenkte sich einen Becher Wein ein, setzte sich auf einen Schemel und hob den Becher. »Auf abwesende Freunde«, sagte er.
Tom hörte auf zu lachen und erhob sich, wie die anderen auch. »Sieg und Niederlage sind was für Anfänger«, sagte Tom. »Für uns gibt es nur Leben oder Tod.«
Alle hoben die Becher und tranken darauf. »Auf abwesende Freunde«, sangen sie, einer nach dem anderen.
Der Hauptmann stellte seinen Becher vorsichtig auf dem Tisch ab, denn dieser schien weit entfernt zu sein und sich zu bewegen, und er stützte sich auf der Platte ab, damit er nicht umkippte. »Morgen werden sie die alte Äbtissin beerdigen«, sagte er. »Ich möchte, dass jeder Mann und jede Frau in ihren besten Sachen an dieser Zeremonie teilnehmen. Aber vorher wird das Lager abgebaut und alles zum Abmarsch bereit gemacht.«
Seine Korporäle nickten.
»Der Prior hat mich heute bezahlt«, fuhr er fort. »Er hat uns einen Erfolgsbonus und eine Entschädigung für die Pferde gegeben, die wir verloren haben. Ein hübsches Sümmchen. Ich habe es angelegt. Keiner von euch muss mehr für den Lebensunterhalt kämpfen. Der Anteil eines jeden von euch beträgt hundert Goldnoble oder sogar mehr. Das reicht, um sich in den Ritterstand einzukaufen.«
Jehannes zuckte mit den Achseln.
Tom grinste.
Pampe sah weg.
Michael lachte.
Ranald lächelte. »Ich wünschte, das würde mir gehören«, sagte er.
»Das wird es«, erwiderte der Hauptmann. »Wir haben einen neuen Auftrag, und ich beabsichtige, ihn so schnell wie möglich zu erfüllen.« Nun fühlte er sich ein wenig besser. »Pampe, komm her.«
Sie trug eine alte Hose und ein gut geschnittenes Männerwams, das ihrer Figur genauso schmeichelte wie ein Rock. Sie sah ihn lüstern an. »Jederzeit, Hauptmann«, sagte sie mit einem Funken ihrer alten Frechheit.
»Knie dich hin«, sagte der Hauptmann und streckte die Hand nach Michael aus.
Michael reichte ihm sein Kriegsschwert.
Pampe gehorchte. Doch als ihr die Doppeldeutigkeit des Befehls bewusst wurde, zögerte sie.
Tom nickte. »Mach weiter.«
Der Hauptmann hob das Schwert. »Kraft der mir verliehenen Ritterwürde und kraft meiner Geburt schlage ich dich hiermit zum Ritter.« Er sprach die Worte klar und deutlich aus. Sein Schwert legte sich schwer auf ihre Schultern.
Sie brach in Tränen aus.
Tom versetzte ihr einen recht heftigen Klaps auf den Rücken. »Das soll der letzte Schlag sein, den du empfängst, ohne Vergeltung üben zu müssen«, sagte er und grinste.
»Michael, knie nieder«, befahl der Hauptmann.
Michael fiel auf die Knie.
»Kraft der mir verliehenen Ritterwürde und kraft meiner Geburt schlage ich dich hiermit zum Ritter«, sagte der Hauptmann.
Jetzt erhielt auch Michael von Tom einen Schlag. Er taumelte auf den Absätzen zurück und grinste.
Der Hauptmann nahm seinen Weinbecher vom Tisch. »Das hatte ich eigentlich schon auf dem Schlachtfeld vorgehabt«, sagte er und zuckte die Achseln. »Aber wir waren zu beschäftigt.«
Michael stand auf. »Jetzt bin ich also ein Ritter?«, lachte er. »Ein richtiger Ritter und kein Knappe mehr?« Er lachte noch einmal.
»Ich brauche einen neuen Knappen«, erklärte der Hauptmann.
Pampe weinte noch immer. »Ist das wirklich wahr?«, fragte sie.
Tom legte ihr den Arm um die Schulter. »Natürlich ist es das, Mädchen. Mit so was würde er niemals spaßen.«
Der Hauptmann lehnte sich zurück. »Wir brauchen zwanzig neue Kämpfer, wir brauchen genauso viele Knappen, dazu ein Dutzend Diener und einige Bogenschützen. Mein Bruder Gawin ist ein guter Kämpfer. Johne le Bailli ist auch einer. Beide haben ihre eigene Rüstung und werden mit uns reiten. Ser Alcaeus, der unseren neuen Vertrag ausgehandelt hat, wird sich ebenfalls zu uns gesellen. Haben wir Aussicht auf noch weitere Kämpfer?«
Jehannes nickte. »Ein halbes Dutzend jüngerer Söhne sind bereit, ihren Vertrag zu unterzeichnen – alle besitzen eine Rüstung und ein Pferd.«
Ranald zuckte die Achseln. »Bei meinen Jungs ist es genauso«, sagte er. »Wir haben keine andere Beschäftigung, zumindest nicht für den Rest des Jahres.«
Tom beugte sich vor. »Daniel Favor ist der beste Kämpfer, den ich je gesehen habe. Er hat mir schon versprochen, zu uns zu kommen. Und auch die beiden Lanthorn-Jungen, aber die sind gefährlich. Mörderisch.« Er grinste. »Bogenschützen.«
Jehannes nickte. »Ich habe es ausgerechnet«, sagte er. »Wenn wir einen Soldaten, einen Knappen, einen Diener und zwei Bogenschützen zu je einer Lanze schicken, dann haben wir wieder eine vollständige Truppe.« Er sah den Hauptmann an. »Auch Gelfred sollte gerüstet werden.«
Der Hauptmann nickte. »Wir könnten zwanzig weitere Lanzen gebrauchen«, sagte er. »Ich habe den Vertrag für vierzig geschlossen, doch wir haben nur zwanzig, oder?« Unter Mühen stand er auf; alles drehte sich vor seinen Augen. »Morgen Abend werden wir wieder auf der Straße sein, und das bedeutet: nicht mehr so viel Wein!« Er hob seinen Becher. »Auf die Truppe!«
Alle tranken.
»Da dies hier mein Zelt ist, werde ich jetzt zu Bett gehen«, sagte er und deutete auf die Zeltklappe.
Einer nach dem anderen duckten sie sich unter ihr hinweg und traten nach draußen, bis nur noch Michael und Pampe da waren – anscheinend wollte jeder von beiden, dass der andere zuerst ging. Schließlich sagte Michael: »Kann ich Euch helfen, Mylord? Dafür bin ich mir noch nicht zu fein.« Er lachte.
»Ich vermute, du besitzt schon ein hübsches Paar massiver goldener Sporen, die an deine Absätze passen, und morgen früh wirst du sie tragen«, sagte der Hauptmann und klopfte ihm auf die Schulter. »Schick mir den jungen Toby.«
Michael lächelte. »Danke«, sagte er. »Ich …«
Der Hauptmann brachte ihn mit einer knappen Handbewegung zum Schweigen, und Michael verneigte sich tief und ging.
Nun war nur noch Pampe da.
»Gute Nacht, Pampe«, sagte der Hauptmann. Er vermied ihre Umarmung. »Gute Nacht.«
Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Ihr braucht mich.«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich bin nicht vernarrt in Euch, Hauptmann.« Sie lächelte ihn aufmunternd an.
»Gute Nacht, Pampe.«
Sie gab ein grunzendes Geräusch von sich.
»Ich habe dich gerade zum Ritter geschlagen«, sagte er. »Spiel jetzt nicht die beleidigte Frau.« Obwohl er betrunken war, sah er, dass seine Zurückweisung sie schmerzte. Er hob die Hand; es fiel ihm schwer. »Warte«, sagte er, taumelte durch den Vorhang zum Bett, wühlte in seiner Truhe herum und fand seine anderen Sporen. Es waren diejenigen aus massivem Gold, die seine Mutter ihm gegeben, die er aber nie getragen hatte.
Er kam zurück. »Die hier sind für dich.«
Sie ergriff die Sporen. Und erkannte, dass sie aus massivem Gold bestanden. »Oh, Mylord …«
»Hinaus mit dir!«, sagte er.
Sie seufzte, ging aus dem Zelt, schwenkte dabei die Hüften und streifte an Toby vorbei, der gerade hereinkam und dem Hauptmann schweigend beim Ausziehen half.
»Wie alt bist du, Toby?«, fragte er.
»Ungefähr zwölf, Mylord. Oder vielleicht schon dreizehn?«, fragte er sich.
Der Hauptmann legte sich auf die sauberen Leinenlaken. »Wärest du gern ein Knappe, Toby?«, fragte er.
Er überlebte die Bekundungen von unbändiger Freude und ewiger Treue und winkte den Jungen davon. Als er den Kopf auf das Kissen legte, drehte sich das Zelt. Also stellte er einen Fuß auf den Boden. Er versuchte nicht mehr zu schlafen, setzte sich auf und trank einen Schluck Wasser.
Seine Kopfschmerzen waren zurückgekehrt.
Er stellte sich vor die Wasserschüssel und starrte in die Finsternis.
Du bringst sie dazu, dass sie dich lieben, und dann kannst du die Energie nicht aufbringen, die sie verlangen, sagte die Stimme.
Er seufzte, legte sich wieder hin und schlief schließlich doch ein.
Für den Anlass, der den König, die Königin, den Prior und unzählige Adlige zusammengeführt hatte – beinahe den gesamten Adelsstand Albias –, war die Kapelle prächtig geschmückt worden.
Nicht genug Platz für alle war vorhanden. Die Kapelle war für sechzig Nonnen, ebenso viele Novizinnen und etwa hundert weitere Beter errichtet worden.
Am Ende wurde der Gottesdienst in der Kapelle abgehalten, aber nur einige Auserwählte waren anwesend. Der Rest wartete im Hof, und dort wurde ihnen die heilige Kommunion gereicht. Alles war gut eingerichtet, und trotz der Traurigkeit des Anlasses herrschte eine feierliche Stimmung. Der Hof war zum Bersten voll, und in Samt gekleidete Edelherren standen Schulter an Schulter mit Bauern und Bauersfrauen.
Der Prior und die neue Äbtissin hatten die Plätze sehr umsichtig angewiesen. Nur die bedeutendsten Lords befanden sich in der Kapelle. Der König und die Königin saßen auf Thronen. Rechts neben dem König stand der Captal de Ruth; neben der Königin hatten sich Lady Almspend und Lady Mary platziert. Der Graf der Grenzmarken stand neben dem Comte d’Eu; der Graf von Towbray neben Ser Alcaeus, genau wie Basileus, der Botschafter des Kaisers. Und neben diesem stand der Hauptmann.
Der Prior las die Messe, während tausend Kerzen aus Bienenwachs brannten.
Es war grausam heiß.
Draußen im Hof stand die Truppe in voller Rüstung – vier Reihen hintereinander. Bei ihnen befanden sich aufgrund der seltsamen Anordnung des Priors die überlebenden Ritter der Orden in ihren schwarzen Umhängen. Meg war in der Nähe bei den Frauen der Truppe. Ihr Zuhause existierte nicht mehr, und Johne le Bailli hatte ihr einen Antrag gemacht.
Der Prior predigte über Maria Magdalena. Er sprach über Sünde und Vergebung, über den Glauben, die Hoffnung und die Nächstenliebe, und die Nonnen trugen die Bahre herbei, auf der die Äbtissin lag. Als ihr Leichnam in die Kapelle geleitet wurde, sank die Temperatur, und ein Duft wie nach Lilien kam durch die Tür hereingeweht.
Der Hauptmann sah sie an und weinte.
Der Captal de Ruth sah ihn an und hob eine Braue.
Die Königin legte die Hand auf den Arm des Captal.
Der Hauptmann hob den Blick – damit überraschte er sich selbst – und stellte fest, dass er Aug in Auge mit Amicia stand. Sie nahm den äußeren Chorsitz auf der rechten Seite ein, in der Nähe der Altarschranke; neben ihr standen sechs weitere Frauen in Weiß und Grau. Zweifellos hatte sie ihn weinen gesehen.
Und nun blieben ihre Augen auf ihn gerichtet.
Sie klopfte an der Tür.
Er ließ sie geschlossen.
Allein ist allein, und ewig wird es so sein.
Der Gottesdienst dauerte zu lange.
Als die Novizinnen ihre ewigen Gelübde abgelegt hatten und die neue Äbtissin feierlich in ihr Amt eingeführt worden war – und als über die alte Äbtissin die letzten Worte gesprochen worden waren –, erhob sich die gesamte Kongregation von den Knien und ging in einer Prozession aus der Kapelle, durch das Tor und hinaus auf die Ebene. Die Truppe diente zusammen mit den Ordensrittern als Wächter der Bahre. Es war eine deutliche Ehre, die ihnen vom Prior verliehen worden war.
Langsam wurde sie von sechs Rittern in die frisch ausgehobene Erde hinabgesenkt.
Der Prior warf eine Schaufel Erde auf sie.
Der Hauptmann stellte fest, dass er in seine ganz eigene Welt abgeschweift war, als er plötzlich bemerkte, dass der König vor ihm stand.
»Ich schulde Euch meine Dankbarkeit«, sagte der König. »Ihr seid nicht leicht zu finden.«
Der Hauptmann zuckte die Achseln. »Stets Euer Diener, Mylord«, sagte er abweisend.
Zwar war der König von der Grobheit des Söldners schockiert, aber er bezwang sich. »Die Königin möchte Eure Truppe sehen. Wir wissen, welche Opfer Ihr unserem Reich gebracht habt.«
»Oh, was das angeht, so wurden wir bereits gut bezahlt«, sagte der Hauptmann. Aber dann drehte er sich um und führte den König sowie die Königin und die kleine Schar ihrer Höflinge durch die Reihen seiner Truppe.
Die ersten Männer, auf die sie trafen, waren Tom Schlimm und sein Bruder. Der König grinste. »Ranald!«, sagte er. »Ich dachte, du seiest zu meiner Garde zurückgekehrt?« Er lachte. »Aber ich sehe, dass die Farbe deines Wappenrocks dieselbe geblieben ist.«
Ranald blickte starr geradeaus. »Es geht nur ums Geschäft«, sagte er ernsthaft. »Mylord.«
»Aber das hier ist doch eine Frau, oder?«, bemerkte die Königin, die bereits einige Schritte weiter gegangen war.
»Ser Alison«, erklärte der Hauptmann. »Ihre Freunde nennen sie Pampe.«
»Ein weiblicher Ritter?«, fragte die Königin. »Wie entzückend.«
Der Captal neben ihr lachte. »Von wessen Hand wurde sie denn zum Ritter geschlagen?«, fragte er.
»Von meiner eigenen«, antwortete der Hauptmann.
Das Gespräch stockte.
»Mit welchem Recht ernennt Ihr jemanden zum Ritter?«, wollte der Captal wissen. »Das ist dem höchsten Adel vorbehalten sowie den Mitgliedern der bedeutendsten Orden und Rittern von großer Berühmtheit.«
»Ja«, sagte der Hauptmann. »Ja, da stimme ich Euch zu.«
Der König räusperte sich. »Ich glaube nicht, dass irgendein Ritter in dieser Versammlung die Berühmtheit des Hauptmanns anzweifeln würde, Captal.«
Der Captal lachte. »Er ist ein Bastard – ein bourc. Jeder sagt das. Er kann gar kein Edelmann sein, und er kann auch niemanden zum Ritter schlagen – insbesondere nicht eine Frau.«
Der Hauptmann spürte die Anspannung in seiner Brust – es war keine Angst, sondern eher eine Erwartung.
Mit leiser Stimme sagte er: »Mylord, Ihr wolltet meine Truppe sehen. Wenn Ihr damit jetzt fertig seid, würden wir gern aufbrechen.«
»Nehmt es zurück«, beharrte der Captal. »Nehmt die Ernennung dieser Frau zum Ritter zurück. Sie muss den goldenen Gürtel von ihren Hüften entfernen. Das ist unschicklich.«
»Captal!«, sagte der König. »Beherrscht Euch.«
Der Captal zuckte die Achseln. »Ihr nehmt das zu leicht, Herr.« Dabei sah er den Hauptmann an und grinste höhnisch. »Ich sage, Ihr seid ein Bastard, ein Hundsfott, ein Poseur von niederer Herkunft, und ich sage vor all diesen Edelmännern hier, dass Ihr niemanden zum Ritter schlagen dürft …«
Der Hauptmann wandte sich an den König, beugte sich zu ihm vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Der König wirbelte herum, starrte den Söldner an, und das Blut wich aus seinem Gesicht wie die See vom weißen Sandstrand, wenn die Ebbe einsetzt. In drei Herzschlägen war der König merklich gealtert; er wirkte so weiß wie Pergament. Seine Oberlippe zitterte. Die Königin, die die Worte des Hauptmanns nicht hatte hören können, spürte, wie sich seine Hand gleich einer Schraubzwinge um ihren Arm schloss, und gab einen leisen Schmerzensschrei von sich.
Auf der anderen Seite des Grabes zuckte Schwester Amicia zusammen und wurde ebenso blass wie der König.
Die Stille dehnte sich so aus, dass das Brummen der Wespen und das Ächzen der Männer, die das Grab der Äbtissin zuschaufelten, deutlich zu hören waren.
Der König sah den Hauptmann an, und der Hauptmann sah den König an, dann neigte der König den Kopf. Es war eine Geste, wie sie ein Edelmann vor einer Dame vollführte, wenn er ihr die Tür öffnete.
Mit rauer Stimme sagte der König: »Dieser Edelmann hat überall im Königreich Albia die Macht, jemanden zum Ritter zu schlagen, wobei es gleichgültig ist, wie gering der Stand des zum Ritter Erhobenen oder wie niedrig seine Herkunft sein mag. Das ist mein Wort.«
Der Hauptmann verneigte sich tief vor dem König, und der Captal schwieg.
Der König nahm die Verneigung des Hauptmanns zur Kenntnis und führte die Königin den Berg hinauf bis zur Festung.
Der Hauptmann fing den Blick des Captal auf. Jean de Vrailly hatte vor nichts Angst, und so blieb er einfach stehen.
»Ich habe es wohl geschafft, Euch zu beleidigen?«, meinte er. »Es fällt mir schwer zu verstehen, wie eine Hure wie Ihr überhaupt beleidigt werden kann. Ihr kämpft doch nur für Geld.«
Der Hauptmann musste sich beherrschen. Dafür ließ er sich Zeit. Und legte sich in aller Ruhe seine Antwort zurecht, während der Captal aus Gründen der Konvention so bewegungsunfähig war wie ein Schmetterling, den man auf ein Blatt Pergament gespießt hatte.
»Manchmal kämpfe ich auch ohne Bezahlung«, sagte er. »Aber nur dann, wenn mich die Sache wirklich interessiert.« Er hielt inne und fesselte den Captal mit seinem Blick. »Aber ich glaube, am Ende wird mich doch noch jemand dafür bezahlen, dass ich einen verrückten Hund wie Euch zur Strecke bringe.«
Jean de Vrailly lächelte – es war ein wunderschönes Lächeln, das sein ganzes Gesicht ausfüllte. »Aha«, gab er zurück und lachte. »Ich freue mich schon auf Euren Versuch.«
»Das kann ich mir vorstellen«, murmelte der Hauptmann. Er war sich nicht sicher, ob er bei diesem Wortwechsel den Sieg davongetragen hatte, aber jedenfalls ging er davon, ohne über seine eigenen Füße zu stolpern.
Lissen Carak · Michael
Der Graf von Towbray verließ seinen Soldatentrupp und rannte die Treppe hinter der Kommandantur hinunter, um den Knappen des Hauptmanns noch zu erwischen. Den früheren Knappen.
»Du bist zum Ritter geschlagen worden!«, rief er.
Michael drehte sich um. »Genau wie Ihr, Pater, oder?«
Towbray konnte nicht wütend auf ihn sein. »Du wirst dir deine Sporen verdient haben«, sagte er. »Willst du jetzt nach Hause gehen?«
Michael schüttelte den Kopf. »Nein, Pater.« Er schaute auf. Nun fiel es ihm leichter als erwartet, seinem Vater in die Augen zu sehen. »Ich war froh, unser Banner zu sehen. Bei dem des Königs.« Er sah sich um. »Es hat mich überrascht. Aber ich war froh.«
Towbray zuckte die Achseln. »Ich kann den König einfach nicht lieben. Aber – verdammt, Junge. Warum verhalten wir uns, als wären wir bei Hofe?«
Michael schüttelte den Kopf und verneigte sich dann. »Ein frisch gekürter Ritter verdient achtundzwanzig Florins in einer Söldnertruppe.« Er machte einen Schritt zurück. »Ich muss gehen.«
Towbray streckte die Hand aus. »Ich bewundere dich.«
»Ihr werdet mich nicht mehr so bewundern, wenn ich Euch sage, dass ich vorhabe, ein Bauernmädchen aus Abbington zu ehelichen.« Michael grinste und hatte endlich einmal das Gefühl, dass er es war, der das Gespräch mit seinem Vater bestimmte.
Sein Vater zuckte zwar zusammen, ließ die Hand aber mit grimmiger Entschlossenheit ausgestreckt. »Dann sei es so«, sagte er, auch wenn sich auf seinem Gesicht Abscheu zeigte.
Michael ergriff die Hand. »Darf ich meine Apanage dann zurückfordern?«
Lissen Carak · Der Rote Ritter
Eine Stunde später war die Truppe auf den Pferden und abreisebereit. Die ganze Woche über waren die Wagen aus den Kellern gezogen und repariert worden. Dann wurden sie beladen und den Berg hinuntergerollt. Die Ausrüstung der Truppe hatte in der Festung sicher gelagert und wurde nun mit der Tüchtigkeit, die der Truppe eigen war, verstaut. Die Diener kletterten auf die Wagen, die Bogenschützen sammelten die Reservepferde ein, und das Gefolge holte seine Schindmähren und Esel. Am Kopf der Kolonne bestieg der Hauptmann ein seltsames neues Kriegspferd, das ihm vom Prior geschenkt worden war, dann sah er zurück und bemerkte, dass sich Michael – Ser Michael – um das Banner kümmerte.
Ein Korporal nach dem anderen meldete seinen Truppenteil abmarschbereit. Eine kleine Menschenmenge bildete sich, hauptsächlich waren es Lanthorns und Carters und ein Dutzend Gildenmänner aus Harndon, die zusehen wollten, wie ihre Jungen abzogen. Und ihre Mädchen. Amy und Kitty Carter, die Wäscherin Lis und auch die alte Meg, die seit zwanzig Jahren nicht mehr so jung ausgesehen hatte. Ihre Tochter Sukey, deren Mann bei der Belagerung den Tod gefunden hatte, war auch dabei. Der Hauptmann hatte Sukey in Tom Schlimms Nähe gesehen. Zweimal. Er nahm sich vor, dies im Auge zu behalten.
Immer wieder suchte er nach einem bestimmten Gesicht in der Menge, aber es war nicht da. Viele Frauen sahen einen Augenblick lang genauso aus wie sie. Zu viele Frauen.
Als all seine Leute fertig waren und die Sonne so hoch am Himmel stand, dass sie wie ein Spott über seinen Wunsch wirkte, endlich aufbrechen zu können, hob er die Hand. »Los!«, rief er.
Peitschen knallten, Männer riefen und Wagen rollten an.
Gerald Random winkte von der Mauer aus, und Jean de Vrailly sah schweigend zu. Der Prior salutierte, während einige Frauen weinten.
Der König stand allein im Nordturm und sah zu, wie sich der Konvoi langsam ostwärts in Bewegung setzte. Seine Hände zitterten. Die Königin beobachtete ihn vom Hof aus und fragte sich, was mit ihm los war.
Eine junge Nonne kniete mit durchgedrücktem Rücken vor dem Hochaltar in der Kapelle.
Eine Meile von der Festung entfernt traf der Hauptmann auf seinen Jagdmeister, der still in einer Kurve auf seinem Pferd saß. Er brauchte lange, bis er begriff, wo sie sich befanden.
»Wir haben nie den Mann gefunden, der diese Nonnen getötet hat«, sagte Gelfred. »Das geht mir gegen den Strich. Ich will Gerechtigkeit.«
»Es war der Priester«, sagte der Hauptmann. »Schwester Amicia und ich haben es herausgefunden – allerdings viel zu spät, um ihn dafür zu bestrafen. Er ist auf dem Weg in die Wildnis. Das vermute ich zumindest.«
Gelfred bekreuzigte sich. »Er wird zur Hölle fahren!«, sagte er. »Gott wird ihn bestrafen.«
Der Hauptmann zuckte mit den Schultern. »Gott interessiert das überhaupt nicht, Gelfred«, sagte er und drückte die Hacken gegen die Flanken seines großartigen neuen Schlachtrosses. »Aber mich interessiert es, Gelfred, und ich verspreche dir, dass dieser Priester sterben wird.«
Mit solchen Worten riss er den Kopf seines Pferdes nach Osten und ritt davon.
Tief im Westen hielt Thorn auf dem Kamm eines Berges inne. In der klaren Luft konnte er fünfzig Meilen weit sehen, und er atmete tief ein. Er hatte zwanzig Wunden davongetragen, und seine Macht, die größer als je zuvor gewesen war, war nun beinahe aufgebraucht.
Er blickte nach Osten.
Das war närrisch, dachte er. Je weiter er sich von dem Felsen entfernte, desto mehr wirkte es wie ein schlechter Traum.
Ich hätte getötet werden können. Unwiderruflich.
Aber ich lebe noch, und wenn ich zurückkehre …
Die gewaltige Kreatur, zu der Thorn geworden war, konnte nicht mehr lächeln, aber so etwas wie eine Regung lief über die schwere Borke und den Stein seines Gesichts.
Auf dem Weg den Hang hinunter dachte er: Oder ich mache etwas ganz anderes. Vielleicht werde ich die Kobolde vereinigen.