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Östlich von Albinkirk · Thorn

Thorn saß mit überkreuzten Beinen unter einem Baum und betrachtete die Welt.

Er konnte nicht vorgeben, dass ihm das, was er da sah, gefiel.

Am vergangenen Tag hatte er eine vernichtende Niederlage erlitten. Die kleine Armee, die die Schwesternschaft angeheuert hatte und von der dunklen Sonne angeführt wurde, die sich selbst auszulöschen vermochte, hatte gemeinsam mit der letzten Karawane, die den Fluss hinaufgekommen war, Thorns beste und beweglichste Truppe besiegt.

Auch jetzt konnte er noch immer keinen seiner Häuptlinge unter den Irks erreichen. Die Kobolde kehrten allmählich durch den Fluss zurück. Aber die Verluste waren schwindelerregend gewesen.

Und er spürte die Wellen reiner Macht, die noch immer vom Kampf über das Meer der Bäume hinwegbrausten. Jemand, der beinahe so mächtig war wie er selbst, hatte Kräfte entfesselt, die besser nie entfesselt worden wären. Diese Macht hallte wie das Schmettern einer Kriegstrompete durch den Wald. Und Thorn kannte den Geschmack dieser Macht.

Ich hätte dort sein sollen, dachte er. Sein Steinmund verzog sich zu der Andeutung eines Lächelns. Mein großer Lehrling ist fern von seinem Turm endlich in der Welt angekommen. Er zog an den Zügeln seines Zaubers, doch sie hingen noch immer schlaff herunter, waren am anderen Ende abgeschnitten worden, und so holte er sie ein. Ich wüsste gern, wie der Junge es herausgefunden hat, überlegte er, verschwendete aber nicht viel Zeit auf diesen Gedanken. Sein Lehrling hatte ihn einmal übertölpelt, und das würde ihm nie wieder gelingen.

Aber sein rebellischer Lehrling war nicht das einzige Problem. Jemand hatte drei seiner Dhags getötet, die bei den Menschen Trolle hießen – das waren jene großen Höhlenwesen, die eine Rüstung aus dem Stein des Hochgebirges trugen. Er hatte nur ein Dutzend zu seinem Dienst binden können, und jetzt waren drei davon abgeschlachtet worden.

Aber der womöglich schlimmste Schlag war die Abtrünnigkeit der Sossag. Ihre Anführer hatten ihn verlassen und waren nach Osten gegangen, um ihre eigene Schlacht zu schlagen. Wären sie bei seiner Streitmacht gewesen, so hätte der Kampf einen anderen Ausgang genommen.

Thorn wirbelte seine Sperlinge und Tauben in der Luft umher, schaute aus ihren Augen herunter und wusste, dass er von den Mächten in der alten Festung in die Irre geführt worden war. Der Angriff der Raubvögel hatte seine kleinen Helfer zerstreut. Und er war blind gewesen. Wenn auch nur für eine kurze Stunde.

Doch in seiner Hand hielt er ein kostbares Juwel. Sein Freund hatte ihm endlich eine Nachricht geschickt. Und zwar eine ausführliche Nachricht.

Trotz der Niederlage besaß er nun eine wahre Einschätzung seines Feindes, und dieser Feind war keineswegs so stark, wie Thorn befürchtet hatte. Ihm gefiel die Macht der anderen nicht, aber ihre Soldaten brauchte er nicht zu fürchten. Es waren zu wenige.

Thorn wäre niemals zu solcher Macht gekommen, wenn er die Gründe einer Niederlage unbeachtet gelassen hätte. Er hielt nichts von falschem Stolz. Er erkannte an, dass er zum Narren gehalten und besiegt worden war, und sofort änderte er seine Pläne.

Die Sossag hatten einen Sieg errungen, der seinen Zielen dienen würde – aber viele von ihnen waren schwer verwundet, und ihre Anführer waren entweder tot oder närrisch. Nun war die richtige Zeit dafür gekommen, sie wieder in ein Bündnis mit ihm zu zwingen. Er brauchte sie und ihre gnadenlose menschliche Schlauheit, die so ganz anders und so viel raffinierter war als die der Irks und Kobolde.

Überdies musste er sich mit seinen Verbündeten unter den Qwethnethog-Dämonen beraten, ihnen seine Kraft vorführen und zeigen, dass er noch immer der Herr dieser Wälder war. Denn sonst würden auch sie ihm bald entweichen.

Er genoss die Ironie, die darin lag. Für sie griff er den Felsen an, und sie drohten ihm, abtrünnig zu werden.

Er seufzte, denn all diese verschiedenen Gefühle und Interessen erinnerten ihn an die Ränke, die ihn von den anderen Menschen weggetrieben hatten, als er selbst noch ein Mensch gewesen war. Die Wildnis war seine Zuflucht gewesen, und nun stellte sich heraus, dass sie keineswegs anders war.

Es war verrückt, dass er einen Sieg benötigte, um die Unwilligen zu überzeugen, während er den meisten seiner Verbündeten einfach das Leben entziehen konnte, indem er in das Innerste ihrer persönlichen Wildnis hineingreifen und daran ziehen konnte …

Er erinnerte sich daran, wie ihn einer seiner Schüler einmal ermahnt hatte, man könne die Menschen nicht dadurch überzeugen, dass man sie tötete, und er lächelte über diesen Gedanken. Der Junge hatte sowohl recht als auch unrecht gehabt. Thorn war nie daran interessiert gewesen, jemanden zu überzeugen.

Aber die Erinnerungen an die Vergangenheit halfen bei seinen gegenwärtigen Schwierigkeiten überhaupt nicht. Er zog seine Aufmerksamkeit von Taube, Luchs und Fuchs ab. Die Hasen waren allesamt tot, von den Hunden erlegt, und er bewegte sein fein verteiltes Bewusstsein zurück zu dem Körper, den er dafür erschaffen hatte.

Ein Dutzend Irks standen Wacht über ihm, und er begrüßte sie. »Ruft meine Hauptmänner zusammen«, sagte er mit dem heiseren Krächzen, zu dem seine Stimme jetzt geworden war, und sie zuckten vor ihm zurück und gehorchten.

Westlich von Albinkirk · Gaston

Die Armee, die nun nach Norden auf Albinkirk zumarschierte, war weitaus größer als die Elitetruppe, die Harndon vor einer Woche verlassen hatte. Und viel, viel langsamer.

Gaston saß auf seinem Pferd mitten in einem Verkehrsstau, der größer als in den Städten seiner Heimatprovinz war, und schüttelte den Kopf. Er beobachtete vier Männer, die zusammengekauert unter einer Brücke saßen und an einem Schinken knabberten.

»Das ist wie der ungeordnete Rückzug einer besiegten Armee«, sagte er auf Niederarchaisch. »Und dabei rückt sie gerade erst gegen den Feind vor.«

Der König war nun so gut wie unerreichbar, denn die gesamte Ritterschaft erstattete ihm Bericht, und all seine bedeutenden Lords umgaben ihn. Jean de Vrailly konnte nun nicht mehr so tun, als stelle er mit seinen dreihundert Rittern eine Bedrohung für den König dar, denn sein Tross war längst nicht mehr der größte. Der Graf der Grenzmarken, Gareth Montroy, kam mit weiteren fünfhundert Rittern herbei; es waren harte Männer in leichteren Rüstungen, als die Gallyer sie besaßen, aber sie waren von gleicher Körpergröße, und bei ihnen befanden sich überdies fünfhundert Bogenschützen. Das Banner von Lord Bain führte zweihundert weitere Krieger herbei, mit dem eitlen Geck Edward Despansay, dem Lord Bain, an der Spitze. Sie waren die bedeutendsten Lords mit einem großen, uniformierten Gefolge aus gut ausgebildeten Kriegern, aber es gab auch noch Hunderte einzelner Ritter aus den Ländern unter dem Banner des königlichen Leutnants und beinahe hundert, die aus den Rittern des Königs zusammengestellt waren – seiner Elitegarde, die unter seinem Vertrauten und Bastardbruder Ser Richard Fitzroy als Richter und Ungeheuerjäger durch die Lande streiften. Dann waren da noch etwa hundert Angehörige der Ritterorden, Priester und Mönche und Laienbrüder aus den Orden des heiligen Georg, des heiligen Mauritius und des heiligen Thomas, deren Disziplin genauso gut oder gar besser war als bei jeder Kriegergemeinschaft, die Gaston je gesehen hatte. Schweigend ritten sie in ihren schwarzen Rüstungen hinter dem Prior von Pynwrithe und seinem Marschall her.

Insgesamt standen dem König nun mehr als zweitausend Ritter und noch einmal genauso viele Schwertkämpfer zur Verfügung, dazu etwa dreitausend Fußsoldaten, deren Qualität zum Teil überragend war: Die grün gekleideten königlichen Jäger ritten vor der Kolonne her und schützten die Flanken; schweigend preschten sie durch das immer dichter werdende Buschwerk auf eigens dazu ausgebildeten Pferden, auch wenn sie als Bogenschützen zu Fuß kämpften. Oder die Qualität neigte zum Lächerlichen, denn es gab auch gepresste Bauern mit Speeren und ohne jede Rüstung, die entweder zwanzig Tage lang dienten oder so lange, bis der ihnen zustehende Anteil am Schinken aufgegessen war.

Die Männer zu seinen Füßen aßen so schnell wie möglich.

Sein wunderschöner Vetter ritt am Kopf seines Trupps. Er trug seine volle Rüstung – das taten alle Gallyer – und saß auf einem Kriegspferd. Doch in den letzten Tagen machten es die albischen Ritter genauso – nicht alle gleichzeitig, sondern nach und nach. Und abends übten sie inzwischen mit ihren Lanzen und Schwertern und bildeten mit ihren Pferden lange Reihen.

De Vrailly ging von einer Gruppe zur nächsten, lobte einige, tadelte andere. Er pries die Eifrigen und beachtete die Faulen gar nicht. Die Männer redeten allmählich schon über ihn.

Die Ritter beachteten ihn, die anderen nicht.

Gaston sah den Männern unter der Brücke weiter zu, und sie beobachteten ihn, kauten und schluckten dabei so schnell, wie es ihnen möglich war.

Er ließ seinem Pferd die Zügel schießen, während es sich zum grasbewachsenen Flussufer begab. Die Männer unter der Brücke nahmen ihre Habseligkeiten auf, doch er hielt die Hand hoch und kam ihnen zuvor.

»Wir haben nichts getan«, sagte ein Bauerntölpel mit sandfarbenem Haar und einem kurzen Bart und hob die fettigen Hände.

Gaston schüttelte den Kopf. »Beantworte mir eine Frage«, sagte er langsam und deutlich. Es brachte ihn stets durcheinander, wenn er albisch sprechen musste.

Der Sandhaarige zuckte die Schultern. Gaston bemerkte, dass er nicht höflich gegrüßt hatte; er hatte weder salutiert noch sich verneigt.

Albier. Ein Volk von Narren und Gesetzlosen.

»Warum seid ihr so erpicht darauf, euren gekochten Schinken zu essen und dann wieder nach Hause zu eilen?«, fragte er. Dann führte er seine Stute zwei Schritte näher an die Männer heran, damit er die Antwort besser hören konnte, und schaute sie von oben herab an.

Alle vier sahen ihn an, als sei er der Narr und nicht sie.

»Vielleicht weil mich meine Frau zu Hause braucht?«, meinte einer von ihnen.

»Weil in zehn Tagen das Heu gemacht werden muss, wenn die Sonne so weiterscheint«, sagte der zweite Mann. Er trug ein feines Leinenhemd und hatte einen Silberring am Finger. Nach gallyschen Maßstäben waren die albischen Bauern reich, fett und hatten schlechte Manieren.

»Weil mein Vertrag sagt, dass ich nach Hause gehen kann, wenn der Schinken hier verspeist ist«, sagte der dritte, ein langhaariger alter Mann. Sein Haar war schon fast ganz weiß, und Gaston sah die Umrisse eines vorsichtig entfernten Kreuzfahrerabzeichens auf seinem Hemd.

»Du hast schon einmal gekämpft, nicht wahr?«, fragte er.

Der ältere Mann nickte; seine Miene aber blieb ausdruckslos. »Allerdings, Jungchen«, sagte er. Seine Stimme hallte unter der Brücke.

»Wo?«, fragte Gaston.

»Im Osten«, antwortete der alte Mann und biss noch einmal in den Schinken. »Und davor habe ich unter Ser Gilles de Laines gegen die Paynim gekämpft. Und ich habe auch unter Lord Bain gedient. Und unter dem König bei der Schlacht von Chevin. Hättet Ihr das ebenfalls getan, würdet Ihr nicht diese dummen Fragen stellen. Wir essen unseren Schinken, damit wir nach Hause gehen können und nicht, um zu kämpfen. Denn es wird schrecklich werden, und ich weiß ganz genau, wie es sein mag. Und mein Schwiegersohn und seine beiden Freunde hier werden mit mir gehen.«

Gaston war vom Ton des Mannes schockiert – und auch von dem mörderischen Glitzern in seinen Augen. »Aber du … du bist ein homme armé gewesen. Du weißt, was Ehre ist – und was Ruhm.«

Der Mann sah ihn an, schluckte sein Stück Schinken herunter und spuckte aus. »Damit bin ich fertig. Es ist Zeit, nach Hause zu gehen.« Er wischte sich die fettigen Hände sorgfältig an seinem Köcher und dem Futteral seines sechs Fuß großen Bogens ab.

»Wenn wir unterliegen«, sagte Gaston in dem Versuch, diesen anmaßenden Bauern zu überzeugen, »dann werden eure Gehöfte verloren sein.«

»Nee«, meinte der jüngere Mann mit dem Bart. »wenn Ihr verliert, dann werden sie den Norden plattmachen. Aber wir sind keine aus’m Norden.« Er zuckte die Achseln.

Der alte Bogenschütze zuckte ebenfalls die Achseln.

Die anderen beiden grinsten.

Der alte Bogenschütze trat neben den Steigbügel des Ritters. »Hört mal zu, Ser Ritter. Wir haben bei Chevin standgehalten, und da sind eine Menge Leute gestorben. Der alte König hat uns gesagt, dass wir fertig sind, und zwar für den Rest unseres Lebens. Ich halte mich an sein Versprechen. Klar? Hier kommt ein Rat von einem alten Soldaten. Wenn die Kobolde Euch ankreischen und auf Euch zustürmen, dann sprecht lieber ein gutes Gebet. Denn sie werden nicht stehen bleiben, und hinter ihnen kommt noch viel Schlimmeres. Sie fressen Euch bei lebendigem Leibe. Aber es gibt Kreaturen, die noch schlimmer sind, und die fressen Eure Seele, während Ihr noch lebt. Da spielt es nicht mal eine Rolle, ob Ihr vorher die Messe gehört habt oder nicht.«

Gaston hatte überlegt, ob er alle vier wegen ihrer Anmaßung töten sollte, aber der alte Bogenschütze hatte etwas gesagt, das ihm naheging, und doch musste er feststellen, dass er selbst nickte.

»Ich werde siegen. Wir werden siegen«, sagte Gaston. »Und euch wird es leidtun, wenn ihr an unserem Tag des Ruhms nicht dabei seid.«

Der alte Bogenschütze schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist es, was Kerle wie Ihr nie begreifen. Es wird mir gar nicht leidtun, aber ich wünsche Euch wirklich viel Glück.« Er kicherte. »Wir hatten zwanzigtausend Mann, als wir bei Chevin in die Schlacht gezogen sind.« Erneut nickte er. »Und der König hat wie viele? Viertausend?« Er lachte. Es klang unangenehm. »Darf ich Euch einen Bissen von unserem Schinken anbieten?«

Weil er mit den Bauern gesprochen hatte, war Gaston zurückgefallen. Als er nun das andere Flussufer hinaufritt und auf einem Stück Schinken herumkaute, befand er sich mitten unter den Leuten von der Grenze. Er ritt weiter, bis er die uniformierten Ritter erreicht hatte, die sich um den Grafen der Grenzmarken herum befanden.

Ein Herold bemerkte ihn, und von ihm wurde Gaston rasch zum Hauptmann der Leibwache durchgereicht und von dort aus zu der Gruppe von Männern, die den Grafen umgaben. Er war bewaffnet, trug einen guten weißen Harnisch, der im Osten hergestellt worden war, sowie ein Kettenhemd und darunter Leder. Ein Knappe hielt seinen Helm, außerdem hatte er eine grüne Samtkappe auf dem Kopf, auf der eine Straußenfeder keck aus einer Diamantbrosche spross.

»Gareth Montroy«, sagte der große Lord und streckte die eine Hand aus, während er mit der anderen sein Pferd zügelte. »Und Ihr seid der Graf von Eu?«

»Ich habe die Ehre«, sagte Gaston, verneigte sich und ergriff die Hand des Mannes. Er war etwa fünfunddreißig Jahre alt, hatte dunkles Haar, buschige Brauen und eine beherrschende Art, wie sie einem Lord zukam. Dieser Mann war es gewohnt, jeden Tag zu kommandieren.

»Euer Vetter befehligt den großen Trupp – allesamt Gallyer?« Lord Gareth grinste. »Sie sehen wie Schönwetterkämpfer aus. Große Jungs, wie die meinen.« Er zeigte mit dem Daumen über seine Schulter.

»Eure Männer sehen wie Kämpfer aus«, sagte Gaston.

»Gieß uns einen Becher Wein ein, damit wir den Staub aus der Kehle spülen können, ja, Gwillam?«, bat Lord Gareth über die Schulter hinweg. »Meine Jungs haben schon einen Kampf hinter sich.«

Jeder Einzelne in der Eskorte des Grafen hatte eine Narbe im Gesicht.

Nun fühlte sich Gaston wohler als seit vielen Tagen. »Wo habt Ihr gekämpft?«, fragte er.

Lord Gareth zuckte die Achseln. »Ich halte die Grenze im Westen, aber es gibt einige schäbige Bastarde am Hof und sonstwo, die mir dafür nicht die gehörige Ehre erweisen«, sagte er. Ein wunderschöner Silberbecher mit abgeschrägten Seiten und einem fein ziselierten Rand wurde ihm in die Hand gedrückt, und Gaston erhielt einen weiteren. Erfreut stellte er fest, dass dieser Becher einen Goldrand besaß und mit gekühltem Wein gefüllt war.

Mit gekühltem Wein.

»Der Magus der Kompanie«, erklärte Lord Gareth. »Schließlich sollte es für ihn nicht schwierig sein, ein wenig Wein zu kühlen, bevor wir kämpfen müssen.« Er grinste. »Und manchmal kämpfen wir auch gegen die Moreaner. Und gegen Banditen, und hin und wieder auch gegen Kobolde. Wir wissen, wie Kobolde aussehen, nicht wahr, Jungs?«

Sie lachten.

»Und Ihr, Mylord?« Lord Gareth wandte sich an Gaston. »Ich vermute, Ihr kennt den Kampf ebenfalls?«

»Regionale Kämpfe«, sagte Gaston ausweichend.

»Wie groß sind regionale Kämpfe in Gallyen?«, fragte Lord Gareth.

Gaston zuckte mit den Schultern. »Wenn mein Vater gegen einen Feind marschiert, nimmt er tausend Ritter mit«, sagte er.

»Heilige Maria Himmelskönigin!«, fluchte Lord Gareth. »Christ am Kreuze, heiliger Herr! Nur der König hat tausend Ritter zur Verfügung, und das auch bloß dann, wenn er eine Aushebung befiehlt.« Er hob eine Braue. »Ich habe so etwas schon gehört, aber noch nie von einem Augenzeugen.«

»Ah«, meinte Gaston.

»Und wogegen kämpft Ihr?«, wollte Lord Gareth wissen. »Gegen Kobolde? Gegen Irks? Dämonen, Trolle?« Er schaute sich um. »Wie viele Kreaturen kann der Feind denn aufstellen, wenn Euer Vater tausend Ritter gegen sie braucht?«

Gaston zuckte wieder mit den Achseln. »Ich habe noch nie einen Kobold gesehen«, sagte er. »Im Osten kämpfen wir gegen Menschen.«

Lord Gareth zuckte zusammen. »Menschen?«, fragte er. »Das ist doch abscheulich. Ich gebe zu, ich habe hin und wieder auch den Moreanern auf dem Schlachtfeld gegenübergestanden – aber es waren hauptsächlich Banditen. Gegen Menschen zu kämpfen macht wenig Spaß, zumal es doch einen richtigen Feind gibt.« Er beugte sich vor. »Wer kämpft denn dann im Osten gegen den Feind?«

Gaston hob die Schultern. »Im Norden unseres Landes sind es die Ritterorden. Aber niemand hat eine Kreatur der Wildnis gesehen seit …« Er suchte nach Worten. »Bitte versteht mich nicht falsch, aber wenn ihr Albier euch nicht so sicher wäret, was die Wildnis angeht, so würden wir eure Worte anzweifeln. Keiner von uns hat je eine Kreatur der Wildnis gesehen. Wir hatten geglaubt, dass es sich bei ihnen um Übertreibungen handelt.«

Wie ein Mann warfen die Ritter um Lord Gareth herum die Köpfe in den Nacken und lachten. Ein großer, braungebrannter Mann in einem Harnisch aus Schuppenpanzern drängte sein Pferd durch die Menge und setzte sich an Gastons Seite. »Ser Alcaeus Comnena von Mythymna, Mylord.«

»Ein Moreaner«, sagte Lord Gareth, »aber ein Freund.«

»Vielleicht braucht Eure Truppe ein wenig Unterricht über diese Kreaturen?«, fragte er hilfsbereit.

Gaston schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Wir kommen schon zurecht. Unsere Ausbildung war sehr hart.«

Alle Ritter um ihn herum sahen ihn an, als wären ihm soeben Flügel gewachsen. Gaston beschlich ein leises Gefühl der Sorge.

Alcaeus schüttelte den Kopf. »Wenn die Kobolde zwischen die Pferde gelangen, geben sie gern ihr Leben hin, um ein gutes Reittier ausweiden zu können«, sagte er. »Ein einzelner Troll, der auf eine Kolonne losgelassen wird, kann zehn Ritter so schnell töten, wie ich Euch dies erzähle. Verstanden? Und Lindwürmer – in der Luft – sind über offenem Gelände unglaublich gefährlich. Nur Männer mit schweren Armbrüsten stellen eine Bedrohung für sie dar, ebenso wie die tapfersten der Ritter. Pferde können die Nähe eines Lindwurms nicht ertragen. Und nichts, was Ihr auf dem Übungshof gelernt haben mögt, kann Euch auf die Angst Eures Reittieres vorbereiten.«

Gaston zuckte die Schultern, aber jetzt war er verärgert. »Meine Ritter empfinden keine Angst«, sagte er. Der Moreaner sah ihn an, als wäre er ein Narr, was ihn nur noch wütender machte. »Mir gefällt Euer Ton nicht.«

Nun war es an Ser Alcaeus, die Achseln zu zucken. »Das ist mir völlig gleichgültig, Ostmann. Ich muss Euch nicht gefallen. Wollt Ihr, dass Eure Ritter wie Vieh sterben, gelähmt vor Angst, oder wollt Ihr einen wirksamen Schlag gegen den Feind führen?«

Der Graf der Grenzmarken setzte sein Pferd zwischen die beiden. Sein Missfallen war offensichtlich. »Ich glaube, der gute Lord von Eu will sagen, dass wir ihm nichts über den Krieg erzählen müssen«, meinte er. »Aber ich dulde keine Streitereien zwischen meinen Rittern, Lord Gaston, also verspottet Ser Alcaeus bitte nicht.«

Gaston war verblüfft. Er sah den Mann an. »Was ist denn so Besonderes an Eurem Ritter, dass Ihr sein Streitgehabe duldet?«, fragte er. »Wenn die Ehre eines Ritters auf dem Spiel steht, muss sich sein Lord doch wohl hinter ihn stellen.«

Lord Gareth machte eine bemüht unbeteiligte Miene. »Wollt Ihr Ser Alcaeus bei seiner Ehre herausfordern, weil er Euch zu erklären versucht hat, dass Eure Truppe noch der Ausbildung bedarf?«

Unter seinem Tonfall und der Bedeutung seiner Worte wand sich Gaston im Sattel. »Er hat angedeutet, dass meine Männer Angst haben.«

Alcaeus nickte, als wäre dies eine zwingende Schlussfolgerung. Alle Krieger um ihn herum schwiegen, und für lange Zeit war der einzige Laut das Klirren des Zaumzeuges und das Klappern von Rüstungen und Waffen, während die Ritter ihre Pferde die Straße entlangführten.

»Ihr wisst sicherlich, dass jede Kreatur der Wildnis eine Welle der Angst aussendet, und je größer die Bestie ist, desto stärker ist auch die Angst.« Lord Gareth hob beide Brauen. Der Diamant auf seiner Kappe glitzerte.

Gaston zuckte mit den Schultern. »Das habe ich gehört«, gab er zu. »Ich dachte, es könnte eine … eine Ausrede sein …« Er geriet ins Stottern und verstummte angesichts der gesammelten Missbilligung, die von einem Dutzend vernarbter Ritter ausging.

Ser Alcaeus schüttelte den Kopf. »Ihr braucht uns«, sagte er gleichmütig.

Gaston versuchte sich vorzustellen, wie er seinen Vetter davon überzeugen konnte, während er an der Kolonne entlangritt.

Nördlich von Lissen Carak

Sie kamen – jeder mit seinem eigenen Gefolge, wie es die Art der Wildnis war.

Der Anführer der Wildbuben, der unter dem Namen Jack bekannt war, kam aus dem Westen. Sein Gesicht verbarg sich hinter einer Maske aus rötlich-braunem Leder, und wie alle anderen Mitglieder seiner Bande trug er eine schmutzig weiße Wolljacke und eine Hose aus dem gleichen Stoff. Er hatte kein Rangabzeichen und keine anderen Symbole – kein schickes Schwert, keinen großartigen Bogen. Er war weder groß noch klein, und ein ergrauender Bart lugte unter der Maske hervor und verriet sein Alter. An seiner Seite waren ein Dutzend Männer mit langen Bögen aus Eibenholz, mit Pfeilgarben, langen Schwertern und Faustschilden.

Thurkan kam aus dem Süden, wo er zusammen mit seinen Qwethnethog-Dämonen die Wälder durchstreift und die königliche Armee beobachtet hatte, die den Albin hoch marschierte. Ein fünfzig Meilen langer Lauf durch den Wald hatte ihn nicht einmal außer Atem gebracht. Die Welle der Angst, die er vorauswarf, führte dazu, dass die abgehärteten Wildbuben die Arme um sich schlangen; sogar Thorn fühlte seine Macht. Bei ihm befanden sich nur zwei andere aus seinem mächtigen Volk – sein Bruder Korgahn und seine Schwester Mogan. Alle drei waren so groß wie ein Kriegspferd, hatten schartige, spitze Schnäbel, eingelegte Verzierungen über den Brauen, wunderschöne Augen und lange, schwere, muskulöse Beine sowie lange Arme, die in knöchernen Sensen ausliefen, und dazu anmutige, schuppige Schwänze. Bei ihnen war der mächtigste der Abnethog-Lindwürmer aus den nördlichen Wäldern: Sylch. Sein Volk hatte bisher die größten Verluste hinnehmen müssen, und sein Zorn zeigte sich in den hellroten Flecken, die wie flackerndes Feuer über die Oberfläche seiner glatten grauen Haut liefen.

Aus dem Osten kam eine Gruppe bemalter Männer, Akra Crom von den Abonacki führte sie an. Sie hatten die Vororte von Albinkirk geplündert, etwa hundert Gefangene gemacht und waren nun bereit, nach Hause zu gehen. So waren die Hinterwaller nun einmal – nach dem Überfall wollten sie gleich wieder entschlüpfen. Akra Crom war so alt, wie man als Hinterwaller nur sein konnte, und doch führte er seine Krieger noch immer an – seine Haut verriet sein Alter. Er hatte keine Haare mehr und war mit einem metallischen Grau bemalt, das im Licht silbern schimmerte. Er stellte ein seltenes Exemplar eines Hinterwallers dar – er besaß die Macht, war ein Schamane, Krieger und großer Sänger in seinem Volk. Der alte Mann war eine lebende Legende.

Exrech war der Häuptling der Gwyllch, die die Menschen Kobolde nannten. Sein Brustkorb schimmerte weiß, und seine Arme und Beine standen in einem vollkommenen Kontrast dazu, denn sie waren ebenholzschwarz, wie auch sein Kopf. Er war so groß wie ein Mensch, und Macht flackerte um seine Mundwerkzeuge herum; sie war viel deutlicher zu sehen als bei einem Gwyllch aus einer der niederen Kasten. Seine natürliche Rüstung war besser, und sein sorgfältig geschmiedetes Kettenhemd, das aus dem Osten stammte und die Beute aus einer Schlacht war, war seiner Schale angepasst und zum Bestandteil seiner lebendigen Rüstung geworden. Er trug zwei von Menschen gemachte große Schwerter in den großen Händen und ein Horn an der Hüfte.

Thorn freute sich, dass sie gekommen waren, und bot ihnen Wein und Honig an.

»Wir haben schwere Verluste erlitten, teure Siege errungen und erniedrigende Niederlagen einstecken müssen«, begann Thorn. Dabei beließ er es – bei der Tatsache der Niederlage.

»Die Sossag haben einen großen Sieg im Osten erkämpft«, sagte der bemalte Mann. Die anderen Krieger in seiner Nähe grunzten zustimmend.

»Das haben sie, aber zu einem hohen Preis.« Thorn nickte. Über ihnen glitzerten die Sterne immer heller – ein atemberaubendes Pantheon aus Licht erhob sich im blau-schwarzen Himmel des späten Abends. Aber ihr Treffen wurde nicht von Feuerschein beleuchtet. Nur wenige Kreaturen der Wildnis liebten das Feuer.

Thorn deutete in den Himmel. »Die Sossag und die Abonacki sind nicht so zahlreich wie die Sterne«, sagte er. »Und viele Sossag sind bei der Durchquerung des Otterbachs gestorben.«

Exrechs Kiefer öffneten und schlossen sich mit einem lauten Klacken, was so viel bedeutete wie: Verschwendung von wertvollem Kriegermaterial, nicht leicht zu ersetzen, kein klar bezeichnetes Ziel. Starke Missbilligung.

Akra Crom zuckte mit den Achseln. Wenn du über die Hinterwaller herrschst, musst du auch ihre Kriegsführung hinnehmen.

Der schwarze und weiße Gwyllch-Anführer sprühte Gift vor Wut. Im tiefen Wald alle Weichhäute uns gleichen.

Thorn grunzte, und beide Anführer setzten sich.

Nun sprach Thurkan. Seine Dämonenstimme war hoch und schrill, was angesichts dieser großen und schönen Kreatur ein Schock war. »Ich mache dich dafür verantwortlich, Thorn.«

Thorn hatte keinen unmittelbaren Angriff auf seine Person erwartet und machte sich daran, Macht zu sammeln.

Thurkan streckte den langen Arm aus und deutete auf ihn. »Wir alle handeln unter deinem Befehl – aber wir vermischen uns nicht. Wir sind nicht zusammen. Kein Gwyllch fliegt mit den Abnethog, wenn wir auf den Felsen zuhalten. Die Abnethog und Qwethnethog und Gwyllch kämpfen gegen denselben Feind im selben Wald, aber keine Kreatur unterstützt die andere. Die Hastenoch sind nur wenige Handspannen von den Gwyllch entfernt gestorben.«

Thorn dachte darüber nach. Er war nun voller Macht und bereit für den Zweikampf, zu dem Kritik für gewöhnlich führte. Allmählich verlor er den kühlen Kopf.

»Du hast dich gegen mich gewendet«, jammerte der große Dämon. Zumindest klangen seine Worte wie ein Jammern. »Aber ich fordere dich, der du einst ein Mensch warst, deswegen nicht heraus.«

Thorn ließ ein wenig von der Macht, die er gesammelt hatte, aus sich abfließen.

Feen waren angelockt worden, wie es bei der rohen Macht immer der Fall war. Ihre schlanken und anmutigen Umrisse flatterten plötzlich durch die Luft, in der seine abgelassene Macht in bösartigem Grün glimmerte.

Mogan pflückte eine Fee aus der Luft und fraß sie. Sofort erfüllte der Todesfluch der Feen die Nacht, als das kleine Wesen durch ihre Kehle rutschte.

Exrech nickte. Eine starke. Gute Wahl.

Jack von den Wildbuben erschauerte. Für die meisten Menschen bedeutete das Töten einer Fee ein Sakrileg. Er spuckte aus. »Thorn, wir sind nur aus einem einzigen Grund hier. Du hast uns versprochen, du würdest die Adligen besiegen. Aus diesem Grund haben wir jeden Bogen aus allen Gehöften zusammengerufen. Unser Volk leidet in diesem Sommer besonders stark unter unseren Lords, also wollen wir sie loswerden. Aber jetzt rückt die Armee des Königs näher und näher.« Jack runzelte die Stirn. »Wann werden wir endlich kämpfen?«

»Du bist eine tödliche geheime Macht, Jack von den Wildbuben.« Thorn nickte. »Eure langen Schäfte werden für viele Ritter den Tod bedeuten, und deine Männer … du hast selbst gesagt, dass sie im Verborgenen bleiben müssen. Sie werden im richtigen Augenblick aus den jahrzehntealten Schatten heraustreten, wenn es für uns um alles oder nichts geht. Ich werde mich dem König und seiner Armee auf dem Gelände meiner Wahl entgegenstellen. Und dann werdet ihr da sein.«

Er wandte sich an die Qwethnethogs. »Es stimmt, dass ich euch ausgesandt habe, damit ihr eure eigenen Feinde auf eure eigene Art bekämpft. Mir erscheint das noch immer als richtig. Zwischen den Gwyllch und den Hinterwallern gibt es keine Freundschaft. Die Wildbuben lieben die Kreaturen der Wildnis nicht. Jedes Tier in den Wäldern fürchtet die Qwethnethog und die Abnethog.« Er aß einen Klumpen Honig. »Wir hätten schon längst triumphieren sollen, und ich spüre die starke Hand des Schicksals am Rand unseres Schildes. Ich verlange, dass ihr alle noch mehr aufpasst.« Er hatte die Stimme gesenkt und mit der Macht, die aus der Luft um ihn herum kam, sowie mit dem Vorrat aufgeladen, den er für Notfälle bereithielt. Und doch forderten ihn die Dämonen heraus.

»Gehorcht mir jetzt. Wir werden nicht bei Albinkirk gegen den König kämpfen. Wir werden ihm keine Schlacht bieten. Die Sossag und die Abonacki kehren in ihre Lager zurück. Die Wildbuben werden ihre Dolche schärfen. Unser Tag wird kommen, und der König wird Lissen Carak niemals erreichen.«

Thurkan nickte. »Das gefällt mir schon besser«, zischte er. »Ein großer Kampf und ein gewaltiges Zerreißen des Fleisches.«

Thorn zwang sich zu einem schiefen Lächeln – es schien Risse in das Steinfleisch um seinen Mund herum zu sprengen. Alle außer den Dämonen bebten vor Angst. »Wir werden kaum kämpfen müssen«, sagte er. »Aber wenn sie untereinander gekämpft haben, dann könnt ihr das Menschenfleisch nach Herzenslust zerfetzen.«

Thurkan nickte. »So ist es bei dir immer, Thorn. Aber wenn es zum Nahkampf mit Zähnen und Speeren kommt, dann möchte ich auf keinen Fall den Cohocton in meinem Rücken haben.«

Thorn hasste es, wenn seine Aussagen infrage gestellt wurden, und seine Wut nahm zu. »Du fürchtest schon die Niederlage, noch bevor ein einziger Speer geschleudert wurde?«

Der große Dämon ließ sich nicht einschüchtern. »Ja«, sagte er. »Ich habe viele Niederlagen und viele leere Siege gesehen. Meine Haut trägt ihre Narben, und mein Nest ist leer, wo es doch voll sein sollte. Meine beiden Vettern sind im letzten Mond gestorben – der eine durch den Speer der dunklen Sonne. Dem anderen wurde durch die grausame Zauberei der Menschen die Seele herausgerissen.« Er sah sich um. »Wer wird mir zu Hilfe eilen? Du erwartest Verrat – und ich stimme mit dir darin überein, dass die Menschen dazu geboren sind, sich gegenseitig zu verraten. Aber viele werden kämpfen, und sie werden verbittert kämpfen. Das ist ihre Art! Daher frage ich: Wer wird mir zu Hilfe kommen?«

»Bist du mit deinem Gejammer jetzt fertig?«, brüllte Thorn ihn an.

Jack reckte die Schultern. »Wenn es dein geheimer Plan ist, dass sich die mächtigen Dämonen dem König entgegenstellen sollen, dann wird es meinen Kameraden und mir eine Ehre sein, die Gefahr mit unseren schuppigen Verbündeten zu teilen.«

Am liebsten hätte Thorn vor Enttäuschung aufgeschrien. Mein Plan ist mein Plan ist mein Plan. Jemandem wie dir werde ich ihn keinesfalls mitteilen. Aber er kniff nur die Augen zusammen, verbannte die Bitterkeit aus seinem großen Herzen und nickte. »Dann holt mehr Boote und macht euch bereit, den Fluss zu überqueren. Und schützt sie dieses Mal. Falls der König kein großer Narr ist, wird er an der Südseite des Flusses vorrücken, wie mein Bruder Thurkan es befürchtet. Und wenn ihr hart bedrängt werdet, dann werde ich euch die Gwyllch schicken, die den Fluss besser durchqueren können.«

Exrech spuckte eine klare Flüssigkeit aus. Verschwendung von Material, Interessenkonflikt.

Thorn holte tief Luft und presste Macht in seine Worte.

»Gehorcht!«, sagte er.

Als die Glühwürmchen herauskamen, war die Lichtung im Wald bereits leer und verlassen.

Lorica · Desiderata

Desiderata saß auf ihrem Thron in der Großen Halle der Burg von Lorica und steckte noch immer in ihrer Reisekleidung. Sie musste in einem Dutzend kleinerer Fälle Recht sprechen, und dabei begehrte sie nichts anderes als ein Abendessen und ihr Bett. Einen Tross an einem Tag von Harndon nach Lorica zu führen, das war weit härtere Arbeit gewesen, als sie erwartet hatte.

Sie arbeitete sich durch die Fälle – der Mord an einem Tuchhändler, begangen von einer Frau, der Diebstahl einer Herde, dessen Verhandlung in Anklage und Gegenklage der Mönche zweier verfeindeter Abteien unterging –, und dann traf ein Bote ein.

Er trug eine Livree aus königlichem Scharlachrot und Mitternachtsblau und war noch ganz vom Staub der Straße bedeckt, als er ihre sofortige Aufmerksamkeit erbat.

Er war jung und nicht besonders hübsch, doch sein Auftreten hatte etwas Besonderes an sich. Er kniete zu ihren Füßen nieder und hielt ihr einen Beutel hin.

»Der König schickt mich zu Euch, Mylady«, sagte er förmlich.

Sie kannte ihn nicht, aber die Gerüchte über den bevorstehenden Krieg hatten dazu geführt, dass das Personal in jedem Bereich des Haushalts aufgestockt worden war – eine Maßnahme, die die königliche Schatulle auf mindestens zehn Jahre belasten würde.

»Royer le Hardi, Mylady«, stellte sich der Bote vor.

»Und welche Nachrichten bringst du?«, fragte sie.

»In der Armee ist alles in Ordnung«, antwortete Royer.

Die Königin nahm den Beutel entgegen und öffnete ihn, indem sie das Siegel ihres Gemahls vorsichtig zerschnitt und die Bleischeibchen, die die Schnallen schützten, mit dem kleinen Messer öffnete, das sie zu jeder Zeit in ihrem Gürtel trug.

In dem Beutel befanden sich vier zylindrische Behälter für Schriftrollen, in denen etwa ein Dutzend zusammengerollte und versiegelte Briefe steckten – sie erkannte Briefe an den Kaiser von Morea und den König von Gallyen – sowie ein dickes Paket mit ihrem Namen darauf, noch dazu in des Königs Handschrift.

Sie riss es sofort auf, las einige Zeilen und runzelte die Stirn. »Mylords, Myladies, ihr guten Männer und Frauen«, sagte sie formell und erhob sich. »Ich werde morgen wieder Hof halten, und alle Fälle sollen bis dahin vertagt sein. Der Seneschall und der Wirt möchten zu mir kommen, genau wie meine Lords.« Sie lächelte, und viele aus der Menge unter ihr lächelten zurück; so persönlich wirkte ihre Freundlichkeit.

Der Kammerherr klopfte mit seinem Zeremonialstab auf den Boden der Halle. »Die Königin hat die Versammlung aufgelöst«, sagte er für all jene, die es noch nicht verstanden hatten.

Bevor der letzte Tuchhändler gegangen war, befanden sich bereits der königliche Haushofmeister und der Schatzmeister an ihrer Seite. »Neuigkeiten?«, fragte Bischof Godwin. Lord Lessing – ein Bankier, der noch vom alten König in den Adelsstand erhoben worden war – rieb sich den Bart.

Sie tippte sich mit dem Begleitbrief gegen die Zähne. »Wir werden weiter nach Norden reisen, um zur Armee aufzuschließen«, sagte sie. »Falls wir ein Turnier abhalten, wird es vermutlich im Angesicht des Feindes in Albinkirk oder sogar in Lissen Carak stattfinden.« Ohne Zweifel war sie mit den Gedanken anderswo.

Die Nachricht ihres Königs klang verzweifelt. Er hatte ihr befohlen, nicht zu ihm zu kommen.

»Holt alle Wagen aus dieser Stadt«, sagte sie. »Ich will mich von allem befreien, was ich nicht brauche. Ich nehme vier Dienerinnen mit, aber keine Staatskleider, keinen Flitterkram. Ihr, Mylords, solltet hierbleiben. Ihr werdet die Regierung bilden.« Sie hielt kurz inne. »Nein. Geht flussabwärts nach Harndon.«

Der Bischof stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

»Ich könnte einen ganzen Monat fort sein«, sagte sie, »oder noch länger. Ich werde beim König bleiben, bis die Gefahr vorbei ist. Lord Lessing, ich würde es als sehr freundlich von Euch betrachten, wenn Ihr den Vorratstross organisieren könntet.«

Lessing zupfte an seinem Bart. Er hatte Goldfäden hineingewoben, was ihn nur noch grauer aussehen ließ. »Ich werde tun, was Ihr verlangt, Mylady«, sagte er feierlich. »Aber einige dieser Wagen werden zurückkommen müssen. Wir haben das südliche Königreich bereits durchkämmt, und ich bezweifle, dass es noch einen einzigen Karren in Harndon gibt. Wenn sie alle verloren gehen sollten, wird die Ernte auf den Feldern verfaulen.«

»Also sollten sie nicht verloren gehen«, sagte sie leichthin. »Ich werde dafür sorgen, dass die Wagen, die nach Norden geschickt werden, zurückkommen – entweder leer oder mit der Ernte aus dem Norden.«

»Boote«, sagte Lessing plötzlich. »Wenn er nach Lissen Carak unterwegs ist, solltet Ihr mit dem Boot dorthin reisen. Die Kais hier sind voller leerer Schiffe. Sie gehören Meister Random aus Harndon. Er hat eine gewaltige Flotte von Flussschiffen zusammengestellt, weil er die Getreideernte im Norden kaufen will. Ich muss zugeben, dass das eigentlich ein Geheimnis ist. Ich habe es von seiner Frau gehört, aber auf dem Fluss kommt Ihr schneller voran. Und es ist sicherer. Ich habe noch nie gehört, dass Kobolde schwimmen können. Oder?«

Sie liebte ihre Lords, weil sie nie versuchten sie aufzuhalten, und weil sie sogleich mit der Planung der Einzelheiten ihrer Reise zur Armee begannen.

Nachdem sie ein Dutzend Listen erstellt und die Hälfte aller bedeutenden Männer von Lorica herbeigerufen hatten, damit sie etliche Schriftstücke als Zeugen unterschrieben und mit verschiedenen Aufgaben betraut werden konnten, brach die Königin schließlich auf dem besten Bett in der königlichen Festung von Lorica zusammen.

Mary zog ihr das Samtkleid, den Gürtel, das Unterkleid und schließlich auch die Männerhose aus, die sie darunter trug, damit sie besser reiten konnte. »Nehmt Ihr mich mit?«, wollte Mary wissen.

»Euch und Emmota, Helena und Apollonasia«, sagte die Königin müde. »Und Becca.«

»Ein Bad?«, fragte Mary.

»Ja. Es wird vielleicht das letzte für viele Tage sein«, sagte die Königin. »Oh, par dieu, Mary, wir werden allem entfliehen und ein Abenteuer zu bestehen haben.«

Lady Mary lächelte ihre Herrin an. Aber ihre Augen lächelten nicht; es war, als blicke sie weit hinter den Raum, in dem sie sich befanden.

»Denkt Ihr noch immer an ihn?«, fragte die Königin ihre Zofe.

»Nur wenn ich wach bin«, gab diese zu. »Und manchmal auch, wenn ich schlafe.«

»Er ist nicht bei der Armee.« Desiderata hatte zwei Botschaften von ihrem Gemahl erhalten, in denen der Name Gawin Murien stand, aber in keiner von beiden wurde erwähnt, wo er sich befand.

»Zumindest werde ich ihm näher sein«, sagte Mary und seufzte. »Ich habe erst bemerkt, dass ich ihn liebe, als ihn der König weggeschickt hat.«

Desiderata hielt ihre Mary in den Armen, als diese einige Tränen vergoss, und dachte an die Briefe ihres Gemahls.

Er war besorgt. Das war deutlich zu spüren, trotz seines närrischen Geplauders – oder gerade deswegen.

Er brauchte sie dort. Sie musste ihn daran erinnern, was und wer er war.

In Gedanken an Mary und Gawin schlief sie ein und stellte beim Erwachen fest, dass sie zur Admiralin einer Flotte von vierzig schnellen Flussbooten geworden war, die je zwanzig Ruder und zusätzlich kräftige Masten besaßen und schwere Lasten tragen konnten. Als die Sonne über das Flussufer stieg, fuhr ihre Flotte bereits nach Norden, und die Einwohner von Lorica waren froh, die Rücken der Ruderer zu sehen, die mehr Ärger gebracht hatten als ein Dutzend Soldatenkompanien. Trotz ihrer Pläne wurde die Königin von all ihren Hofdamen begleitet, und auch etliche Pavillons, Waffen und Rüstungen sowie Trockenfleisch für die Armee waren eingeladen worden. Dazu hatte sich eine Gruppe von loricanischen Gildenmännern in scheußlicher Purpur- und Goldkleidung gesellt; es waren allesamt Armbrustschützen, die bisher noch nie die Stadt verlassen hatten. Sie waren die einzigen Soldaten, die der Bischof hatte finden können.

»Macht Platz – alle!«, rief der Steuermann.

Sie lehnte sich in ihrem weißen Kleid unter der hellen Sonne zurück, die aus ihrem Haar Gold machte.