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Tal des Cohocton · Peter
Peter erholte sich nicht, sondern er gewöhnte sich an das, was er nicht mehr besaß, wie ein Mann, der eine Hand oder einen Arm verloren hatte. Es dauerte keine Stunden, sondern Tage.
Ota Qwan schenkte ihm kaum mehr Beachtung. Nun, da er der oberste Heerführer war, verhielt sich Ota Qwan laut, entschieden und fern von den anderen; er war zu wichtig geworden, um seine Zeit mit einem neuen Krieger zu vergeuden. Peter kehrte von dem Furtkampf, wie die Sossag ihn nun bereits nannten, in das Lager zurück. Er war benommen – vor Müdigkeit und einer Dunkelheit in seinem Innern, die er nicht einmal als Sklave gekannt hatte.
Drei Nächte hintereinander saß er vor einem erloschenen Feuer, starrte auf die erkalteten Kohlen und dachte daran, sich das Leben zu nehmen.
Und dann hörte er Ota Qwan, wie er Anweisungen und Befehle gab, wie er führte und forderte.
In der vierten Nacht des Rückmarsches kam Skahas Gaho auf ihn zu, setzte sich neben ihn und bot ihm ein wenig Hasenfleisch an. Er aß davon, und dann tranken sie gemeinsam etwas von dem Met des Toten. Er war honigsüß. Der Sossag-Krieger war schnell betrunken und sang seine Lieder, während Peter die Lieder seines eigenen Volkes sang. Am Morgen tat ihm zwar das Herz weh, aber er lebte noch.
Das war ihm auch recht. Sobald die Sonne aufging, liefen sie weiter, doch plötzlich fiel jeder Krieger flach zu Boden, sodass Peter einen Augenblick lang der einzige Stehende war. Dann warf er sich ebenfalls hin. Er hatte sich derart in seinen Schmerz vergraben, dass er das Signal nicht bemerkt hatte.
Späher schlichen sich in das Gebüsch und kamen mit Berichten zu Ota Qwan zurück. Das Gerücht lief durch die Kolonne, dass sich eine große Armee auf der Straße befinde. Sie war viel zu groß und gut ausgerüstet, als dass die Sossag sie allein hätten angreifen können.
Sie hatten den Furtkampf gewonnen, aber viele Krieger verloren. Zu viele. Zu viel Erfahrung, zu viel Geschick.
So erhoben sie sich wieder genauso rasch, wie sie sich hatten fallen lassen. Es war, als beherrschte ein einziger Geist die vielen Körper. Sie liefen nach Norden, kletterten in die Vorberge der Adnaklippen und gingen dem Feind um viele Meilen aus dem Weg. Erst nach drei Tagen zermürbenden Marschierens durch das schwierigste Gebiet, das Peter je gesehen hatte, schlichen sie über einen Vorsprung und sahen ihre Lager in den Wäldern und auf den grünen Feldern des Lissen – genau dort, wo er in den Cohocton floss. Vom Kamm des Vorsprungs aus erkannte Peter Tausende Lichtpunkte – wie die Sterne am Himmel. Aber jeder von ihnen bedeutete ein Feuer, und um jedes von ihnen standen ein Dutzend Menschen oder Kobolde oder andere Kreaturen – solche Geschöpfe, wie sie Thorn dienten. Und dennoch liebten sie das Feuer. Weitere Kreaturen schliefen in den Wäldern, in den Wassern oder im Schlamm.
Peter ließ Skahas Gaho an ihm vorbei, stand im tiefer werdenden Zwielicht auf dem Kamm und blickte hinunter. Beinahe zu seinen Füßen erhob sich die Festung, die von den Sossag nur der Fels genannt wurde. Ihre Türme wirkten wie abgebrochene Zähne, ihre Schießscharten glitzerten im Feuerschein wie Irrlichter.
Und tief im Osten, am Rande seines Blickfeldes, sah er weitere Feuer brennen. Sie gehörten zu der Armee, die die Sossag umrundet hatten. Zum König von Albia.
Die Armeen waren versammelt, und im letzten Licht des Tages sah Peter zu, wie eine große Schar von Raben und Geiern in den Luftströmungen über dem Tal des Cohocton kreisten.
Und warteten.
Er setzte sich und betrachtete das Spiel des Lichts – das massive Pulsen der Macht, das wie ein Sommersturm hin und her wogte.
Lissen Carak · Thurkan
Thurkan beobachtete, wie die dunkle Sonne davonlief. Er hatte gesehen, wie der feindliche Hauptmann Thorn entgegengetreten war und ihn mit blauem Feuer beworfen hatte, bis der Zauberer der Wildnis geflohen war. Und im Gegensatz zu Thorn war die Leibwache der dunklen Sonne gekommen und hatte diese gerettet, während sich ihre Reihen eng um den Hauptmann geschlossen hatten.
Der Dämon hatte vieles über die Fähigkeiten der Ritter gelernt.
Er wandte sich an seine Schwester. »Thorn ist geschlagen.«
Sie spuckte aus. »Thorn ist nicht mehr geschlagen, als du es in der letzten Nacht warst. Thorn hat gesagt, er werde die große Maschine-die-Steine-wirft töten, und er hat es getan. Hör mit deinem närrischen Geplärre auf.«
Thurkan zitterte vor dem unterdrückten Verlangen zu kämpfen.
»Ich werde Thorn herausfordern«, sagte er.
»Das wirst du nicht«, erwiderte Mogan.
Lissen Carak · Michael
Die Belagerung von Lissen Carak. Dreizehnter Tag.
In der letzten Nacht kam der Feind mit all seiner Macht und stürmte auf die Festung zu. Der Magus des Königs und die Äbtissin sowie der Rote Ritter duellierten sich mit ihm und trieben ihn zurück. Aber die Äbtissin starb bei der Verteidigung ihrer Festung; sie wurde von einem abscheulichen Verräter in den Rücken geschossen.
Michael saß da, hatte den Kopf auf die Hand gestützt und betrachtete die hastig niedergeschriebenen Worte. Er nahm einen Schluck Wein und versuchte, nicht über seinem Buch einzuschlafen. Der Hauptmann befand sich im Krankensaal. Seine Brustplatte zeigte einen Riss von der Größe einer Faust. Sie hatten fünf Soldaten verloren.
Die Bogenschützen sagten offen, dass es an der Zeit war, nach neuen Bedingungen zu fragen.
Er drehte sich auf dem hölzernen Schemel, den er benutzte. Kaitlin Lanthorn lag vollständig angezogen auf seinem Schlafsack. Sie war nach der Rückkehr der Kampftruppe hergekommen, hatte ihn geküsst und war an seiner Seite geblieben, während er sich um einige Kleinigkeiten gekümmert hatte – zum Beispiel darum, dass der Rüstmeister den Riss aus der Brustpanzerung des Hauptmanns entfernte.
»Du solltest nicht hier sein«, sagte er.
Sie lag mit offenen Augen da. »Ich bin schwanger«, sagte sie und setzte sich auf. »Oh, ich könnte mich irren, aber Amicia sagt auch, dass ich es bin. Sie wird es wissen.« Kaitlin zuckte mit den Achseln. »Ich bin schwanger, und dieser Zauberer wird uns alle töten. Was macht es also noch aus, wenn ich die Nacht mit dir verbringe?«
Michael versuchte, wie der Hauptmann zu denken. Alles ins Gleichgewicht zu bringen. Doch es gelang ihm nicht, und so legte er seine Schreibfeder beiseite und nahm ihr Gesicht zwischen die Hände. »Ich liebe dich«, sagte er.
Sie lächelte. »Das ist gut«, sagte sie. »Denn ich liebe dich auch, und wir werden ein Kind haben.«
»Falls wir die nächsten Tage überleben.« Er legte sich neben sie.
Sie drehte sich zu ihm hin. »Ich glaube, du wirst mich beschützen.«
Michael starrte in die Dunkelheit.
Meg war zusammen mit ihrer Tochter Sukey und einem Dutzend anderer Nonnen und ortsansässiger Frauen damit beschäftigt, die Toten zurechtzumachen.
Diesmal gab es kein Gefühl des Triumphes. Der Preis war hoch gewesen – die Äbtissin war tot, und die Reihe von Gestalten, die in weißes Leinen eingewickelt waren, zeigte nur allzu deutlich die Verluste des Konventes und der Söldnertruppe an.
Und der Rote Ritter war fort, war in den Krankensaal gebracht worden.
Die Äbtissin war durch einen Pfeil gestorben. Doch niemand schien sich um diesen Mordfall zu kümmern.
Mary Lanthorn glättete das Leinen über Ser Thomas Durren. »Er war so hübsch«, sagte sie.
Fran schüttelte den Kopf. Sukey schluchzte, und Meg zog den Kopf ihrer Tochter an sich heran. Auch Sukeys Mann war gestorben. Er lag unter dem dritten Tuch von rechts. Sie hielt Sukey lange fest und machte sich dann daran, Dreibein einzuwickeln. Sein Körper war zerschmettert worden, sein Gesicht war beinahe völlig verschwunden, und doch legte Meg das frische weiße Leinen ganz sanft um ihn. Solche Einzelheiten bedeuteten ihr viel.
Gott, lass diese Jungen schnell zu dir kommen – trotz des Lebens, das sie geführt haben.
»Ich habe gehört, dass der Rote Ritter in Lebensgefahr schwebt«, sagte Mary.
Amy Carter schaute auf. »Diese Novizin wird ihn bestimmt retten. Amicia.«
Kitty sah ihre Schwester an. »Die Männer sagen, sie sei eine Hexe.« Dann richtete sie ihren Blick kurz auf Sukey und Meg, bevor sie sich wieder ihrer Schwester zuwandte. »Ben sagt, dass sie die Äbtissin getötet hat.«
Amy machte große Augen.
Meg legte die Hand auf die Schulter des Mädchens. »Solche Gerüchte solltet ihr besser nicht verbreiten, Mädchen.«
»Man hört es überall in den Stallungen«, sagte Kitty. »Alle Jungen sagen, dass ein paar von den Schwestern Hexen sind.«
Schwester Miram schüttelte gerade ein Leichentuch aus. Ihr Gehör musste unnatürlich scharf sein. Dann drehte sie sich um.
»Wer behauptet, dass wir Hexen sind?«, wollte sie wissen.
Kitty wurde bleich.
Miram runzelte die Stirn. »Wer verbreitet dieses Gift, Kind?«
Kitty blickte sich unsicher um. »Mein Bruder Ben sagt, der Priester hätte es gesagt.«
Sukey sah ihre Mutter an. »Bill Fuller sagt es auch«. Sie spuckte die Worte geradezu aus. »Fuller hat die ganze Nacht hindurch Mist geredet.«
Miram ließ ihre Blicke durch den Raum schweifen, dann wandte sie sich dem ersten Leichnam in der Reihe zu, der kleiner als die anderen war. Es war der der Äbtissin.
»Ich bin nachlässig geworden«, sagte Schwester Miram. »Ich habe es zugelassen, dass mein Blick auf die irdischen Frevel getrübt wird.«
Kitty Carter warf ihrer Schwester einen Blick zu. »Ich glaube wirklich nicht, dass Amicia die Äbtissin umgebracht hat.«
Amy rollte mit den Augen.
Lissen Carak · Der Rote Ritter
Der Morgen war noch nicht angebrochen, als er zu sich kam. Geräusche auf dem Gang hatten ihn geweckt. Er hörte Waffenlärm – und er lag im falschen Bett.
Neben ihm befand sich kein Schwert.
Die Tür wurde geöffnet, und Schwester Miram betrat seine Zelle im vollen Ornat des Ordens. Dahinter kamen Ser Jehannes in seiner Rüstung sowie Michael, Johne le Bailli und Meister Random.
Er zog die Leinendecke über seinen Brustkorb.
»Die Äbtissin ist beim Angriff des Feindes gestorben«, sagte Schwester Miram. Ihr Gesicht schien gealtert.
Der Hauptmann hatte sie kaum gehört. Es dauerte einen Augenblick, bis er ihre Worte verstanden hatte.
»Das tut mir so leid«, sagte er. Sinnlose, leere Worte waren das.
»Es wird offen über Verhandlungen gesprochen und darüber, die Festung für einen freien Abzug aufzugeben«, sagte Ser Jehannes. Die anderen zuckten unter seinem barschen Tonfall zusammen.
»Nein«, sagte der Hauptmann. »Wir werden uns weder ergeben noch verhandeln.« Er bemerkte, dass seine Rippen bandagiert worden waren und man ihm die Haare geschoren hatte. Die Äbtissin war tot, und er erkannte, dass er sie in gewisser Weise geliebt haben musste.
Immer auf der Suche nach einer besseren Mutter, dachte er. »Wenn ihr es jetzt bitte alle ermöglichen wolltet, dass Michael mich ankleiden kann …«, sagte er leise.
»Beeilt Euch damit«, meinte Ser Jehannes. »Etwas geschieht. In diesem Augenblick. Unter den Männern des Ortes. Und einige unserer Männer schließen sich ihnen an.«
Schwester Miram zog sich zur Tür zurück. »Sie hätte niemals aufgegeben«, sagte sie ruhig. »Die Männer im Hof behaupten, Amicia hätte es getan«, fügte sie hinzu.
Der Hauptmann zuckte zusammen und begegnete ihrem Blick. »Ich werde mich darum kümmern.«
Die Nonne ging nach draußen und schloss die Tür hinter sich.
Der Hauptmann kämpfte sich aus dem Bett, dabei wurde ihm ein wenig schwindlig. Nun suchte ihn ein Gefühl heim, das er aus seiner Kindheit kannte – das Gefühl, seine hermetischen Kräfte vollkommen aufgebraucht zu haben. Es war eine ungeheure Leere, aber gleichzeitig auch ein gutes Gefühl, wie es einem ein durchtrainierter Körper verschaffte.
Prudentia ist tot.
Es war nicht das erste Mal, dass gute Menschen sterben mussten, um ihn am Leben zu halten.
Toby erschien mit seinem alten schwarzen Wams und seiner alten schwarzen Hose und seinem feinen Goldgürtel. Er wirkte erschrocken.
Es dauerte lange, bis er endlich die Hose angezogen hatte – er versuchte seinen Herzschlag zu beruhigen. Und an etwas anderes als an die Äbtissin und seine Lehrerin zu denken.
»Sie wurde ermordet«, sagte Ser Jehannes. »Jemand hat der Äbtissin einen Pfeil in den Rücken geschossen.« Er senkte die Stimme. »Gelfred sagt, Hexenholz sei es gewesen.«
Bei dieser Vorstellung wurde ihm übel.
»Und niemand hat es gesehen?«, fragte er müde.
»Alle haben die Kämpfe vor den Mauern beobachtet«, antwortete Ser Jehannes.
Der Hauptmann seufzte. »Sichert die Tore und alle Tunnel. Es gibt einen unter dem Bergfried, der aus der Festung herausführt. Im Augenblick wird er von unseren Wagen blockiert, aber stellt dort zwei gute Bogenschützen auf die Treppe. Und sagt mir Bescheid, sobald das alles erledigt ist.«
»Wenn Ihr sagt, ich sollte das sichern …«, begann Ser Jehannes, dann hielt er inne.
»Als wollten wir die Festung für uns selbst einnehmen«, erwiderte der Hauptmann barsch. »Als ob wir in Gallyen wären. Vertraue niemandem, der nicht von uns ist. Setze Gewalt ein, wenn es nötig wird. Sichere die Ausgänge, Jehannes!«
Der alte Ritter salutierte. »Ja, Herr.«
Michael brachte seine Stiefel herbei. Er zog sie dem Hauptmann an und band das obere Ende der Schäfte am Pourpoint des Hauptmanns fest.
»Volle Rüstung, Handschuhe, Kriegsschwert«, befahl der Hauptmann.
Michael machte sich daran, ihn zu bewaffnen und zu rüsten. Es dauerte lange, und oft bereitete es dem Hauptmann große Schmerzen. Doch bereits das Tragen der Rüstung war eine deutliche Verlautbarung.
Wams und Kettenhemd drückten wie ein Hemd aus Blei und Pferdehaar auf ihn nieder und kratzten ihn. Viele Ritter glaubten, die Schmerzen, die das Tragen der Rüstung bereitete, entspreche einer Buße vor Gott.
Nun gut.
Dann kamen die Beinschienen an die Reihe, die sich fest um seine Stiefel schlossen, und die Sabatons, die bis zu den Zehen reichten. Michael arbeitete mit erstaunlicher Geschwindigkeit, während Toby ihn unterstützte.
Er stand auf, streckte die Beine, und Michael senkte ihm nun mithilfe von Jacques die Panzerungen für Brust und Rücken über den Kopf und schnallte sie fest.
»Da war eine Kerbe darin, wie Ihr sie Euch nicht vorstellen könnt«, sagte Michael.
»Oh doch, das kann ich«, erwiderte der Hauptmann.
Michael schnaubte. »Carlus sagt, er musste mehr Kraft denn je auf ihre Entfernung anwenden«, meinte er. »Es war, als sei der Stahl verzaubert.«
Jeder von beiden nahm nun einen Teil der Armrüstung – Oberarmschutz, Ellbogenschutz und Unterarmpanzer, die durch Nieten miteinander biegsam verbunden waren, was einem Wunder an Handwerkskunst in vergoldeter Bronze und gehärtetem Stahl entsprach – und befestigten sie mit Bändern zuerst an den Oberarmen und dann an den Schultern. Dann kamen die Schulterplatten an die Reihe und schließlich die Schutzplatten für die Achselhöhlen.
Nun wurde ihm der goldene Gürtel um die Hüfte gelegt.
Schließlich reichte man ihm die Handschuhe, das Schwert und das Abzeichen seines Rangs.
»Fertig, Mylord«, sagte Michael.
Der Hauptmann lächelte – es war so schnell und schmerzlos wie möglich vor sich gegangen. »Du bist ein sehr guter Knappe«, lobte er.
Dann schritt er aus dem Krankenzimmer, warf einen Blick den Hauptkorridor hinunter und bemerkte seinen Bruder.
Gawin ließ die Beine über den Rand des Bettes baumeln.
»Bleib, wo du bist«, sagte der Hauptmann sanft. »Michael, bleib bei diesem Mann.«
Michael nickte und salutierte. Er hatte am Tonfall seines Hauptmannes erkannt, dass es hier keine Widerrede geben konnte.
»Aber …«, begann Gawin.
Der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt.«
Er ging den Korridor hinunter zu dem anderen Krankensaal. Ser Jehannes war schon verschwunden. Der kleine Sym wickelte sich gerade in seinen Gambeson.
»Hast du ein Schwert, Sym?«, fragte der Hauptmann.
Sym nickte wortlos.
Der Hauptmann deutete auf Amicias anmutigen Rücken. Sie stand auf der anderen Seite des Raumes vor dem Waschbecken. »Sie darf diesen Saal nicht verlassen, bis ich zurückkomme«, befahl er. »Wer ihr etwas antut, ist ein toter Mann. Aber sie darf diesen Raum auf keinen Fall verlassen. Ist das klar?«
Amicia drehte sich herum und sah ihn an. »Wie bitte?«
»Zu deinem eigenen Schutz, Schwester«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Pater Henry hat die Äbtissin getötet. Aber er wird versuchen, dir die Schuld zu geben.«
»Pater Henry?« Sie kam auf ihn zu und legte die Hand vor ihre Brust. »Der Priester?«
Er stand bereits auf der Treppe. »Gehorche. Bei deinem Leben.« Er beachtete ihren Aufschrei nicht, ging die Treppe hinunter, an der Kommandantur vorbei, bis zur Tür, die zum Hof hinausführte. An dieser Tür wartete Tom Schlimm, der ebenfalls in voller Rüstung steckte und eine Streitaxt in der linken Hand hielt.
»Es ist schrecklich«, sagte er.
Der Hauptmann nickte, zog seine Handschuhe an und nahm den Kommandostab aus seinem Gürtel. »Zu mir«, befahl er, und Tom öffnete die Tür.
Der Lärm traf ihn. Zuerst machte er Wut aus – und dann Angst.
Jeder Bauer und jeder Pächter war draußen im Hof – vierhundert Männer und Frauen eingepfercht auf vierhundert Quadratellen. Der Lärm schien ein lebendes Wesen zu sein.
Zur Apotheke führte eine Holzstufe hoch, und zwei seiner Soldaten sicherten den Eingang.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes stand ein Dutzend kräftiger Bauern zusammen. Einige Kaufleute hatten sich zu ihnen gesellt.
Der Hauptmann wandte sich an Carlus, und dieser blies in seine Trompete. Es war ein lauter und schriller Ton.
Jeder Kopf drehte sich.
Der Hauptmann hob seinen Stab über die Versammelten. »Zerstreut euch!«, rief er in die plötzlich entstandene Stille hinein. »Es werden keine Verhandlungen geführt, und wir werden uns auch nicht ergeben«, fuhr er fort.
Ein gefährlich klingendes Murmeln setzte ein.
»Bitte geht zurück zu euren Betten und euren Posten. Ich will nichts mehr davon hören.« Die Stimme des Hauptmanns klang ruhig und gefasst.
Einer der Kaufmänner hob den Kopf. »Wer seid Ihr, Messire, dass Ihr für uns entscheiden wollt?«
Der Hauptmann holte tief Luft und kämpfte mit dem Funken der Wut, der sich in ihm entzündete. Warum verschafften ihm gerade gute Männer immer ein solches Gefühl? »Ich will nicht mit euch darüber rechten«, sagte er. »Wer gehen will, für den wird das Tor geöffnet.«
Ein Bauer schrie: »Verdammt, das ist der sichere Tod! Es ist unser Land, das hier vernichtet wird! Es sind unsere Gehöfte, die brennen, Söldner! Mach den Weg frei, oder wir werden dich hinauswerfen!«
Jehannes winkte ihm von der Winde des Fallgitters aus zu. Er hielt einen Schlüssel in der Hand.
»Diese Festung steht unter dem Schutz meiner Truppe«, sagte der Hauptmann laut. »Die Äbtissin hat mich mit der Verteidigung beauftragt, und ich werde die Festung halten, bis ich tot bin. Die Macht, die uns belagert, wird nicht zögern zu lügen, zu täuschen oder uns zu verraten und dem Untergang zu weihen – aber sie wird es auch niemals zulassen, dass hier jemand lebend herauskommt. Die einzige Hoffnung, die jedem von euch bleibt, besteht darin, bis zum letzten Blutstropfen gemeinsam mit uns Widerstand zu leisten. Oder besser noch – bis zum letzten Blutstropfen des Feindes.« Er sah sich um. »Der König …« Er erstickte beinahe an diesem Titel, doch er bekam ihn heraus. »Der König ist auf dem Weg hierher. Überlasst euch nicht der Verzweiflung. Und jetzt geht bitte auseinander.«
»Du kannst nicht gegen uns alle ankämpfen!«, rief der Bauer.
Der Hauptmann seufzte. »Wir können sogar jeden Einzelnen von euch töten.« Lauter fuhr er fort: »Seht euch doch um. Hätte die Äbtissin jemals aufgegeben? Sie ist noch nicht einmal beerdigt, und ihr wollt euch schon ergeben?« Er begab sich mitten in die Menge, trotz Toms Einwänden. Dort schob er die Menschen auseinander, bis er Aug in Auge mit dem kräftigen Bauern stand.
»Der Priester sagt, sie ist eine Hexe«, meinte der Bauer.
Die Leute bewegten sich langsam von ihm fort.
»Der Priester sagt, all diese sogenannten Nonnen sind Hexen!«, beharrte der Bauer. »Sie haben Seelen, so schwarz wie die Nacht!«
Einige Männer nickten, die Frauen hingegen nicht.
Der Hauptmann hakte sich bei dem Bauern unter. »Komm mit mir«, sagte er.
»Ich muss nicht – aaah!« Der Bauer geriet ins Taumeln. Er konnte sich dem gerüsteten Mann nicht widersetzen und wurde nun durch die Menge zum großen Tor gezogen.
Das Tor stand offen, und hinter den Mauern der Festung schien die Sonne.
»Sieh hinaus«, befahl der Hauptmann. »Sieh dir doch an, was Thorn getan hat. Er hat seinen König verraten. Er hat sich zu einem Geschöpf der Wildnis gemacht, zu einem unvergleichlichen Zauberer, der weder vom Gesetz noch von seinen Freunden im Zaum gehalten werden kann. Glaubst du etwa, er ist besser als deine Äbtissin? Nur weil ein Priester dir gesagt hat, dass Schwarz Weiß ist und dass Weiß Schwarz ist?« Der Hauptmann spuckte diese Worte geradezu aus.
»Und dir soll ich vertrauen?«, knurrte der Bauer.
»Da du offensichtlich ein Narr bist – ja. Du solltest mir besser vertrauen, denn ich kämpfe für deinen Schutz – im Gegensatz zu diesem gottverdammten Priester, der deine Äbtissin ermordet hat!«
Die Menge wich vor ihm zurück, und er vermutete, dass in seinen Augen ein Feuer loderte.
Der Bauer blieb standhaft, aber sein Kiefer bebte. »Du bist einer von denen. Und der Priester sagt, dass die andere Hexe die Äbtissin umgebracht hat. Wegen ihrer Macht.«
Wieder erhob sich Gemurmel in der Menge. »Du bist einer von denen!«, rief ein Mann in der ersten Reihe.
»Ich bin das, was ich sein will«, sagte der Hauptmann. »Ich habe meine Wahl getroffen. Und wie sieht eure Wahl aus?«
Tom und Jehannes traten hinter ihn – und mit ihnen ein Dutzend weiterer Soldaten in Rüstungen sowie die meisten der Bogenschützen. Es befanden sich noch mehr Bogenschützen auf den Mauern sowie auf den Stümpfen der Türme.
»Zwingt mich nicht dazu«, sagte der Hauptmann zu der Menge.
Schwester Miram kam mit der Näherin Meg aus den Trümmern der Kapelle und hob die Arme.
Meg spuckte aus. »Sieh dich bloß mal an, Bill Fuller.« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Du spielst mit dem Feuer. Willst du etwa hier stehen bleiben und erschossen werden?« Dann betrachtete sie die Menge. »Geht in eure Betten zurück. Macht schon! Wir haben die Äbtissin verloren und sollten hier nicht noch mehr Blut vergießen.«
»Wir können sie überwältigen«, sagte Fuller, aber sein Tonfall verriet, dass er log.
Meg trat vor ihn und versetzte ihm eine Ohrfeige. »Du bist schon immer ein Narr und ein Schwächling gewesen, Bill Fuller«, sagte sie. »Sie werden jeden Einzelnen von uns töten, wenn sie es müssen. Wir könnten sie nicht einmal verletzen. Und wozu? Der Feind steht da draußen!«
Johne le Bailli kam ebenfalls aus der Kapelle. »Gut gesprochen, Meg.« Er stellte sich neben Tom Schlimm auf. »Ich stehe zu dem, was die Äbtissin gewollt hätte. Wir werden uns nicht ergeben.«
Megs Tochter Sukey kam zu ihr. Sie zitterte.
Die Carters pflügten sich durch die Menge.
Dan Favor ging und stellte sich hinter Ser Jehannes.
Amy Carter packte ihre Schwester am Handgelenk und zog sie quer über die freie Stelle des Hofes. Dann drehte sie sich um und stellte sich der Menge entgegen. »Seid doch keine Narrenschar!«, rief sie. »Ihr seid behext worden. Spürt ihr es denn nicht? So dumm könnt ihr doch gar nicht sein!«
Die Wäscherin Liz stellte sich ebenfalls zu Tom. Katie Lanthorn kam über den Hof herbei.
»Schlampen und Huren!«, rief eine Stimme.
Die Köpfe der Menge drehten sich allesamt gleichzeitig zu ihr um.
Pater Henry sah aus, als hätte er am Kreuz gehangen. Sein Gesicht war mit altem, getrocknetem Blut beschmiert. Seine Robe war zerfetzt, schlackerte ihm um die Hüfte und enthüllte seinen asketischen Körper, der mit Schnitten übersät war.
Die Menge teilte sich für ihn. Wie ein König ging er zwischen den Menschen umher.
»Schlampen und Huren. Sind das deine Verbündeten, Satan?« Er trat an den Rand der Menge.
»Nicht alle sind Schlampen, Priester«, sagte Meister Random und bahnte sich einen Weg durch die Menge. »Adrian! Allan Pargeter! Was habt ihr mit diesem Mann getan? Habt ihr ihn aufgewiegelt?« Meister Randon suchte in der Menge nach anderen Lehrlingen, die er kannte.
»Ihr habt die Äbtissin getötet«, sagte der Hauptmann.
Pater Henry richtete sich zu seiner vollen Größe auf, und der Hauptmann wusste, dass er gewonnen hatte. Dieser Mann war zu stolz, um sein Verbrechen zu leugnen.
Narr.
»Sie war eine Hexe, ein Geschöpf des Satans, die ihre eigenen Begierden über …«
Ein Stein traf den Priester am Kopf. Er fuhr herum und sah nun nicht mehr wie ein sanfter gekreuzigter Jesus aus. Nun wirkte er eher wie ein Wahnsinniger. In seinen Augen loderte die Wut.
»Ergreift diesen Mann«, rief der Rote Ritter und deutete mit seinem Kommandostab auf den Priester.
Tom Schlimm holte mit seiner Streitaxt aus und riss dem Priester die Beine unter dem Körper weg. Er fiel zu Boden. Tom trat ihn heftig; sein gepanzerter Fuß verursachte einen dumpfen, fleischigen Klang, als er sich in den Bauch des Priesters grub.
Der Priester musste sich übergeben.
Zwei Bogenschützen rissen ihn wieder auf die Beine. Er wollte etwas sagen, doch sofort schlug ihm der Stab von Toms Axt gegen das Fußgewölbe. Er kreischte auf.
Und plötzlich gab es keine aufgebrachte Menschenmenge mehr, sondern nur noch verängstigte Leute, die sich nach Rettung sehnten.
Und die meisten von ihnen fragten sich: Wo bleibt der König?