Ser Milus beobachtete sie alle sehr genau.
»Ist das alles, was ihr an diesem Pfosten zuwege bringt?«, fragte er Gwillam.
Der Sergeant zuckte die Schultern. »Seit meiner Kindheit habe ich nicht mehr an einem Pfahl geübt«, gab er zu.
Ser Milus nickte. »Wollt ihr ein Ungeheuer zur Strecke bringen?«, fragte er die Männer, »oder bloß einen Menschen?«
»Nein, wirklich nicht«, antwortete Dirk. Seine Gefährten lachten.
Ser Milus drehte nicht einmal den Kopf. Es gab keine Vorwarnung. Im einen Augenblick stützte er sich noch auf seinen Kriegshammer, und im nächsten hatte er Dirk Kehlenschlitzer mit dem Gesicht voran in den Schlamm geworfen und ihm den Arm auf den Rücken gedreht.
»Falsch«, sagte er.
»Jesus Christus!«, jammerte Dirk.
Ser Milus ließ ihn los – und lächelte, denn jetzt hatte er die Aufmerksamkeit aller errungen.
»Jeder von uns wird ab jetzt an diesem Pfosten üben, und zwar jeden Tag, an dem wir nicht auf der Mauer kämpfen müssen«, sagte er wieder im Plauderton. »Und zwar, als ob es ein richtiger Kampf wäre. Ich werde euch zeigen, wie das geht. Und wenn ihr den Pfosten durchhaut – umso besser!« Er grinste. »Dann könnt ihr eure Entschlossenheit beweisen, indem ihr den nächsten Pfosten aufstellt.« Er zeigte auf John Lee. »Du hast einen guten Schlag.«
Lee zuckte die Achseln. »Ich hacke viel Holz.«
»Versuch es noch einmal. Aber diesmal schlägst du zu, als würdest du gegen einen anderen Mann kämpfen.« Ser Milus zeigte auf den Pfosten.
Der Schiffer trat darauf zu und hob seine Axt wie ein Mann, der einen fliegenden Ball abwehren möchte.
Ser Milus nickte anerkennend. »Gute Stellung.«
Der frühere Schiffer hieb auf den Pfosten ein, und ein Holzsplitter flog heraus. Dann zog er die Axt zurück und schlug erneut zu.
Ser Milus ließ ihn zehn Schläge machen. Er atmete schwer, und sein zehnter Schlag war nicht mehr annähernd so heftig wie sein neunter.
Milus zwirbelte seinen grauen Schnauzbart mit der linken Hand. »Mach eine Pause. Atme tief durch.« Er nickte. »Sieh mir zu.«
Er trat an den Pfosten heran und hielt seinen Streithammer gesenkt.
Dann hob er die Waffe, und der Dorn am hinteren Teil berührte den Pfosten nur leicht. Er tanzte auf den Zehenspitzen nach rechts, was trotz seiner Rüstung leicht und anmutig wirkte, hielt den Hammer hinter sich und schlug rückwärts zu. Wieder tänzelte er herum, und der Hammerkopf biss in den Pfosten und hinterließ dort eine tiefe Scharte. Der Ritter bewegte sich wie eine Katze, vor und zurück, und stieß mit der Speerspitze am Hammerkopf zu. Dann trat er weit zurück, als wollte er einem Gegenschlag ausweichen, und drehte den Hammer in der Hand. Nun stieß die Spitze seitlich in das Holz, prallte davon ab, und Ser Milus fasste die Waffe fester, um einen weiteren Schlag zu machen.
Lee nickte. »Fast konnte ich den Mann sehen, gegen den Ihr gekämpft habt«, gab er zu.
Gwillam hielt sich für einen guten Kämpfer und trat nach vorn. »Ich will es auch versuchen«, sagte er. Seine Waffe war ein schwerer Speer mit einer Spitze, die so lang wie sein Arm und so breit wie seine Handfläche war. Auf den Fußballen sprang er vor und hieb auf den Pfosten ein – zweimal von der einen Seite, einmal von der anderen, dann wich er wieder zurück.
»Gebrauche deine Hüften«, sagte Ser Milus. »In ihnen steckt mehr Kraft als in deinen Armen. Spar dir die Arme, sie werden am schnellsten müde.« Er nickte den anderen zu. »Es ist wie ein Handwerk, Freunde. Der Schmied übt das seine jeden Tag aus, der Bauer pflügt, der Gipser tüncht, der Schiffer arbeitet auf seinem Schiff. Schlechte Soldaten liegen faul auf dem Rücken. Gute Soldaten aber machen so was hier. Den ganzen Tag über, jeden Tag.«
Kehlenschlitzer schüttelte den Kopf. »Meine Arme sind schon müde«, sagte er.
Ser Milus nickte. »Aber die Irks sind es nicht.«
Southford bei Albinkirk · Prior Ser Mark Wishart
Der König hatte den Rittern des Priors zwei Boten mitgegeben. Der Prior geleitete die Männer von Southford, einer südlichen Vorstadt von Albinkirk, vorsichtig nach Nordwesten; beinahe verschmolzen ihre schwarzen Umhänge mit dem Unterholz. Seine Männer ritten mit Leichtigkeit durch die tiefsten Wälder und das dichteste Gestrüpp.
Oft hielten sie an. Dann stiegen einige ab und krochen voran, meist zum Kamm eines steilen Hügels, und winkten die anderen herbei, wenn keine Gefahr drohte.
Trotz dieser Verzögerungen kamen sie gut vorwärts. Manchmal preschten einzelne Ritter davon – bisweilen im rechten Winkel zur Marschreihe – und fanden stets zu ihr zurück.
Schwer verständlich war für die beiden Boten des Königs das Schweigen. Die Ritter des Ordens vom heiligen Thomas sprachen nie. Sie ritten schweigend, und ihre Pferde waren gleichermaßen still. Sie hatten keine Pagen, keine Diener, keine Knappen. Vierzig Reservepferde – ein wahres Vermögen – folgten dem Haupttross und waren mit Taschen und Vorräten beladen, hatten aber kein Zaumzeug. Sie folgten den übrigen Pferden in schnellem Trab.
Es war unheimlich, wie der ältere Bote sagte.
Aber es war eine aufregende Sache, mit den Rittern des heiligen Thomas durch die Nordlande zu reiten. Galahad Acon war für die Kirche des Heiligen in London bestimmt und fühlte sich schon fast wie einer der Ritter. Sein Gefährte, Diccon Alweather, war bereits zu Zeiten des alten Königs dessen Bote gewesen: ein wettergegerbter Mann mit mehr Narben als gebräunter Haut, wie er zu sagen pflegte.
Die Boten waren an harte Ritte und keine andere Gesellschaft als ihre Pferde gewöhnt. Doch sogar für sie war es ein anstrengender Tag – fünfzehn Meilen über unebenes Gelände, das mit jeder Stunde ihre Reitfähigkeiten herausforderte. Die Ritter hingegen schienen nicht müde zu werden. Viele von ihnen waren älter als Alweather.
Gegen Abend kam einer der jüngsten Ritter zum Haupttross zurück und führte sie in nördliche Richtung auf einen steilen Berg.
Ohne ein Wort stieg jeder Ritter ab. Alle zogen ihre Langschwerter aus den Sattelscheiden, teilten sich in vier Gruppen zu je fünfzehn Mann und gingen davon.
Der Prior wartete einen Augenblick und sah die beiden Boten an. »Wartet hier«, sagte er. Das waren die ersten Worte, die Galahad von einem der Ritter gehört hatte, seit sie das königliche Lager verlassen hatten.
Die schwarz gekleideten Ritter verschwanden im Wald.
Eine Stunde verging. Es war kalt. Die Frühlingsabende wurden zwar länger, aber nicht wärmer, und Galahad wusste nicht, ob ihm schon kalt genug war, um seinen dicken Mantel aus dem Bündel hinter dem Sattel zu nehmen oder nicht. Er wollte nicht im falschen Augenblick absteigen. Er verfluchte den Prior und dessen Schweigen.
Dann sah er den älteren Boten an, der anscheinend in völliger Ruhe und Gelassenheit wartete – eine ganze Stunde lang.
»Da kommen sie«, sagte Galahad plötzlich.
Der Prior trat zu seinem Pferd und schob sein Schwert in die Sattelscheide. »Kommt«, sagte er und lächelte.
Er ging weiter den Berg hinauf, und alle Pferde folgten ihm.
»Unheimlich«, meinte Alweather, spuckte aus und machte ein Schutzzeichen.
Sie breiteten sich aus und stiegen rückwärts weiter nach oben. Es war eine anstrengende Art des Steigens, und im letzten Licht des Tages sah Galahad, dass die Krone des Berges noch steiler und äußerst felsig war.
Das Pferd vor ihm scheute, und dann war wieder alles still. Galahad schaute nach unten und bemerkte einen Leichnam. Und dann noch einen. Und noch einen und noch einen.
Es waren keine Menschen. Er war sich nicht sicher, was sie waren – klein und braun, mit großen Köpfen und starken Muskelsträngen, wundervoll genähten Lederkleidern und gewaltigen Wunden, die von Bidenhändern stammten.
»Gütiger Christus«, sagte Alweather.
Er roch Feuer, und dann hatten sie den Gipfel erreicht.
Die Spitze des Berges war abgeflacht, und dort befand sich eine Senke. Es war wie ein gewaltiger Becher, und die Ritter hatten bereits drei Feuer entzündet, über denen Mahlzeiten kochten. Galahads Magen, der sich beim Anblick der nichtmenschlichen Leichen mit ihrem rot-grünen Blut umgedreht hatte, beruhigte sich beim Geruch des Essens wieder. Es gab Erbsensuppe.
»Sattelt eure Pferde ab und striegelt sie«, sagte der Prior. »Danach müssen sie sich um sich selbst kümmern.«
Alweather runzelte die Stirn, aber Galahad weigerte sich, sich von der Vorsicht des alten Priors anstecken zu lassen. Voller Freude, wie er war, lebte er gerade einen seiner geheimen Träume.
Alweather hingegen wäre liebend gern zum König zurückgekehrt.
»Sie haben vor Kurzem eine Schlacht geschlagen«, sagte Galahad, während seine Augen im Feuerschein glitzerten. »Und wir haben sie nicht einmal gehört!«
Der Prior lächelte Galahad an. »Es war eigentlich keine Schlacht«, sagte er. »Eher ein Massaker. Die Irks haben uns nicht kommen sehen.« Er zuckte die Schultern. »Nimm dir etwas Suppe. Der morgige Tag wird härter werden.«
Lissen Carak
Es war eine ruhige Nacht. Die Belagerten fielen in den Schlaf. Pampe schrie im Traum, und Tom schnarchte wie ein Schwein. Michael murmelte etwas in seinen ausgestreckten Arm; er schlief allein. Die Äbtissin weinte leise in der Dunkelheit, stand auf, kniete nieder und betete vor dem Triptychon, das auf einem kleinen Podest in der Ecke ihrer Zelle stand. Schwester Miram lag schlafend auf dem Bauch und war erschöpft davon, die Wunden so vieler Männer geheilt zu haben. Sym weckte sich selbst mehrfach, indem er schrie, und dann schlang er die Arme um sich und starrte auf grauenvolle Dinge in der Finsternis, bis die schöne Novizin kam und sich zu ihm setzte.
Doch wie lang und tief die Nacht auch immer sein mochte, der Feind war still, und die Belagerten schliefen.
Im ersten Licht des Morgens schlug der Feind zu.
Die Belagerung von Lissen Carak. Neunter Tag.
Heute hat der Feind das ganze Land um die Festung herum abgebrannt – bis hin zu den Wäldern.
Die Menschen – die verräterischen Wildbuben – haben alle Gehöfte, Scheunen und Katen und sogar kleine Flecken im Wald niedergebrannt.
Die Bauern standen auf den Mauern und sahen zu. Einige haben geweint. Wir wurden verflucht, weil wir armselige Soldaten abgäben, da wir erlaubten, dass die Wiesen und Felder verbrannt wurden.
Die Äbtissin kam heraus und sah ebenfalls zu, dann versprach sie, dass alles wieder aufgebaut würde.
Aber viele Herzen haben sich abgewandt. Vor Mittag befanden sich die Kreaturen des Feindes wieder in der Luft über der Festung. Wir konnten sie erneut spüren.
Lissen Carak · Die Näherin Meg
Es war ein einfacher, aber unaufhaltsamer Umstand, der die Art der Belagerung veränderte und die Bauern und schlichten Leute in der Festung so entsetzlich niederschmetterte, dass kein militärischer Sieg es mehr wettmachen konnte.
Die ersten Feuer waren im Nordosten zu sehen. Hawkshead, das am weitesten östlich gelegene Dorf der Festung, wurde angezündet, noch bevor der Morgen den Himmel erhellte. Die letzte Nachtwache sah den Ort bereits vollständig in Flammen stehen.
Als die Sonne schon ein rötliches Licht gab, brannte Kentmere im Westen. Inzwischen waren die Mauern der Festung voller Bauern. Dann folgte Abbington.
Meg sah zu, wie ihr kleines Dorf in den Flammen unterging. Von ihrem hohen Standort aus konnte sie die Dächer zählen, und so bemerkte sie, als auch ihre eigene Kate brannte. Sie sah mit wütender Verzweiflung zu, bis sie nicht mehr erkennen konnte, welches Haus das ihre war. Sie standen allesamt in Flammen – jede Kate, jedes Haus, jede Steinscheune, jeder Hühnerschlag. Die Felder und Wiesen um die Festung herum waren plötzlich voller Feinde – all die Kreaturen, die sich in den ersten Tagen nicht gezeigt hatten. Es waren Kobolde und Irks, Dämonen und Trolle, große Wesen mit glatten Köpfen und Stoßzähnen, von denen die Soldaten behaupteten, es seien Behemothe. Und natürlich Menschen.
Wie sie diese Menschen hasste.
Nun hatte der Feind auch jeden Baum angezündet. Obstgärten mit Apfel- und Pfirsichbäumen, mit Pflaumen- und Dattelbäumen wurden vernichtet. Weinreben, die viele Generationen hindurch gewachsen waren, waren innerhalb von nur einer Stunde verschwunden; ihre Wurzeln waren vom Feuer angesengt oder ganz verbrannt, und jedes einzelne Gebäude stand in Flammen. So weit das Auge blicken konnte, brannte in jeder Richtung ein Flammenmeer, und Lissen Carak war darin eine dunkle Insel.
Meg konnte den Blick nicht von dem Sterben ihrer Welt abwenden.
»Wurst ohne Senf, oder?«, sagte eine dunkle Stimme neben ihrem Ellbogen.
Sie zuckte zusammen und stellte fest, dass dort der riesige schwarzköpfige Hochländer, der Wilde der Söldnertruppe, auf dem anderen Fass neben ihr saß und über die Mauer schaute.
»Krieg ohne Feuer ist wie eine Wurst ohne Senf«, sagte er.
Sie bemerkte, dass sie wütend auf ihn wurde. »Das ist – mein Ort. Mein Haus!«
Der große Mann nickte. Es schien ihm nichts auszumachen, dass sie jetzt weinte. »Das ergibt einen Sinn. An seiner Stelle hätte ich es genauso gemacht.«
Sie drehte sich zu ihm um. »Krieg! An seiner Stelle! Das ist doch kein Spiel! Wir leben hier! Das ist unser Land. Wir bestellen es. Wir begraben unsere Toten darin. Mein Mann liegt da drüben – und meine Tochter.« Die Tränen erstickten ihre Stimme, und in diesem Augenblick hasste sie diesen Riesen mehr als die Kobolde mit ihren schrecklichen Gesichtern und ihrer Bereitschaft, Megs Leben einfach zu verbrennen.
Eindringlich sah Tom sie an. »Es gehört euch nicht, wenn ihr nicht in der Lage seid, es zu verteidigen«, sagte er. »Soweit ich weiß, habt ihr es denen abgenommen, oder? Da sind wohl ihre Toten ebenfalls dort beerdigt. Und da würde ich doch sagen, dass es eigentlich ihr Land ist. Tut mir leid, gute Frau, aber der Krieg ist mein Geschäft. Und beim Krieg gibt es immer eine Menge Feuer. Der Feind zeigt uns, dass wir nur das halten können, worauf wir stehen, und dass er auch gewinnen kann, ohne die Festung einzunehmen. Wir haben ihm in der letzten Nacht wehgetan, und jetzt schlägt er zurück. So ist der Krieg nun einmal. Wenn du nicht willst, dass dein Gehöft niedergebrannt wird, hättest du stärker sein müssen – zumindest stärker, als du bist.«
Sie schlug ihn. Es war ein schneller Schlag, voller Wut, aber ohne große Kraft.
Er ließ es zu.
»Nicht viele können behaupten, dass sie Tom Schlimm geschlagen und danach noch lange überlebt haben«, meinte er. Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln im frühen Morgenlicht, und sie wandte sich ab und lief davon.
Lissen Carak · Thorn
Ohne große Befriedigung sah Thorn zu, wie die Gehöfte und Häuser brannten. Es war ein billiger Sieg, doch er würde helfen, den Widerstand der Bauern zu brechen.
Innerlich zuckte er die Achseln. Oder es stärkte ihre Entschlossenheit, bis zum bitteren Ende zu kämpfen. Jetzt hatten sie außer ihrem eigenen Leben nichts mehr, was sie retten konnten, und selbst wenn er noch ein Mensch gewesen wäre, hätte er Schwierigkeiten gehabt, die anderen Menschen zu verstehen. Er spürte immer deutlicher, dass dieser Wettstreit sogar für seinen Verstand zu verwirrend war. Er hatte sich zum Hauptmann der Wildnis gemacht, doch seine eigenen Interessen wurden in dieser Sache kaum berührt. Er war viel mehr an dem Rätsel interessiert, das die dunkle Sonne darstellte, und an ihr selbst – aber kaum an der Fortsetzung dieser Belagerung.
Nicht zum ersten Mal fragte er sich, was er hier eigentlich tat und warum er sich dieser Sache so sehr verschrieben hatte, dass er bereit war, sich selbst in diesem Kampf in Gefahr zu bringen. In der letzten Nacht hatte er seine unbesiegbare neue Gestalt auf das Feld hinausgetragen – und die Festung hatte ihn verletzt. Zwar war keiner der Schläge, die er hatte einstecken müssen, tödlich gewesen, aber er spürte doch die Schmerzen seiner Anstrengungen und ihrer Schläge. Diese Schmerzen hatten ihn wütend gemacht, und in seiner Wut hatte er ein wenig von seiner sorgfältig gehüteten Macht entfesselt – genug, um die Mauern der Festung zu beschädigen. Es hatte seine Verbündeten beeindruckt, aber die Kosten …
Wieder raschelte er mit seinen Blättern; bei einem Menschen wäre es ein Schulterzucken gewesen.
In der letzten Nacht hatte er zum ersten Mal seit zwanzig Jahren den Hauch der Sterblichkeit gespürt. Er mochte ihren Geruch nicht. Und auch nicht die Schmerzen.
Aber während die Belagerung fortgesetzt wurde, wurde er mehr und mehr zum Sammelpunkt für die Wildnis des Nordlandes, und trotz kleinerer Rückschläge kamen beständig neue Kreaturen herbei. Sein Ruf wurde immer besser, und vor allem dieser Ruf führte auch dazu, dass seine Macht wuchs und wuchs.
Doch nichts davon war noch von Bedeutung, wenn er tot war.
Er dachte an sie.
Er konnte den Kopf nicht mehr schütteln, der nur noch ein gepanzerter Auswuchs auf seinem Nacken war, und er musste sich in der Hüfte drehen, wenn er nach rechts oder links sehen wollte. Aber er machte den Versuch eines Kicherns, als er an sie dachte. Es klang höchst seltsam. In der letzten Nacht hatte sie versucht, ihm unmittelbar wehzutun.
Und er dachte über die dritte Gegenwart nach, die sich neben der dunklen Sonne in der Festung befand. Macht, eine kalte und blaue Macht hatte ihn getroffen. Reine Macht, unbehindert von Zweifel oder Jugend. Ausgebildete, geschärfte Macht, wie feiner Stahl.
Natürlich war es sein Lehrling. Wenn Thorn noch in der Lage gewesen wäre zu lächeln, so hätte er es nun getan.
Harmodius.
Das war ein lösbares Problem.
Lissen Carak · Amicia
Amicia befand sich auf der Festungsmauer und sah die Welt brennen. Sie bemerkte ihn erst, als er neben ihrer Schulter stand.
»Es war nicht mehr als eine Frage der Zeit«, sagte er, als hätten sie schon den ganzen Morgen hindurch miteinander geplaudert.
Sie war sich nicht recht sicher, ob sie überhaupt etwas sagen wollte. Auf alle Fälle wollte sie ihn nicht ansehen – sie wollte nicht, dass er bemerkte, wie sehr sie ihm ergeben und wie wütend sie gleichzeitig auf ihn war.
»Er muss seinen Verbündeten zeigen, dass er Fortschritte macht.« Der Hauptmann lehnte sich auf die Brustwehr und deutete zum westlichen Rand des Waldes. »Seine Männer bauen zwei Bliden. Bevor der Tag zu Ende ist, werden wir ihre Kraft spüren. Es wird ihm nicht helfen zu gewinnen, aber dann betrachten ihn seine Verbündeten als …«
Wenn sie ihm weiterhin zuhörte, würde sie …
Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging davon.
Er eilte hinter ihr her und hatte sie rasch eingeholt.
»Die Leute beobachten uns«, zischte sie. »Ich bin eine Novizin in diesem Konvent. Ich bin nicht deine Geliebte. Bitte lass mich gehen.«
»Warum?«, fragte er und packte ihren Arm mit stählernem Griff. Er tat ihr weh.
»Lass mich gehen«, sagte sie erneut. »Oder du bist kein Ritter.«
»Dann bin ich halt kein Ritter. Warum? Warum hast du es dir so plötzlich anders überlegt?« Er beugte sich zu ihr. »Ich hingegen bin mir treu geblieben.«
Sie hatte gar nicht mit ihm reden wollen. Sie biss sich auf die Lippe und sah sich nach einem Wunder um. In der Gestalt Schwester Mirams. Oder der Äbtissin. »Hast du nichts zu tun? Niemanden zu retten? Keine Befehle zu geben?«, fragte sie. »Warum gehst du nicht los und schützt die Gehöfte?«
»Das ist ungerecht!«, sagte er und ließ ihren Arm los. »Niemand beobachtet uns. Das wüsste ich.« Er zuckte die Achseln. »Die Gehöfte kann ich nicht mehr schützen. Außerdem bin ich lieber hier bei dir.«
»Willst du, dass auch das meine Seele belastet? Dass ich nicht nur mein Gelübde breche, sondern sogar die Festung in Gefahr bringe?«
Er schenkte ihr ein böses Lächeln. »Bei anderen Mädchen funktioniert es«, sagte er.
»Ich vermute, es funktioniert immer.« Sie reckte das Kinn so hoch wie möglich. »Aber ich habe mich entschieden, nicht deine Hure zu sein, Hauptmann. Ich kenne nicht einmal deinen Namen. Mädchen wie ich erfahren aber nie den Namen des großen Herrn, der sich ihnen zwischen die Beine schiebt, nicht wahr? Doch ich sage nein. Du hast keine Angst vor Jesus, und du hast keine Angst vor der Äbtissin. Also kann ich dich nicht in ihrem Namen anflehen. Aber bei Gott, ich kann mich selbst beschützen. Wenn du noch einmal die Hand auf mich legst, werde ich dir sehr wehtun.«
Er sah sie an.
Tränen standen in seinen Augen, da zögerte sie noch einmal. Aber sie hatte ihre Entscheidung getroffen und würde nicht mehr davon abweichen. Sie ging davon und schaute nicht zurück.
Es war schwer für sie zu sagen, warum sie so wütend war. Es war ebenso schwer für sie zu sagen, warum sie wegging. Aber er war nicht für sie bestimmt, auch wenn sie das Gefühl hatte, dass ihre Seele aufschrie, als sie die Stufen hinunterstieg.
Trotz seines Blicks und der Qualen, die sich auf seinem Gesicht zeigten.
Lissen Carak · Harmodius
Harmodius.
Er konnte es nicht verhindern. Wenn zwei Personen durch die Macht miteinander verbunden waren, dann galt dieses Band für immer. Er konnte Thorn nicht ausblenden, aber er konnte ihn abschirmen.
Harmodius.
Das heißt, er konnte ihn größtenteils abschirmen.
Harmodius saß mit überkreuzten Beinen unter einem uralten Apfelbaum, der allein in einem Steinkreis mitten auf der Brustwehr stand. Es war ein wunderschöner Baum in voller Blüte, und er duftete nach Macht. Der Platz darunter war der richtige Ort, diese Macht abzuschöpfen, die hier wie aus einer Quelle hervortrat. Irgendwo unter seinen Füßen befand sich die Quelle. Sie erschien ihm weder grün noch golden. Sondern war einfach da.
Harmodius trank so viel davon, wie er wagte.
Harmodius.
Wäre es wirklich schlimm, mit seinem früheren Meister zu sprechen?
Es war gefährlich. Wenn er die Verbindung öffnete, könnte Thorn versuchen, ihn mit schierer Macht zu überwältigen.
Doch als er hier auf der breiten Bank unter dem Apfelbaum saß, wollte er einfach nicht glauben, dass Thorn in der Lage war, ihn zu überwältigen, bevor er die Verbindung wieder eindämmte. Er war nicht so wie jener Junge. Der Junge …
Zur Hölle damit.
Hallo, Richard.
Ich wusste, dass du antworten würdest.
Es muss sehr befriedigend sein, immer recht zu haben.
Sei nicht so gehässig, Harmodius. In der letzten Nacht hast du mir wehgetan. Du bist sehr mächtig geworden.
Ich habe deinen sterblichen Körper bei Chevin getötet, alter Mann.
Ja. Aber ich wusste, wie ich damit umzugehen hatte. Und ich habe mich dabei natürlich selbst übertölpelt. Darin lag eine Andeutung von Selbstgefälligkeit. Wie war meine Welt der Spiegel, Junge?
Harmodius dachte kurz nach. Sehr raffiniert, du Bastard. Wie hast du die Geister an die Katzen gebunden?
Wie schön es doch ist, mit einer klugen Person zu sprechen. Du hast also gelernt, deinen Körper zu verlassen? Ah! Ich sehe, du bringst es noch nicht fertig. Bemerkenswert.
Harmodius glaubte nicht, dass er seiner Sache durch Ehrlichkeit schaden konnte. Nicht mehr als durch den Kontakt zu Thorn. Warum kämpfst du hier?, fragte er. Muss dieser Krieg wirklich sein?
Harmodius! Das klingt aber gar nicht nach dir! Du willst mit der Macht des Bösen verhandeln? Ich dachte, du hättest einen anderen Weg gewählt.
Ich habe erkannt, dass an der Wildnis nichts wesenhaft Böses ist. So wie nichts grundsätzlich Gutes an der Sonne sein mag.
Ah. Thorn strahlte die Empfindung großer Freude aus. Du hast also viel gelernt.
Ich kämpfe noch immer damit, gab Harmodius zu.
Die Wildnis ist wesentlich mächtiger. Die Menschheit ist dem Untergang geweiht. Sie wird in der Zukunft keine Rolle mehr spielen. Zu uneins ist sie. Und zu schwach.
Das sehe ich anders, gab Harmodius zurück. Von dort, wo ich sitze, sieht es so aus, als verlöre die Wildnis.
Du täuschst dich.
Nicht so wirkungsvoll, wie du mich getäuscht hast.
Ich will mich bei dir dafür entschuldigen, indem ich dir Kenntnisse verschaffe. Sieh her. So kannst du jeden Körper besetzen, den du haben willst. Und hier – so kannst du dir deinen eigenen Körper schaffen. Siehst du? Ich gebe dir dieses Wissen freiwillig. Komm. Sei ein Gott. Du bist es wert. Und mir ist so langweilig …
Harmodius lachte laut auf. Bist du etwa gelangweilt von all den Ungeheuern und sehnst dich nach guter Gesellschaft? Du hast deinen König und die ganze Menschheit verraten, du Stück Dreck. So schnell er konnte und mit aller aus der Quelle geborgten Kraft schloss er die Verbindung.
Dann lehnte er sich gegen den Baumstamm und dachte über das Gespräch nach.
»Ich glaube, es ist gut verlaufen«, sagte er laut.
Aber Thorn hatte etwas in ihn eingepflanzt – wie ein Same in feuchte Erde. Es war, als würde man vor seiner Schwelle ein wunderschön eingepacktes Geschenk finden.
Er brachte das Geschenk in einen Raum, der sich in seinem Palast der Erinnerung befand, und schirmte diesen Raum sorgfältig von seinem Bewusstsein ab. Er erschuf ein zweites Selbst, das in diesem Raum verblieb.
Dieses zweite Selbst öffnete das Paket. Ein drittes Selbst stand mit der Axt daneben.
Das Phantasma war herzerweichend schön. Natürlich war Thorn ein großer Magus gewesen.
Harmodius erlaubte seinem zweiten Selbst, in dem verschlungenen Zauber aufzugehen.
Er verschloss den Raum, nachdem er sein zweites Selbst daraus abgezogen hatte, und setzte sich in ein anderes Zimmer seines Erinnerungspalastes; es war ein bequemer Raum mit einem Kreis aus Armlehnstühlen. Sein zweites Selbst saß in einem anderen Sessel, schrieb die Phantasmata auf, und dann besprachen sie diese eingehend. Sein drittes Selbst stand derweil mit der Axt hinter dem zweiten.
Plötzlich verstand er, wie die Katzen benutzt worden waren.
Er verstand, warum sein früherer Meister Tiere zur Beobachtung der Festung einsetzte.
Er verstand, wie er in den Körper einer jeden Kreatur eindringen konnte, es sei denn diese hatte die Macht, sich ihm zu widersetzen. Und er wusste, wie er deren Innerstes in sich aufnehmen konnte – wie er den Teil des Sterblichen essen konnte, den Harmodius als die Seele betrachtet hatte.
Macht.
Und wie er den sterblichen Körper eines anderen zu seinem eigenen machen oder einen neuen erschaffen konnte.
Harmodius ließ geschehen, dass sich dieses Wissen für eine Weile in seinem Kopf herumbewegte.
Und stellte fest, dass er einen Mischlingshund beobachtete. Einer der Söldner hatte das Tier in die Festung gebracht, und nun wühlte es in einem Abfallhaufen, von denen es im Hof inzwischen immer mehr gab. Irgendwann würde der Hund verspeist werden, sobald man die Belagerung fortführte.
Ich könnte es mit diesem Hund versuchen.
Er wird ohnehin sterben.
Der Hund drehte sich um und sah Harmodius an. Das Tier hielt den Kopf zur Seite und wollte offenbar herausfinden, ob ihm dieser Mensch etwas Interessantes anzubieten hatte.
Macht umströmte ihn. Kein Wunder, dass die Kreaturen der Wildnis diesen Ort zurückhaben wollen, dachte Harmodius. Er griff nach der Macht, schmeckte sie und leitete sie durch das Phantasma …
Dann machte er mit den Händen eine verneinende Gebärde und lenkte die Macht in die Mauern der Festung.
Er stand auf und grinste den Hund an. »Irgendwo muss man eine Grenze ziehen«, sagte er.
Das hat er absichtlich getan, dieser raffinierte Bastard. Er lädt mich zum Sturz ein.
Harmodius roch Frühstück und kam zu dem Schluss, dass er lieber unter Menschen sein wollte.
Östlich von Albinkirk · Ranald
Ranald war müde und weinte viel. Er verschwendete einen ganzen Nachmittag damit, ein Pferd einzufangen. Bei jedem Schritt erwartete er, auf die Nachhut oder einen anderen Überlebenden zu stoßen. Doch er sah niemanden.
Er verschwendete noch mehr Zeit am Rande des Schlachtfeldes und versuchte seine Habseligkeiten zu finden.
Schließlich gab er es auf und ging davon. Er wurde nass, als es regnete, und als die Sonne wieder schien, versengte sie ihn fast. Er hatte nichts, womit er sich etwas hätte kochen können, er hatte allerdings auch nichts zu essen und keine Möglichkeit, sich Nahrung zu besorgen.
An Abend des vierten Tages nach dem Kampf ging er die Straße zu der Herberge entlang. Einige Männer riefen etwas, als sie ihn sahen.
Jeder Mann und jede Frau im Tal kam herbeigelaufen, als sie erfuhren, wer er war. Und weil er der Tanist seines Vetters war, glaubten sie zuerst, dass sein Erscheinen auf etwas Gutes hindeutete.
Als sie jedoch näher kamen, sahen sie die Spuren seiner Tränen und das Schwert. Und da wussten sie.
Als er die letzten Schritte zur Veranda vor der großen Herberge zurücklegte, versperrte ihm der Wirt den Weg und machte ein grimmiges Gesicht. »Seid gegrüßt, Ranald Lachlan«, sagte er. »Wie viele sind umgekommen?«
Ranald hatte keine Schwierigkeiten damit, dem Wirt ins Auge zu sehen. Der Tod ließ einen sorglos werden.
»Sie sind alle tot«, sagte er. »Jeder einzelne Mann. Auch ich war tot.«
Sie keuchten auf, das Volk des Tales, und dann flossen die Tränen, und das Jammern des Verlustes und das Brüllen der Wut waren zu hören.
Ranald Lachlan erzählte rasch und ohne Ausschmückungen seine Geschichte. Dann wandte er sich an die weinende Frau, die neben ihrem Vater stand. »Hier ist sein Schwert«, sagte Ranald. »Wenn du ihm einen Sohn gebärst, soll er ihn eines Tages rächen, hat er gesagt.«
»Das ist eine schwere Last auf den Schultern eines ungeborenen Kindes«, sagte der Wirt.
Ranald zuckte die Achseln. »Das ist nicht meine Schuld«, erwiderte er müde.
Später saß er in den Gemächern des Vogtes und erzählte die Geschichte des letzten Kampfes. Hectors Frau lauschte durch ihre Tränen hindurch. Als er schließlich fertig war, sah sie ihn lange und aufgebracht an.
»Warum haben sie dich zurückgeholt?«, fuhr sie ihn an. »Wo sie doch meinen Geliebten hätten retten können?«
Ranald zuckte mit den Schultern.
Der Wirt schüttelte den Kopf. »Zu viele Männer sind verloren, und auch die ganze Herde.« Er stützte das Kinn auf die Hand. »Es wird uns schlecht ergehen, sollten sie auf das Tal zumarschieren.«
Ranald tat nicht einmal so, als kümmere ihn das. Und der Wirt ließ ihn gehen.
Und es interessierte ihn nicht, als die Frauen der Herberge sich ihm darboten, und auch nicht, dass ein reisender Spieler sich erbot, ein Lied über diese Schlacht zu schreiben.
Er schlief, und am nächsten Tag war er noch genauso benommen wie am Tag zuvor, und so wie am Tag davor. Aber bei Sonnenuntergang begab er sich von seinem Zimmer hinunter in die Gemeinschaftsstube, und dort fragte er den Wirt nach einem Pferd und Ausrüstung.
»Du kannst nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, allein gegen die Hinterwaller zu kämpfen«, sagte der Wirt barsch.
»Nein«, bestätigte Ranald.
»Das heißt, du willst einfach nach Hause reiten?«, fragte der Wirt ungläubig.
»Ich bin Viehtreiber«, sagte Ranald. »Ich habe kein Zuhause.«
Der Wirt trank ein Leichtbier und wischte sich über den Schnauzbart. »Wohin dann?«, wollte er wissen.
Ranald lehnte sich zurück. »Ich will den Wyrm von Erch finden«, antwortete er. »Ich will ihn fragen, warum er es zugelassen hat, dass wir von der Wildnis angegriffen wurden.« Der Viehtreiber zuckte die Achseln. »Wir bezahlen unseren Zehnten an den Wyrm, damit er uns vor der Wildnis schützt. Das ist das Gesetz von Erch. Es ist so alt wie die Eichen.«
Langsam setzte der Wirt sein Bier ab. »Du willst mit dem Wyrm sprechen?«
»Jemand muss es doch tun«, meinte Ranald. »Dann kann auch ich dieser Jemand sein. Ich bin ja schon tot.«
Der Wirt schüttelte den Kopf. »Ich habe nur noch ein Dutzend Pferde. Dein Vetter hat meine Herde mitgenommen.«
Ranald nickte. »Das will ich rückgängig machen, bevor ich zu dem Wyrm gehe. Gib mir zwanzig Männer, und ich hole deine Herde zurück. Es ist noch eine Menge davon übrig – mindestens tausend Tiere.«
»Du bist wie dein Vetter«, sagte der Wirt. »An dem, was du sagst, ist immer ein Haken.«
Ranald zuckte die Achseln. »Mir persönlich ist es gleich, aber Sarahs Sohn wird diese Tiere brauchen, wenn er einmal Viehtreiber werden will.« Was er außerdem noch im Sinn hatte, sagte er nicht. Dass er ein Mann des Königs war und diesem eine Warnung vor der Wildnis schuldete.
Am selben Nachmittag noch ritt er mit zwanzig nervösen Männern nach Süden.
Sie ritten schnell, breiteten sich paarweise über ein Gelände vom Durchmesser einer Meile aus und untersuchten jeden Hügel und jeden Hain.
Sie errichteten ein kleines Lager ohne Feuer, und Ranald aß die Getreidekekse, die Sarah ihm mitgegeben hatte. Als die Sonne dann wieder eine rote Scheibe am Rande der Welt war, ritten sie weiter.
Am Mittag fanden sie die ersten Tiere. Die Talbewohner hatten Angst vor den Sossag, außerdem war ihnen unheimlich zumute. Und sie fürchteten sich davor, die dem Tod entgegengrinsenden Leichname zu finden. Aber nach Ranalds Berechnung befanden sie sich noch meilenweit nördlich des Schlachtfeldes. Die Herde war auf dem Weg nach Hause, wie es bei Tieren üblich war.
Ranald preschte auf der Straße weiter nach Süden, und vor Einbruch der Dunkelheit fand er den Jungen, den Hector als Boten ausgesandt hatte. Er war tot. Entweder hatte er sich verirrt, oder er war zu weit nach Westen geritten, um irgendetwas auszuweichen. Er lag auf dem Gesicht, eine Fliegenwolke umschwirrte seinen aufgequollenen Leichnam, und auch sein Pferd stand noch in der Nähe. Vier Pfeile steckten in dem Jungen, und es war eindeutig, dass er bei dem Versuch gestorben war, seine Mission zu erfüllen. Die Talbewohner beerdigten ihn liebevoll und mit allen Ehren, während seine beiden Vettern, zwei große, grauäugige Jungen, um ihn weinten.
Aber erst der nächste Tag hielt den größten Schock für sie bereit.
Sie befanden sich weit westlich des Schlachtfeldes und sammelten die Tiere vor dem großen Sumpf ein, als Ranald ein Feuer roch und sich auf den Weg dorthin machte, um es auszuspähen. Damit ging er zwar ein dummes Risiko ein, aber er konnte es nicht ertragen, möglicherweise der Grund für weitere Tote unter den Talbewohnern zu sein.
Was er fand, war die Nachhut – zwanzig von Hectors Männern, lebend, zusammen mit einem Drittel der Herde. Donald Redmane hatte sie nach Westen geführt, und sie hatten dreimal gegen versprengte Hinterwaller-Banden gekämpft, doch sie hatten überlebt und einen großen Teil der Herde zusammenhalten können.
Ranald musste seine Geschichte immer wieder erzählen, und Donald Redmane weinte. Aber der Rest der Männer in der Nachhut schwor, Hector Lachlan zu rächen.
Donald nahm Ranald beiseite. »Du hast im Süden gekämpft«, sagte er. »Glaubst du, dass Tom noch lebt?«
»Hectors Bruder Tom?«, fragte Ranald. »Ja. Falls ihn nicht die rote Hand des Krieges zu sich genommen hat, lebt er gewiss. Auf dem Kontinent oder im Osten, wie ich vermute. Warum?«
Donald Redmanes Augen waren gerötet. »Weil er jetzt der oberste Viehtreiber ist«, sagte der ältere Mann.
»Das wird ihm gar nicht gefallen«, bemerkte Ranald.
»Aber es wird ihm gefallen, wenn das bedeutet, dass er Krieg führen kann«, betonte Donald.
Am nächsten Morgen töteten die Späher eine seltsame Kreatur. Sie war menschenähnlich, klein, wie ein kräftiges Kind und hatte muskulöse Arme und Beine, die wie dicke Seile wirkten, sowie einen missgestalteten Kopf, der wie der eines erwachsenen Mannes aussah, nur noch größer. Ranald nahm an, dass es sich um einen Irk handelte, eine Kreatur, die für die Hochländer irgendwo zwischen Mythos und Wirklichkeit angesiedelt war. Die Legende besagte, dass die Irks wie die Kobolde aus den tiefen Wäldern weit im Westen kamen.
Ranald schlug mit der gesamten Gruppe ein Lager auf; nun waren es vierundvierzig Männer. Sie hatten mehr als zwölfhundert Stück Vieh dabei, und alle Ziegen waren noch da. Uns sie besaßen fünfundsiebzig Pferde. Sarah Lachlan würde nicht arm sein, und der Clan war noch nicht tot.
Aber Hector Lachlan war nicht mehr da.
Auf dem Albin, südlich von Albinkirk · Die Königin
Die Königin sah zu, wie die Ufer vorbeiglitten, und lächelte einen jungen Gildenmann mit einer Armbrust an, der hinter den hohen Flanken des Bootes kauerte und die Ufer beobachtete. Doch in Wahrheit beobachtete er sie gar nicht. In seinem Alter war es nicht erstaunlich, dass er nur für Desiderata Augen hatte, die wenige Fuß von ihm entfernt lag. Immer wieder wanderte sein Blick zu ihr hinüber.
Sie beobachtete weiterhin das Ufer und lächelte innerlich. Die Ruderer sangen, und die Moskitos stiegen in Schwärmen auf sie herab, es sei denn eine plötzliche Brise trieb sie flussaufwärts.
Lady Almspend lag neben ihr im Bug und hatte ein geöffnetes Wachstäfelchen sowie einen Schreibstift im Schoß liegen. »Noch einen Brief?«, fragte sie etwas träge.
Die Königin schüttelte den Kopf. »Dafür ist es jetzt zu heiß.«
»Die armen Ruderer«, bemerkte Lady Almspend und drehte den Kopf. Die meisten arbeiteten bis zur Hüfte nackt, und einige waren sogar noch nackter. Allesamt hatten sie durch ihre Arbeit einen prachtvollen Körperbau, und Lady Almspend betrachtete sie aufmerksam. »Sie sind wie die Archaiker«, sagte sie. »Ich ziehe meine Bemerkung von vorhin zurück. Ich glaube nicht, dass sie bedauert werden müssen. Sie sind vielmehr bewundernswert.« Sie lächelte insbesondere einen an, und er lächelte zurück, während er sein sechzehn Fuß langes Ruder durch die Luft schwang.
Die Königin lächelte. »Seid vorsichtig, meine Liebe«, sagte sie.
»Ich bewundere sie nur aus der Ferne«, gab Lady Almspend zurück. »Glaubt Ihr, dass die Wachen in der letzten Nacht wirklich einen Kobold gesehen haben?«
Die Königin nickte. »Dessen bin ich mir ziemlich sicher.« Mehr wollte sie ihrer Schreiberin nicht mitteilen, aber die Ufer waren bereits gefährlich, und die Boote machten nun an den Inseln im Fluss fest, wenn ein Lager aufgeschlagen wurde.
»Können wir die Ruderer bewaffnen?«, wollte Lady Almspend wissen.
»Sie haben Waffen – Speere und Schwerter«, antwortete die Königin. »Aber gegen einen plötzlichen Angriff in der Dunkelheit sind wir am besten durch einen Zwischenraum aus Wasser geschützt.«
Lady Almsped schüttelte den Kopf. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, was passiert sein mag, dass der Norden so vollständig überrollt werden konnte. Der König wird seine liebe Mühe haben. Wann sind wir in Albinkirk?«
»Bei dieser Geschwindigkeit morgen Mittag«, sagte Lady Mary. »Aber wenn sich die Königin entscheiden könnte, noch weniger Kleidung zu tragen, würden die Ruderer vielleicht noch härter arbeiten.«
Desiderata grinste ihre Freundin an. »Ich beabsichtige, die Nacht hindurch rudern zu lassen«, sagte sie. »Der Fluss ist breit, und wir sind spät dran.«
Lady Mary bedachte sie mit einem seltsamen Blick. »Habt Ihr eine Botschaft bekommen?«, fragte sie.
Die Königin schüttelte den Kopf. »Ich habe nur so ein Gefühl«, sagte sie. »Wenn der König überhaupt vorangekommen ist, dann wird er schon nach Westen zu Lissen Carak unterwegs sein.« Die Königin legte sich zurück und genoss die Sommersonne auf den Schultern. Die Insekten waren ihr gleichgültig. »Schick eine Botschaft an den König, Becca. Sag ihm, wie weit wir schon gekommen sind.« Sie zwinkerte den Ruderern zu, die sich ihr am nächsten befanden. »Sag ihm, dass wir in drei Tagen bei ihm sein können.«
Royer le Hardi meldete sich freiwillig, um die Nachricht zu überbringen, also wurde er mit seinem Reittier und einem Reservepferd an Land gerudert. Er erhielt einen Kuss von der Königin und war noch immer so rot wie eine Tomate, als er schon ein Stück weit nach Westen geritten war.
Albinkirk · Gaston
Gaston sah zu, wie die königliche Armee das Lager abbrach und sich in einer Stimmung nach Westen wandte, die auf Angst schließen ließ. Keiner der Ritter aus dem Orden war zurückgekehrt, obwohl Lissen Carak nur zwei Tagesmärsche westlich von Albinkirk lag. Jede Nacht erhellten Lichter den westlichen Himmel.
Was auch immer es sein mochte, wogegen sie kämpften, es war jedenfalls vollkommen fremdartig. Die Kobolde in Albinkirk hatten ihn bestürzt – selbst diese wenigen, denn sie waren so hässlich und so falsch gewesen. Er wollte sie unnatürlich nennen, doch schließlich hatte die Wildnis sie hervorgebracht.
Sein Vetter befand sich in einem Zustand der Ekstase. Die Lichter im Westen deuteten an, dass die Burg dort noch standhielt, und dies wiederum bedeutete, dass die Schlacht unmittelbar bevorstand. Für Jean de Vrailly war diese Schlacht zu seinem Leitstern geworden – zum Magnetstein, auf den sein ganzes Leben ausgerichtet war.
Gaston inspizierte seine Truppen und erinnerte sie zum zehnten Mal an die Lektionen, die sie vom Grafen der Grenzmarken erhalten hatten. Immer mussten sie Späher aussenden, und zwar nach vorn, an die Flanken und nach hinten. Die Ritter mussten inmitten eines starken Kontingents von Speerwerfern und Bogenschützen reiten, sodass die Ritter im Fall eines Hinterhalts aus ihrer Sicherheit heraus sofort reagieren konnten. Und die Wagen mussten wiederum in die Mitte der Ritter platziert werden.
Das alles war zwar sehr sinnvoll. Aber es erforderte auch, dass sich die Ritter auf Niedriggeborene zu verlassen hatten.
Seine Späher ritten in die Vordämmerung hinein, und er kletterte auf sein Schlachtross. Sein Knappe gab ihm die Waffen, und dann saß er einfach still da und sah zu, wie sich die Truppe aufstellte. Er wartete auf die Laute – die Rufe und die Trompeten –, die einen Kampf ankündigten.
Wieder einmal verspürte er Heimweh. Er wollte gar nicht an diesem seltsamen Krieg gegen legendenhafte Bestien und Ungeheuer teilnehmen. Zu Hause kämpfte er gegen Menschen. Die Menschen verstand er wenigstens.
Als sich seine Truppe und die seines Vetters formiert hatten, ritt er an ihnen entlang zum König, der auf seinem Pferd inmitten seiner Lords saß. Er hielt eine Schriftrolle in der Hand, wie es zumeist morgens zu beobachten war. Die Könige von Alba hatten einen guten Nachrichtendienst, und die Reiter erreichten ihn trotz der beständig gefährlicher werdenden Straßen noch immer.
»Sie hat mich nicht beachtet«, sagte der König fröhlich. Er schaute auf und begrüßte den Captal mit einem Kopfnicken. »Meine Frau hat meinen Rat nicht beachtet und ist auf dem Weg hierher«, sagte er.
Der Captal verstand die Bedeutung dieser Aussage wieder einmal falsch. »Dann wird Eure Majestät sie wohl bestrafen müssen«, sagte er.
Der König entschied, daran keinen Anstoß zu nehmen, und lächelte stattdessen. »Ich glaube, es wäre höchst undankbar«, sagte er, »einer Dame gegenüber grob zu werden, die uns große Lebensmittelvorräte bringt.«
Der Graf der Grenzmarken lächelte. »Wann erwartet Ihr sie hier?«
Der König warf einen Blick auf den Wald, der sich wie ein grünes Meer im Westen erstreckte. »Sie befindet sich drei Tagesmärsche südlich von Albinkirk«, sagte er und zuckte mit den Schultern. »Aber sie gebietet über eine kleine Bootsflotte. Das heißt, sie kommt sehr viel schneller voran als wir.«
»Allerdings muss sie den Windungen des Flusses folgen«, wandte der Graf der Grenzmarken ein.
Ser Ricard Fitzroy befingerte seinen Bart. »Euer Ehren, sie ist gewitzt. Sie wird trotzdem schneller sein als wir, und sie wird viel mehr Nahrungsmittel und Futter transportieren können, als es einer Wagenkolonne möglich wäre.«
Der Wirt saß auf seinem Schlachtross und drückte sich die Faust in den Steiß. »Bin ich der Einzige, der sich zu alt für all das hält?«, fragte er. »Euer Ehren, ich schlage vor, dass wir uns zum Fluss zurückziehen, bis wir auf die Königin treffen. Wir haben nur fünf Tagesrationen, uns geht allmählich das Fleisch aus, und es befinden sich keine Tiere mehr in den Wäldern. Die königlichen Jäger – ich bitte Euer Gnaden um Entschuldigung – schaffen nicht genug Wild zur Ernährung des königlichen Haushalts herbei.«
Der Graf der Grenzmarken stimmte ihm zu. »Es besteht kein Grund, zur Schlacht zu eilen«, sagte er. »Vor allem nicht zu einer Schlacht mit der Wildnis.«
Der Graf von Towbray schüttelte den Kopf. »Die Festung könnte fallen«, wandte er ein.
»Lissen Carak wird entweder standhalten oder untergehen«, sagte der Wirt. Er sah sich um und senkte die Stimme. »Mylords, wir tragen die Last des gesamten Königreiches auf unseren Schultern. Wenn wir diese Armee verlieren, wird es keine neue geben, die sie ersetzen könnte.«
»Albinkirk ist schon in Schutt und Asche gelegt worden«, erklärte der König. »Ich will nicht auch noch die Festung des Nordens verlieren.«
»Wir brauchen aber Nahrungsmittel«, wandte der Wirt ein. »Wir hatten geplant, unsere Vorräte aus dem Magazin in Albinkirk aufzustocken oder die Viehherde zu finden, die aus den Bergen nach Süden zieht, und ihnen etliche Tiere abzukaufen.«
»Können wir noch fünf Tage durchstehen?«, fragte der König. »Und wie lange ist die Festung imstande auszuharren?«
Jean de Vrailly stellte sich in seine Steigbügel. »Pah«, sagte er. »Die Männer können auch ohne Essen durchhalten. Wir müssen den Feind suchen.«
Die Albier sahen ihn müde an.
»Wir sollten uns endlich diesen Kreaturen entgegenstellen«, beharrte der Captal.
Darauf erwiderte der Lord von Bain nichts, sondern hob nur eine Braue.
Ser Driant, ein Freund des Königs, sah ihn finster an. »Ich bin nicht der kühnste Krieger – und bei diesen edlen Herren hier dafür bekannt, dass ich einen guten Tropfen zu schätzen weiß.« Er beugte sich zum Captal vor. »Aber wir werden das Heer des Königs nicht in einer Schlacht aufs Spiel setzen, wenn uns ausschließlich unterernährte Pferde zur Verfügung stehen.«
Jean de Vrailly schnaubte höhnisch. »Natürlich müsst Ihr vorsichtig sein«, sagte er.
Der Wirt kniff die Augen zusammen. »Ja, Mylord. Genau das müssen wir sein – vorsichtig. Wir sollten auf einem Gelände kämpfen, das wir uns selbst ausgesucht haben, unser Heer sollte sich in einer ordentlichen Schlachtformation befinden, die Flanken sollten gesichert sein, und es sollte ein befestigtes Lager existieren, in das wir uns zurückziehen können, wenn alles schiefgehen sollte. Wir müssen uns jeden erdenklichen Vorteil über unseren Feind verschaffen. Dies hier ist kein Spiel und auch kein Turnier, Mylord. Das hier ist Krieg.«
»Ihr wollt mich belehren?« Jean de Vrailly erlaubte seinem Schlachtross, zwei Schritte auf den Wirt zuzumachen.
Der Wirt hob eine Braue. »Das will ich, Mylord, denn Ihr scheint es nötig zu haben.«
Der König nickte. »Die Bereitschaft des Captals vorzurücken ist vermerkt worden, aber ich habe den Eindruck, dass sich mein Wirt lieber hier eingraben und auf die Königin warten würde. Ist das Euer Gedanke?«
Der Wirt nickte. »Allerdings. Ich erwarte, morgen vom Prior zu hören. Es wäre doch dumm weiterzumarschieren, ohne eine Botschaft von unseren vertrauenswürdigsten Rittern erhalten zu haben.«
Jean de Vraillys Wut war deutlich zu bemerken.
Gaston legte ihm die Hand auf den Arm, während sein Kopf wie der eines Falken herumfuhr.
Gaston hielt seinem wilden Blick stand.
»Und wir sollten uns an das Südufer des Flusses begeben. Nach unseren Kenntnissen befindet sich der Feind am Nordufer.« Der Wirt bat damit den König offen, seinem Vorschlag zuzustimmen, und Gaston pflichtete ihm innerlich bei.
Der Captal grunzte angesichts dieser Vorsichtsmaßnahmen verächtlich. »Falls sich der Feind tatsächlich am Nordufer befinden sollte«, sagte er herablassend und in beleidigendem Tonfall, »dann ist es doch sicherlich unsere Pflicht als Ritter, ebenfalls am Nordufer zu sein und mit ihnen zu kämpfen?«
Aber einige Köpfe nickten zugunsten des Südufers, und so lächelte der König den Gallyer freundlich an und wandte sich dann an seine Ritter. »Wir durchqueren den Fluss erneut und begeben uns ans Südufer«, sagte er. »Das ist mein Wille. Wir werden am Südufer des Cohocton ein Lager aufschlagen und es mit Speeren und Schilden befestigen.«
»Nein, wie umsichtig«, höhnte de Vrailly.
»Das ist mein Wille«, wiederholte der König. Er hatte sein Lächeln nicht verloren.
Gaston verspürte ein übles Gefühl in der Magengrube.
Lissen Carak · Michael
Michael saß da und schrieb im hellen Licht des Nachmittags.
Die Belagerung von Lissen Carak. Zehnter Tag.
Gestern hat der Feind alle Dörfer westlich von Albinkirk durch Feuer und Schwert zerstört. Wir waren gezwungen zuzusehen. Heute erweitert der Feind seinen Belagerungsring mit Ungeheuern, und über uns erfüllen böse Kreaturen die Luft mit ihren Schreien. Wenn sich mehr als zwei von ihnen gleichzeitig über der Festung befinden, ist es so, als verdüstere sich der Himmel. Und viele Menschen hat der Mut verlassen, weil sie nun wissen, wie zahlreich der Feind ist. Die Massen sind wirklich unzählbar. All unsere Versuche, die Gegner zu töten, erscheinen nun wie die Bemühung eines Mannes, mithilfe einer Schaufel einen ganzen Berg abzutragen.
Der Hauptmann war heute unermüdlich und ist in der Festung von einer Stelle zur nächsten gelaufen. Unsere Leute haben damit begonnen, eine Artillerieplattform auf den Ruinen des eingestürzten Turmes zu bauen. Er und Lord Harmodius haben den Arbeitern dabei geholfen, Steine in den frischen Zement zu drücken, und dann haben sie den Zement irgendwie bearbeitet, sodass er schneller trocknet. Es ist ein großes Wunder, das den Leuten wieder viel Mut gemacht hat.
Nun ist es Nachmittag. Der Feind hat Kriegsmaschinen aufgestellt, aber die Steine, die sie dann schleuderten, konnten die Festung nicht einmal erreichen. Wir haben zugesehen, wie sie durch die Luft segelten und vor unseren Mauern zu Boden gingen. Einer dieser Steinbrocken hat sogar eine Kreatur der Wildnis getötet, die sich auf der Wiese befand. Der Hauptmann sagt, der Geist des Widerstands könne durch solche kleinen Erlebnisse mächtig befeuert werden.
Aber vor etwa einer Stunde hat der Feind mithilfe seiner Tausenden von Sklaven die Maschinen näher an uns herangebracht.
Lissen Carak · Der Rote Ritter
»Er wird sich über die Unterstadt hermachen«, sagte Jehannes.
Der Hauptmann warf einen Blick über die Brustwehr und beobachtete, wie die fernen Maschinen gespannt wurden. Der Feind hatte zwei Bliden gebaut, die sich etwa vierhundert Fuß von den Mauern der Unterstadt entfernt befanden und auf einem etwa vierzig Fuß hohen Wall aus Holz und Erde standen. Die Geschwindigkeit, mit der sie diesen Wall errichtet hatten, war für den Hauptmann das bisher Schrecklichste an der ganzen Belagerung.
Doch vielleicht gab es etwas noch Schrecklicheres. Ich bin nicht ihr Liebhaber.
Dabei brachte ihm Harmodius gerade bei, wie er sich selbst abspalten und beherrschen konnte, und wie er sich in die Lage zu setzen vermochte, gefährliche Elemente von Zauber und Gegenzauber abzuwehren. Harmodius hatte seinem neuen Lehrling alles beigebracht, was er selbst über diese Dinge wusste.
»Verwendet diese Macht niemals bei Euren Gefühlen, Junge. Unsere Menschlichkeit ist alles, was wir noch haben.« Das hatte ihm der alte Mann heute Morgen gesagt, als ob es eine Sache von großer Bedeutung wäre.
Er zog sich hinter eine Zinne zurück, als ein geschleuderter Felsbrocken gegen einen der Tortürme der Unterstadt prallte. Der Turm hielt stand.
Der Hauptmann atmete schwer.
»Wir haben Männer da unten«, sagte Jehannes. »Wir können die Unterstadt nicht auf Dauer halten.«
»Das müssen wir aber«, sagte der Hauptmann. »Wenn wir sie verlieren, hat er uns von der Brückenburg abgeschnitten. Und dann kann er seine Maschinen nach Süden versetzen. Es ist wie beim Schach, Jehannes. Er spielt um den Boden dort.« Der Hauptmann deutete auf einige Schafspferche im Südwesten. »Wenn er dort einen Belagerungshügel errichten und die Maschinen darauf stellen kann, wird er in der Lage sein, einen Turm der Brückenburg nach dem anderen zu zerstören und sie am Ende ganz einzunehmen.«
Jehannes schüttelte den Kopf. Er war ein Veteran, der schon zwanzig Belagerungen hinter sich hatte, und offensichtlich hasste er es, wenn der Hauptmann ihn belehren wollte. »Er kann dort jederzeit seine Bliden aufstellen«, knurrte Jehannes.
Der Hauptmann seufzte. »Nein, Jehannes, das kann er nicht, denn er fürchtet unsere Ausfälle. Trotz seiner ungeheuren Macht und Gewalt haben wir ihm einige Stiche versetzt. Wenn er seine Maschinen dorthin bringt, ohne vorher die Unterstadt zerstört zu haben, können wir immer wieder einen Ausfall machen und seine Bliden niederbrennen.«
»Er wird neue bauen. Innerhalb eines einzigen Tages«, wandte Jehannes ein.
Der Hauptmann dachte darüber nach.
Jehannes bohrte weiter. »Er hat unbegrenzte Muskelkraft und ausreichend Holz. Vermutlich auch Metall. Er ist imstande, hundert Maschinen zu bauen und an zehn verschiedenen Orten aufzustellen.«
Der Hauptmann nickte. »Ja, das kann er, wenn ihn seine Kreaturen nicht verlassen«, sagte er. »Er will nicht, dass wir weitere Siege erringen.«
»Warum sollte ihm das etwas ausmachen?«, fragte Jehannes verbittert.
Der Hauptmann beobachtete, wie eine Gruppe von Novizinnen zum Krankensaal ging und die anderen ablöste.
»Warum, Jehannes?«, fragte der Hauptmann. In seinen Augen blitzte es, und seine Verbitterung war deutlich zu erkennen. »Ich war der Meinung, du glaubtest, Gott sei auf unserer Seite.«
Sie hatte ihm nur einen kurzen Blick zugeworfen, als sie in einiger Entfernung von ihm mit den anderen vorbeiging.
Jehannes ballte eine Faust. »Eure Blasphemie ist beleidigend«, sagte er leise.
Der Hauptmann drehte sich ruckartig zu seinem Marschall um. »Sieh es so, wie du willst«, sagte er.
Sie standen voreinander, ihre Blicke trafen sich, und dann wurde eine dritte Blide abgefeuert. Sie hörten, wie der Turm beim Nordtor der Unterstadt zusammenbrach.
»Ihr müsst die Männer unbedingt aus der Unterstadt abziehen«, sagte Jehannes.
»Nein. Ich werde ihnen Verstärkung geben. Und ich werde sie persönlich anführen. Wer hat heute das Kommando über die Unterstadt? Atcourt?«
»Atcourt ist noch verletzt. Es ist Ser George Brewes.« Jehannes blickte über die Mauer. »Wir verlieren zu viele Männer«, sagte er.
»Wir sind jetzt stärker als zu Beginn der Belagerung.« Der Hauptmann bezwang seinen Zorn und schob ihn fort – außerhalb seiner Reichweite.
»Es ist an der Zeit, dass Ihr Euch umschaut«, sagte Jehannes. »Wir haben den Mund zu voll genommen. Wir können nicht gewinnen.«
»Doch, das können wir«, sagte der Hauptmann zu seinem Marschall.
Jehannes schüttelte den Kopf. »Jetzt ist nicht die Zeit für jugendliche Begeisterungsstürme …«
Der Hauptmann nickte. »Du überschreitest deine Kompetenzen, Jehannes. Mach dich wieder an die Arbeit.«
Jehannes fuhr fort: »… oder für ritterlichen Wagemut. Es gibt zwei realistische Möglichkeiten …«
»Und wenn du der Hauptmann bist, kannst du gerne danach handeln«, meinte der Hauptmann. »Lass mich ebenso offen zu dir sein, wie du es zu mir bist. Du hast keine Ahnung von Taktik. Du spielst dich bei den Bogenschützen und Rittern auf. Du bist nicht von adliger Abstammung, die von Untergebenen sehr geschätzt wird. Und vor allem hast du nicht die Macht, im Gegensatz zu mir. Ich bin müde, dir immer wieder alles erklären zu müssen. Gehorche einfach. Mehr erbitte ich nicht von dir. Wenn du das nicht kannst, musst du gehen.«
Jehannes verschränkte die Arme vor der Brust. »Mitten in einer Belagerung.«
Der Hauptmann kniff die Lippen zusammen. »Ja.«
Sie starrten einander an.
Bei Einbruch der Nacht schleuderten schon sechs Maschinen Steine auf die Unterstadt.
Der Hauptmann sammelte die Wachablösung um sich und ging mit ihr den Hang hinunter. Es gab zwei Wege – zum einen die Straße, die sich in vielen Serpentinen am Hang entlangwand, und zum anderen den Pfad, der schnurgerade nach unten verlief und durch zwei Treppenfluchten unterbrochen wurde. Einige Teile des Pfades waren zum Schutz derjenigen, die ihn benutzten, ummauert, aber natürlich war es unmöglich, Pferde dort hinunter zu führen.
Selbstverständlich nahm die Wache diesen Pfad. Die Männer hatten die Füße mit Leinenfetzen umwickelt, um so wenig Lärm wie möglich zu machen. Angesichts der Oberherrschaft des Feindes über die Ebene hatte der Hauptmann Späher zu beiden Seiten ihres Weges aufgestellt. Der Rote Daud und Amy Hock bewegten sich vorsichtig zwischen den blanken Felsen umher.
Sie benötigten eine ganze Stunde, bis sie den Hang hinuntergegangen waren. Währenddessen fielen unablässig große Felsbrocken aus dem Himmel auf die Unterstadt, zerstörten Häuser und zerbrachen das Straßenpflaster. Jedes Mal stoben Funken auf, wenn die Steine in der Stadt einschlugen. Das schwere Knallen und Schwirren der Bliden drang immer wieder durch die rauchgeschwängerte Luft, wobei es den Anschein hatte, dass sich die Maschinen in großer Nähe befanden.
Die Luft war beißend und dick. Den ganzen feuchten Tag hindurch hatten Dächer und Scheunen gebrannt, so war die Luft mit Rauch gesättigt.
Ein Bogenschütze hustete.
Sie schlichen weiter. Kein Stern zeigte sich, und die Dunkelheit war geradezu greifbar geworden – ein unsterblicher Feind. Der erstickende Rauch war hier unten auf der Ebene viel schlimmer, und bei jedem Einschlag der Felsbrocken stiegen Staub und Steinsplitter auf und erschwerten das Atmen noch mehr.
Die brennende Masse schien geradewegs auf sie zuzukommen.
»Weiter«, sagte er Hauptmann. »Folgt mir.«
Draußen auf den Feldern ging Feuer nieder.
Eine weitere Maschine verschoss ihre Ladung.
Sogar das schwache Licht der brennenden Geschosse reichte aus, um der Wachablösung den Weg nach unten zu zeigen.
Der Hauptmann brach in einen stolpernden Lauf aus. Seine Panzerstiefel hallten auf den Steinstufen wider, als er zum Ausfalltor kam.
Bander, Kling, Schnotz und Kanny holten ihn ein.
»Wachablösung!«, rief er leise.
Keine Antwort.
»Mist«, sagte der Hauptmann genauso leise. Dann rief er lauter: »WACHABLÖSUNG!«
»Tot«, flüsterte Kanny. »Wir sollten umkehren …«
»Halt den Mund«, fuhr Kling ihn an. »Hauptmann, soll ich über die Mauer klettern?«
Der Hauptmann streckte seine Macht durch das kleine Tor.
Es war unbemannt.
»Helft ihm die Mauer hoch. Kanny, mach einen Steigbügel. Und dann auf meine Schultern. Stell dich auf meinen Helm, wenn es sein muss.« Der Hauptmann stand neben Kanny, der zwar etwas brummte, mit seinen gepanzerten Händen aber einen Steigbügel machte.
Kling trat auf Kannys Hände und von dort aus auf die Schulter des Hauptmanns. Dieser spürte eine Verlagerung des Gewichts, und dann sprang der Mann.
Der Bogenschütze grunzte und schwang die Arme. Nach dem dritten Versuch zog er sich kräftig nach oben und warf ein Bein über den niedrigsten Abschnitt der Mauer. Und dann hatte er sie überwunden.
»Verdammt, das war zu einfach«, meinte Kanny.
Schnotz schneuzte sich leise. »Du bist ein nutzloser Mistkerl«, sagte er. »In Gallyen haben wir ganze Städte auf diese Weise erobert.«
Kling öffnete das Ausfalltor von innen. »Niemand hier«, sagte er.
Ein Felsbrocken prallte gegen die Mauer, viel zu nah. Sie wurden allesamt umgeworfen und sprangen rasch wieder auf die Beine.
»Hinein«, sagte der Hauptmann. Er stürmte durch das niedrige Tor und zog sein Schwert. Der Rote Daud erschien zusammen mit Amy Hock und Ohnekopf an der Mauer. »Ihr kommt ebenfalls herein. Daud, du und Hock, postiert euch bei diesem Tor – für den Fall, dass wir hierdurch zurückkommen.«
Die beiden Jäger nickten. Weitere Steine bombardierten die Mauer, und einmal traf ein Brocken sogar eines der Häuser dahinter. Die Straßen waren bereits voller Schutt, und die Männer schlossen ihre Visiere gegen die Splitter aus Stein und Holz. Immer wieder stürzten sie und fluchten dabei allzu laut.
Der Himmel erhellte sich, als es die Wachablösung bis zum Tor im Nordturm geschafft hatte. Dieser hatte mehrere Treffer abbekommen, aber die Mauern waren im unteren Bereich fünfzehn Fuß dick und hatten bisher standgehalten.
Der Hauptmann hämmerte mit dem Griff seines Schwertes gegen die kleine Tür im Tor.
Es dauerte einige Zeit, bis ein Paar verschreckter Augen am Gitter erschien.
»Wache!«, zischte der Hauptmann. »Wir sind gekommen, um euch abzulösen.«
Sie hörten, wie der Riegel gehoben wurde.
Ein großer Felsbrocken schlug irgendwo rechts von ihnen ein, und alle zuckten zusammen. Steinsplitter regneten auf den Helm des Hauptmanns nieder.
Kling keuchte.
Der Hauptmann blickte zu ihm hinüber und fing ihn auf, als er zu Boden sackte. Ein vier Zoll großer Holzsplitter steckte in seinem Hals. Noch bevor ihn der Hauptmann auf den Boden legen konnte, war er tot.
»Öffnet das Tor!«, brüllte der Hauptmann.
Das Tor wurde eine Handspanne weit nach außen gedrückt. Der Schutt verhinderte, dass es weiter aufgestoßen werden konnte.
Noch zwei Brocken schlugen in der Nähe ein, und ein Feuerball ging nur fünfzig Schritt von ihnen entfernt nieder und erleuchtete die rauchgeschwängerte Luft.
Ohnekopf hatte nun genug Schutt beiseitegeräumt, sodass das Tor weiter geöffnet werden konnte, und dann schlüpften sie in den Turm und zogen Kling hinter sich her.
Kumpl zuckte hinter dem Tor kurz zusammen, als er den Blick des Hauptmanns bemerkte.
Der Hauptmann schob den Bogenschützen aus dem Weg und stapfte den niedrigen Korridor entlang. Draußen ging ein weiterer Felsblock nieder, worauf der Turm leicht erbebte. Die Fackeln bewegten sich in ihren Halterungen, der Stuck fiel von den Wänden.
Ser George Brewes saß in einem Sessel im Bergfried und hielt einen Becher Wein in der Hand. Er sah den Hauptmann trübe an.
»Seid Ihr betrunken? Warum befanden sich keine Wachen am Ausfalltor?« Der Hauptmann wandte sich an Ohnekopf. »Treib die Wachen zusammen. Ser George will hierbleiben.«
Kanny lungerte in der Tür des Bergfrieds herum und wollte offenbar lauschen, aber Ohnekopf packte ihn bei der Schulter. »Beweg deinen Hintern«, sagte er.
Kannys Grummeln war noch auf der Treppe zu hören.
Ser George wartete, bis die Bogenschützen fort waren. »Die Unterstadt kann nicht gehalten werden«, sagte er und ruinierte die Schwere seiner Worte sogleich mit einem Rülpsen. »Ist nicht zu halten«, sagte er noch einmal, als hätte das alles erklären können.
»Und da hast du geglaubt, du könntest die Wachablösung draußen vor die Hunde gehen lassen?«, fragte der Hauptmann.
»Verdammt seid Ihr mit Eurer Selbstgerechtigkeit«, sagte Ser George. »Ich hab die Schnauze voll. Es ist an der Zeit, dass Euch endlich mal jemand sagt, dass Ihr ein eingebildeter Laffe seid. Ich habe meine Männer in den Turm zurückgezogen, damit sie am Leben bleiben. Ihr seid schließlich auch so hierhergekommen. Ich war sicher, dass es jemand schaffen würde. Ich habe keinen einzigen verdammten Mann verloren, und wenn ich betrunken bin, dann geht das niemanden etwas an – bloß mich selbst. Hier draußen ist die Hölle losgebrochen.«
Der Hauptmann beugte sich zu ihm herunter. »Wenn wir die Unterstadt aufgeben, wird er die Brückenburg innerhalb eines einzigen Tages eingenommen haben.«
Ser George schüttelte den Kopf. »Ihr versteht es einfach nicht, oder? Ihr wollt ein fahrender Ritter sein – gebt Ihr Euch deshalb mit einer Nonne ab?«, höhnte er.
Der Hauptmann roch den Alkohol im Atem des Mannes. Es war der süßliche, widerliche Geruch von Wein und Hass. Einen Augenblick lang dachte er an seine Mutter.
»Wir sind Söldner, keine Helden. Es wird Zeit, dass wir den finden, der hinter dieser Belagerung steckt, und ihm das Handwerk legen. Nehmt Euer Mädchen doch mit, wenn es unbedingt sein muss. Wir sind hier fertig. Kein Geld der Welt ist es wert, dass wir hier sterben.« Ser George räusperte sich und spuckte aus. »Und jetzt geht mir aus dem Weg, Hauptmann. Ich habe meine zwölf Stunden in der Hölle abgedient und geh zurück auf die Festung.«
Der Hauptmann erhob sich. »Nein, du bleibst hier – zusammen mit mir.«
»Den Teufel werd ich tun«, erwiderte Ser George.
»Wenn du versuchst, diesen Raum zu verlassen, werde ich dich töten«, sagte der Hauptmann.
Ser George hastete auf die Tür zu.
Er steckte nicht in voller Rüstung und hatte außerdem eine Menge Wein im Bauch. Schon im nächsten Augenblick kniete er vor den Füßen des Hauptmanns, der ihm den Arm hinter den Rücken gedreht hatte und damit drohte, ihm die Schulter auszurenken.
»Ich will dich nicht töten«, sagte der Hauptmann. »Aber um ehrlich zu sein, George, ich würde gern irgendjemanden töten, und da kommst du mir gerade recht.«
Ser George grunzte.
Der Hauptmann lockerte seinen Griff ein wenig.
Ser George wich zurück. »Ihr seid ja vollkommen verrückt.«
Der Hauptmann zuckte die Schultern. »Ich werde diese Festung bis zum bitteren Ende halten«, sagte er. »Ich werde sie halten, und wenn ich es allein tun muss. Sobald wir von Lissen Carak abziehen – und bei meiner Macht, Ser George, wir werden abziehen –, dann werden wir nicht länger ein namenloser Trupp gebrochener Männer am Rande des Banditentums sein. Dann werden wir die berühmteste Soldatentruppe im Nordland sein, und die Menschen werden gegeneinander bieten, um uns zu bekommen.«
Ser George rieb sich die Schulter. »Wir werden hier sterben, aber es könnte auch anders sein. Wir könnten überleben. Soll doch der andere Kerl sterben.« Er sah den Hauptmann an. »Ihr habt überzeugende Argumente – im Armumdrehen.«
Ganz in der Nähe schlugen zwei Felsen ein. Bumm – bumm – und Gips regnete auf ihre Köpfe herunter.
Unterstadt, Lissen Carak · Der Rote Ritter
Als es eine Stunde später draußen allmählich hell wurde, ging die Wache den steilen Pfad mit zwei schweren Balken hoch, die sie über ihren Schultern trugen; es handelte sich um Dachbalken aus zusammengefallenen Häusern.
Die Maschinen des Feindes schossen einen Felsbrocken nach dem anderen ab, aber die abmarschierende Wache befand sich bereits außerhalb ihrer Reichweite. Die Männer eilten den Hang hinauf, und weitere Männer drangen aus dem Haupttor der Festung, um ihnen zu helfen.
Und dann setzte Stille ein.
Stunden vergingen.
Der Hauptmann hatte in seiner Rüstung im Bergfried geschlafen und den Kopf auf den Tisch gelegt. Er erwachte aufgrund der Stille, war sofort auf der Leiter. Seine Panzerstiefel klirrten, während sein Hüftpanzer an der Luke zum ersten Stock des Turms entlangschabte.
Ohnekopf befand sich schon auf der Brustwehr und deutete auf die feindlichen Maschinen, die nur dreihundert Schritte weiter westlich standen. Es schien, dass man sie fast berühren konnte.
»Cuddy könnte sie mit einem Pfeil erreichen. Oder Mutwill Mordling.« Ohnekopf grinste. »Bin selbst versucht, es zu probieren.«
»Auch wenn du einen oder zwei erwischen solltest«, sagte der Hauptmann, »da werden immer wieder neue nachkommen.« Hier war er viel ungeschützter, denn seine hermetische Verteidigung wurde nicht mehr durch die Macht der Festung verstärkt. Er konnte Thorn spüren.
Er sah sich um.
Die Ringmauer um die Unterstadt war an vier Stellen zusammengebrochen.
Harmodius!, rief er.
Er spürte, wie sich der alte Mann regte.
Gut gemacht, ich kann Euch hören.
Der Hauptmann konzentrierte sich. Es wird einen Angriff auf die Unterstadt geben. Ich brauche mehr Männer. Teilt das bitte Ser Thomas mit.
Ihr seid stärker geworden.
Ich übe, übermittelte ihm der Hauptmann.
Dann beobachtete er wieder den Feind.
Lissen Carak · Pampe
Pampe sah zu, wie die Balken durch das Tor getragen wurden. Kumpl kam zu ihr herüber – hohläugig rieb er sich die Arme – und gab ihr eine Botschaft.
Sie las und nickte. Sie hatte die Tagwache im Hof zur Inspektion antreten lassen, und rasch fand sie Mutwill Mordling. »Mutling«, sagte sie. »Zu mir.«
Er trat aus der Reihe.
»Such Bent. Und hol alle Handwerker her, die du finden kannst. Meister Randoms Mann ist im Dormitorium, und ich glaube, der Gipserjunge befindet sich in der großen Halle. Diese Balken sollen den Schwingarm einer Blide bilden, die dort aufgestellt wird, wo die Wurfmaschine stand.«
Mutwill Mordling verdaute diese Nachricht erst einmal und kaute dabei an seinem Schnauzbart.
Während er den Turm betrachtete und Cuddy die diensthabenden Bogenschützen inspizierte, erschien Tom Schlimm in voller Rüstung. Er sah nicht wie ein Mann aus, der die ganze Nacht auf den Beinen gewesen war.
»Der Hauptmann braucht die Hintergarde. Und zwar im Laufschritt.« Bekräftigend nickte er.
Ser Jehannes kam an der Mauer entlang und schritt die Treppe herunter. »Halt ein, Tom.«
Tom sah Pampe an. »Sofort«, sagte er.
Die Hintergarde war die Wachreserve – die Hälfte der tauglichen und zumeist auch der besten Männer, heute aber nur die Hälfte der verfügbaren Truppen. Pampe hatte mehr als ein Dutzend Soldaten in der Tagwache – die meisten anderen wurden für Ausfälle bereitgehalten –, die von Ser John Ansley, einem großen, fröhlichen und rotgesichtigen jungen Mann angeführt wurde. »Ser John, Ihr übernehmt die Wache«, sagte sie. »Ich nehme die Hintergarde. Zu mir!«, rief sie, und die Hinterwache kam: sechzehn Bogenschützen und acht Soldaten. Die meisten Bogenschützen stammten aus den Gilden, daher kannte Pampe sie nicht. Auch die neuen Rekruten waren dabei – die fünf ortsansässigen Jungen. Eigentlich hätte Bent ihr Bogenmeister sein sollen, aber er stand bereits neben Mutwill Mordling.
»Cuddy, du hast das Kommando«, sagte sie.
»Gern«, erwiderte er.
Jehannes erhob die Stimme. »Du bist verrückt!«, brüllte er Tom an.
Tom lachte nur.
Sein ältester Soldat war Chrys Foliak – einer von Pampes eigenen Zeltgenossen, der die anderen auf den Abmarsch vorbereitete.
Cuddy machte eine Handbewegung, und Langpfote trat aus der Reihe und gesellte sich zu ihm.
Sie schritten aus dem Ausfalltor. Es schien eindeutig, dass Ser Jehannes nicht mit dem Befehl einverstanden war, sie zur Unterstadt zu schicken. Aber sie hatten den Festungshof schon durchquert und waren draußen im Licht.
Unter ihnen bewegten sich auf den Feldern und Wiesen Hunderte – vielleicht sogar Tausende – von Kreaturen auf die Unterstadt zu. Der Boden selbst schien sich zu bewegen.
»Gütiger Christus«, murmelte Chrys Foliack. »Gütiger Christus.«
Langpfote spuckte nachdenklich aus.
Er blieb im Tor stehen, lehnte sich zurück und rief: »Toby! Michael!«
Er sah weder den Knappen noch den Diener des Hauptmanns. »Jacques!«, brüllte er.
Eine Nonne, trotz ihrer leeren Augen groß und schön, kam zum Ausfalltor. »Kann ich helfen?«, fragte sie.
»Der Hauptmann steckt in Schwierigkeiten. Sagt Schlimm … sagt Ser Thomas, dass wir mehr Pfeile und alle Männer in Rüstung brauchen.«
Sie nickte. »Ich werd es ihm sagen.«
»Tut das, meine Gute.« Langpfote spuckte zur Seite, schenkte ihr sein bestes Lächeln, drehte sich um und rannte den Pfad hinunter, um die anderen einzuholen.
Lissen Carak · Harmodius
Harmodius beobachtete die Geschäftigkeit im Festungshof, während er auf der Treppe an zwei streitenden Soldaten vorbeikam. Dann erreichte er die Brustwehr.
Es war schlimmer, als er gedacht hatte.
Barfuß rannte er über die Mauerkrone bis zu dem Apfelbaum.
Er rief die Macht herbei und hob seinen Stab …
Lissen Carak · Die Äbtissin
Die Äbtissin beobachtete, wie sich die Tagwache unter ihrem Fenster formierte. Diese Truppe machte einen wohlgeordneten Eindruck. Ihre scharlachroten Waffenröcke, ihre polierten Rüstungen … all das verschaffte ein Gefühl der Sicherheit, obwohl sie wusste, dass es diese Sicherheit eigentlich nicht gab.
Während sie zusah und gleichzeitig nach dem Hauptmann Ausschau hielt, ihn aber nirgendwo bemerkte und sich dafür sofort eine Buße auferlegte, brüllte die Frau, die in einer Männerrüstung steckte, einen Befehl, woraufhin sich alle Männer auf der rechten Seite der Formation umdrehten und ihr folgten.
Plötzlich setzte Unruhe ein, und die Männer bewegten sich in verschiedene Richtungen.
Sie streckte ihre inneren Fühler aus …
Er bereitete einen Angriff vor.
Sie war ausgeschlafen und fühlte sich ungeheuer stark. Sie durchquerte ihr Gemach bis zum Fenster in der Außenmauer, das dreihundert Fuß über dem Boden lag, und blickte hinaus.
Die Felder und Wiesen brodelten, als wären sie mit wimmelnden Maden bedeckt.
Sie empfand nicht nur körperlichen Ekel.
Zwei ihrer Novizinnen, die durch ihre Bewegungen aufgeschreckt worden waren, erschienen mit einem Becher warmen Weins und einer pelzverbrämten Robe. Sie trank den einen und zog die andere an, während ihr die ältere Novizin die Haare bürstete.
»Beeilung«, sagte sie.
Sie schlüpfte in leichte Schuhe, streifte das Habit ihres Ordens über die Pelzrobe und verließ das Gemach, während die Kreaturen auf den Feldern und Wiesen bisher lediglich wie die Tide waren, die an die Grundmauern platschte, und noch nicht so gewaltig wirkte wie eine Sturmflut.
Sie ergriff den Krummstab, den jede Äbtissin der Tradition gemäß verwendete und der einen seltsamen grünen Steinkopf besaß.
Dann rannte sie damit wie eine viel jüngere Frau zu ihrer Laube – und zu ihrem Apfelbaum.
Sie war entsetzt, als sie dort jemand anderen vorfand. Er saß nicht bloß da, sondern schwamm in ihrer Macht.
»Meister Magus«, sagte sie und blieb stehen.
»Äbtissin«, sagte er, »ich arbeite.«
Als sie innehielt, hob er seinen Stab. Seine Macht war deutlich zu sehen. Die gesamte Gestalt gab Ranken aus Macht ab.
Unterstadt, Lissen Carak · Der Rote Ritter
Der Hauptmann beobachtete, wie sich die Kreaturen des Feindes sammelten. Sie befanden sich in Bogenschussweite, und Ohnekopf und seine Gefährten machten sich bereits daran, auf sie zu schießen. Die beiden jüngsten Bogenschützen brachten Garben aus frischen Pfeilen aus dem zweiten Stock, und die älteren Männer feuerten sie ab.
Der Hauptmann hatte schon oft Bogenschützen bei der Arbeit und auch bei der Übung gesehen, aber noch nie hatte er beobachtet, wie ein ganzes Dutzend von ihnen gleichzeitig ihre Pfeile verschoss.
Ohnekopf hatte die Pfeile in kleine eiserne Kübel gesteckt, die in die Wand eingelassen waren.
Die beiden ältesten Schützen – Ohnekopf und Kanny – hoben ihre Bögen, zielten, schossen, diskutierten über ihre Ziele und beobachteten den Flug ihrer Pfeile.
»Zielen«, sagte Kanny. Es war ein anderer Tonfall als sein einschüchternder Garnisonston.
»Zielen«, sagte Ohnekopf. »Fertig, Jungs?«
Er hob seinen Bogen, und jeder andere Mann auf dem Turm hob den seinen ebenfalls. Alle schossen gleichzeitig. Ihre Pfeile stiegen und stiegen, und noch bevor sie wieder sanken, waren schon die nächsten Pfeile auf dem Weg.
Unten auf der Ebene schrien die fernen Irks ihren Trotz heraus, zeigten ihre Fangzähne und hoben ihre Speere.
Es waren tausend oder gar mehr. In ihren grünen Kleidern, ihrem Leder und ihrer braunen Haut sahen sie aus, als wären sie geradewegs aus der Erde unter ihren Füßen hervorgewachsen.
Der erste Pfeilschwarm traf und riss ein kleines Loch in die große Menge der braun-grünen Irks.
Die Phalanx der Speere rückte einen Schritt näher.
Der zweite Schwarm traf.
Und der dritte.
Und der vierte ebenfalls.
Das Regiment der Irks sah allmählich wie ein Stück Leder auf einer Schuhmacherbank aus, das mit einer Ahle an vielen Stellen durchbohrt war. Ein Loch nach dem anderen erschien, doch sie waren nur klein. Allerdings wurden es immer mehr. Die Irks schrien, ihre schönen Elfengesichter verzerrten sich zu Masken der Wut. Dann griffen sie an.
»So schnell ihr könnt, Jungs!«, rief Ohnekopf.
Er bewegte die Arme so flink, dass sie nur noch verschwommen zu sehen waren. Er spannte den Bogen, schoss, riss einen Pfeil aus seinem Köcher, legte ihn ein, spannte und schoss so schnell, dass der Hauptmann Schwierigkeiten hatte, den Bewegungsabläufen zu folgen.
Brat, der jüngste Schütze, öffnete einen Leinensack und schüttete die Pfeile mit den Spitzen voran in Ohnekopfs Köcher, dann rannte er weiter und bediente den nächsten Bogenschützen.
Kanny ächzte bei jedem Schuss. Es klang so regelmäßig und rhythmisch, dass es schon obszön war.
Die Irks verfügten über nur wenig oder gar keine Rüstung und keine Schilde. Während sie die dreihundert Schritte bis zu den Breschen in der Nordmauer zurücklegten, hinterließen sie eine Spur aus Verwundeten und Toten. Es war, als sei die gesamte Phalanx ein verwundetes Tier, das kleine Leichen ausblutete.
Nun hatten sie die erste Bresche erreicht.
Kanny gingen die Pfeile aus, er musste eine Pause einlegen und ein neues Bündel holen. Brat kam nicht mit den Lieferungen nach. Ein Bogen nach dem anderen hörte auf zu sirren.
»Sie verschwinden nicht«, sagte Ohnekopf gelassen. »Ihr braucht euch nicht zu beeilen. Brat, hol eine weitere Ladung und mach dann mit.«
Der Hauptmann kam sich überflüssig vor.
Lissen Carak · Pampe
Cuddy beobachtete den ersten Angriff vom Schlitz eines der überdachten Wege auf halber Höhe der Bergflanke aus. Dann rannte er die Stufen hinunter zu Pampe.
»Sie werden Hilfe brauchen«, sagte er.
Sie sah ihn finster an.
»Wir können sie von dort unten beschießen«, sagte er und deutete auf den unteren Abschnitt des Pfades. »Mit Pfeilen«, fügte er hinzu. Die Soldaten vergaßen bisweilen die Kraft und Macht der Bögen.
Pampe dachte nach. »Ja«, sagte sie schließlich. »Wir gehen!«
Sie preschten den Pfad entlang, durch ein Flussbett hindurch, die steile Treppe hinunter, bogen um eine lange Kurve und befanden sich endlich unmittelbar über der Unterstadt. Die Mauer hatte eine niedrige Brustwehr, und der Torturm befand sich nur etwa hundert Schritte von ihnen entfernt beinahe auf Augenhöhe.
Cuddy bewunderte Ohnekopfs Bogenschusskünste drei Atemzüge lang. Nun ergossen sich die Pfeile wie ein Wasserfall über die Irks auf den Wiesen und Feldern. Immer mehr Kreaturen starben.
Für Cuddy war es klar, dass die Irks besiegt waren. Ein Kampf mit Pfeilen hatte seine eigene gnadenlose Logik, und Cuddy war ein Experte darin.
»Fünf Pfeile«, sagte er zu den Männern, die um ihn herum standen. »Genau in ihre Mitte. So schnell ihr könnt.« Zwei seiner Gildemänner besaßen Armbrüste, die allerdings in einem solchen Kampf von keinem großen Wert waren.
»Fertig?«, rief er. Jeder Bogenschütze hatte fünf Pfeile vor sich griffbereit im Boden stecken und einen weiteren in den Bogen eingelegt. Langpfote hatte einen im Bogen, einen in der Schusshand und vier weitere im Boden vor sich.
Cuddy hob seinen Bogen.
Lissen Carak · Der Rote Ritter
Die Reihen der Irks brachen auseinander.
Die neuen Pfeile kamen von hinten und mähten sie nieder. In einer Minute war ein Zehntel ihrer Zahl zu Boden gegangen und stieß ein hohes Kreischen aus.
Lissen Carak · Pampe
»Spart euch eure Pfeile«, sagte Cuddy. Er hatte nur noch fünfzehn weitere. Hoch über ihnen auf dem Berg sah er Diener mit Pfeilbündeln herunterrennen, doch es würde noch mindestens zehn Minuten dauern, bis sie die Kämpfer erreicht hatten.
Er deutete auf die Stadt. »Einige sind reingekommen«, rief er Pampe zu.
»Würdest du gern hierbleiben?«, fragte sie.
Cuddy nickte.
»Soldaten – zu mir!« Sie winkte Cuddy zu und lief zum Ausfalltor.
Langpfote zwinkerte Cuddy zu, als er ihr folgte.
Lissen Carak, Unterstadt · Der Rote Ritter
Der Hauptmann öffnete die untere Tür des Turms persönlich. Er und Ser George waren die einzigen Männer ohne Bogen.
Pampe stand mit einer Menge bewaffneter Männer draußen. »Die Stadt ist voller Irks«, sagte sie. Sie hatte ihr Schwert in der Hand, und hinter ihr wischten die Männer das dunkle Blut von ihren Klingen.
Er nickte. »Wir müssen die Straßen für Ausfälle freihalten«, meinte er.
Sie erwiderte sein Nicken. »Das wird schwierig«, sagte sie geschäftsmäßig und befahl ihren Männern sogleich, Steine und Dachschindeln von den Straßen zu räumen.
Der Hauptmann half ihnen.
Es war harte Arbeit. Als die Frühlingssonne immer höher stieg, brannte sie fern und rot durch die raucherfüllte Luft. Es wurde beständig wärmer, und unter den vierzig Pfund Rüstung sowie dem schweren Waffenrock war es bald unerträglich heiß.
Es fiel schwer, in einer Rüstung einen Stein zu heben.
Für einen herabgestürzten Dachbalken benötigten sie fünf Männer.
Als sie sich beschwerten, erklärte er ihnen, dass ihre Pferde auf dieser Straße in der Dunkelheit herbeigetrieben würden.
Nun machten sie sich wieder daran, den Schutt aufzuheben und alle Hindernisse zu beseitigen.
Nach einer Stunde war der Hauptmann schweißnass. Er brach auf einer niedrigen Steinmauer zusammen, und Toby gab ihm eine Flasche mit Wasser.
Rumms.
»Verdammt«, fluchte der Hauptmann. Der Felsbrocken prallte fünfzig Schritt entfernt gegen eine Kirche, riss ein Loch in das Schieferdach und verschwand im Innern.
Als er sich wieder aufrichtete, griffen die Irks an.
Es war nur ein Dutzend, aber sie wirkten verzweifelt, tapfer und wild.
Als der Angriff zurückgeschlagen war, stellte der Hauptmann fest, dass der Ritter, der ihm den Rücken freigehalten hatte, Ser George Brewes war.
Die Wasserflasche war wie durch ein Wunder nicht zerbrochen. Er nahm einen Schluck, spuckte aus und reichte sie an Ser George weiter.
Dieser stützte sich auf sein Schwert. »Irks«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Ich habe von ihnen gehört.«
Der Hauptmann keuchte.
»Es ist, als würde man Kinder töten«, bemerkte Ser George.
Der ganze Himmel war rosarot. Ein weiterer Felsbrocken prallte links von ihnen auf die Erde.
»Glaubt Ihr wirklich, wir können standhalten?«, fragte Ser George.
»Ja«, ächzte der Hauptmann. Er hatte eine Schnittwunde an der Schulter davongetragen und spürte, wie sich das Blut mit seinem Schweiß mischte. Ich muss lernen, mich selbst zu heilen. Warme Feuchtigkeit tröpfelte an seiner Seite herunter.
Warum? Warum hat sie mir den Rücken zugewandt?
Er verzog das Gesicht.
»Das wäre doch etwas«, meinte Ser George.
»Ja«, mühte sich der Hauptmann zu sagen.
Toby hatte den Angriff der Irks unbewaffnet und ungerüstet überlebt. Er war einfach davongelaufen. Jetzt aber war er zurück.
»Ich habe etwas zu essen«, sagte er.
Seine kleine Tasche war mit Fleisch, Brot und gutem Rundkäse angefüllt. Pampes Soldaten fielen darüber her wie Aasfresser über einen Kadaver. Ein Dutzend Mal wurde ihm anerkennend auf die Schulter geklopft. Für sich selbst hatte er eine Fleischpastete mitgebracht. Das schien seine Lieblingsspeise zu sein.
Pampe ging zwischen ihnen umher. »Trinkt Wasser«, sagte sie, als ob sie Kinder wären, und wandte sich an den Hauptmann. »Glaubt Ihr, sie werden es noch einmal versuchen?«, fragte sie.
Der Hauptmann zuckte mit den Achseln, doch das Gewicht seiner Rüstung und die Schmerzen in der Schulter unterdrückten die Bewegung fast vollständig. So fuhr nur sein Kopf auf und ab. »Ich habe keine Ahnung.« Er atmete tief durch. Sein Brustpanzer schien plötzlich zu klein zu sein, er konnte nicht genug Luft holen. Der Rauch brannte ihm in der Lunge.
Es war nur eine sehr kleine magische Anstrengung, aber er sah es sofort, als er die Mühe auf sich nahm. Es war heimtückisch.
Die Luft war voller Gift. Er konnte nicht einmal erkennen, woher es kam.
Pampe hustete.
Harmodius!, rief er.
Ich sehe es, mein Junge.
Unternehmt etwas!, rief der Hauptmann stumm.
Lissen Carak · Amicia
Seinen Ruf vernahm sie ebenso deutlich wie seine Angst.
Sie arbeitete gerade an Syms Rücken, fuhr mit den Händen an den Rändern der Peitschenwunden entlang und versuchte, einige der tieferen zu heilen. Die Gedanken des Hauptmanns halfen ihr nicht gerade dabei, sich zu konzentrieren.
Instinktiv streckte sie ihre Fühler aus. Es war in der Luft. Gift. Sie las es in seinen Gedanken.
Sie schmeckte die Luft durch seinen Mund und spürte sie durch seine Lunge.
Sie war in ihm.
Dann warf er sein Tor zu.
Sie stand über Sym und hatte die Hände zu Fäusten geballt und zitterte.
Hauptmann!, rief sie stumm.
Er reagierte.
Es ist ein Entheilen. Ein Fluch.
Sag es mir.
Du kannst es nicht bannen. Du kannst es nur heilen.
Eine andere Stimme. Der Magus. Ich verstehe! Ein guter Gedanke, junge Frau.
Nun war es an ihr, ihre Verteidigung zu aktivieren. Hinaus! Sie sagte es sowohl in Gedanken als auch laut.
Sym sah sie an.
»Nicht du, Dummerchen«, murmelte sie.
Lissen Carak, Unterstadt · Der Rote Ritter
Der Hauptmann spürte, wie sich das Gift in der Luft immer mehr konzentrierte, und er hatte keine Ahnung, was man dagegen tun konnte. Aber nun, da sie es ihm gezeigt hatte, sah er es.
Ein Fluch.
Die physische Manifestation eines Fluches.
Er ging in seinen Turm. »Ich brauche Hilfe«, sagte er zu seiner Lehrerin.
Sie lächelte. »Du kannst mich alles fragen«, sagte sie.
»Ein Fluch. Ein physischer Fluch – Gift in der Luft.« Er trat an die Tür seines Turmes.
»Er wartet darauf, dass du sie öffnest«, sagte sie.
»Ich glaube, er ist gerade beschäftigt, und viele Menschen werden sterben, wenn ich nichts unternehme.« Er griff nach der Tür.
»Wenn er physisch ist, können wir ihn vielleicht auch auf physischem Weg entfernen«, sagte Prudentia und lächelte traurig. »Ich selbst weiß nichts über das Heilen.«
»Das ist ein guter Gedanke.« Er betrachtete seine Symbole. »Wind«, sagte er.
»Ja«, pflichtete Prudentia ihm bei.
Er sprach die Namen aus. »Heiliger Georg, Zephyr, Steinbock«, sagte er, und die Symbole rotierten still.
Er berührte die Tür.
Zwar vermochte er den Feind zu spüren, aber er öffnete sie trotzdem.
Und warf sie sofort wieder zu.
Lissen Carak · Pampe
Der Wind kam ohne Vorwarnung auf. Zuerst war es eine heftige, kühlende Brise und dann ein gewaltiger Sturm, der aus dem Osten kam.
Pampe holte zitternd Luft.
»Halt dir einen Schal vor das Gesicht!«, rief der Hauptmann. »Oder irgendwas anderes!«
Der Wind bewegte das Gift, aber er konnte es noch immer riechen.
Und dann spürte er die Entsendung. Sie war so sanft wie Schnee, und einen Herzschlag lang schien die Luft überall um sie herum zu funkeln, als ob die ganze Welt aus Magie bestünde.
Lissen Carak · Harmodius
Harmodius beobachtete das Wirken der Äbtissin und musste an Thorns Bemerkung denken, dass die Menschen untereinander zu sehr entzweit seien.
Es war wunderbar. Es war die Art von mathematischer Hermetik, die ihn zutiefst bewegte. In ihr steckten die Drehungen der Planeten und die Pfade der Sterne, die über den Himmel liefen. Und viele andere Dinge, gedachte und ungedachte …
»Ihr seid viel mächtiger, als ich es mir vorgestellt hatte«, sagte Harmodius.
Sie lächelte. Einen Augenblick lang war es das Lächeln einer Königin.
»Wer seid Ihr?«, fragte er.
»Ihr wisst doch, wer ich bin«, erwiderte sie neckisch und erhob sich von ihrem Sitz. »Ich glaube, für Thorn wird es sehr schwer sein, diesen Kniff noch einmal anzuwenden.«
Harmodius hob eine Braue. »Kniff?«, fragte er. »Das war keine Hermetik. Das war kein Zauber. Nicht so, wie ich ihn verstehe.«
»Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumen mag«, sagte sie. »Er benutzt den Tod der Irks, um seinen Fluch zu befeuern. Das ist eine sehr, sehr alte Art und Weise, Magie mit Macht aufzuladen.«
Harmodius nickte mit plötzlichem Verständnis. »Aber Ihr …«
»Ich stehe für das Leben«, sagte die Äbtissin. »Ich und auch mein Gott.« Sie lächelte lieblich. »Er wird für einige Zeit nicht zurückkommen. Ich muss mit einer Novizin sprechen. Bitte entschuldigt mich.«
Harmodius verneigte sich vor ihr. Als sie an ihm vorbeiging, sagte er: »Lady …«
»Ja, Magus?« Sie blieb stehen. Ihre Begleiterinnen hielten ebenfalls inne, doch diese winkte sie voran.
»Würden wir uns verbinden, Lady …«, sagte er.
Sie machte einen Schmollmund. »Dann würdet Ihr meine geheimsten Gedanken kennenlernen – und ich die Euren«, sagte sie.
»Wir wären mächtiger«, beharrte er.
»Ich bin bereits mit meinen Novizinnen verbunden. Und mit all meinen Schwestern«, sagte sie. »Wir sind schließlich eine Gemeinschaft.«
»Natürlich«, sagte Harmodius. »Gütiger Gott, das seid Ihr wahrlich. Ich muss ein Narr sein.« Als sie es gesagt hatte, war es ihm offenbar geworden. Auch vierzig schwache Magi waren stark, wenn sie gemeinsam handelten. Aber das erforderte eine ungeheure Disziplin.
Wie die von Mönchen.
Oder Nonnen.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte sie und lächelte ihn an.
Er sah ihr nach und setzte sich dann wieder unter den Apfelbaum.