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Lissen Carak · Michael

Die Belagerung von Lissen Carak. Elfter Tag.

Der Hauptmann hat die Garnison in der Unterstadt, eine kleine befestigte Bastion am Fuß des Berges, mit unserer Wache verstärkt. Der Feind hat Belagerungsmaschinen gebaut – Katapulte und Bliden – und greift an. Wegen der Macht unserer eigenen Maschinen auf der Festung und weil wir in der Lage sind, Ausfälle von der Festung aus durch die Straßen der Unterstadt zu machen, sagt der Hauptmann, dass der Feind zuerst die Unterstadt einnehmen müsse.

Er hat bisher zwei Versuche dazu gemacht, und beide sind mit schweren Verlusten für die Kreaturen der Wildnis geendet. Wir hingegen haben gestern keinen Mann und keine Frau verloren. Die Äbtissin hat die Macht Gottes angerufen und die vergiftete Luft des Feindes weggeblasen. Nach ihren Gebeten haben sich viele leichter ums Herz gefühlt.

Aber nun schleudern die Maschinen des Feindes andauernd Felsbrocken auf uns. Die Luft ist voller Rauch, und viele Bauern sind wütend oder niedergeschlagen.

In der Nacht sind Kobolde auf die Brückenburg vorgerückt, doch ihr Überraschungsangriff ist fehlgeschlagen, und sie wurden vertrieben.

Michael legte seine Feder beiseite und schüttelte den Kopf, als er den Tintenfleck an seinem Zeigefinger sah.

Kaitlin war in der letzten Nacht nicht zu ihm gekommen, obwohl er bald in die Unterstadt ausrücken musste. Die Bauern waren wütend; er spürte es. Der alte Seth Lanthorn, der sich in den ersten Tagen der Belagerung wie ein schmieriger Bastard verhalten hatte, war nun mürrisch und still. Die Bauern murmelten sich jedes Mal etwas zu, wenn er an ihnen vorbeiging.

Sie hassten es, dass ihre Jungen als Bogenschützen dienen mussten. Und sie hassten vielleicht auch …

Ich werde sie heiraten, sagte er zu sich selbst. Aber er konnte die Augen nicht länger offen halten …

Lissen Carak · Der Rote Ritter

Die Ringmauer um die Unterstadt wurde allmählich zu Schutt zerstampft.

Bevor die Sonne aufging, trieben Wolken herbei und verdeckten die Sterne. Der Regen, der daraufhin einsetzte, war zwar nicht besonders heftig, durchnässte aber alles und war kalt.

»Ein Angriff steht bevor«, sagte Toby und rieb sich die Wangen. Der Atem des Jungen roch nach süßem Apfelwein.

Der Hauptmann erhob sich müde und fühlte sich, als wäre er wiederholt getreten worden. Es kostete ihn große Willensanstrengung, seine hermetischen Übungen zu machen, und es war eine Tortur, sich zu rüsten. Toby musste ihm den Stahlpanzer anlegen, denn Michael befand sich bereits in den Straßen der Unterstadt. Jeder Mann und jede Frau musste nun auf dem Posten sein.

Als er auf die Mauer trat, bewegten sich die Felder und Wiesen unter ihm wieder. Irk-Formationen marschierten zur nördlichen Flanke der Stadt und bildeten dort eine neue Schlachtreihe. Nun besaßen sie Schilde – es waren große Pavesen aus schwerer Borke, die von den Bäumen in den tiefen Wäldern abgeschält worden war.

Sie bildeten sechs Reihen, die im leichten Regen glitzerten.

Tom Schlimm verfügte über zwanzig Soldaten und ebenso viele Knappen und Diener, die auf sie warteten, sowie zwanzig Bogenschützen auf dem Turm. Die Breschen in der Stadtmauer schimmerten feucht, denn Männer in Rüstungen füllten sie auf.

Die Maschinen des Feindes schwiegen.

Mutwill Mordling trat neben seinen Hauptmann auf die Mauer. »Fertig«, sagte er und deutete auf die Überreste des früheren Südturms. Nun diente dieser als Plattform für die Maschinen. Die verbliebenen zwei Stockwerke waren von einer Blide gekrönt, deren Schwungarm so hoch wie der Kirchturm war.

Der Hauptmann schenkte ihm ein müdes Lächeln.

»Mal sehen, ob wir Meister Thorn noch einmal überraschen können«, sagte er. »Los geht’s.«

Der erste Stein wurde mit großer Aufregung geladen. Der Arm der Blide konnte einen Mann in Rüstung fünfhundert Schritte weit schleudern – und ein Kriegspferd etwa dreihundert Schritte.

Mutwill machte so viele Umstände wie eine Mutter, die ihr Kind zum ersten Mal in die Kirche schickte.

Ohnekopf, der eigentlich dienstfrei hatte, dessen Liebe zu den Maschinen seinen gesunden Menschenverstand aber überlagerte, zog den Ladehebel zurück und warf den Stein nur durch Muskelkraft in das große Netz aus Hanfgewebe.

»Wollt Ihr Euch die Ehre geben?«, fragte Mutwill den Hauptmann.

»Alle runter vom Turm«, rief der Hauptmann.

Alle Bauern standen im Hof. Sie hatten wie Zugtiere gearbeitet, um die Maschine zu bauen und aufzustellen sowie den Turmstumpf zu begradigen. Ihr Brummen war laut und unfreundlich, aber der Hauptmann beachtete sie gar nicht weiter.

Allerdings brauchte er sie, um den Arm nach hinten zu winden.

Als es vollbracht war, betätigte der Hauptmann den Abzugshebel.

Der Arm der Blide bewegte sich zuerst langsam, dann immer schneller, während die große Schlinge an seinem Ende hoch in die Luft gehoben wurde. Der Arm mit dem riesigen Geschoss daran prallte gegen das Hindernis, die Schlinge öffnete sich, und der Stein mit dem Gewicht eines Menschen flog davon; er stieg erstaunlich lange auf.

Natürlich war er aus einer Höhe von dreihundert Fuß über den Feldern und Wiesen gestartet.

Er stieg und stieg weiter, flog über die Irks hinweg, die gerade mit einem neuen Vorstoß begonnen hatten und offenbar nicht recht wussten, ob sie sich auf ihre neuen Schilde verlassen konnten, und dann begann er mit dem Abstieg. In einem spitzen Winkel flog er über den tiefen Graben hinweg, den die Kobolde ausgehoben hatten, über die Artillerieplattform des Feindes und über den Hügel mit den Maschinen und verschwand zwischen den Bäumen am westlichen Waldrand.

Der Stein hatte nichts und niemandem Schaden zugefügt.

Aber die Bauern jubelten, und die Bogenschützen taten es ihnen gleich. Der Hauptmann grinste zufrieden.

Schnell kletterte Mutwill Mordling wieder die Leiter hoch, sprang auf die Mauer und klopfte dem Hauptmann auf den Rücken.

Der Hauptmann lächelte. »Gute Arbeit.« Dann wandte er sich an Ohnekopf. »Mach die Maschinen bereit.«

Ohnekopf grinste.

Die erste Angriffswelle zog sich zurück, als die große Maschine wieder gespannt wurde. Tom Schlimms Soldaten hatten den Feind zerschmettert, und die großen Borkenschilde hatten die Pfeile der Bogenschützen nicht so wirksam abfangen können, wie es sich die Irks wohl gewünscht hatten.

Der Hauptmann stellte einen Ausfalltrupp unter Ser Jehannes im Hof zusammen. »Tom wird gewiss hart bedrängt werden«, sagte er zu Jehannes. »Ein Dutzend Männer zu Pferd könnten ihren nächsten Angriff allerdings vereiteln.«

Jehannes nickte. »Ja, Ser«, sagte er kühl. »Ich kenne meine Aufgaben.«

Der Hauptmann bemerkte, dass Ser Francis Atcourt bereits gerüstet auf seinem Pferd saß. Er drückte die gepanzerte Hand des Mannes. »Gut, dich wieder hierzuhaben«, sagte er.

»Gut, wieder hier zu sein«, erwiderte Atcourt. »Auch wenn es für mich bisher nichts anderes als irgendein Tag im Bett ist. Ich bin so stark, dass ich einen Berg durchschwimmen oder einen Fluss erklettern könnte«, lachte er.

Die Blide feuerte.

Der Hauptmann war nicht der Einzige, der zu den Mauern lief und den Flug des Steins beobachtete.

Er landete außer Sichtweite hinter den Maschinen des Feindes.

Der Hauptmann sah auch dem nächsten Angriff zu, der halbherzig geschah. Die Irks hielten sich so weit wie möglich von den Bogenschützen fern, indem sie sich vor der größten Bresche in der Mauer zusammendrängten. Doch nur wenige drangen bis zu den Soldaten der Verteidigung durch.

Dann schoss eine der Maschinen des Feindes.

Der Felsbrocken schlug wie ein Blitz in die Bresche und zerschmetterte Soldaten und Irks gleichermaßen.

»Verdammt«, sagte der Hauptmann. »Das hätte ich voraussehen müssen.«

Eine der Kreaturen gab einen langen, markerschütternden Schrei von sich – wie eine Trompete, aber lauter und scheußlicher –, und die Irks krochen aus den Häusern und Kellern der Unterstadt hervor. Sie hatten sich in der Nacht hineingeschlichen oder es mit den ersten Angriffswellen an den Soldaten vorbeigeschafft. Und nun fielen sie Tom Schlimms Formation in den Rücken.

Ein großer Troll in einer Rüstung rannte herbei und deutete mit seinen Geweihstangen auf die Bresche in der Ringmauer.

Die Irks gingen ihm aus dem Weg.

Ein weiterer Fels stürzte aus dem Himmel herunter und traf die Bresche. Der Stein zersplitterte beim Aufprall und überschüttete Angreifer und Verteidiger gleichermaßen mit tödlichen Steinteilchen.

Wie bei einem Turnier sahen die Männer auf den Mauern den Männern in der Bresche zu.

Ser Philip le Beaune starb, als sich ein Steinsplitter in die Seite seines Helmes bohrte.

Voller Verblüffung fiel Robert Beele, als ihm ein Irk einen Dolch in den Augenschlitz stieß.

Ser John Poultney starb bei dem Versuch, die Mauer in den Rücken zu bekommen, während er sein Schwert in wilden Bögen schwang. Er stolperte, als ein Stein seinen Rückenpanzer traf, und fiel auf die Knie. Einen Herzschlag später war eine Welle der kleinen Ungeheuer über ihm. Eines davon zerschmetterte er mit der gepanzerten linken Faust, mit der anderen Hand schwang er sein Schwert und hieb es durch zwei weitere Irks, und dann rissen zwei weitere seinen Kopf zurück.

»Der Ausfalltrupp soll losmarschieren!«, befahl der Hauptmann.

Ohnekopf setzte die Blide in Gang. Der Stein flog hoch und verschwand im Wald der Maschinenarme auf dem Geschützhügel des Feindes.

Holzsplitter flogen umher, was sogar von der Festung aus zu sehen war.

Eine nur halb gefüllte Blide in der Batterie des Feindes wurde von einem Kobold abgeschossen, der in Panik geriet, und derjenige, der gerade dabei gewesen war, das Netz zu füllen, wurde hundert Fuß weit geschleudert und fiel dann wie ein nasser Sack auf die Erde.

Jehannes galoppierte die Straße hinunter, die von der Festung wegführte; ein Dutzend Ritter folgten ihm.

Sie preschten die Serpentinen entlang, und der Troll eilte auf die Bresche zu, während ein Schwarm von Irks die Verteidiger in der Bresche zu einem festen Knoten zusammendrückte.

»Verdammt«, sagte der Hauptmann.

Er hatte seine Macht noch nie über eine so große Entfernung hinweg angewendet, aber jetzt musste er es versuchen.

Unterstadt, Lissen Carak · Tom Schlimm

Tom Schlimm glich einem Kiesel in einer zerfallenden Sandburg.

Er warf seinen behelmten Kopf zurück und brüllte.

Die Irks bebten vor Angst.

Er tötete sie.

Sein Schwert war überall, und er war schneller als sie – und außerdem auch größer, breiter und stärker.

Sie begaben sich dorthin, wo er nicht war, aber die anderen Soldaten kannten Tom und blieben bei ihm, als wären sie mit ihm verklebt. Francis Atcourt stand neben seiner Schulter, drang vor, wenn Tom vordrang, und zog sich zurück, wenn sich der große Mann auch zurückzog. Er hatte einen kurzen Speer und benutzte ihn nur selten. Er ließ Tom die Irks töten und brachte nur diejenigen um, die Tom bedrohlich werden konnten.

Allmählich mussten sie sich von der Bresche zurückziehen. Sie konnten die Mauer nicht halten, denn zu viele Soldaten waren schon gestorben.

Atcourt bemerkte eine Bewegung über sich auf dem Hang. »Ein Ausfall!«, rief er.

Tom erstarrte.

»Da kommt ein Troll«, sagte er. »Francis, erledige alles, was sich hinter uns befindet, und öffne eine Gasse zum Turm.«

Atcourt brauchte keine weitere Aufforderung. Er klopfte dem Knappen des Hauptmanns sowie drei weiteren Männern auf die Helme, während er an ihnen vorbeilief. »Zu mir!«, rief er.

Ein Irk erschien in seinem Blickfeld. Dieser hielt inne, war vielleicht überrascht, Menschen nicht nur auf den Mauern, sondern auch in der Stadt vorzufinden, und starb mit Atcourts kurzem Speer in der Stirn.

»Michael!«, rief er. »Geh zum Turm. Sag Cuddy und Langpfote, sie sollen uns Schutz geben.«

Der Knappe besaß eine ausgezeichnete Rüstung, die leichter und besser war als alles, was den übrigen Söldnern zur Verfügung stand. Außerdem war er der Jüngste unter ihnen.

Der große Troll rannte zwischen den Irks hindurch. Am Fuß des Hanges, der mit Geröll übersät war, blieb er unter der Bresche stehen und sah sich um, und zwar wie ein augenloser Wurm, der das Tageslicht oder die Wärme sucht – oder Menschenblut. Dann arbeitete er sich bis zu der Bresche vor, konnte sich auf dem schlechten Untergrund aber nicht besonders schnell bewegen. Als der Troll das Loch in der Mauer erreicht hatte, blieb er wieder stehen, bemerkte die Soldaten, warf den Kopf zurück und brüllte sie an. Sein grotesker Mund mit den nach innen gebogenen Fangzähnen und dem schwarzen Loch dazwischen war deutlich zu erkennen.

Der Schrei hallte durch die Wälder, wurde von der Bergflanke und von den Festungsmauern hoch oben zurückgeworfen. Die Äbtissin hörte ihn beim Gebet, und Amicia hörte ihn im Hospital. Thorn hörte ihn ebenfalls und ballte eine mächtige Faust. Der Hauptmann hingegen hörte ihn überhaupt nicht. Er bereitete sich auf seine magische Arbeit vor.

Tom Schlimm ließ sich nicht beeindrucken, legte den Kopf in den Nacken und brüllte ebenfalls.

Der Laut brach sich an den Festungsmauern, drang bis in den Wald durch und kam zurück.

Dann griffen sie einander an.

Kurz vor dem Zusammenprall machte Tom einen Schritt zur Seite. Das Ungeheuer zögerte, und Tom hieb mit seinem Schwert zu. Die Geweihstangen des Trolls erfassten ihn jedoch und schleuderten ihn zu Boden.

Der Schwung des Trolls schleifte ihn ein Dutzend Schritte weit mit, dann drehte sich das Monstrum um.

Tom gelang es, ein Bein unter sich zu ziehen. Er rammte die Spitze seines Schwertes in den Boden und nutzte es als Hebel, um sich wieder auf die Beine zu bringen.

Der Troll hatte sich nun ganz umgedreht und senkte den gepanzerten Kopf.

Tom lachte.

Cuddy beugte sich über die Turmmauer. Der Troll drehte sich um, und er ließ es zu, da er vermutete, dass sein Hinterteil nicht so gut gepanzert war wie die Front. Er hob seinen Bogen, spannte die Sehne und schoss.

Der Pfeil traf mit einem Geräusch, das ein Metzgermesser machte, wenn es ein Hammelbein durchtrennte.

Der Troll geriet ins Taumeln. Der Pfeil hatte ihn von hinten getroffen und war bis zur Fiederung eingedrungen. Der Troll stieß einen jammernden Ton aus und hob den Kopf.

Tom trat vor.

Das Ungeheuer zuckte und griff mit beiden steinernen Händen nach Toms Kehle.

Tom hieb zu.

Zwar traf er, doch auch er selbst wurde getroffen und ging zu Boden.

Ser George Brewes sprang über Toms Körper und stellte sich dem Troll entgegen. »Lauft!«, brüllte er dem Rest der Männer zu. »Rennt weg!«

Aber Francis Atcourt gesellte sich zu ihm, und Robert Lyliard ebenso.

Der Troll beäugte sie, hieb einmal, zweimal auf die Erde ein, sackte langsam zusammen und lag reglos da.

»Verdammtes Miststück«, sagte Lyliard. Er trat vor und rammte dem Wesen seinen Hammer gegen den Kopf.

»Kümmert euch um Tom!«, rief Atcourt. Die Irks waren an der Bresche, der Tod des Trolls schien ihnen nichts auszumachen.

Alle halfen Tom. Er wog so viel wie ein Kriegspferd; zumindest waren die Männer bereit, dies zu schwören.

Und dann rannten sie auf den Turm zu, während ihnen die Irks dicht auf den Fersen waren.

Die Bogenschützen feuerten in die Menge hinein; Cuddy und Langpfote hofften, dass die Rüstungen ihrer Gefährten Schutz vor den Pfeilen böten.

So war es auch … größtenteils.

Die Irks fielen zurück. Sie überfluteten die Unterstadt, aber sie ließen die Männer zum Turm laufen. Und nun öffnete sich das Ausfalltor. Langpfotes Schwert und Schild gingen hoch, als wären sie miteinander verbunden. Sein Schild rammte gegen den Schädel eines Irks, und mit dem Schwert köpfte er einen anderen. Mit der gleichen Bewegung hielt er das Schwert wieder schützend vor sich, machte einen Schritt zurück und parierte gleich zwei Speerwürfe mit einer einzigen Bewegung seiner Klinge. Er schob seinen Schild unter die Arme eines Irks, der einen Speer nach ihm schleudern wollte, rammte ihm den Griff seines Schwertes in das ungeschützte Gesicht und warf die leichte Kreatur gegen seine Gefährten.

Dann trat er wieder einen Schritt zurück, und das Ausfalltor wurde zugeworfen.

Lissen Carak · Der Rote Ritter

Ser Jehannes hatte den Ausfalltrupp nach zwei Dritteln des Weges den Hang hinunter angehalten, nachdem klar geworden war, dass die Bresche nicht mehr zu verteidigen war. Nun machte der Trupp kehrt und ritt den Berg schweigend wieder hinauf.

Der Hauptmann wartete am Tor.

»Richtig gemacht«, sagte er zu Jehannes. »Guter Befehl.«

Jehannes stieg ab, übergab seine Zügel einem der Bauern – die Diener waren allesamt im Einsatz – und wollte schon weggehen. »Die Unterstadt ist verloren«, sagte er dabei.

»Nein«, entgegnete der Hauptmann. »Noch nicht.«

Über ihren Köpfen schleuderte die Blide gerade wieder eine Steinladung.

»Ihr riskiert alles in der Hoffnung, dass Ihr Unterstützung erhaltet. Vom König.« Jehannes hielt sich offenbar im Zaum. Er sprach die Worte besonders sorgfältig aus.

Der Hauptmann legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ja«, sagte er nur.

»Möge Christus mit uns sein«, meinte Jehannes.

Westlich von Albinkirk, Südufer des Cohocton · Gaston

Gaston hatte seine Waffenübungen gemacht, und er hatte gebetet. Nun blieb ihm nicht mehr viel zu tun. Er hatte genug von seinem Vetter und auch genug von der Armee – in jeder Hinsicht.

Also bestieg er sein Pferd, ließ seinen Diener beim Zelteingang zurück und begab sich auf einen Ausritt.

Das Lager war riesig. Es dehnte sich nach allen Richtungen aus und war mit seinen mehr als zweitausend Zelten, Hunderten von Wagen, die zu einer Mauer zusammengestellt worden waren, sowie dem umlaufenden Graben, der mannstief war und dessen Aushub ein niedriges Bollwerk bildete, so groß wie ein Jahrmarkt oder sogar eine kleine Stadt.

Allen war es bei Strafe verboten, sich außerhalb des Grabens aufzuhalten. Gaston begriff besser als sein Vetter, dass er ein Beispiel geben musste, und so ritt er langsam an der Innenseite des Grabens entlang und nickte dabei den albischen Rittern und ihren Lords zu.

Er sah zwei jüngere Männer mit Falken auf den Handgelenken und war neidisch auf sie.

Er dachte an Zuhause. An die sonnengetränkten Täler. An die Ausritte mit den Freundinnen seiner Schwester und an den Wein, den Witz und die Ausgelassenheit dabei, an die Jagd auf Vögel, an das Erklettern von Bäumen, das Betrachten eines wohlgeformten Leibes auf einem Pferd oder an einem Flussufer …

Er schüttelte den Kopf, doch das Bild von Constance d’Eveaux, wie sie über die entblößte Schulter zurücksah, bevor sie in den See sprang, ging ihm nicht aus dem Sinn.

Zwischen ihnen war nichts gewesen. Bis zu jenem Moment hatte er sie nur als eines unter mehreren hübschen Gesichtern, die zu den Freundinnen seiner Schwester gehörten, wahrgenommen.

Warum bin ich hier?, fragte sich Gaston.

»Seht Ihr etwas, das Ihr haben möchtet?«, fragte eine bekannte Stimme.

Gaston zügelte sein Pferd – sein Tagtraum zerstob.

Es war der alte Bogenschütze. Gaston war überrascht, dass er sich freute, den Mann von niederer Herkunft wiederzusehen.

»Du wolltest doch nach Hause gehen«, sagte Gaston.

Der alte Mann lachte. »Heh«, sagte er. »Lord Edward hat mich gebeten zu bleiben. Ich bin ein Dummkopf, also bin ich geblieben. Stattdessen habe ich meinen nutzlosen Schwager nach Hause geschickt.« Er zuckte die Achseln. »Von uns beiden braucht meine Tochter ihn vermutlich eher als mich.«

»Der Lord von Bain?«, fragte Gaston.

»Genau der. Ich war vor etwa zehn Jahren sein Bogenschütze.« Er zuckte die Achseln. »Das waren haarige Zeiten.«

Gaston nickte. »Ich weiß, dass du Soldat gewesen bist.«

Der alte Bogenschütze grinste. »Allerdings. Ich habe gemeint, was ich sagte. Warum befinden wir uns mit der Wildnis im Krieg? Wenn ich auf der Jagd bin und nachts draußen wache, unterhalte ich mich gern mit den Feen. Ich habe auch mehr als einmal mit den Irks Handel getrieben. Sie wissen guten Stoff zu schätzen, und auch Spiegel – he he, sie würden ihre eigene Mutter gegen einen Spiegel eintauschen.« Er nickte. »Ich gebe allerdings zu, dass ich Kobolde nicht ausstehen kann. Doch vermutlich geht es ihnen mit mir genauso.«

Gaston konnte sich ein solches Leben nicht vorstellen. Er überspielte seine Verwirrung, indem er abstieg. Dabei bemerkte er erstaunt, dass der Bogenschütze den Kopf seines Pferdes festhielt.

»Gewohnheit«, sagte der alte Mann.

Gaston streckte die Hand aus. »Ich bin Gaston d’Eu.«

»Ich weiß«, sagte der alte Mann. »Mich nennt man Miesmacher. Im Taufbuch steht aber Harold Redmede.«

Gaston überraschte sich selbst, indem er dem Mann auf den Arm klopfte, als ob sie beide Ritter wären.

»Sicherlich stellt es ein Verbrechen sowohl gegen den König als auch gegen die Kirche dar, Spiegel an die Irks zu verkaufen.«

Der alte Bogenschütze grinste. »Es ist ein Verbrechen, Lord Edwards Wild zu jagen. Es ist ein Verbrechen, Kaninchen aus seinen Käfigen zu stehlen. Es ist ebenso ein Verbrechen, mein Gehöft ohne seine Erlaubnis zu verlassen.« Der Bogenschütze zuckte mit den Schultern. »Ich lebe ein Leben des Verbrechens, Mylord. Das tun die meisten Niedriggeborenen.«

Gaston stellte fest, dass er grinste. Der Mann war wirklich sehr einnehmend. »Aber was ist mit deiner unsterblichen Seele?«, wandte er leise ein.

Der alte Mann schürzte die Lippen und blies die Luft aus. »Ich spreche gern mit Euch, Fremder. Aber über meine sterbliche Seele muss ich mich mit Euresgleichen nicht austauschen.«

»Doch du bist bereit, mit dem Bösen zu sprechen.« Gaston schüttelte den Kopf.

Der Bogenschütze schenkte ihm ein schiefes Lächeln. »Sind alle Menschen, die Ihr kennt, durch und durch gut, Mylord?«

Gaston zuckte zusammen.

»Es ist doch nicht gesagt, dass alle Irks schlecht sind, oder?«, fuhr er fort. »Was ist, wenn keiner von ihnen wirklich schlecht ist? Hä? Was ist, wenn es keine Macht auf Erden gibt, die so schlecht wie ein schlechter Lord wäre?«

Gaston schüttelte den Kopf. »Ein schlechter Lord? Du schwingst aufrührerische Reden.«

»Ganz ruhig, Mylord. Ich bin kein Wildbube«, höhnte der alte Mann. »Das ist etwas für Verräter und gebrochene Männer. Manchmal auch etwas für Bogenschützen.«

»Sagen wir es so: Ich kann deine Denkweise schon ein wenig verstehen«, sagte er vorsichtig. »Ich gebe zu, dass ich gern nach Hause gehen würde.«

»Wusste doch, dass Ihr ein Mann mit Verstand seid.« Redmede lachte. Und schüttelte den Kopf. Dabei deutete er auf einen schlafenden Bogenschützen. »Brauner, du nutzloser Drecksack! Steh auf und geh an die Arbeit!«

Gaston drehte sich um und sah, dass der junge Bogenschütze im Graben lag. Er hatte sich zusammengekrümmt, als ob er dem Zorn des Älteren entgehen könnte, wenn er sich so klein wie möglich machte.

»Da bin ich ein Meisterbogenschütze und muss mich bis zur Erschöpfung mit diesen Jungs abgeben«, lachte er.

Auf Gaston wirkte er gar nicht erschöpft.

Redmede trat an den Graben heran und brüllte den jungen Mann an: »Brauner!«

Dann hielt er inne, und Gaston sah, was jener ebenfalls sah.

Der Junge war ausgeweidet. Und sehr, sehr tot.

»Verdammt«, sagte der alte Bogenschütze.

Westlich von Albinkirk · Galahad Acon

Galahad Acon hatte noch nie derart lange frieren müssen. Er lag so reglos da wie möglich und beobachtete …

Nun, eigentlich beobachtete er gar nichts. Er beobachtete den Wald. Eine Brise bewegte die jungen Blätter, und der leichte Regen fiel und fiel. Obwohl er eine Wollweste, einen Rock und einen schweren Wollumhang darüber trug, war er bis auf sein Leinenhemd durchnässt. Ihm war kälter als bei einem Dezemberritt durch hohen Schnee.

Der Prior hatte ihm die Wache in der frühen Morgendämmerung überlassen. Er hatte gesagt, er werde bald zurückkommen.

Er hatte Diccon mitgenommen.

Während die Zeit verstrich, wurden seine Gedanken dunkler und dunkler. Warum waren die beiden weggeritten und hatten ihn alleingelassen?

Er hatte die Mittel, Feuer zu machen. Aber der Prior hatte sehr deutlich betont, dass er kein Feuer machen solle.

Ich werde mich zu Tode frieren.

Zum tausendsten Mal knackte ein Zweig irgendwo vor ihm.

Galahad fragte sich, warum die Zweige im Wald einfach so knackten.

Ein Vogel flog durch die nassen Blätter, verursachte ein raschelndes Geräusch, brach aus den Blättern hervor und sprang in die Luft.

Etwas hat sich gerade bewegt.

Galahad spürte, wie das Blut in seinen Adern stockte.

Nervös blickte er nach rechts und nach links.

O gute Jungfrau Maria jetzt und in der Stunde unseres Todes Amen.

Sie waren fast unhörbar – sammelten sich beim Fluss am Fuß des niedrigen Hügels.

Aber es waren Hunderte.

O mein Gott lieber Gott omeingott …

Ihr Anführer war ein gertenschlanker Dämon, ganz schwarz, der sich wie die Verkörperung eines Schattens bewegte und eher flatterte als ging. Hinter ihm kamen die Heerscharen der Hölle; sie schritten, stolzierten, watschelten, schlurften …

Galahad konnte sie weder beobachten noch den Kopf einfach wegdrehen. Wenn er die Augen schloss, wusste er nicht mehr, wie sie ausgesehen hatten.

Sein Verstand arbeitete nicht länger. Sollte er weglaufen? Hierbleiben?

Er bestand nur noch aus Angst.

Sie bewegten sich am Wasserlauf entlang und brachten dabei kaum ein Blatt in Bewegung. Sie waren schnell unterwegs, wechselten unter seinen Blicken von links nach rechts.

Schließlich begriff er, dass sie nicht zu ihm kommen und ihm jedes Glied einzeln ausreißen würden. Doch das hielt ihn keineswegs davon ab, leise weiterzukeuchen, und es vertrieb auch nicht die Kälte aus seinen Knochen.

Und dann waren sie verschwunden, nach Norden, auf den größeren Fluss zu.

Es dauerte lange, bis er wieder so atmen konnte wie immer.

Als ihn der Prior bei Sonnenuntergang fand, lag er noch immer da und brach in Tränen aus.

Der Prior umarmte ihn. »Es tut mir leid«, sagte der Ritter. »Du hast dich gut verhalten.«

Galahad schämte sich seiner Tränen, aber er konnte sie nicht zurückhalten.

»Sie sind zwischen uns und dich gekommen«, fuhr der Prior fort. »Ich durfte doch das Leben meiner Ritter nicht um deinetwillen gefährden. So ist es nun einmal hier draußen.« Er klopfte Galahad auf die Schulter. »Das hast du sehr gut gemacht.«

Sie brachen das Lager in der gleichen Stille ab, in der die Ritter auch alles andere taten. Dann begaben sie sich nach Norden, und Galahad bemerkte, dass die Spuren, die von den Dämonen hinterlassen worden waren, den Umriss menschlicher Füße hatten. Er sah sehr genau hin, erkannte aber nichts anderes als die Abdrücke nackter Füße und weicher Schuhe.

Ein junger Ritter vom Orden des heiligen Thomas nickte ihm zu. Er räusperte sich leise und beugte sich zu ihm hinüber. »Sossag«, sagte er.

»Ich dachte, es sind Dämonen.« Er sah den Ritter an.

Der junge Mann schüttelte den Kopf, legte einen Finger vor die Lippen und ritt weiter.

In jener Nacht legte Diccon den Arm um ihn. »Tut mir leid, Junge. Eigentlich hätte man mich beim Gepäck zurücklassen sollen. Ich weiß nicht einmal, warum wir hier sind.«

Der Prior kam und bot beiden einen Becher mit warmem Met an. Er setzte sich auf die Hacken, war noch immer von Kopf bis Fuß mit Ketten und Panzern bedeckt.

»Ihr beiden seid hier, um meine Nachrichten dem König zu übermitteln – sofern ich welche habe.« Er blickte vor und zurück. »Morgen.«

Diccon trank seinen Met. »Was habt Ihr heute erfahren?«

»Die Festung hält noch stand«, sagte der Prior. »Und sie hält auch noch die Brücke. Die Äbtissin hat sich viel besser geschlagen, als ich erwartet hatte, und deswegen muss ich mich bei ihr entschuldigen.« Er lächelte Galahad an. »Die Schwierigkeit des Schweigegelübdes besteht darin, dass es anfällig für Geschwätz macht.«

Diccon nickte. »Ich werde bei Sonnenaufgang losreiten.«

Der Prior schüttelte den Kopf. »Die Wälder auf dieser Seite des Flusses sind voller Feinde: Sossag, Abonacki, Irks, Kobolde und noch Schlimmeres. Morgen Abend werden wir eine Kundgebung abhalten. Eine laute Kundgebung. Wir werden jede Kreatur der Finsternis wie Motten ans Licht locken.« Er lächelte. »Und dann werdet ihr losreiten.«

Lissen Carak · Der Rote Ritter

Nur wenige Meilen nördlich von dem Hügel, auf dem der Prior lagerte, stand der Hauptmann zusammen mit der Äbtissin am Tor der Festung. Hinter ihm befanden sich die meisten seiner Soldaten, angeführt von Jehannes, sowie zwanzig Knappen und Diener, die von Jacques befehligt wurden. Jeder Mann trug ein Nonnenhabit über seiner Rüstung.

Der Hauptmann versammelte sie im Kreis.

»Wir geben eine ziemlich beängstigende Nonnenschar ab«, sagte er. »Der Orden vom heiligen Thomas sollte etwas vorsichtiger in der Auswahl sein.«

Die Äbtissin lachte. Die Männer, die kurz vor einem Ausfall standen, brachten nur ein nervöses Kichern hervor.

»Alles muss schnell gehen, also hört gut zu. Es ist, als würden wir eine Stadt in Gallyen einnehmen. Ihr schleicht euch an die Mauer heran. Beim Klang der Pfeife legt ihr die Leitern an. Das ist alles. Wenn ihr drinnen seid, macht ihr euch auf den Weg zu den Türmen am Tor. Dort holen wir unsere Jungs ab und gehen wieder zur Festung. Lasst die Verwundeten nicht zurück. Aber das wisst ihr ja alles.« Er grinste und wandte sich an Ser Michael, den Sergeanten der Garnison. »Ihr müsst das Tor offen halten, bis der Ausfalltrupp zurückkehrt. Sobald er drinnen ist, schließt Ihr das Tor wieder. Verstanden?« Nun wandte er sich an Ohnekopf. »Wenn du mein blaues Feuer siehst, beschießt ihr die Unterstadt. Mit allem, was ihr habt.«

Ohnekopf nickte. »Die Brückenburg hat den gleichen Befehl.«

Neben ihm verschränkte Harmodius die Arme vor der Brust. Und blinzelte.

Der Hauptmann nickte. »Ihr alle wisst, dass Tom auch kommen würde, um euch zu holen. Also holen wir jetzt Tom.«

Murmeln.

Er sprang von dem Fass, auf dem er gestanden hatte, und führte die Männer nicht zum Tor, sondern zur Treppe vor der Apotheke. Die Äbtissin begleitete ihn.

Sie führte die Männer in die Apotheke, dann über eine Treppe in den Keller, von dort aus eine weitere Treppe hinunter zu einer Quelle tief im Berg, die aus einer Spalte hervorsprang, neben der Kerzen brannten.

Der Hauptmann spürte das gewaltige Aufquellen von Macht. Von roher Macht. Sie war weder golden noch grün.

Er griff in die Quelle und füllte sich auf.

Du bist viel stärker, sagte Prudentia. Aber noch nicht so stark wie er.

Ich weiß.

Du weißt es nicht. Du bist anmaßend. Darin bist du unübertrefflich.

Also gut. Ja, ich weiß.

Du Narr!, fuhr sie ihn an.

Er ließ sich in die Spalte hinein und kam zu einem langen Vorratsraum, der bis zur Decke mit Wagen und Fässern voller Schweinefleisch angefüllt war.

Es dauerte lange, bis die Männer die Wagen zur Seite geschoben hatten.

Dahinter befand sich eine Tür.

Die Äbtissin zog einen Schlüssel von ihrem Gürtel. Ihr Blick begegnete dem des Hauptmanns.

»Nun kennt Ihr also alle meine Geheimnisse«, flüsterte sie.

»Das bezweifle ich«, sagte er und küsste ihr die Hand.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Euch dies hier vorenthalten sollte«, sagte sie und lächelte bitter, als sie ihm ein kleines zusammengerolltes Pergament gab, das hart wie ein altes Blatt in seiner Hand lag. Und gleichzeitig so weich wie die Haut einer Frau.

»Als ihre spirituelle Mutter könnte ich dagegen sein«, fuhr die Äbtissin fort. »Ich könnte mich wie eine eifersüchtige Frau verhalten.« Sie zuckte die Achseln. »Schwester Miram hat mir diese Nachricht gebracht und gestanden, auch eine weitere übermittelt zu haben. Amicia ist nicht für Euch bestimmt, Hauptmann. Sie ist größer – viel größer – als wir.«

Er lächelte. »Das hätte ich von Euch nicht zu hören erwartet.« Er verneigte sich vor ihr. »Ich bitte um Eure Nachsicht.« Er drehte sich zur Seite und hielt das Pergament an eine Fackel, die in einer Halterung an der Wand hing. Dann las er und konnte nicht verhindern, dass sich ein Lächeln auf sein Gesicht legte.

Dein Tor ist geschlossen.

Triff dich mit mir.

Er wandte sich wieder der Äbtissin zu.

Sie schüttelte den Kopf. »Ihr glüht ja.«

»Aus welchem Grund ist sie größer?«, fragte der Hauptmann.

In die Truppe war Bewegung gekommen. Die Tür war geöffnet, und auch die untere Tür stand nun offen.

Abermals küsste er ihre Hand. »Danke«, sagte er.

Sie lächelte. »Ihr habt mir keinen Frieden gebracht, junger Mann. Geht nun. Tötet unsere Feinde. Triumphiert.« Sie klang müde.

Er drehte sich um und wäre die Stufen beinahe hinuntergesprungen. Auf dem Weg blieb er kurz stehen und berührte das Amulett aus Leinen, das er an der Schulter trug.

Amicia spürte ihn; es war wie eine Berührung an ihrer Wange.

Sie lächelte und machte sich wieder daran, Leinen in Streifen zu reißen.

Ich bin eine Närrin, dachte sie.

Die Truppe stieg durch den Geheimgang der Äbtissin hinunter und betrat ein Labyrinth aus Steinkorridoren.

Für diejenigen, die wussten, wonach sie Ausschau halten mussten, war deutlich zu sehen, dass diese gewundenen Gänge nicht von Menschen angelegt worden sein konnten.

Aber sie waren leer, auch wenn für den Hauptmann jeder Zoll nach der Macht roch, die zu ihrer Erstürmung benutzt worden war. Vor mehr als hundert Jahren. Vor mehr als zweihundert Jahren.

Und noch immer lagerte die Macht hier, wie der Geruch des Rauchs nach einem Feuer.

Schließlich führte das Irrlicht der Äbtissin sie zu einer zweiflügeligen Eichentür, die mit Eisen, Kupfer und Silber beschlagen war. Das Auge des Hauptmanns erkannte Sigille auf ihr – mächtige Wächter, die auf hermetische Weise gezeichnet worden waren.

Etwas Ähnliches hatte er noch nie zuvor gesehen.

Sie hatte ihm den Schlüssel gegeben.

Er hielt ihn mit erneuertem Respekt.

Viele der Männer waren äußerst nervös. Eine ganze Stunde in stillen, unheimlichen Gängen tief in der Erde schien nicht die beste Vorbereitung für einen Kampf zu sein. Die Laute, die hinter ihm ertönten, waren die von Männern, die sich am Rande einer Panik befanden.

Er drehte sich um und warf ein sanftes Licht.

»Fertig, Freunde?«, fragte er leise.

Immer mehr Männer stolperten in den Vorraum vor der großen zweiflügeligen Tür.

»Wir werden in der Kapelle der Unterstadt herauskommen«, erklärte er. »Das Dach ist eingefallen. Lauft nicht. Hier draußen ist ein verstauchter Knöchel ein Todesurteil, und wir werden nicht auf demselben Weg zurückkehren. Also solltet ihr auch nicht versuchen, einfach hierzubleiben.« Den Grund dafür konnte er ihnen nicht erklären.

Einen Augenblick lang wollte er die hermetische Verteidigung der Festung öffnen.

Er lud seine Stimme mit Ruhe auf. Mit Humor. Mit Normalität.

»Kommt, wir holen Tom«, sagte er und lächelte Jehannes zu, der – Gott sei es gedankt – zurücklächelte.

Und dann drehte er den Schlüssel um.

Nördlich von Lissen Carak · Thorn

Thorn spürte die Veränderung. Er war damit beschäftigt, seine Batterie neu einzurichten und wünschte, er wäre Mathematiker oder Maschinenbauer gewesen – eine verlässliche menschliche Rechenmaschine, die die langweilige und gleichzeitig anstrengende Arbeit des Zielens mit den großen Felsbrocken besser verrichten könnte. Exrech hatte sich als wenig interessiert und viel zu langsam erwiesen. Er wollte überhaupt nichts tun.

Er sah den Kobolden beim Graben zu. Sie schütteten einen weiteren Hügel außerhalb der Reichweite der neuen Maschine auf der Festung auf. Die Errichtung dieses neuen Geschützes stellte eine schwere Niederlage für ihn dar, was sowohl Zeit als auch Mühe anging.

Er wollte verhindern, dass er die neue Maschine auf der Festung mit seiner eigenen Macht vernichten musste. Eine andere Waffe mit der dazu nötigen Reichweite besaß er nicht. Also würde er seine Macht wie ein wütender, tobender Junge vergeuden müssen, wenn er in die tausend Jahre alte Verteidigungsanlage der Festung einbrechen wollte.

Das würde ihn schwächen.

Und dann spürte er die Veränderung. Er schmeckte die Luft und verschwendete wertvolle Zeit damit, einen Raben über die Mauern zu schicken. Und er sah den Strahlenkranz aus Feuer um die Hände seines früheren Lehrlings, sah die große Maschine, die gerade gespannt wurde, sah …

… nichts mehr.

Sein Rabe war von einem Pfeil getroffen worden und stürzte zu Boden.

Er fluchte, war orientierungslos. Griff nach einem anderen …

Der Verteidigungsschild der Festung war gesenkt.

Er trat hinter seinem neuen Belagerungshügel hervor. Hob den Arm, schleuderte einen Schaft aus reinem grünem Licht.

Und lachte.

Lissen Carak · Harmodius

Harmodius errichtete einen Schild vor dem Lichtschaft – wie ein Ritter, der auf dem Turnierplatz parierte. Und die beiden magischen Werke lösten sich unter einem Lichtblitz gegenseitig auf.

Harmodius taumelte und musste nach der Quelle der Macht unter seinen Füßen greifen. »Gütiger Gott, sei mir gnädig«, murmelte er.

Ein Schlag. Thorn konnte ihn mit einem einzigen Schlag all seiner Macht berauben.

Lissen Carak, Unterstadt · Der Rote Ritter

Der Hauptmann trat als Erster aus dem Tor. Jehannes war ihm dicht auf den Fersen und führte seine Soldaten rechts aus der Kapelle hinaus.

Das Hauptschiff war voller schlafender Kobolde.

Das Töten konnte beginnen.

Er zählte die Rüstungen, die an ihm vorbeiliefen, verzählte sich, musste schätzen.

Aber Pampe hielt sich an ihr Versprechen. Sie war die Letzte.

»Der Letzte ist durch!«, rief sie und tänzelte nach rechts.

Der Hauptmann schlug die großen Türen zu, deren Schlüssel noch auf der anderen Seite im Schloss steckte.

Als sich die Türflügel trafen, floss ihre Macht zusammen, und die Tür verschwand und hinterließ nur schwarzen Stein hinter dem Altar. Lediglich der Umriss von zwei Türflügeln lag als Nachbild vor seinem inneren Auge.

Bent und die Bogenschützen säuberten das Schiff.

Jehannes hatte schon über die zusammengebrochene Mauer gesetzt.

Der Hauptmann hackte sich seinen Weg zum vorderen Teil der Kirche frei.

Thorn schleuderte seinen zweiten Blitzstrahl, und dann, ohne innezuhalten und Macht zu sammeln, auch noch einen dritten.

Lissen Carak · Harmodius

Harmodius’ zweite Verteidigung war raffinierter als die erste. Seine Magie war zwar schwächer als die von Thorn, aber nun lenkte er sie ab, anstatt ihr Widerstand zu leisten. Thorns Blitz wurde wie ein Lichtstrahl in einem Prisma gebogen und zerschmetterte einen Schieferblock von der Größe einer kleinen Scheune am Rand des Berges.

Sein dritter Schutz wäre beinahe nicht schnell genug gewesen. Er hatte vorgehabt, mit einer einzelnen Machtlinie wie mit einem Schwert zu parieren, aber Thorn war so flink, dass er die Linie weiten musste, ohne neue Macht hineingeben zu können.

Doch er konnte den größten Teil aufhalten.

Der Rest fuhr in die Mauer links von ihm. Ein etwa zwanzig Fuß langer Teil der hölzernen Brustwehr verbrannte in einem einzigen Blitz, und ein Teil der Wand zerbrach und fiel in sich zusammen. Zwei Bogenschützen wurden sofort getötet, und die beiden älteren Lanthorn-Männer, die im Hof unter der Mauer gestanden hatten, wurden zu Brei zerquetscht.

Harmodius spürte, wie sie starben.

Sein Versagen machte ihn wütend, und vor Wut schlug er aus. Seine Replik war jedoch armselig, klein, schwach und kam zu spät.

Aber sie erschien völlig unerwartet. Wie bei einem langsamen Angriff in einem Schwertkampf segelte sein Zornesblitz in die Dunkelheit hinaus und erwischte Thorn ganz unvorbereitet.

Schmerz erzürnte Thorn sehr. Das war schon immer so gewesen.

Er schlug zurück.

Lissen Carak, Unterstadt · Der Rote Ritter

Der Marktplatz der Unterstadt war nur so übersät mit Leichen. Der Hauptmann blieb in der Tür der Kapelle stehen und sah nach seinen Männern. Die Bogenschützen breiteten sich rechts und links aus.

»Zu mir«, sagte er. »Los!« Er rannte über den Platz, und sie folgten ihm.

Einige rannten mit Leitern in östlicher Richtung durch den Schutt.

Links von sich hörte er Kampfeslärm und noch mehr von vorn. Angelo di Laternum trat aus der Dunkelheit.

»Ser Jehannes bittet Euch um Euren Beistand«, sagte er förmlich.

»Zu mir«, rief der Hauptmann und folgte dem Knappen. Dem Hauptmann blieb keine Zeit für die Bemerkung, Jehannes sei wohl vom Kurs abgekommen.

Ein gewaltiger Lichtblitz erhellte den Himmel; es war, als hätten sich alle Blitze eines Sommergewitters zu einem einzigen vereinigt. In diesem Licht sah der Hauptmann, dass Knappe Angelo an den Schultern seiner Rüstung blutete. Die Bogenschützen waren in Rot und Schwarz gebadet, und vor ihm wurden Jehannes’ Soldaten illuminiert – wie Ritter, die auf den Seiten eines Manuskripts gegen Ungeheuer kämpften.

»Vorsicht!«, brüllte der Hauptmann. »Dämonen!«

Das Entsetzen traf ihn wie eine schwere Woge. Er biss die Zähne zusammen und drängte sich durch das Grauen. Eines der Wesen raste mit übernatürlicher Schnelligkeit auf ihn zu.

Doch auch der Hauptmann war unerwartet schnell.

Die Klinge des Dämons traf so hart gegen seine eigene, dass Funken aufstoben, und er wich vor der gewaltigen Kraft der Kreatur zurück, ließ sein Schwert durch eine Drehung des Handgelenks rotieren und rammte seine Waffe in das Hirn des Monstrums.

Es rutschte noch von seinem Schwert herunter, und schon wandte er sich der nächsten Kreatur zu. Sie drehte den Kopf, und der Blick ihrer wunderschönen Augen fiel auf ihn.

Der Dämon hob die Klauenhand so schnell, dass der Hauptmann sie nicht abwehren konnte.

Doch gleichzeitig schoss sein Schwert auf das Wesen zu.

Der Dämon taumelte davon und versprühte Angst, wie ein Stinktier seinen Duft versprüht. Der Hauptmann musste sich übergeben. In seinen Augen war Blut.

Mein Visier ist offen.

Es hat mich erwischt.

Eine andere Art von Angst, kälter und schwerer, senkte sich in seine Eingeweide.

Aber die Dämonen waren nicht unsterblich; ihr Blut vermischte sich auf dem Boden mit dem der Männer, und sie zogen sich allmählich zurück. Je mehr Raum sie zwischen sich und ihre Feinde brachten, desto stärker nahm die Angst wieder ab.

Der Hauptmann sah, dass es weniger als ein Dutzend dieser Geschöpfe waren.

Die Bogenschützen, die eben noch starr vor Angst gewesen waren, regten sich nun wieder. Aus dem letzten Dämon – demjenigen, den der Hauptmann verwundet hatte – wuchsen nun Pfeile wie Gras auf einer Wiese.

Das Wesen drehte sich um, seine Angst wallte auf, dann stürzte es.

Jehannes rief nach seinen Männern.

»Halt!«, schrie der Hauptmann, was wie ein Quieken klang. Aber Mutwill Mordling wiederholte es viel kräftiger hinter ihm. »Halt!«, brüllte er.

Jehannes erstarrte.

»Der Turm!«, beharrte der Hauptmann.

Lissen Carak · Thorn

Thorns Wutausbruch ging wie ein Hammer nieder.

Harmodius sah den Schlag kommen, konnte ihn nicht aufhalten und sah einen ganzen Herzschlag lang, wie sein Tod in ekelhaften grünen Strahlen auf ihn zurollte.

Er spürte, wie die hermetische Verteidigung der Festung in Gang gesetzt wurde, aber er wusste, dass es nicht reichen würde.

Die großen Anlagen waren brillant erdacht. Sie verströmten, kanalisierten, lenkten ab. Sie waren so klug ersonnen, dass sie schon beinahe intelligent erschienen. Neue Magier versuchten, Gewalt mit Gegengewalt zu erwidern, doch erfahrene Zauberer wussten, wie man Gewalt mit Verschlagenheit begegnete und die Energie des Gegners nach der Art eines geschickten Schwertkämpfers ablenkte. Die meisten statischen Sigille waren einfach zu überwinden, aber dies hier …

Im Augenblick seiner Auslöschung dachte Harmodius: Wer hat das erbaut?

Die magischen Wächter flammten auf, doch es gab nicht viel, was die uralten Sigille tun konnten.

Der Rest der Macht brach hindurch wie ein Fluss, der eine zusammenbrechende Staumauer überschwemmt.

Er hob die Hand.

Die Äbtissin drängte an seinem Innersten vorbei und hielt die Flut des Zornzaubers auf. Dann warf sie ihn auf den Weg zurück, auf dem er hergekommen war.

Sie legte Harmodius die Hand auf die Schulter.

Ich weiß nichts über diese Art des Krieges, sagte sie. Lasst mich ein.

Durch sie spürte er ihre Schwestern, die in der Kapelle sangen. Ihre Macht befeuerte die Äbtissin nicht unmittelbar. Es war noch weitaus raffinierter.

Trotz der schwierigen Lage musste er innehalten und die Großartigkeit des Gebildes bewundern. Die Festung. Die Sigille. Die Schwestern, die die Macht der Sigille für unbestimmte Zeit aufrechterhalten konnten, trotz ihrer persönlichen Schwäche.

Wieder fragte er sich, wer all dies erschaffen hatte.

Dann ergriff er ihre spirituelle Hand mit seiner eigenen und führte sie durch die großen Bronzetüren seines Palastes, ganz so wie ein Bräutigam, der seine Braut heimführt. »Willkommen«, sagte er.

Im Ätherischen war sie eine viel jüngere und weniger spirituelle Frau. Plötzlich traf ihn der Schauer einer Erinnerung. Einer Erinnerung an ebendiese Frau, die für einen Jagdausflug gekleidet war, im Gemach seines Meisters stand und mit der Reitgerte auf ihre Handfläche klopfte. Sie versuchte seinen Meister zu einem Ritt nach draußen zu locken.

Er wollte die Erinnerung verscheuchen, aber hier nahm sie eine sichtbare Gestalt an, und die Äbtissin sah sie und lächelte. »Er war der schlechteste Liebhaber, den man sich vorstellen kann«, sagte sie mit einem traurigen Lächeln. »Er ging nicht auf die Jagd, er ritt nicht, er tanzte auch nicht. Er kam immer zu spät und machte viele Versprechen, die er nicht halten konnte.« Sie zuckte die Achseln. »Aber ich wollte ihn haben. Seht Euch nur die Konsequenzen an. Manche Sünden können nicht einfach abgewaschen werden.« Sie breitete die Arme aus. »Hier ist es sehr schön.«

Er errötete unter ihrem Lob, als ob er ein wesentlich jüngerer Mann wäre. Die Zeit hatte im Ätherischen kaum eine Bedeutung, und daher hatte er es nicht eilig. »Habt Ihr das je geahnt?«, fragte er vorsichtig. »Dass er die Seiten gewechselt hat?«

Die Äbtissin nahm in einem seiner ausladenden Ledersessel Platz. Unter ihrem weiten Rock trug sie Reitstiefel, und jetzt legte sie die Beine lässig über die Seitenlehne des Sessels. »Euch ist sicherlich bewusst, dass man im Alter eine solche Stellung nicht mehr leichthin einnimmt«, erklärte sie fröhlich. »Ach, wieder jung zu sein!« Sie lehnte sich zurück. »Ihr müsst es Euch selbst gefragt haben, und zwar sehr oft.«

»Ich war viele Jahre in seinem Phantasma gefangen«, sagte Harmodius. »Aber ja, jetzt denke ich die ganze Zeit daran.«

»Ich weiß nur, dass er in den Monaten vor Chevin etwas entdeckt hatte. Etwas Schreckliches. Ich hatte ihn bedrängt, es mir zu sagen, aber er lächelte immer nur und meinte, ich sei noch nicht bereit, es zu verstehen.«

Harmodius verzog das Gesicht. »Mir hat er das nie gesagt.«

Die Äbtissin nickte. »Aber jetzt wisst Ihr, was er wusste. Und ich weiß es auch.«

Es gab nicht viele Geheimnisse im Ätherischen.

»Ja«, sagte er.

Die Äbtissin schüttelte den Kopf. »Jeder Ritter im Orden des heiligen Thomas weiß, dass Grün und Gold dasselbe sind«, sagte sie. »Richard war ein Narr, der die Welt nur in Schattierungen von Weiß und Schwarz sah. Das tut er noch immer. Er ist ungeheuer klug, ist so mächtig wie ein Bollwerk und hat überhaupt keinen gesunden Menschenverstand.« Sie zuckte die Achseln. »Genug des Geplauders. Mein Zuhause wird gerade in Stücke gesprengt. Zeigt mir, wie wir unsere Macht gebrauchen können, um ihn aufzuhalten.«

»So«, sagte er. »Aber es wird wirkungsvoller sein, wenn Ihr mir die Macht verleiht und ich den Zauber wirke.«

Innerhalb eines Herzschlags – in gar keiner Zeit, weil im Ätherischen die Zeit kaum eine Bedeutung hatte – standen sie auf dem Balkon seines großen Palastes und blickten auf die Welt des Festen und Beständigen hinaus.

Vor seinem Blick erhob sich Thorn wie ein Leuchtturm in Grün. Harmodius deutete auf das Wesen, das einst ihr Liebhaber gewesen war.

Sie flutete Harmodius mit Macht.

Er erschuf ein Feuer.

Lissen Carak · Thorn

Zum ersten Mal hielt Thorn inne und hob einen Schild. Sein Wutausbruch war vorüber, und Harmodius’ Erwiderung war recht beachtlich gewesen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Und die Verteidigung der Festung war wieder intakt. Er hatte einige gute Schläge führen können, aber jetzt riskierte er sein Leben für überhaupt nichts. Er hob einen zweiten Schild.

Harmodius’ mächtiger Schlag prallte dagegen wie der Stecken eines Kindes gegen die Rüstung eines Ritters.

Thorn grunzte.

Vielleicht war es auch ein Lachen.

Lissen Carak, Unterstadt · Der Rote Ritter

Sechs Männer waren nötig, um den bewusstlosen Tom wegzutragen, und der Hauptmann wollte die Pferde nicht verlieren, die für die Garnison der Unterstadt zurückgelassen worden waren. So sicherte eine Gruppe von Bogenschützen das obere Stadttor und öffnete es. Die Garnisonssoldaten entkamen hinter den Pferden aus der Stadt, und der Ausfalltrupp überkletterte mithilfe der Leitern die Mauern.

Alles lief sehr gut, bis die Dämonen erneut zuschlugen.

Die Nachhut formierte sich nur langsam, was unter den gegebenen Bedingungen allzu verständlich war. Und plötzlich waren drei ihrer Soldaten tot, und ein glänzendes Ungeheuer stand mit zwei böse geschwungenen Äxten über ihnen, die im sanften Frühlingsschein des Mondes schimmerten. Die Opfer waren Marcus, Jehannes’ Diener, und Ser Willem Greville, dessen Rüstung mit so großer Mühelosigkeit aufgerissen worden war, als hätte sie aus Leder bestanden. Und ein dritter Mann lag mit dem Gesicht nach unten neben ihnen.

Die Angst war wie ein fauliger Luftzug.

Weitere Dämonen befanden sich hinter dem ersten – fließend und schrecklich, bezaubernd und wunderschön in ihren Bewegungen. Und unter ihnen ergoss sich eine Legion aus Kobolden, Irks und Menschen in die Stadt hinein, die der Hauptmann und seine Leute gerade verließen.

Und ganz plötzlich war der Hauptmann allein.

»Lauf, kleiner Mann«, flüsterte der Dämon.

Der Hauptmann griff in sich hinein und fand Prudentia.

Der Zauber war bereits in Stellung gebracht.

Er öffnete die Tür, bevor sie etwas dagegen einwenden konnte – er war nun so viel schneller als früher.

Das Grün pfiff durch den Spalt, ein Sturmwind …

»Er kann dich erreichen!«

»Er hat gerade anderes zu tun«, sagte der Hauptmann zu seiner Lehrerin.

»Ich muss dir noch so vieles sagen«, meinte sie.

Er lächelte und befand sich wieder in der Finsternis.

Sein Schwertarm war in Silber gebadet.

Der Dämon wirbelte seine beiden Äxte, während sich goldgrünes Licht über sie ergoss.

»Du!«, sagte der Dämon. »Wie sehr ich mich danach gesehnt habe, auf dich zu treffen!«

Der Hauptmann hob seine Klinge zur Verteidigung und wirkte gleichzeitig seinen Zauber.

Der Strahl aus silberweißem Licht stieg wie ein Leuchtfeuer in die Nacht auf. Und fiel mitten in der Stadt zu Boden.

»Daneben«, zischte der Dämon.

Rasch wich der Hauptmann zurück.

Über ihm auf dem Pfad wurde eine Armbrust mit einem lauten Schnappen abgefeuert.

Der Dämon grunzte auf, als ihn der Bolzen traf.

Und entfesselte seinen eigenen Zauber.

Der Hauptmann konnte ihn abwehren und wunderte sich über die Leichtigkeit, mit der er den Schlag auffing. Im Ätherischen wirkte der Schlag seines Gegners wie ein Schwerthieb, und er parierte ihn mit einem Schwert seiner eigenen Macht und lenkte ihn ab. Und er befand sich wieder in der wirklichen, festen Welt, denn der Dämon war seinem Phantasma sofort mit einem schweren Schlag seiner rechten Axt gefolgt.

Er erinnerte sich daran, wie er erstmals einen solchen Angriff durch Hywel erwidert hatte. Im nächsten Augenblick aber war er bereits getroffen worden, da er zu sehr in der Freude über seine Leistung gebadet hatte. Jetzt – ebenso wie damals – wäre er beinahe gestorben, weil er seine eigene Gewandtheit zu sehr bewunderte.

Er stürmte in den Angriff hinein, stieß das linke Bein vor, erwischte den Auswuchs der Macht seines Gegners und wandte den Schlag gegen ihn, als sich der Dämon noch auf seinen Krallen aufrichtete.

In der festen Welt erfolgte der Angriff, und es gelang ihm, dessen Macht in die Steine der Straße zwischen ihnen zu lenken.

Die Straße explodierte und riss ihn von den Beinen.

Mit einem hohen Kreischen sprang der Dämon über den Krater im Boden und schwang beide Äxte gleichzeitig.

Er sah, wie Michael über ihn trat und beide Hiebe abfing – den einen mit seinem Schild, den anderen mit seinem Langschwert. Der Knappe geriet ins Schwanken, doch die Schläge waren abgewehrt.

Der Hauptmann robbte zwischen den Beinen seines Knappen hindurch, benutzte dabei seine Ellbogen, die Panzerschienen schabten über die Straße – und er war frei.

Er rollte sich auf die linke Seite und wäre beinahe von der erhöhten Straße heruntergefallen. Der Dämonenhauptmann hieb auf Michael ein, doch der Junge hielt stand, hob Schwert und Schild bei jedem Schlag, lenkte sie ab und wandte die Kraft des Dämons so wirkungsvoll wie möglich gegen diesen selbst.

Die übrigen Dämonen versuchten sich an dem Kampf zu beteiligen.

Der Hauptmann konnte endlich aufstehen und hieb auf die Flanke des Dämons ein, doch das Wesen parierte seinen Schlag mit der Axtklinge und einer entsetzlichen Geschicklichkeit und drosch mit seiner Waffe auf den Hauptmann ein, der sich unter dem Hieb gerade noch wegducken konnte.

Beide Männer wichen zurück, als der Dämon mit einem Schlag nach dem anderen auf sie einhieb, mit einer Axt nach der anderen in einem endlosen Rhythmus. Die Schläge mochten zwar vorhersehbar sein, aber sie erfolgten so entsetzlich schnell.

Und dann, als der Hauptmann die eine Axt mit seinem Langschwert abwehrte und Michael einen Herzschlag lang die andere mit seinem Schild aufgefangen hatte …

… fuhr Jehannes mit seiner Streitaxt dazwischen.

Der Dämon krümmte sich unter dem Schlag zusammen. Doch seine Rüstung – oder war es seine unheimliche Haut oder sein Sigill der Macht? – hielt.

Der Hauptmann stolperte zurück und spürte Michael an seiner Schulter.

»Lasst mich vorbei!«, rief Jehannes.

Michael sackte zusammen, dann überholte ihn Jehannes.

Zwei Dämonen sprangen neben ihrem Anführer hervor, der gerade wieder auf die Beine kam.

Weit oben, auf der Festung, wurde abermals die Blide abgefeuert.

Knack-bumm.

Und die Schleuder auf dem Nordturm schwang.

Schwirr.

Die Kriegsmaschinen auf den Türmen der Brückenburg feuerten ebenfalls.

Knack.

Knack!

Hoch über ihnen beugte sich Harmodius über die Mauer, Hand in Hand mit der Äbtissin – wie Liebende – und spreizte die Finger.

»Fiat Lux«, sagte er.

Die Unterstadt schien zu explodieren, als ein Feuersturm auf sie niederging; die Hand des Schicksals machte ihre Gebäude dem Erdboden gleich.

Die Dämonen erhoben sich als Silhouetten vor dem Feuerschein. Die hintersten in ihrer Schar drehten sich um und beobachteten, was geschah.

Der Hauptmann musste seinen prahlerischen Drang bezwingen, sie nun anzugreifen. Stattdessen wich er einen weiteren Schritt zurück.

Die beiden Wesen stürmten auf sie zu, und die Angst, die sie verströmten …

Sie war nicht mehr so stark, wie sie einmal gewesen war. Mitten im Kampf – oder vielleicht auch über ihm schwebend – fand der Hauptmann die Zeit, über diese Ironie des Schicksals zu grinsen. Seine gesamte Kindheit hatte er in Angst verbracht. Er hatte sich vor so vielem gefürchtet.

Vertrautheit erzeugte Verachtung. Er war es gewohnt zu handeln, während er Angst verspürte.

Das Grauen, das die Dämonen ausstrahlten, verfehlte bei ihm jede Wirkung.

Dennoch fiel es ihm schwer, sich ihnen zu widersetzen, denn sie waren noch immer groß, schnell und gefährlich.

Jehannes ergriff seine Streitaxt mit beiden Händen, fuhr mitten in eine Attacke hinein und brach dem einen Dämon den Schwertarm. Das Unwesen taumelte zurück, und sofort stieß er seinen Schaft zwischen die Beine des anderen, der ins Stolpern geriet, während der Hauptmann nun genug Zeit hatte vorzutreten und mit der Kraft seiner Hüften, Arme und Schultern einen verheerenden Schlag von rechts nach links zu führen.

Der Schlag fuhr unter der Waffe des Dämons hindurch und köpfte ihn.

Neben ihm stieß Jehannes wieder vor und rammte den Stachel seiner Streitaxt in den Rücken des anderen Dämons, sodass dieser aufkreischte.

Ein Geräusch ertönte, das beinahe an Applaus erinnerte.

Der Hauptmann fragte sich, wer hier zusehen mochte.

Auf dem Weg den Hang hinauf befanden sie sich schon beinahe unter dem Haupttor. Und noch immer waren sie in das silberweiße Licht seines Zaubers getaucht. Er atmete schwer. Sein Helm saß wie eine Falle über seinem Kopf und presste ihn zusammen, das Visier war wie eine Hand über seinem Mund. Er war in Schweiß gebadet.

Die Dämonen griffen erneut an. Links und rechts von ihnen versuchten Kobolde vorbeizustürmen, und seine Bogenschützen schossen mit methodischer Gleichmäßigkeit auf sie, aber er konnte diese Gefühle nicht abschütteln. Sie bedrängten ihn.

Der Dämon vor ihm schwang seine Axt mit beiden Händen, und der Hauptmann hackte auf diese Hände ein. Nun wurde der Schlag des Dämons zur verzweifelten Verteidigung, die linke Klaue schoss vor und traf den Hauptmann an der Schulter, sodass er unter blitzartigen Schmerzen zurücktaumelte.

Er war getroffen worden.

Abermals.

Jehannes stieß dreimal mit der Stachelspitze seiner Streitaxt zu, schlug die Axt seines Gegners aus dem Weg und rammte den Stachel tief in den Dämon hinein. Dieser kreischte auf, fiel nach hinten, riss die Waffe mit, die in seinem Brustkorb steckte. Jehannes kämpfte zu lange darum, sie nicht zu verlieren.

Der Gegner des Hauptmanns sprang Jehannes von der Seite an, erwischte den Ritter am Helm, worauf Jehannes zu Boden ging.

Er ist zurückgekommen, um mir zu helfen, dachte der Hauptmann.

Er sprang vor, hielt sein Langschwert nur mit der rechten Hand am Knauf und hieb mit der Spitze auf das schnabelförmige Gesicht des Dämons ein – ein Verzweiflungsangriff. Doch der Schlag traf, und der Dämon geriet aus dem Gleichgewicht. Der Hauptmann machte wieder einen Ausfall nach vorn, packte die Schwertklinge nun in der Nähe der Spitze und rammte sie dem Dämon in den schuppigen Schenkel. Dann verwendete er seine Waffe als Hebel und schleuderte das Wesen von der Straße. Es stürzte in die Finsternis.

Er lief an Jehannes vorbei.

Der Dämon, der gegen den Ritter gekämpft hatte, drückte sich an zwei Kreaturen seiner eigenen Art vorbei.

»Ich bin Thurkan von den Qwethnethog«, sagte er.

Sie hatte nicht auf die Mauer hinaustreten wollen.

Ihr Platz war im Krankensaal, und verwundete Männer kamen gerade durch das Tor.

Sie sagte sich, dass sie nur einen Moment lang hinsehen wollte. Die Leute jubelten.

Barfuß war sie durch die Balkontüren des Krankensaales im zweiten Stock gelaufen, von der Steinbalustrade aus zwischen zwei Wasserspeiern hindurchgesprungen, die die unteren Giebelenden zierten. Dabei hatte sie sich den Schenkel an den Steinplatten aufgescheuert, als sie bis zur Ringmauer hinuntergerutscht war. Sie hatte diesen Weg schon tausendmal genommen, um hinauszugelangen, nachdem die Nonnen die letzten Lichter ausgeblasen hatten.

Nun befand sie sich über dem Torhaus. Schlitternd kam sie zum Stillstand, als sie sah, dass ein Teil der Ringmauer einfach nicht mehr vorhanden war. Und schon schwebte ihr linker Fuß über der Leere.

Unter ihr war die Bergflanke in hartes weißes Licht getaucht.

Als sie noch jung gewesen war, hatte ihre Hinterwaller-Familie die Wesen Wächter genannt und sie verehrt. Als sie noch nördlich der Mauer gelebt hatte, war sie der Meinung gewesen, es seien Engel.

Nun stand ein Mächtiger von ihnen auf der gepflasterten Straße und kämpfte gegen den Roten Ritter.

Wie sie diesen Ersatz eines richtigen Namens hasste. Der Rote Ritter.

Er wirkte müde. Dabei aber sehr heldenhaft.

Sie konnte es nicht mitansehen.

Und sie konnte nicht wegsehen.

Der Wächter schlug mit zwei Äxten gleichzeitig zu – das wäre einem gewöhnlichen Menschen niemals möglich gewesen.

Der Rote Ritter wich nach rechts aus und hieb die eine Axt zu Boden; der Wächter machte einen Schritt zurück. Sie sah, wie er Macht in sich einsog. Wächter waren nur in einer Hinsicht den Menschen gleich: Sie liebten Schönheit. Er nahm die Macht auf, als würde er sie einatmen – eine ganz natürliche Bewegung. Und dann warf er seine Magie dem Ritter entgegen.

Er drehte sie um, trat vor und hob langsam sein Schwert; es war fast wie ein Salut.

Er nahm eine Verteidigungsstellung ein.

Und erstarrte in ihr.

Der Wächter hob beide Äxte.

Und erstarrte.

Die Zeit wurde angehalten.

Sie konnte nicht mehr atmen.

Wenn sich jetzt einer von ihnen bewegte, wäre es vorbei.

Beim Albin · Ranald Lachlan

Donald kam herbei und setzte sich auf einen Felsen vor Ranalds kleinem Feuer. Die Hälfte der Streitmacht war draußen auf dem Posten, und die Männer, die das Frühstück zubereiteten, unterhielten sich flüsternd.

»Ich habe da eine Ahnung«, sagte Donald.

Ranald aß ein Stück Speck und hob eine Braue. Er fühlte sich jetzt besser. Lebendiger. Der alte Ian hatte ihn wütend gemacht, indem er dort in den Fluss gepinkelt hatte, wo sie ihr Trinkwasser schöpften.

Gestern hatte noch nichts seine Wut erregt, und so genoss er sie als ein Zeichen dafür, dass er lebte.

Daran dachte er auch, als er kaute. Und dann nickte er. »Ich glaube, ich habe Rauch gerochen«, sagte er und lächelte schwach – ein weiterer Triumph.

Donald lehnte sich zurück. »Ich glaube, wir sollten die Herde nach Albinkirk treiben. Das sind nur zwölf Meilen – mehr oder weniger.«

Ranald war wieder so lebendig und so sehr ein Hochländer, dass ihn die Kühnheit dieses Plans begeisterte. »Durch dasselbe Gebiet, in dem wir auch gegen die Sossag gekämpft haben?«, fragte er und zuckte dann die Achseln.

»Sie sind weg, Ranald. Seit drei Tagen hat keiner mehr etwas von ihnen gesehen. Nicht eine Feder, nicht einen Späher, nicht einmal einen blanken Hintern von ihnen. So sind sie nun einmal. Sie hauen ab.« Donald beugte sich vor. »Was ist die Herde wert, wenn wir sie zur Herberge treiben? Einen Silberpfennig für jedes Tier oder weniger? Und der Weg ist viel weiter zur Herberge als nach Albinkirk.«

Ranald starrte in die Flammen seines kleinen Feuers aus Birkenrinde. Er tat einige Blätter aus einem Beutel an seinem Gürtel in den mit Wasser gefüllten Kupferbecher, rührte Honig hinein, trank und sprach ein stummes Dankgebet zu Gott. Sein Glaube an Gott hatte gelitten – oder auch nicht. Er war sich nicht ganz sicher.

Ich war tot.

Das war schwer zu begreifen. Am besten dachte er gar nicht erst darüber nach. Doch auf irgendeine schreckliche Weise konnte er sich an sein Totsein erinnern. Er wollte nie wieder tot sein.

Er seufzte. »Gewagt«, sagte er. Aber von Albinkirk konnte er einen Boten zum König schicken. Das schuldete er dem König. Das und noch mehr. Er seufzte.

In Donalds Augen glitzerte es. »Dann sollten wir es tun.«

Ranald wusste, dass sich der ältere Mann in Gefahr begeben wollte, um den Umstand zu rechtfertigen, dass er noch lebte, während Hector tot war.

Aber tief in seinem Innern teilte er dieses Gefühl. Und wenn sie es schafften, die Herde durchzubringen … nun, dann wäre Sarah Lachlan reich, und all die kleinen Bauern in den Bergen erhielten ihren Anteil, und der Tod des Hector Lachlan würde zu einem Lied mit einem glücklichen Ende werden.

Er trank den Rest seines brühend heißen Tees und betrachtete den Fluss. »Wir sind verrückt. Und einige der Jungs könnten sich weigern, uns zu begleiten.« Die letzten Worte sprach er mit einem ausgeprägten albischen Akzent aus.

Donald kicherte. »Es tut gut zu sehen, wie du wieder zu dir selbst kommst. Die Feen haben meine Patentante von den Toten zurückgeholt, wusstest du das? Sie hat Monate gebraucht, bis sie wieder lachen konnte, aber sie war auch einen ganzen Tag lang tot gewesen.« Er zuckte mit den Schultern.

Ranald erschauerte kurz. »Au«, murmelte er.

»Nein, nein, sie hat immer wieder gesagt, dass das Leben umso schöner wird, wenn man einmal tot gewesen ist.« Er nickte.

Darüber dachte Ranald noch immer nach, als die Herde allmählich wieder in Bewegung kam und nach Westen getrieben wurde. Die Jungs hatten widerstrebend gemurmelt, aber keiner von ihnen wollte allein nach Hause gehen.

Vier Stunden lang bewegten sie sich nach Westen über die alte Treiberstraße durch immer stärker bewaldetes Gelände. Der Westhang der moreanischen Berge war früher einmal fruchtbares Land gewesen. Noch immer wuchsen Reben zwischen den jungen Bäumen, und sie kamen an einem Dutzend Gehöften vorbei, die verlassen und deren Dächer eingefallen waren. Keines aber war ausgebrannt. Die Menschen waren hier einfach eines Tages weggegangen und nicht mehr zurückgekehrt.

Ranald hatte all dies schon oft gesehen, doch nun nahm er es deutlicher wahr.

An jenem Abend schlugen sie ihr Lager am Albin auf. Sie hatten die Herde schnell vorangetrieben und zwanzig oder mehr Meilen zurückgelegt. Die jungen Männer waren so erschöpft, dass Ranald eine neue Dienstliste erstellte. Langsam und sorgfältig schrieb er sie auf sein Wachstäfelchen, machte für einige Männer ein Zeichen und schrieb die Namen anderer in der alten Art und Weise auf.

Kenneth Holiot war zwar kein Barde, aber alle wussten, dass der Junge spielen konnte, und in jener Nacht sang er einige Strophen zum Klang der alten Leier seines Vaters. Dann schüttelte er den Kopf und schrieb einige weitere nieder. Er arbeitete an einem Lied über den Tod Hectors. Er kannte den Tod eines anderen Hector, verfasst in archaischer Sprache, und das stachelte ihn an. Er hatte sich fest vorgenommen, dieses Lied zu schreiben.

Nach einer Stunde fluchte er und ging in die Finsternis hinein.

Ranald weinte.

Die anderen Männer ließen ihn weinen, und als seine Tränen allmählich trockneten, kam Donald herbei und legte ihm die Hand auf die Schulter, dann rollte er sich in seinen Umhang und schlief ein.

Lissen Carak · Der Rote Ritter

Er beobachtete seinen Gegner und wartete auf den Tod.

Seine Schulter blutete. Sein Gesicht blutete ebenfalls. Jehannes war einen halben Schritt hinter ihm; er wagte nicht, sich zurückzuziehen, und aus irgendeinem Grund schienen seine Leute zu glauben, er wolle diesen Zweikampf ausfechten.

Warmes Blut rann an seiner Seite herunter.

Die Anstrengung, das Schwert in Angriffsstellung über dem Kopf zu halten, wurde allmählich zu viel für ihn. Er würde zuschlagen müssen, und das wäre sein Ende.

Doch das Wesen war schneller und stärker als er. Er hatte versucht es anzugreifen, das Schwert in es hineinzustoßen, hatte all seine Kniffe ausprobiert. Nichts davon hatte ihm einen Vorteil verschafft.

Der Dämon stand einfach da und hielt seine beiden Äxte über dem Kopf.

Und dann, so plötzlich der Angriff auch gekommen sein mochte, glitt der Blick des Wesens an ihm vorbei, und innerhalb eines Schulterzuckens war es verschwunden. Die Luft machte ein knallendes Geräusch, als es sich verflüchtigte.

Verzweifelt bemühte er sich, nicht vornüberzufallen. Er fing sich, stand da und schaute die Straße bergabwärts bis zu den Feuern, die in der Unterstadt loderten.

Dann drehte er sich um und sah, wie Michael Jehannes unter den Achseln gepackt hatte und den Ritter den Weg hinaufzog.

Cuddy stand dicht hinter ihm und hatte seinen Bogen gespannt. Ganz langsam ließ der Schütze die Spannung aus den Gliedern, und der große Bogen kehrte zu seiner ursprünglichen Form zurück. Dann steckte Cuddy den Pfeil wieder in seinen Köcher.

»Entschuldigung, Hauptmann«, sagte er. »Das hättet Ihr nicht gewonnen.«

Der Hauptmann lachte. Er lachte und lachte, und er lachte noch immer, als sie ihn schon durch das Tor zogen und es zuschlugen und Ser Michael das große eiserne Fallgitter herunterließ.

Er klopfte Cuddy auf den Rückenpanzer. »Das hätte ich auch nicht«, sagte er.

Dann zog ihm Michael den Helm vom Kopf, und der Hauptmann sog die frische, kühle Luft in tiefen Zügen ein. Ein Dutzend Männer bemühten sich, ihm die Rüstung auszuziehen.

Er sah die Äbtissin. Sah Harmodius, der ihn angrinste.

Roter Ritter! Roter Ritter! Roter Ritter! Roter Ritter!

Er nahm das alles kurz in sich auf, und als er seines Brust- und Rückenpanzers entledigt war, sprang er auf die Beine. Die Männer, die ihn ausgezogen hatten, grinsten und wichen zurück, doch ihr Grinsen schwand, als sie sahen, wie viel Blut an seiner Seite herunterlief.

Er nickte, winkte sie weg, lief unbewaffnet und ohne Ansehung seiner Wunden in die Menschenmenge hinein und schien darin zu verschwinden. Nirgendwo sah er Amicia. Aber er spürte, dass sie da war.

Er wollte sie finden. Und fand sie auch.

Sie wartete unter dem Apfelbaum auf ihn.

Sie biss sich auf die Lippe.

»Ich werde nichts sagen«, meinte er fröhlich. »Ich …«

Sie zog ihn mit starkem Arm auf die Bank herunter und beugte sich vor – um ihn zu küssen, wie er hoffte. Aber seine Hoffnung trog. Er spürte ihren Atem – heiß, feucht, beladen mit Magie – auf seinem Gesicht und spürte, wie die Wunde sogleich heilte. Sie hob die Hände wie ein Priester bei der Anrufung Gottes, und er sah die Macht überall um sie herum, die Quelle unter dem Baum und die Fäden, die sie mit ihren Schwestern im Chor ebenso wie mit der Äbtissin verbanden.

Sie steckte eine Hand unter sein Wams, und ihre Berührung war so kalt wie Eis. Ihre Hand fuhr über den Brustkorb, und sein Rücken schmerzte schrecklich, als sie den Rand einer Wunde befühlte – einer Wunde, die er gar nicht bemerkt hatte.

»Dummerchen«, sagte sie. Er spürte, wie die Macht aus ihr heraustrat und in seine Schulter fuhr. Einen Augenblick lang – weniger als ein Herzschlag – war der Schmerz unendlich. Und in diesem Augenblick war er sie. Und sie war er.

Er lehnte sich zurück. Zu seiner Beschämung entrang sich seinen Lippen ein Jammern.

Nun beugte sie sich endlich über ihn; ihre Haare bedeckten sein Gesicht. Ihre Lippen fuhren an den seinen entlang. »Männer werden sterben, wenn ich bei dir bleibe«, sagte sie.

Und schon war sie verschwunden.

Lissen Carak · Michael

Die Belagerung von Lissen Carak. Zwölfter Tag.

In der letzten Nacht kam die Wache und hat die Garnison in der Unterstadt befreit. Der Rote Ritter hat die Wache höchstpersönlich angeführt. Die gesamte Garnison wurde gerettet, aber einige tapfere Ritter und Soldaten wurden dabei getötet, und am Ende ging die Unterstadt verloren. Der Feind verfügt über einen unbegrenzten Vorrat an Kreaturen.

Michael starrte auf das Pergament und überlegte, was er noch schreiben sollte. Er schüttelte den Kopf und ging auf die Suche nach Kaitlin, deren Vater beim Einsturz der Mauer gestorben war.

Im ersten Tageslicht kamen drei Lindwürmer von der aufgehenden Sonne herüber und hielten Felsbrocken von der Größe eines Menschenkopfes zwischen den Klauen.

Sie flogen zunächst sehr hoch, doch dann stürzten sie sich auf die Blide herab.

Die Wache wechselte gerade, also waren die Soldaten nicht auf einen Angriff vorbereitet. Die ablösende Wache war schon müde, die abzulösende war erschöpft, und niemand reagierte rechtzeitig.

Bevor Ohnekopf die Schleuder umdrehen konnte, hatten sich die Klauen des ersten Ungeheuers bereits geöffnet. Der Stein fiel und schlug in den Turmstumpf nur wenige Fuß von der Maschine entfernt ein, prallte ab und fiel harmlos auf die Bergflanke.

Der zweite Lindwurm ließ sich noch tiefer fallen, hatte die Schwingen an den Rücken gelegt, doch er breitete sie zu früh aus, geriet ins Taumeln, und sein Stein tötete eines der vielen Hundert Schafe, die noch auf dem Berg eingepfercht waren.

Der dritte Lindwurm war der älteste und gerissenste. Er segelte über das Ziel hinweg, das Thorn für ihn bestimmt hatte, und legte seinen Stein beinahe zärtlich auf die Schleuder, die er dadurch zerschmetterte. Ohnekopf fiel vom Turm.

Der Bogenschütze schrie auf und griff nach den Wasserspeiern am Balkon des Krankensaales, während er fiel.

Die Lindwürmer drehten bei.

Lissen Carak · Der Rote Ritter

Eine Stunde später waren die Lindwürmer zurück. Diesmal machten es alle drei wie der Älteste. Sie kamen entlang des Berggrates tiefer herein und stiegen mit dem letzten Aufwind zu den Festungsmauern hinauf, bevor sie ihre Ladung abwarfen.

Doch diesmal schlug ihnen ein Regen von Pfeilen und Bolzen entgegen, die von allen Ecken des Hofes, von den Türmen und sogar vom Balkon des Krankensaales aus auf sie abgefeuert wurden.

Alle drei wurden getroffen und flogen wütend davon, ohne allzu großen Schaden angerichtet zu haben.

Ihre Steine schlugen ein Loch in die Kommandantur, töteten zwei Nonnen im Hospital und zerschmetterten ein Kriegspferd sowie einen Knappen im Stall.

Der Hauptmann schlief.

Lissen Carak · Der Rote Ritter

Er erwachte erst am späten Nachmittag und schlug die Augen in der Bequemlichkeit seines eigenen Gemaches auf. Aber es fühlte sich seltsam an. Die Luft um ihn herum war in Bewegung.

Jemand hatte Laken und einen alten Gobelin über ein Loch von der Größe eines Wagens gespannt. Ein Loch in der Wand, das die Luft hereinließ.

Auch seine kleine Veranda war verschwunden.

Er stand auf. Toby Pardieu ließ gerade seine Kleidung zurechtlegen und stand mit den langen Lederstiefeln des Hauptmanns da, die schwarz glänzten.

Sein Rittergürtel war poliert worden und leuchtete wie ein hermetischer Gegenstand.

»Weil die Äbtissin Euch zum Abendessen eingeladen hat«, sagte Toby. »Meister Michael ist bei seinen Übungen.«

Der Hauptmann ächzte, als seine Hüften und Schenkel das ganze Gewicht des Körpers tragen mussten. Für einen Augenblick hatte er eine Ahnung, was Alter bedeuten mochte.

»Die Näherin hat mir das Leinen gegeben«, sagte Toby und deutete auf einen Korb. »Neu, sauber und gebügelt. Hemden, Kappen, Hosen. Und zwei Paar schwarze Strümpfe.«

Der Hauptmann fuhr mit den Fingerspitzen über eines der Hemden. Die Nähte waren fein gearbeitet, sehr klein, fast vollkommen gleichmäßig, aber doch nicht ganz, sodass sie beinahe ein Muster abgaben. Die Näherin hatte für das prächtige neue Weiß des Leinens einen ungefärbten Faden verwendet und so sehr auf ihre Fähigkeiten vertraut, dass der kleine Kontrast wie eine Verzierung des Stoffes wirkte. Es war eine äußerst zarte Zurschaustellung ihres Geschicks. Genauso zart wie die Macht, mit der sie die Kleidungsstücke aufgeladen hatte.

Er hob das Hemd an. Die Macht war golden – ein helles, weißliches Gold, die Farbe der Reinheit. Der Sonne.

Das Hemd brannte nicht auf seiner Haut; das hatte er aber auch nicht erwartet. Er hatte schon vor Jahren festgestellt, dass es ihm nichts ausmachte.

Toby unterbrach seine Gedanken. »Wein? Oder warmer Cidre?«, fragte er und sah auf den Boden. »Der Cidre ist gut«, murmelte er.

»Cidre. Und ich werde diese neuen Sachen tragen, zusammen mit meinem scharlachroten Wappenrock, Toby. Schwarz ist für …« Er seufzte. »Schwarz ist für andere Gelegenheiten.«

»Entschuldigung, Mylord.« Toby errötete.

»Woher solltest du das wissen? Gibt es Nachrichten von den Verwundeten? Wie geht es Tom Schlimm?« Er spürte die frische Sauberkeit des neuen weißen Hemdes. »Ich werde ein Bad nehmen, bevor ich mich anziehe. Könntest du dafür sorgen?«

Toby nickte angesichts dieser Herausforderung. »Wird im Handumdrehen erledigt.« Er verschwand. Und kehrte dann zurück. »Ser Thomas läuft schon wieder rum. Und Ser Jehannes auch.«

Der Hauptmann hörte die hastigen Schritte des Jungen, als dieser erneut weglief. Er musste schmunzeln und fühlte sich alt.

Dann zog er seine Armeekleidung aus. Er trug sie nun schon seit … hmm. Seit zwei Tagen ohne Unterbrechung?

Das Hemd war feucht und warm und roch schlecht. Nicht nach Schweiß, sondern nach altem Blut. Es musste eine Menge Blut aufgesogen haben. Und an der einen Seite war es zerrissen.

Irgendwo in seinen Sachen befand sich ein Spiegel. Michael hatte alles hierhergebracht. Er suchte darin herum und war sich undeutlich bewusst, dass der Abend nahte und er noch nicht angekleidet war.

Er fand seinen Bronzespiegel in der Reisetruhe, fand auch sein Rasiermesser und klappte es aus dem modischen Bronzegriff heraus. Dann sah er in den Spiegel.

Er hatte die Wunde vergessen, die er in der letzten Nacht erhalten hatte. An der linken Seite seines Gesichts lief eine lange Narbe herunter, aus der noch immer ein wenig Blut trat. Sobald er sie ansah, schmerzte sie wieder. Sie schien nicht schlimm zu sein, tat bloß weh.

Er schüttelte den Kopf. Fühlte sich benommen von dem Schock, der nach der Schlacht immer einsetzte – und von dem Schock über das, was er gerade eben in dem Spiegel gesehen hatte.

Er versuchte nach der Wunde in seiner rechten Schulter zu schauen. Sie schmerzte dumpf, und er konnte sie nicht finden, obwohl seine Kleidung blutgetränkt war.

Das war ein weiterer Schock.

Er zog seine Hose aus. Im Schritt klebte sie vor Schweiß und Blut – und dort, wo die Oberschenkel mit dem Bauch zusammenstießen, hatte er Entzündungen. Er stank.

Toby kam zurück. »Das Bad ist auf dem Weg, Mylord. Habe Meister Michael und Meister Jacques gesagt, dass Ihr wach seid.«

Jacques kam bereits durch die Tür und rümpfte die Nase.

Sogar in nacktem Zustand besaß der Hauptmann noch große Autorität. »Toby, bring meine Armeekleidung raus, und lüfte sie. Gib der Näherin mein Leinen und frag sie mit allem gebotenen Respekt, ob es geflickt werden kann.«

Jacques hob eine der neuen Kappen auf. »Das ist aber eine feine Arbeit. So gut wie bei Hofe.« Er sah Toby an.

»Kommt alles von dieser Näherin. Meg.« Toby zuckte die Achseln.

Jacques lächelte. »Ich gehe und bezahle sie. Und bestelle mir auch etwas bei ihr«, sagte er. »Ihr seid eingeladen, mit der Äbtissin zu Abend zu essen«, fuhr er an den Hauptmann gewandt fort. »Genauso wie etliche andere Würdenträger auch. Zieht Euch gut an, und benehmt Euch noch besser.«

Der Hauptmann rollte mit den Augen und sagte schließlich: »Wie schlimm ist die Wunde in meinem Rücken?«

Jacques betrachtete die Hinterseite seiner Schulter. »Geheilt«, sagte er mit geschäftsmäßiger Endgültigkeit.

Toby zog ihm das Wams über den Arm.

Der Hauptmann hielt den Stoff hoch.

Der rechte Arm war vom Zwickel bis zum Ellbogen aufgeschlitzt.

Als er es sah, gab Jacques ein scharfes Geräusch von sich; fast klang es wie das Bellen eines Hundes.

»Einer der Dämonen hat mich erwischt.« Der Hauptmann zuckte die Achseln. »Ich habe geschlafen … was für ein Schlaf!« Plötzlich hob er den Becher neben seinem Bett an.

»Die hübsche Novizin hat mir ein Mittel gegeben, das ich Euch verabreichen sollte«, sagte Toby und zuckte ein wenig zusammen.

Der Hauptmann fand seine Geldbörse, was für sich bereits ein kleines Wunder war, und holte einen Silberleopard heraus. Er warf ihn Toby zu, der die Münze aus der Luft fing.

»Ich glaube, ich schulde dir einen Dank, junger Toby«, sagte er. »Und jetzt – mein Bad.« Er kratzte sich.

Er sah, dass unten im Hof Männer mit Schwertern und Schilden übten. Dann ging er quer durch das Zimmer, zog den Gobelin an einer Ecke zur Seite und warf einen Blick über die Wiesen, die Felder, die Schafspferche und die rauchenden Ruinen der Unterstadt.

»Lindwürmer?«, fragte er. Er war noch immer unfassbar müde.

»Sie haben uns den ganzen Tag mit Steinen beworfen«, meinte Jacques fröhlich. »Und haben Ohnekopf den Schreck seines Lebens eingejagt. Die Schleuder ist weg.«

»Er bewegt seine Maschinen wieder«, sagte der Hauptmann. »Nein – er lässt die Kobolde einen neuen Hügel anschütten, und seine Maschinen sind allesamt außerhalb unserer Reichweite.« Der Hauptmann stellte fest, dass er sich an Körperteilen kratzte, die man in der Öffentlichkeit besser nicht kratzen sollte – nicht einmal vor den eigenen Dienern.

»Ich muss mit Tom sprechen, falls er dazu schon in der Lage ist. Ich brauche die Berichte des Tages.«

Dann kreischte er auf, riss das Laken vom Bett und hielt es sich vor den Körper, als zwei Bauernmädchen in der Tür mit einer Wanne voll dampfend heißem Wasser erschienen.

»Schsch«, machte die Dunkelhaarige. »Nichts, was ich nicht schon mal gesehen hätte.« Sie kicherte aber, und das andere Mädchen errötete, dann waren sie auch schon wieder verschwunden.

Aber das Wasser war noch da.

»Ich werde mich jetzt waschen, wenn du nichts dagegen hast«, sagte er zu Jacques.

Dieser nickte. »Ihr seid zu alt, um gebadet zu werden.« Dann zählte er die Leinenteile im Korb. »Ich bezahle jetzt die Näherin, ja? Und ich hole Tom.«

»Danke, Jacques«, sagte der Hauptmann. Das Wasser war heiß – fast kochend heiß.

Er setzte sich trotzdem in den Zuber und hoffte, dass einiges von dem Schmutz und von noch Schlimmerem einfach weggebrüht wurde. Der Hauptmann fühlte sich, als krieche etwas über ihn hinweg.

Er hatte gerade den Oberkörper eingetaucht – ganz langsam –, als sich hinter ihm etwas regte.

»Tom?«, rief er.

»Nein«, antwortete Harmodius.

Der Hauptmann wand sich. Das Wasser brannte dort, wo er Schürfwunden hatte – und in den Schnittwunden und an den wundgescheuerten Stellen.

Also fast überall.

Er stellte fest, dass sich seine Seife – seine schöne Seife aus Gallyen mit Mandelduft – in seiner ledernen Truhe befand.

Harmodius durchquerte den Raum. »Ihr seid stärker geworden«, sagte er ohne jede Einleitung. »Ich habe Euch in der letzten Nacht beobachtet. Ihr seid ziemlich schnell und recht stark.«

»Ich übe jeden Tag«, gab der Hauptmann zu. »Und wie Ihr gesagt habt – ich versuche, alles nur durch die Kunst zu tun.« Er zuckte die Schultern. Jetzt war das Wasser köstlich. »Wenn er mich lässt.«

»Unser Feind?« Harmodius nickte.

»Er lagert vor meinem Palast der Macht.« Der Hauptmann streckte seine inneren Fühler bis zur Quelle aus, was für ihn eine große Entfernung bedeutete. Dreißig Schritte durch den Fels hindurch. Aber dort spürte er jetzt die Macht. Er berührte sie, nahm einen Schluck und wirkte einen Zauber.

Die Seife schwebte in die Luft, durchquerte den Raum und fiel platschend in den Badezuber.

»Verdammt«, sagte der Hauptmann. Es war gar nicht die Seife, sondern der Schleifstein für das Rasiermesser.

Harmodius grinste. »Seife? Ist sie rosafarben?«

»Ja«, sagte der Hauptmann.

»Ihr seid trotzdem viel besser geworden. Ich weiß, dass Ihr gut ausgebildet wurdet. Ihr müsst bloß weniger verschlossen sein.« Er zuckte die Achseln. »Aber ich habe leicht reden.« Er hob die Seife auf und hielt sie außerhalb der Reichweite des Hauptmanns.

»Ich könnte mehr tun, wenn er sich nicht unmittelbar hinter meiner Tür befinden und darauf warten würde hereinzugelangen und mir die Seele herauszureißen«, sagte der Hauptmann und kratzte sich. »Die Seife, bitte.«

Harmodius hob den Gobelin an und blickte nach draußen. »Ein nettes neues Fenster«, sagte er. »Holt Eure Macht anderswo. Ihr wisst doch, wie das geht.«

»Nicht aus der Quelle?«, fragte der Hauptmann.

»Wie wäre es mit der Sonne?«, erwiderte Harmodius.

»Ich bin ein Kind der Wildnis«, sagte der Hauptmann. »Meine Mutter hat mich so gemacht.«

Harmodius sah ihn nicht an, sondern schaute hinaus über die Landschaft. »Vertraut Ihr mir, Junge?«

Der Hauptmann sah die große, stolze Gestalt an. »Nicht wirklich«, sagte er. »Zumindest nicht so sehr, dass ich Euch meine Seife anvertrauen würde.«

Harmodius stieß ein bellendes Lachen aus. »Na gut, verständlich. Vertraut Ihr mir denn als Lehrer der Hermetik?«

Der Hauptmann dachte einige Herzschläge lang nach. »Ich glaube schon«, sagte er schließlich.

Der alte Magus nickte und riss den Gobelin von der Wand, sodass die Strahlen der Nachmittagssonne auf den Waschzuber fielen. »Nehmt die Seife. Mithilfe der Sonne. Na los.« Er hielt die Seife so hoch, dass der Hauptmann sie sehen konnte.

Der Hauptmann spürte die Sonne wie ein schwaches Gewicht auf seiner nackten Haut. Er hob die nasse Hand und ließ sie von der Sonne belecken.

Er hatte die Sonne schon immer gemocht. Besonders im Frühling.

… Duft der Blumen …

Für den Bruchteil eines Herzschlags hatte er es geschafft, doch dann setzte der Ekel ein. Es war wie ein Würgereflex.

Die Seife hatte sich nicht bewegt.

»Bemüht Euch mehr«, sagte Harmodius.

»Ihr könntet mir einfach die Seife geben, und wir versuchen es noch einmal, wenn ich angezogen bin.« Der Hauptmann fühlte sich im Nachteil. Er war nass, nackt, verletzt und verwundbar.

Harmodius kniff die Augen zusammen. »Wirkt den Zauber.«

Der Hauptmann versuchte es erneut. Er ließ sich von der Sonne küssen. Er trank sie …

Und musste spucken. Nur knapp verfehlte er das Badewasser. »Nein«, sagte er.

»Schon besser«, sagte Harmodius. »Sogar sehr gut. Darf ich Euch sagen, was ich an Euch bewundere, Hauptmann?«

»Wollt Ihr es jetzt mit Schmeicheleien versuchen?«, fragte der Hauptmann.

»Es ist nicht so, dass Ihr vor nichts Angst hättet, denn so wie ich es sehe, habt Ihr eigentlich Angst vor allem.« Harmodius verschränkte die Arme vor der Brust. »Es ist vielmehr so, dass Ihr diese Angst jedes Mal überwindet.« Er nickte. »Und jetzt ergreift die Macht der Sonne und wirkt Euren Spruch.«

Er ließ sich von der Sonne liebkosen. Er spürte ihre Macht, die so kräftig war wie guter Käse – dicker und sämiger als die Macht der Wildnis, und überdies intensiver.

Und dann verschloss sich in seinem Geist plötzlich etwas.

»Verdammt«, sagte Harmodius. »Noch einmal.«

Der Hauptmann holte tief Luft und versuchte es erneut. Er konnte die Macht spüren. Und er wollte sie haben. Die Sonne zu berühren …

Die Sonne zu berühren hieß rein zu sein.

Ich bin ein Kind aus Inzest und Hass. Ich wurde geboren, um zum Vernichter zu werden. Ich werde die Macht der Sonne nie für mich selbst gebrauchen können.

Das Badewasser war warm, und die Sonne war ebenfalls warm. Er schob seinen Ekel beiseite und streckte sein Innerstes wieder nach ihr aus. Er dachte daran, in die Sonne hineinzureiten. Er dachte an Pferde in der Sonne. An Amicia, die in der Sonne stand …

Einen Augenblick lang konnte er die Verbindung wieder herstellen. Das Sonnenlicht, das auf seine Hand fiel, war die Verbindung, und wie ein Schwamm saugte seine Hand die raue Macht auf.

Und dann musste er wieder würgen. Er hustete, und die Seife, die sich bereits durch das halbe Zimmer bewegt hatte, fiel zu Boden.

»Aha!«, brüllte der Magus.

»Ich schaffe es nicht«, sagte der Hauptmann.

»Ihr habt es gerade geschafft«, sagte Harmodius. Er hob die Seife auf und gab sie dem Mann ins Bad. »Es gibt keine Grenzen. Es gibt keine Regeln. Ihr könnt die Sonne anzapfen. Lange Zeit wird es Euch noch widerstreben – etwas in Euch wird nicht damit einverstanden sein. Aber bei Gott, Ihr habt gerade die Sonne in ihrer reinsten Form berührt! Ich kenne Menschen, die die Sonne aus dem Wasser oder aus der Luft aufnehmen. Verdammt wenigen gelingt es aber, die Macht unmittelbar aus ihrer Quelle zu holen.«

Der Hauptmann seifte sich ein, und das Wasser kühlte ihn ab.

Viel zu schnell wurde es kalt.

»Ihr seid ein Bastard«, sagte der Hauptmann zu dem Magus.

»Dann tut etwas dagegen«, sagte Harmodius.

Der Hauptmann streckte seine inneren Fühler nach der Quelle unter ihm aus.

Harmodius war schon da – ein Turm aus blauem Feuer.

Er ging in seinen Palast.

»Nicht«, sagte Prudentia. »Er wartet.«

»Das stimmt«, sagte der Hauptmann, nachdem er das Schlüsselloch berührt hatte.

Er spürte, wie das Badewasser immer kälter wurde. »Ihr seid ein Bastard«, wiederholte er.

Die Sonne war überall um ihn herum, und er griff danach.

Nicht viel geschah.

Er dachte an einen Sommertag. Aber er dachte zu viel, und alles, was er sah, waren Schweiß und Käfer.

Herbst. Die Farbe der Kürbisse und des Mais und Weizens auf den Halmen, die zur Ernte bereit waren – so viele goldene und orangefarbene und rötliche Dinge in der untergehenden Sonne …

Prudentia lachte laut auf. »Gut gemacht, junger Herr!«, rief sie.

»Pru!«, sagte er, während er in rötlichem Gold leuchtete.

Ohne dass er es gewollt hätte, leuchteten die Fenster – die Bleiglasfenster im Obergaden über den rotierenden Paneelen – zu einem flammenden Leben auf. Farbiges Licht fiel auf den Boden.

»Hurensohn«, sagte er.

Er deutete auf eine Statue, auf ein Paneel, auf ein Symbol. »Heilige Maria, Herikleitus, Krebs«, sagte er.

Die Räder drehten sich. Und blieben mit einem klickenden Geräusch wieder stehen.

Prudentia lächelte ihr festes, marmornes Lächeln. »Hier«, sagte sie. »Sieh zu.«

Sie hielt ein Prisma hoch. Es fing das farbige Licht ein, brach es und schickte es als gebündelten Strahl in die Tafel mit dem Sternbild des Krebses.

Ah!

Das Wasser war wieder warm. Wurde noch wärmer. War heiß.

Harmodius lachte laut auf. »Gut gemacht!«, sagte er.

Müde legte sich der Hauptmann im Bad zurück. Er war erstaunt. »Ich hatte Hilfe«, sagte er, um seine Verwirrung zu verbergen. »Magus, das hätte nicht möglich sein dürfen. Wie ist das möglich?«

Harmodius schüttelte den Kopf. »Ich habe zwar einige Theorien, aber keinen Beweis.« Er rieb sich den Hals. »Vor zwei Wochen hatte ich nicht gerade geplant, zum fahrenden Magus zu werden. Eigentlich wollte ich irgendeinen ruhigen Ort finden, weit entfernt von der Falle, die Thorn mir gestellt hatte. Ich wollte ein paar Experimente durchführen.«

»Stattdessen seid Ihr in diese Belagerung geraten.« Der Hauptmann seifte sich schamlos ein.

»Ein paar Experimente konnte ich tatsächlich durchführen«, sagte Harmodius.

»Welche denn?«, fragte der Hauptmann.

»Zum Beispiel habe ich einen Zauberer aus der Wildnis gefunden, der das Sonnenlicht nutzen kann«, meinte Harmodius selbstzufrieden. »Ich wusste, dass Ihr es könnt.«

Der Hauptmann schüttelte den Kopf. Eigentlich sollte er wütend sein. Aber er fühlte sich …

Er fühlte sich besonders mächtig. »Was wäre gewesen, wenn Ihr Euch geirrt hättet?«

Harmodius zuckte die Achseln. »Das war unwahrscheinlich. Schließlich hatte ich einen guten Grund für meine Annahme. Außerdem bin ich erst hergekommen, als ich eine Frau gefunden hatte, die in beiden Farben Magie wirken kann. In denen der Wildnis und in denen der Sonne. Jedes Mal, wenn ich ihr beim Heilen zusehe, ist es wie ein Wunder.« Freudig rieb er sich die Hände. »In der letzten Nacht habe ich mich mit der Äbtissin verbunden«, sagte er.

»Ihr klingt wie ein Junge, der mit seinem ersten Kuss prahlt«, sagte der Hauptmann.

Harmodius lachte. »Ihr seid wirklich schnell. Sie pflegte zu unseren Gemächern zu kommen – oh, damals, als sie noch die Verkörperung des Idealbildes einer Frau war.« Er schüttelte den Kopf. »Es ist schon seltsam, dass man nie zu alt ist, um jung zu sein. Aber ich bin nicht hier, um Geschichten von Liebe und Lust zu erzählen, mein Junge. Die Lady hat das bewiesen, was ich bereits vermutet hatte. Das hier wird die Welt verändern.«

»Ich mag die Welt eigentlich so, wie sie ist«, sagte Tom von der Tür aus. »Wenn Ihr beiden Hexer mit Euren blutigen Riten fertig seid, Eure Säuglinge geopfert und sie gefressen habt, oder was für heidnische Dinge Ihr sonst tun mögt, dann könnte ich die Berichte des Tages abgeben.«

Der Hauptmann lag noch immer reglos im heißen Wasser. »Seid Ihr nur hergekommen, um mit mir zu experimentieren, oder habt Ihr noch einen anderen Beweggrund, Magus?«

»Thorn plant uns anzugreifen. Und zwar unmittelbar jetzt.« Der Magus versuchte, den Gobelin wieder vor das Loch zu hängen. Für einen Mann mit solcher Macht stellte er sich seltsam ungeschickt an. »In der letzten Nacht hat er gelernt, dass er unsere Verteidigung überwinden kann. Und jetzt wird er kommen.«

Tom trat ein, scheuchte den Magus aus dem Weg und befestigte die Ecken des Gobelins an den schweren Eisennägeln, die in den Bodenbalken des Stockwerks über ihnen getrieben worden waren.

»Wirklich?«, fragte der Hauptmann. »Woher wisst Ihr das?«

Harmodius zuckte die Schultern und schenkte sich etwas Wein ein. »Wir sind auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden. Ich kann seine Angst spüren. Und seine Wut und Schadenfreude. Genau wie die Äbtissin.«

»Angst?«, fragte Tom. »Angst? Dieser mächtige Kerl hat Angst vor uns?« Er lachte.

Aber der Hauptmann verstand. »Er muss Angst haben«, sagte er. »Ich hätte sie an seiner Stelle auch.«

»Er hat sehr viel zu verlieren«, bemerkte Harmodius. »Aber er weiß, dass er unsere Blide mit einem einzigen Schuss vernichten kann, wenn er nur nahe genug herankommt. Dazu muss er sich natürlich ins Freie trauen. Deshalb hat er es zunächst mit den Lindwürmern versucht, aber sie haben versagt.«

Tom schüttelte den Kopf. »Das klingt, als ob er selbst nur eine Maschine wäre.«

Harmodius nickte. »Gar nicht schlecht, Tom. In gewisser Weise sind Magi kaum etwas anderes als Belagerungsmaschinen auf einem Schlachtfeld. Wir bewegen uns allerdings schneller und sind auch gefährlicher. Aber ich stimme dir zu, dass es auf dasselbe hinausläuft.«

Der Hauptmann verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Warum muss er unbedingt unsere Blide zerstören? Damit er seine eigenen Maschinen gegen die Brückenburg in Stellung bringen kann?«

Harmodius nickte. »Ich nehme es an. Das ist aber nicht mein Fachgebiet.« Er kippte den Wein hinunter. »Ich lasse Euch jetzt allein, damit Ihr Euch anziehen könnt. Die Äbtissin will uns bei Sonnenuntergang sehen.« Er blieb in der Tür stehen. »Und hört nicht mit Euren Übungen auf, junger Mann. Wir brauchen Euch.«

Tom sah ihm nach. »Das ist ein seltsamer Kauz, so viel steht fest.«

Der Hauptmann lächelte und rief ein Handtuch von der Tür herbei. Es flog ihm in die Hand. Er grinste und erhob sich. Das Wasser tropfte von ihm ab.

Tom setzte sich und kippte den Stuhl nach hinten. »Macht das nicht noch einmal«, sagte er. Er hatte sein großes Messer bereits halb aus der Scheide gezogen. »Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr so etwas nur tut, wenn Ihr allein seid.«

Der Hauptmann spürte, dass er errötete. »Ich wirke Magie, Tom«, sagte er. »Du weißt, dass ich das kann.«

Tom grunzte. »Wissen und zusehen sind zweierlei.« Er zuckte die Achseln und blickte unbehaglich drein. »Wir haben gestern fünf Soldaten und drei Bogenschützen verloren.« Er warf einen Blick auf seine Wachstafel. »Seit Beginn der Belagerung sind es neun Soldaten und neunzehn Bogenschützen. Also achtundzwanzig – und dazu kommen noch zwei Diener, das heißt, insgesamt sind es dreißig.« Er hob die Schultern. »Jeder Vierte.«

Der Hauptmann zog sich das Hemd über den Kopf.

»Ich will nicht sagen, dass wir aufgeben sollen«, meinte Tom. »Aber vielleicht wäre es an der Zeit, einen Handel zu versuchen.«

»Du auch, Tom?« Der Hauptmann stieg in seine Hose. Sie fühlte sich sauber und frisch an. Und auch er selbst fühlte sich sauber und frisch. Und sehr müde.

»Unsere Verluste werden jeden Tag größer«, sagte Tom. »Ihr müsst wissen, dass ich Euer Mann bin. Ihr seid ein feiner Hauptmann, und sogar Jehannes begreift das allmählich. Aber dies hier ist nicht das, was wir üblicherweise tun. Ein Ungeheuer – na gut. Aber eine ganze Armee von ihnen?« Er runzelte die Stirn.

Der Hauptmann saß auf seiner Pritsche und griff nach den neuen Strümpfen. Sie waren aus tiefschwarzer Wolle – ein wenig grob und kratzig, aber schwer, warm und dehnbar. Er zog den einen vorsichtig über das rechte Bein.

»Wir verlieren nicht«, sagte er.

»Was das betrifft …«, meinte Tom.

»Wir werden hier aushalten, bis der König eintrifft.« Er nahm den zweiten Strumpf.

»Und was ist, wenn er nicht kommt?« Tom beugte sich vor. »Was, wenn unsere Boten nicht durchgekommen sind?«

»Was ist, wenn Schweine fliegen können?«, fragte der Hauptmann zurück. »Ich weiß, dass die Eigentümer dieser Festung benachrichtigt wurden. Ich habe es gesehen, Tom. Die Ritter des heiligen Thomas werden diese Abtei – die Grundlage ihres Wohlstands und das Lehen des alten Königs – nicht dem Untergang preisgeben. Und der König wird es ebenso wenig tun.«

Tom zuckte die Achseln. »Wir werden alle hier sterben.«

Der Hauptmann durchwühlte seine Sachen auf der Suche nach einem sauberen Wams oder wenigstens einem, das nicht so aufdringlich stank.

Er fand eines, das aus Barchent und zwei Lagen schweren Leinens bestand; es war zwar zerknittert, aber vollkommen sauber.

»Es stimmt, dass wir alle vielleicht hier sterben werden«, gab der Hauptmann zu. »Aber verdammt, Tom, die Sache ist es doch wert. Das hier ist nicht irgendein kleiner Grenzkampf in Gallyen. Das hier ist der nördliche Teil des Landes Albia. Du stammst aus dem Hochland, und ich komme von den Adnaklippen.« Er hob die Arme. »Diese Menschen hier brauchen uns.«

Tom nickte, aber die Sorgen der Völker des Nordens schienen ihn nicht wirklich zu berühren. »Glaubt Ihr tatsächlich, dass der König kommen wird?«

»In einem Tag. Oder vielleicht in zwei Tagen«, sagte der Hauptmann.

Tom kaute an seinem Schnauzbart herum. »Darf ich das den Jungs sagen? Es würde ihrer Kampfmoral Auftrieb geben … Aber wenn ich es ihnen sage, bleibt Euch nicht mehr viel Zeit, Mylord.«

»Ist das ein Ultimatum, Thomas?« Der Hauptmann richtete sich auf, als würde dies alles besser machen. »Willst du damit andeuten, dass meine Truppen in zwei Tagen von mir verlangen werden, eine andere Lösung zu finden?«

Tom Schlimm erwiderte grinsend: »Einige von ihnen bestimmt. Und mit jedem Tag, der darüber hinaus vergeht, werden sie es noch nachdrücklicher verlangen. Ja.« Er stand auf – sechs Fuß und sechs Zoll Muskeln. »Versteht mich nicht falsch, Hauptmann. Ich mag einen guten Kampf. Es ist mir sogar gleich, gegen wen ich kämpfe. Ich könnte hier auf ewig weiterkämpfen.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber manche können das nicht.«

»Und sie würden gern gehen«, sagte der Hauptmann mit einem Gefühl der Erleichterung.

»Vielleicht«, erwiderte Tom und grinste. »Ich schwöre, es liegt heute etwas in der Luft, wie ein Gift. Die Jungs sind gereizt. Jede Bemerkung ist bissig.«

Der Rote Ritter nahm seinen scharlachroten Wappenrock vom Schemel, zog ihn an und band ihn zu. »Das habe ich auch schon mitbekommen.«

Tom schüttelte den Kopf. »Ich hasse Eure Magie. Sie nimmt alle Spannung aus dem Kampf.« Er zuckte mit den großen Schultern. »Mir ist es ziemlich egal, ob ich sterbe, solange ich es auf meine eigene Weise tue. Ich mag einen guten Kampf. Und wenn es mal mein letzter sein soll, dann will ich nur, dass es ein guter gewesen ist.« Er nickte. »Gut genug für ein Lied.«

Der Hauptmann nickte ebenfalls. »Ich werde sehen, was ich tun kann«, meinte er.

»Ich sag es den Jungs«, erwiderte Tom.

Sobald er durch die Tür trat, kamen Michael und Toby zurück. Sein Umhang war gebürstet, die Stickereien auf der Brust waren geflickt.

Michael half ihm hinein. Jeder von ihnen band ein Handgelenk zu, und er dachte nach.

Er dachte noch nach, als er seine langen Stiefel schon anzog. Toby kümmerte sich um die Strumpfhalter, während Michael ihm den Umhang hochhielt.

Dann kämmte ihm Toby die Haare und wischte ihm das Wasser aus dem Bart. Michael brachte ihm sein Reitschwert.

»Das Kriegsschwert«, sagte der Hauptmann. »Nur für alle Fälle.«

Michael kürzte den Gürtel und schnallte ihn über der Hüfte fest, dann trat er zurück, während der Hauptmann dreimal an dem Gürtel zog und seinen Sitz prüfte. Toby legte ihm die Sporen an. Michael hielt den schweren Goldgürtel in den Händen und sah ihn fragend an.

Der Rote Ritter lächelte. »Warum nicht?«, fragte er.

Michael legte ihm den Gürtel ebenfalls um die Hüfte, gab ihm seinen Hut, die Handschuhe und den Kommandostab. »Ihr werdet zu früh sein«, sagte er, »aber nicht viel zu früh.«

Der Hauptmann ging die Treppe zum Hof hinunter. Die Männer und Frauen blickten ihn an. Er war sauber und, auch wenn er es nicht sehen konnte, er glänzte regelrecht.

Er ging durch den Hof und nickte allen zu. Dann blieb er stehen und lobte die Schwertkünste des jungen Daniel, danach hielt er ein Schwätzchen mit Ben Carter und sagte dem jüngeren Lanthorn-Mädchen, dass er ihren Verlust sehr bedauere, denn ihre beiden Eltern waren in der Nacht gestorben. Sie machte einen Knicks vor ihm, und er lächelte, als er bemerkte, wie ihr Blick von ihm zu Michael glitt, der ihm gefolgt war.

Von einem Kreis von Bogenschützen hörte er die Geschichte, wie Ohnekopf dem Tod nur knapp entronnen war. Sie schlugen sich vor Fröhlichkeit auf die Stiefelschäfte, und er lauschte der Klage Ser Adrians, dass ihm jemand Getreide gestohlen habe. Dabei übergab ihm Ser Adrian ein fest zusammengerolltes Stück Pergament.

»Wie Ihr gebeten habt«, sagte der Schreiber, »habe ich mit einem Dutzend Schwestern und einigen Bauern gesprochen. Wenn Ihr meine Meinung hören wollt, Hauptmann …« Er verstummte.

Der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Nein, das will ich nicht«, sagte er und lächelte, um seinen Worten die Spitze zu nehmen. Er steckte die Schriftrolle unter seinen Ärmel und verneigte sich. »Ich habe eine Verabredung mit einer Dame«, sagte er.

Ser Adrian erwiderte seine Verneigung. »Zählt Eure Finger, nachdem Ihr gegessen habt«, sagte er leise.

Der lange Tisch war für dreizehn Personen gedeckt. In der Mitte stand der Thron der Äbtissin, und er selbst setzte sich an ihre rechte Seite. Noch war der Tisch leer, da er als Erster eingetroffen war. Er tauschte einen Blick mit Parcival aus, der auf seiner Stange hockte, und ihm wurde huldvoll erlaubt, den Kopf des Vogels zu streicheln.

Eine Schwester kam herein, sah ihn und stieß ein etwas würdeloses Quieken aus. Er drehte sich um, verneigte sich und lächelte. »Ich bitte um Verzeihung, Schwester. Ich nähme gern ein Glas Wein, wenn es beliebt.«

Sie ging wieder.

Er begab sich zum Leben der Heiligen hinüber. Nun, da er das Geheimnis des Buches kannte, war er viel interessierter daran. Nur die fehlende Zeit hatte ihn davon ferngehalten. Nun war es so offensichtlich – ein hermetisches Grimoire. Er drehte die Seiten um und entzifferte sie grob. Wisse dieses eine. Wisse dieses eine, hm. Habe nie davon gehört.

Es war im wahrsten Sinne des Wortes ein ehrfurchteinflößender Band. Und er lag einfach offen unter einem Fenster in einer Festung.

Der Hauptmann kratzte sich am Bart.

Einmal angenommen, jede Frau hier ist wie Amicia, dachte er, und der Orden schickt sie alle hierher. Damit sie in Sicherheit sind? Und damit sie aus dem allgemeinen Bewusstsein verschwinden? Warum sonst …

Sie stand neben ihm. Er konnte sie riechen – ihre Wärme spüren. Und die goldene Macht auf ihrer Haut.

»Du«, sagte sie.

Er drehte sich um, wollte sie in die Arme nehmen. Es war wie ein Hunger.

»Du bist zu Gott gekommen!«, sagte sie.

Er verspürte ein Aufflackern von Wut. »Nein«, sagte er. »Nichts dergleichen.«

»Ich kann es spüren«, erwiderte sie. »Warum leugnest du es? Du hast die Macht der Sonne gespürt!«

»Ich sage es dir noch einmal, Amicia«, beharrte er. »Ich leugne Gott nicht. Ich trotze ihm bloß.«

»Müssen wir unbedingt streiten?«, fragte sie und sah ihn an. »Habe ich dich geheilt?«

»Das hast du«, sagte er in viel gröberem Ton, als er es beabsichtigt hatte.

»Du wärest verblutet«, sagte sie und war schließlich ebenfalls erzürnt. »Du hast mir Angst gemacht. Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken.«

Oh. Er hob die Hand. »Ich danke Euch, meine Dame«, sagte er förmlich und fuhr fort: »Warum müssen wir immer miteinander ringen? Ist es der Schnitt in meinem Gesicht, der dir Sorgen macht? Ich spüre ihn kaum.«

Sie leckte ihren Daumen wie eine Mutter, die etwas Schmutz von ihrem Kind entfernt. »Nicht bewegen«, sagte sie und strich mit ihrem Daumen über die Wunde. Starker Schmerz loderte auf, und dann …

»Du solltest beten, wenn du Magie anwendest«, sagte die Äbtissin von der Tür aus.

Der Hauptmann trat einen Schritt von der Novizin zurück. Sie waren einander wirklich sehr nah gewesen.

»Ohne Hilfe und Führung kann keiner von uns sündlos sein. Ein Gebet richtet den Geist aus. Manchmal liegt seine Hand auf unseren Schultern, und sein Atem rührt unsere Herzen.« Die Äbtissin kam auf die beiden zu.

»In der Hauptsache scheint Gott aber denen zu helfen, die sich selbst helfen«, sagte der Rote Ritter.

»Es ist so leicht zu spotten, Hauptmann. Ich vermute, Ihr habt die Sonne gekostet. Und dennoch spürt Ihr nichts?« Die Äbtissin klopfte mit ihrem Stab auf den Boden, und sogleich liefen zwei Novizinnen herbei und halfen ihr auf den Thron.

»Es ist doch schließlich nur Macht«, sagte Harmodius von der Tür aus.

Die Äbtissin begrüßte den Magus mit einem Kopfnicken. »Es gibt noch mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, Magus.«

»So einfach ist der Spott«, sagte Harmodius. »Und dennoch – als Sucher nach der Weisheit muss ich gestehen, dass ich, wenn ich in Euch hineinblicke, Lady, etwas sehe, das größer ist als ich. In Euch und in der Königin.« Er nickte. »Vielleicht auch in dieser Novizin.« Er zuckte die Achseln. »Und in Thorn.«

»Sprecht seinen Namen nicht aus!«, sagte die Äbtissin und klopfte wieder auf den Boden.

Ser Jehannes kam herein. Bei ihm waren Thomas, der Ratsherr Johne und die Näherin Meg.

Schwester Miram setzte sich leise und mit ungeheurer Würde neben Thomas. Er grinste sie an. Pater Henry nahm am äußeren rechten Ende der Tafel Platz.

Ser Milus traf verspätet ein, bei ihm waren Meister Random und Gelfred von der Brückenburg.

»Ihr seid ein großes Risiko eingegangen«, sagte der Hauptmann und sah dabei die Äbtissin an.

Milde begegnete sie seinem Blick. »Sie sind durch Euren Graben und durch die Tunnel gekommen, Hauptmann. Dieser Berg besitzt zahlreiche Räume und viele Türen.«

»Wie das Haus Eures Vaters?«, fragte der Hauptmann.

Der Blick der Äbtissin deutete an, dass er nicht ganz so geistreich gewesen war, wie er hatte sein wollen.

»Und viele Geheimnisse«, sagte Harmodius. »Wir sind dreizehn bei Tisch.«

»Die hermetische Zahl«, sagte die Äbtissin.

»Und die Zahl von Jesus und den Jüngern«, fügte Harmodius hinzu.

Der Hauptmann lächelte schief. »Ich frage mich, wer von uns Judas sein mag.«

Die Männer am Tisch gaben ein nervöses Lachen von sich. Von den Frauen lachte keine.

Die Äbtissin schaute den Tisch entlang, und die Männer schwiegen wieder. »Wir sind hier, um Kriegsrat zu halten«, sagte sie. »Hauptmann?«

Er stand auf, reckte sich ein wenig, fühlte sich noch immer stark. Für ihn war es ein merkwürdiges Gefühl. »Ich bin es nicht gewesen, der diesen Kriegsrat einberufen hat«, sagte er. »Was also wünscht Ihr von mir?«

»Einen Bericht!«, fuhr sie ihn an. »Wie schlagen wir uns?«

Man hatte ihm gesagt, er solle auf seine Umgangsformen achten. Amicia sah ihn finster an, und ebenso Jehannes. Er dachte an Jacques’ Ermahnung, sein bestes Verhalten an den Tag zu legen. Jacques sagte solche Dinge nur selten ohne Grund.

»Wir verlieren nicht.« Er zuckte die Achseln. »Und das bedeutet in unseren Fall, dass wir gewinnen.«

Jehannes wandte den Blick ab, sah ihn aber gleich wieder an.

»Eure eigenen Männer sind anderer Meinung, Hauptmann«, bemerkte die Äbtissin.

»Das ist eine innere Angelegenheit«, erwiderte der Hauptmann.

»Nein, das ist es nicht.« Die Äbtissin klopfte wieder mit ihrem Stab auf den Boden.

Der Hauptmann holte tief Luft, sah sich um und versuchte, Hinweise auf die Ansichten der Versammelten zu gewinnen, so wie man es ihm beigebracht hatte.

Amicia war sehr angespannt. Die Äbtissin gab nichts von sich preis, genauso wenig wie Harmodius, obwohl die Reglosigkeit dieser beiden Personen sehr verschieden war. Er wirkte bemüht uninteressiert, und sie lauschte mit einer anscheinend wütenden Aufmerksamkeit. Pater Henry war nervös und erregt. Meg wollte, dass er sich gut schlug. Johne le Bailli war zu müde zum Zuhören.

Tom versuchte an Amicias Robe herunterzusehen; Jehannes hockte auf der Kante seines Stuhls; Meister Random hatte sich zurückgelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt, doch seine ganze Aufmerksamkeit war auf den Hauptmann gerichtet.

Angestrengt versuchte Ser Milus nicht einzuschlafen.

Der Hauptmann nickte.

»Also gut, Mylady. Hier ist meine Einschätzung.« Er holte tief Luft. »Diese Festung ist alt und enthält eine mächtige hermetische Quelle, die für die Magister aller Arten und Rassen gleichermaßen wertvoll ist. Diese Festung und ihre Bewohner sind eine Beleidigung für die Wildnis. Gewisse Ereignisse – ein langsames Fortschreiten von Ereignissen, die allmählich ihren Höhepunkt erreicht haben und auch die Ankunft unserer Truppe einschließen – erzwangen das Tätigwerden gewisser Mächte der Wildnis. Und jetzt ist die Wildnis hergekommen, um die Festung einzunehmen.« Er hielt inne.

»Um sie zurückzuerobern«, verbesserte er sich theatralisch.

Sogar die Äbtissin war erstaunt.

»Sie hat einmal unseren Feinden gehört«, sagte der Hauptmann mit leiser, ruhiger Stimme. »Sie haben die Quelle gegraben. Sie haben die Tunnel gebohrt.« Er sah sich um. »Wir haben diesen Ort in einer Nacht des Feuers und der dunklen Magie eingenommen.« Er hob seinen Weinbecher. »Vor zweihundert Jahren, wenn ich mich nicht irre. Und jetzt ist die Wildnis zurückgekommen, weil sich die Grenzen verändern und alles auseinanderfällt, und nun sind wir schwächer als damals.«

»Albia?«, fragte Jehannes.

»Die Menschheit«, sagte der Hauptmann. »Das ist nur der Hintergrund, aber es ist wichtig, denn ich habe mich immer wieder gefragt, warum der Feind so viele Verluste hinnimmt und sich uns gerade hier entgegenstellt. Es kostet ihn einen hohen Preis. Jehannes, wie viele Feinde haben wir bisher getötet?«

Jehannes schüttelte den Kopf. »Viele«, sagte er.

»So viele, dass ich mir nur wünschen könnte, ich hätte mit der Äbtissin einen Vertrag nach Kopfzahl abgeschlossen«, sagte der Hauptmann. »Tatsächlich wurde ich in diesen Vertrag hereingelockt. Man hat dazu meine Jugend gegen mich eingesetzt.« Er lächelte. »Aber das ist jetzt gleichgültig. Der Feind hat mehrere Dutzend unersetzliche kleinere Mächte verloren und Hunderte, wenn nicht Tausende Einwohner der Hohen Wildnis. Wir haben siebenundzwanzig Leute aus der Gegend, sieben Schwestern, drei Novizinnen und neunundzwanzig meiner Soldaten verloren. Außerdem haben wir alle Gehöfte und alle Tiere verloren, die nicht in der Festung eingepfercht wurden. Und wir haben die Unterstadt verloren.« Er breitete die Hände aus und stützte sich auf die Tischplatte. »Aber wir haben nicht die Festung verloren. Und auch nicht die Brücke. Und was am wichtigsten ist: Wir haben nicht verloren

»Was haben wir nicht verloren?«, wollte die Äbtissin wissen.

Der Hauptmann zuckte die Schultern. »Das Spirituelle. Den Glauben, wenn Ihr so wollt. Unser Feind ist sowohl von seinem Erfolg als auch von der Zurschaustellung seiner Macht abhängig, mit der er diesen Ort einnehmen will. So ist es nun einmal in der Wildnis. Klauen kämpfen gegen Zähne. Der eine Wolf frisst den anderen. Jede kleine Niederlage, die wir ihm beibringen, jeder Stich veranlasst seine Verbündeten zu der Frage, ob er wirklich so stark ist, wie er scheint.«

Die Äbtissin nickte. »Können wir gewinnen?«, fragte sie.

Er nickte heftig. »Ja, das können wir.«

»Wie?«, fragte sie.

Der Hauptmann verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen den Kaminsims. »Indem wir ihn so schwer verletzen, dass seine Verbündeten zu der Auffassung gelangen müssen, er sei schwach.«

Harmodius schüttelte den Kopf. »Keiner von uns kann es mit ihm aufnehmen.«

»Er ist nicht sehr klug«, wandte der Hauptmann ein. »Ich glaube, dass wir ihn erledigen können, wenn wir alle zusammenarbeiten.«

Harmodius stand ebenfalls auf. »Ihr habt keine Ahnung«, sagte er. »Er ist viel mächtiger, als Ihr es Euch vorstellen könnt. Und selbst wenn es Euch gelingen sollte, ihn zu verletzen …« Er hielt inne, wollte sich offenbar davon abhalten, zu viel zu sagen.

Der Hauptmann nippte an seinem Wein. »Ich habe schon zweimal beobachten können, wie er sich zurückgezogen hat.« Der Hauptmann sah den Magus an. »Oder etwa nicht?«

Die Äbtissin klopfte wieder mit ihrem Stab auf den Boden. »Hauptmann! Magus! Gewiss seid Ihr nicht der Ansicht, dass wir diese Belagerung allein durchstehen müssen?« Sie sah den Hauptmann an. »Glaubt Ihr nicht, dass der Prior noch kommt? Und der König?«

Harmodius wandte sich ihr nicht zu. »Der König …«, sagte er und zuckte mit den Achseln.

Der Hauptmann lächelte ihr zu. »Mylady, ich glaube, der König ist nur noch eine oder zwei Tagesreisen von uns entfernt. Aber ich glaube, dass eine wirksame Verteidigung – ob gegen einen Barbarenstamm, einen Feudalherrn oder einen legendären Magus – in einem guten Angriff liegt, der den Gegner aus dem Gleichgewicht bringt. Ich möchte Euch etwas über die nächsten zwei Tage erzählen.« Er verzog das Gesicht, und zum ersten Mal bemerkten die anderen die Müdigkeit unter seinem scherzhaften Benehmen. »Erlaubt mir, eine Vermutung über die nächsten beiden Tage zu äußern«, sagte er.

»Heute Nacht wird der Feind in großer Zahl die Felder überqueren und versuchen, uns auf zwei Wegen von der Brückenburg abzuschneiden. Er wird zum einen versuchen, den Graben zu besetzen, den wir ausgehoben haben, und zum anderen wird er sich bemühen, unsere Maschinen zu zerstören.« Er sah Harmodius an. »Er wird es auf direktem Wege versuchen, mit mächtiger Magie, die die hermetischen Verteidigungsanlagen der Mauern überladen soll.«

Harmodius nickte nachdrücklich.

»Und dann will er die Brückenburg stürmen. Er ist erst jetzt an ihr interessiert, weil sich der König auf der Südseite des Cohocton befindet. Solange wir die Brücke halten können, haben wir die Möglichkeit, die Belagerung innerhalb eines einzigen Nachmittags aufzuheben.«

»Das wisst Ihr nicht«, wandte Jehannes ein.

»Manchmal weiß man einfach, dass etwas richtig ist, wie auch immer die Dinge erscheinen mögen«, sagte der Hauptmann und sah dabei den Magus an. »In der Kriegskunst ist unser Feind nicht sehr erfahren. Tatsächlich lernt er gerade erst von uns, wie man eine Belagerung durchführt. Vermutlich hat er schon vor drei Tagen erfahren, dass der König am Südufer entlang herkommt. Das vermute ich anhand des Tempos seiner Angriffe.« Er zuckte die Achseln.

Jehannes schüttelte den Kopf. »Wenn Ihr Euch aber irrt …«

Der Hauptmann schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wann habe ich mich je geirrt? Ich habe hier verdammt gute Arbeit geleistet, und wir haben einen Sieg nach dem anderen errungen – auch wenn wir ein paarmal gestolpert sind. Wir stehen noch, und die Aussichten sind gut für uns.« Er sah sich um. »Unsere Lager sind voll. Unsere Verluste sind hinnehmbar. Und wenn das Schlimmste eintreten sollte …« – er bemerkte, dass er zu wütend wurde, um noch jemanden überzeugen zu können, aber seine Worte brachen einfach aus ihm hervor – »… dann werden wir heute Nacht unsere Wurfmaschinen verlieren, aber es wird noch mindestens vier Tage dauern, bis er die Brückenburg erstürmt, und das wird ihn Tausende seiner Kreaturen kosten. Und noch immer hat er nicht die geringste Aussicht darauf, diese Festung einnehmen zu können!«

Ser Milus schnaubte verächtlich. »Ich habe ein Gefühl, als hättet Ihr soeben meine ganze Garnison zum Tode verurteilt.«

Der Hauptmann zuckte nur mit den Achseln. »Ich übernehme gern das Kommando über die Brückenburg, während du hier befehligen kannst. So ist der Krieg. Wir verlieren nicht. Warum denken einige von euch ans Aufgeben?«

Jehannes schluckte schwer.

»Sprecht doch!«, beharrte der Hauptmann. »Warum seid ihr alle so still?«

Amicia sagte leise: »Seine Augen glühen rot.«

Die Äbtissin schnaubte. »Jeder junge Mann hätte glühend rote Augen, wenn er die Möglichkeit dazu hätte.« Sie stand auf. »Aber ich stimme Euch aus ganzem Herzen zu, Hauptmann. Wir wollen nicht mehr an Waffenstillstand, Aufgabe oder Rückzug denken. Die Wildnis wird uns alle töten, wenn sie es schafft, durch diese Mauern zu dringen.« Sie hob ihren Stab. Schien zu wachsen, vielleicht nicht größer zu werden, auch nicht schöner oder jünger, doch in diesem Augenblick war sie großartiger als alle anderen.

»Seid nicht schwach, meine Freunde.« Sie lächelte, und ihr Lächeln hatte die Wärme der Sonne. »Wir Menschen sind am stärksten, wenn wir uns vereinigen. Gemeinsam können wir Widerstand leisten. Als Einzelne sind wir hingegen nicht stärker als der Schwächste unter uns.«

Sie wurde wieder kleiner und setzte sich.

Auch Harmodius nahm schweigend Platz.

Ser Milus beugte sich vor. »Hauptmann«, sagte er.

»Ja?«

»Ich stimme Euch zu. Er wird uns angreifen. Stärkt die Garnison. Gebt mir frische Truppen und mehr Waffen, und ich werde die Burg eine ganze Woche lang halten.«

Der Hauptmann setzte sich wieder auf seinen Platz. »Ein ausgezeichneter Gedanke. Nimm sie heute schon mit, wenn du zurückgehst – jedenfalls so bald wie möglich.«

Harmodius schüttelte den Kopf. »Ich glaube, er ist zu klug für uns alle, selbst wenn wir unsere Magie gemeinsam wirken.« Er rollte die Schulter wie ein Ringer aus dem Nordland, der sich auf einen Kampf vorbereitet. »Aber ich will mutig sein. Und ich gebe zu, dass der Hauptmann nicht unrecht hat. Wir müssen ihn nicht besiegen, sondern es nur so aussehen lassen, als ob er besiegt werden könnte.«

Die Äbtissin lächelte. »Gut gesagt. Das ist genau die Art von Gesellschaft, die ich liebe. Das Essen soll aufgetragen werden.«

Das Mahl war nicht sehr reichhaltig. Es gab keinen gebratenen Schwan, keine Pfauen mit vergoldeten Schnäbeln, keine Lerchenzungen. Duelle zwischen den Wurfmaschinen hatten ein Dutzend Schafe auf dem Berg getötet, und so aß jeder in der Festung im Augenblick Schaf, Hammel und Lamm, und auch hier im Saal gab es keine Ausnahme davon.

Die Sauce hingegen war köstlich, und die Weine stammten noch aus der Zeit, als die Menschen die Festung übernommen hatten.

Die Tischgespräche kamen zunächst nur langsam in Gang, aber beim zweiten Becher Wein kicherte Meg über Toms schlüpfrige Bemerkungen, und Johne le Bailli brüllte vor Lachen über die altbekannte Erzählung des Studenten und der Frau des Schmieds. Dann erzählte er eine eigene über einen schlechten Priester, der seine Gelübde entehrte, und Pater Henry sah ihn finster an.

Die Äbtissin reichte den Wein herum. Zu ihrer Rechten saß der Hauptmann und zu ihrer Linken Amicia. Als das Gespräch allgemeiner wurde, wandte sie sich an den Hauptmann. »Ihr habt meine Erlaubnis, Euch mit ihr zu unterhalten«, sagte sie.

Der Hauptmann versuchte zu lächeln. »Ich bin mir nicht sicher, ob meine Augen noch glühen«, sagte er.

»Zorn und Lust sind zwei verschiedene Sünden«, erklärte die Äbtissin. »Amicia wird die Gelübde ablegen, Hauptmann. Ihr solltet sie dazu beglückwünschen.«

»Ich wünsche ihr alles Gute. Sie wird eine bemerkenswerte Nonne abgeben und beizeiten eine genauso bemerkenswerte Äbtissin.« Er nippte an seinem Wein.

»Sie ist nicht für Euch bestimmt«, sagte die Äbtissin, jedoch ohne Groll.

»Das sagt Ihr mir immer wieder, während Ihr sie vor mir schwenkt wie die Mohrrübe vor dem Esel.« Er nahm einen Bissen von dem Fleisch. Seine Anspannung war nur an der Kraft zu erkennen, mit der er den Hammelbraten zerschnitt.

»Ich bin hier«, sagte Amicia.

Er lächelte ihr zu.

»Ihr beißt sie wieder mit Euren Augen.« Die Äbtissin schüttelte den Kopf.

Nach dem Abendessen behielt die Äbtissin die Magi bei sich. Meg war überrascht, dass sie ebenfalls dazu eingeladen wurde. »Meine Magie ist sehr langsam«, sagte sie. »Ich hatte nicht einmal gewusst …« Sie zuckte die Achseln.

Amicia legte der Näherin die Hand auf die Schulter. »Ich spüre jeden Stich, den du machst«, sagte sie.

Harmodius schnaubte verächtlich. »Du verwendest eine Mischung aus Gold und Grün«, sagte er. »Ich hätte schon vor vielen Jahren an diesen Ort kommen sollen, dann wäre meine Vorstellung von der Hermetik bereits früher durcheinander gebracht worden.«

Die Äbtissin sagte: »Es ist mein Wille, dass wir uns jetzt im Kreis aufstellen und miteinander verbinden.«

Harmodius zuckte zusammen. »Dadurch würde ich meine Geheimnisse jeder Frau im Raum preisgeben!«

»Ihr habt nicht viel für Frauen übrig, oder?«, fuhr Amicia ihn an. »Wir sind Eurer Ansicht nach zu geduldig und langsam in unserer Magie, nicht wahr?«

»Frauen sind sehr weise in der Heilkunde«, sagte Harmodius.

Amicia hob den Kopf, und eine Kugel aus goldenem Grün schwebte vor ihm. Sie trieb die Kugel zu einer Stelle, die sich ungefähr auf halbem Wege zwischen ihr selbst und Harmodius befand.

»Stellt mich auf die Probe«, sagte sie.

Der Hauptmann war überrascht von ihrer Heftigkeit.

Die Äbtissin hingegen zeigte ihr katzenhaftes Lächeln.

Harmodius zuckte mit den Schultern und schlug mit einer Phantasma-Faust gegen die Kugel.

Sie bewegte sich einen Fingerbreit.

Dann schoss sie durch den Raum auf Harmodius zu. Er fing sie auf, kämpfte mit ihr, und sie bewegte sich langsam, aber stetig zurück.

»Natürlich ist er stärker als du«, sagte die Äbtissin und löschte die Kugel mit einem Fingerschnippen aus. »Aber nicht so stark, wie man hätte erwarten können. Nicht wahr, Magus?«

Harmodius holte tief Luft. »Du bist sehr mächtig, Schwester.«

Der Hauptmann grinste. »Wir sollten uns jetzt verbinden. Ich werde einige meiner Erinnerungen verdecken. Meine Lehrerin hat mir gezeigt, wie ich Mauern halten kann, während ich Türen öffne.«

»Ich gebe sehr viel, um einen äußerst geringen Gewinn zu erhalten«, beschwerte sich Harmodius. »Pah – die Äbtissin hat recht. Ich bin keine Insel.« Er streckte seine Hand Amicia entgegen.

Anmutig ergriff sie sie. Überall im Kreis wurden Hände gereicht, es war wie bei einem Kinderspiel.

»Hauptmann, ich will beten. Versucht, nicht in einer Rauchwolke zu verschwinden«, sagte die Äbtissin.

Sie begann mit dem Vaterunser.

Prudentia stand neben der Tür. »Wenn du Gäste einlädst, hättest du es mir vorher sagen können, damit ich sauber mache«, sagte sie.

Die Äbtissin erschien in seiner Halle. Sie war jung und in ihrer kleinen, dünnen Gestalt geradezu wollüstig. Ihr Gesicht strahlte eine irdische Macht aus, die ihrer Geistlichkeit widersprach.

Amicia war elfenhaft und grün.

Harmodius war jung und stark und gesund – ein fahrender Ritter, den eine goldene Aura umgab.

Miram leuchtete wie eine Statue aus polierter Bronze.

Meg sah einfach nur wie sie selbst aus.

Nun befand er sich in seinem Palast der Macht und gleichzeitig in demjenigen Amicias, stand auf ihrer wunderschönen Brücke. Und er saß in einem bequemen Ledersessel in einem großen, gekachelten Raum – das musste der von Harmodius sein – und war umgeben von Schachbrettern und Rädern innerhalb von Rädern. Überdies stand er in einer Kapelle, war von Statuen umgeben, die Ritter und ihre Damen darstellten – oder eher, wie er erkannte, Damen und ihre Ritter, denn jeder war durch eine goldene Kette mit einer der Frauen verbunden. Eine Kapelle höfischer Liebe – gewiss der Palast der Äbtissin. Und er kniete vor einem einfachen Steinaltar nieder, auf dem ein Becher mit rotem Blut stand. Das war Mirams Hort der Macht.

Er stand in der Halle der Äbtissin und hielt eine Nadel in der Hand. Megs Hort der Macht war äußerlich – und in diesem Augenblick begriff er, wie mächtig ihre Arbeiten waren, denn während die anderen im Ätherischen wirkten, war sie in der festen und sichtbaren Welt tätig.

Er bemerkte ein Schimmern von Gesundheit, von Kraft, von Güte und Macht. Und die Zeit war verschwunden.

Er wusste viele Dinge, und vieles von ihm selbst wurde den anderen mitgeteilt.

Sie schmiedeten ihren Plan.

Und dann, wie am Ende eines Kusses, war er wieder nur er selbst.

Er wich von den anderen weg, war müde von der langen Verbindung. Andere Perspektiven waren unheimlich und erschöpfend. Nun erkannte er so rasch, wie Harmodius es erkannt hatte, dass eine Schwesternschaft hingebungsvoller Nonnen die ideale Basis für einen Chor von Hermetikern war, denn sie lernten Disziplin und übten Disziplin – zusammen.

Harmodius strich sich über den Bart. »Ihr nehmt ein großes Risiko auf Euch, Junge«, sagte er laut.

Der Hauptmann schenkte allen ein schiefmündiges Grinsen. »Ein einzelnes, geeignetes Opfer«, sagte er.

Die Äbtissin rollte mit den Augen. »Manchmal ist Eure Blasphemie etwas schlicht«, sagte sie. »Versucht einfach, nicht zu sterben. Wir alle mögen Euch recht gern.«

Amicia begegnete seinem Blick und schenkte ihm ein Lächeln, das er erwiderte.

»Ich muss noch einiges vorbereiten«, sagte er, verneigte sich vor der Gesellschaft und ging in die Nacht hinaus.

Zuerst begab er sich zum Nordturm und stieg die Treppe bis zum zweiten Stock hinauf. Er ging leise; seine schwarzen Stiefel mit den glatten Ledersohlen machten nicht das geringste Geräusch. Die Kartenspieler waren an den Klang seiner Panzerstiefel gewöhnt.

Tom Schlimm spielte Pikett.

»Auf ein Wort«, sagte der Hauptmann.

Tom hob den Kopf, schürzte die Lippen und legte die Karten verdeckt auf den Tisch. »Ein Blatt wie dieses kann ich jederzeit verlassen«, sagte er ein wenig zu bemüht.

Bent versteckte etwas unter seiner Hand.

In Anbetracht der Umstände glaubte der Hauptmann nicht, dass Tom sich darüber Sorgen machen musste.

Bent zuckte die Achseln. »Sie werden noch dieselben sein, wenn du zurückkommst.«

»Das sollten sie auch«, sagte Tom und folgte dem Hauptmann zum Balkon der Garnisonsräume, der über dem Hof hing. »Mylord?«, fragte der große Mann förmlich.

»Ich werde heute Abend einen Ausritt machen, Tom«, sagte der Hauptmann leise. »Zum Feind. Ich möchte, dass du mich begleitest.«

»Ich bin Euer Mann«, sagte Tom fröhlich.

»Wir werden versuchen, ihn zu überwältigen«, sagte der Hauptmann. Er machte ein Zeichen mit den Fingern, sodass es aussah, als würden Fühler oder Zweige aus seinem Kopf wachsen.

Toms Augen wurden um Haaresbreite größer. Dann lachte er. »Das ist ein verrückter Witz«, sagte er. »Nein, was für ein Vergnügen!«

»Vergiss die Wachliste. Ich will nur die Besten bei mir haben. Such mir zwanzig Soldaten aus«, sagte der Hauptmann.

»Ungefähr so viele haben wir gerade auf den Beinen«, entgegnete Tom. »Das wird sich machen lassen.«

»Wenn es ganz dunkel ist. Du wirst mir Deckung geben müssen, wenn ich … Tom, ist dir klar, dass ich die Macht benutzen muss?«, fragte der Hauptmann.

Tom grinste. »Vermutlich.« Er drehte den Kopf zur Seite. »Jeder sagt, dass Ihr die Macht gegen die Dämonen benutzt.«

Der Hauptmann nickte. »Das stimmt auch. Wenn ich meine Magie wirken muss, so ist es wichtig, dass du mich schützt. Ich kann nicht gleichzeitig wirken und kämpfen.« Dann grinste er. »Na ja, ich kann schließlich nicht kämpfen und gleichzeitig einen guten Zauber wirken.«

Tom nickte. »Ich mache mit. Aber – in der Dunkelheit? Gegen diesen gehörnten Wahnsinnigen? Wir sollten einen Barden mitnehmen.«

Der Hauptmann war von dem plötzlichen Themenwechsel verwirrt. »Einen Barden?«

»Jemanden, der all das aufzeichnet, Hauptmann.« Tom Schlimm blickte in die Dunkelheit. »Weil wir Taten begehen werden, die in ein Heldenlied Eingang finden mögen.«

Der Hauptmann wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Also klopfte er dem großen Mann auf die Schulter.

Tom packte seinen Arm. »Ihr könnt nicht ernsthaft glauben, dass wir ihm mit Stahl beikommen werden.«

Der Hauptmann senkte die Stimme. »Nein, Tom. Das glaube ich auch nicht, aber ich werde es dennoch versuchen.«

Tom nickte. »Dann sind wir also der Köder?«

Der Hauptmann schaute grimmig drein. »Du bist etwas zu weitsichtig, mein Freund.«

Tom nickte noch einmal. »Wenn Tod in der Luft liegt, kann ich sogar durch eine Ziegelmauer sehen.«

Lissen Carak · Thorn

Thorn hatte alles, was er brauchte, um weiterzumachen. Er hatte seine beiden mächtigsten Phantasmata vorsorglich errichtet und sie sorgfältig in lebenden Wesen eingelagert, die er nur zu diesem Zweck erschaffen hatte. Es war blasses Gewürm, das wie Nacktschnecken an seinem bemoosten Steinpanzer hing.

Er machte sich nicht die Mühe, die Lindwürmer zu verfluchen, die seinen Auftrag nicht ausgeführt hatten. Einen Versuch war es wert gewesen.

Aber jetzt kam es auf ihn selbst an, und er wollte es nicht tun.

Er wollte sich nicht selbst schwächen, indem er geradewegs auf die Festung zumarschierte.

Er wollte sich nicht unmittelbaren Angriffen durch seinen früheren Lehrling und die dunkle Sonne aussetzen. Sie mochten zwar schwächlich sein, aber sie waren weder ungeschickt noch unfähig.

Und er wollte nicht gegen sie kämpfen, auch wenn seine Vernunft ihm sagte, dass er viel stärker sein würde, wenn er sie getötet hatte. Seine Verbindung zu ihr war das Band zu seinem vergangenen Leben. Eine Schwäche.

All dies wollte er nicht tun. Ob er gewann oder verlor, er hatte Mächte an sich gezogen, die wiederum seine Hand führten. Die ihm Macht zuführten. Die ihn sichtbarer werden ließen.

Verdammt sollten sie sein – vor allem die nutzlosen Dämonen. Es war ihre Festung, und sie alle waren bloß damit beschäftigt, gegen ihn zu arbeiten, anstatt ihm zu helfen.

Und Thurkan hatte die dunkle Sonne nicht besiegen können.

Thorn war keineswegs ohne Zweifel. Er war sogar voller Zweifel, und zum hundertsten Mal seit dem Beginn der Belagerung dachte er daran, seinen großen Stab zu nehmen und in die Wildnis zu ziehen.

Aber ohne ihn konnte die Wildnis verlieren. Und das wäre eine Katastrophe. Im besten Fall wäre es verhängnisvoll für seine Langzeitpläne.

Er streckte die Hände aus, und die Macht floss sanft. Eine Wolke von Feen sammelte sich, so groß war die Macht, die sich in einem Durchmesser von wenigen Schritten in der Luft zusammenballte.

Er versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn sie tot war. Er würde sie vermissen. Sie war einmal der Maßstab gewesen, den er an sich selbst angelegt hatte. Aber dieses Selbst war nun schon lange verschwunden, und so war es an der Zeit, dass er ohne sie zurechtkam.

Und ohne den Lehrling. Es ist eine Schwäche, die Gesellschaft von Menschen zu vermissen.

Die Wildnis musste obsiegen. Die Menschen waren wie Läuse; sie untergruben die Gesundheit der Wildnis.

Es war Zeit, etwas dagegen zu unternehmen, und er konnte sich gut vorstellen, dass all seine Handlungen, zu einer Fuge zusammengefügt, die seit seinen frühesten bewussten Gedanken gespielt wurde, hier an diesem Ort ihren Höhepunkt und Abschluss fanden.

Er tauchte aus der Woge seiner Gedanken auf und sah sich um, ungehindert von der Finsternis. Er sah Exrech an. »Dein Volk muss die Burg erstürmen«, sagte er. »Und sie halten. Dadurch können wir die Festung und die Brückenburg voneinander trennen.«

»Und dann graben wir«, sagte Exrech.

Thorn verneigte sich zustimmend. Zu Thurkan sagte er: »Die dunkle Sonne wird zu mir kommen.«

»Dann werden wir ihr einen Hinterhalt legen«, versprach der Dämon.

Thorn sah die Trolle an – mächtige Kreaturen, die seiner Vermutung nach in der fernen Vergangenheit von einigen Magi erschaffen worden waren. Als Leibwächter. Inzwischen hatte er zwei Dutzend von ihnen an sich gezogen, so wie es immer geschah, wenn jemand zu einer Macht wurde. Er war wie ein Leuchtfeuer, und sie waren gekommen. Er betrachtete sie nicht länger als schrecklich. Stattdessen fand er sie wunderschön – auf eine Weise, wie ein Handwerker seinen vollkommenen Meißel betrachtete, der in seine Hand passte, als wäre er für sie erschaffen worden.

Thorn klopfte mit seinem großen Stab auf den Boden. »Geht«, sagte er zu seinen Hauptmännern.

Lissen Carak · Die Äbtissin

Die Äbtissin spürte die Magie, die er wirkte. Sie hatte sich hingelegt und wollte sich ausruhen, doch es geschah früher, als sie erwartet hatte, und so setzte sie sich auf und griff mit ihrem Geist nach den Fäden der Macht, die sie an ihren Stein banden.

Sie spürte ihn dort draußen in der Dunkelheit, wie er plante, ihr Heim zu zerstören, und sie kniff die Augen zusammen und fuhr an dem Faden entlang, der sie auf ewig miteinander verband.

Verräter!, sagte sie und schleuderte ihm dieses Wort mit der Verachtung entgegen, zu der nur eine Frau in der Lage war.

Sophia!, rief er in den Äther hinein.

Sie warf ihm ihren Trotz entgegen und spürte, wie ihr Gift sein Ziel traf. In dem Augenblick seiner Verwirrung konnte sie ihn lesen und erkannte, dass er eine Falle vorbereitet hatte. Wie sie schon lange vermutet hatte, hatten sie tatsächlich einen Verräter in ihrer Mitte.

Dann rannte sie zum Hof. Ihre nackten Füße tappten über den Steinboden, ihr loses Haar flog wie der Schweif eines Kometen hinter ihr her.

Sie spürte, wie er reagierte, und sie errichtete ihre Verteidigung. Sie spürte, wie er seine ebenfalls errichtete – ganz langsam. Doch als die Mauer stand, war sie so stark, als bestünde sie aus Eisen. Sie spürte ihn nicht einmal mehr dahinter, sondern konnte nur noch vermuten, dass er da war. Sie betete, während sie rannte – betete um seinen Untergang.

Der junge Hauptmann stand neben seinem Schlachtross im Hof, und zwanzig Ritter befanden sich hinter ihm.

»Dort hinaus dürft Ihr nicht gehen!«, schrie sie. »Er wartet auf Euch! Es ist eine Falle!«

Der Hauptmann schenkte ihr ein seltsames Lächeln und winkte Michael zu, der seine Beckenhaube trug. »Er kommt schon herbei, ja?«, fragte er sie und wandte sich dann an seine Ritter. »Aufsteigen!«, rief er.

Sie packte sein Zaumzeug, und sein großes Kriegspferd, das so schnell wie der Blitz war, biss nach ihrer Hand. Nur die sofortige Reaktion des Roten Ritters rettete sie. Er schlug mit der flachen Hand gegen Grendels Hals. Das Pferd machte einen Schritt zurück und warf den Kopf hoch, als wollte es sagen: »Ich hätte es gekonnt, wenn ich es wirklich gewollt hätte.«

»Er kommt jetzt …«

Sein Knappe setzte ihm den Helm auf den Kopf und legte das Kettengewebe des Halsschutzes so zurecht, dass es bis auf seinen Panzer fiel. Der Hauptmann reckte Arme und Schultern, links und rechts. Überall im Hof hielten die Knappen die Panzerhandschuhe hoch, steckten sie auf die Hände ihrer Herren und griffen dann nach den Lanzen, die so groß wie kleine Bäume und auch genauso dick waren. Lange Spitzen saßen auf ihnen.

Das Gesicht des Hauptmanns erschien unter dem Rand seines Helms. Er lächelte. »Ja« sagte er, »ich spüre ihn.« Und lachte. »Was habt Ihr getan?«

»Ich habe ihm gesagt, was ich von ihm halte«, sagte sie. »Er hat eine Frau verschmäht – nur um der Macht willen?« Sie warf den Kopf zurück und lachte. Es klang wahnsinnig.

Als Michael seinen Helm hin und her bewegte und ihn sicherte, sagte der Hauptmann: »Ich vermute, das war ein heftiger Schlag.«

Sie schüttelte den Kopf. »Seine Eigenliebe wird ihm schnell darüber hinweggeholfen haben. Aber ich habe in ihn hineingeblickt. Er hat einen Verräter in der Festung.«

»Ich weiß«, sagte der Hauptmann. »Ich hatte es Euch auch bereits gesagt.« Er schenkte ihr ein böses Lächeln. »Dieser Verräter hat unserem Feind bisher eine etwas ungenaue Version der Ereignisse geliefert. Es heißt jetzt oder nie. Da kann er so viele Fallen aufstellen, wie er will. Manchmal geht es nur um Schnelligkeit und Wagemut. Er ist vorsichtig. Er fühlt sich sicher.« Der Hauptmann schien von der Macht, die er in sich gesammelt hatte, zu glühen. »Er will diesen Kampf«, sagte er. »Und ich will ihn auch. Einer von uns aber irrt sich. Wir können nur unser Bestes geben, also passt auf Euch auf, Mylady.«

Das Haupttor glitt auf.

»Folgt mir!«, befahl der Hauptmann.

Sie trat aus dem Weg und sah ihm zu, wie er hinausritt. Das Hufgeklapper klang schrecklich endgültig, und auch die Ritter setzten sich nun in Bewegung. Sie winkten ihr zu; Francis Atcourt nahm ihren Segen entgegen, und sie betete für Robert Lyliard, der ihre guten Wünsche mit einem Salut erwiderte. Thomas Durrem beugte sich aus dem Sattel zu ihr herunter und ritt in dieser Haltung an ihr vorbei.

Der Rote Ritter hielt im Tor an.

Über ihr, auf dem Balkon, sah sie Amicia. Sie sah, wie er das Amulett an seiner Schulter berührte, und sie konnte sehen, wie sie den Kopf neigte.

Grendel bäumte sich kurz auf, stürzte sich durch das Tor, und der Ritter war verschwunden.

Sie wandte sich an Bent, der neben ihr stand. »Alle sollen in das Untergeschoss gehen und sich dort hinlegen«, sagte sie. »Alle!«

Dann rannte sie durch den Hof und rief Befehle.

Die Alarmglocke läutete, und die Bogenschützen strömten aus ihren Unterkünften und nahmen Gefechtsposition ein. Alle steckten in ihren Rüstungen. Sie wussten Bescheid.

Die Äbtissin blieb stehen und blickte sich noch einmal um. Die letzten Türen wurden zugeworfen. Sie nickte zufrieden, wünschte sich, sie hätte die Zeit, nach Pater Henry zu suchen, und rannte auf die Kapelle zu.

Lissen Carak · Pater Henry

Pater Henry sah, wie die Äbtissin mit ihrem Jungen redete, und der Ekel zeigte sich deutlich auf seinem Gesicht. Sie alle waren Kreaturen des Satans – die Äbtissin, der Söldner, die Schwestern. Er war umgeben von Hexen und Zauberern. Es war wie in der Hölle.

Er wollte nicht mehr untätig sein. Er hatte die Macht, sie zu vernichten. Er besaß alle Werkzeuge, die ein gewöhnlicher Mensch gegen das Böse einsetzen konnte.

Er wusste zwar, dass er es nicht überleben würde – doch sein ganzes Leben hindurch hatte er den Schmerz und die schlechte Behandlung für das erduldet, was er als richtig erkannte. Er bedauerte nur, dass er nicht unmittelbar gegen den Söldner vorgehen konnte. Dieser Mann schien ihm der Satan in Person.

Pater Henry ging in die Kapelle, in der sich schon ein Dutzend Schwestern versammelt hatten – keine richtigen Schwestern, wie er jetzt wusste, sondern ein Zirkel von Hexen. Alle waren hier, um ihre verdammungswürdigen Spottpreisungen Gottes herauszusingen.

Er zwang sich, Miram anzulächeln. Sie war allerdings zu beschäftigt, um ihn zu beachten. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er sie mit seinem Messer niederstechen sollte. Ob er sie und das Dutzend Hexen einfach nehmen sollte und …

Er verbarg seine Augen, damit sie seine Gedanken nicht lasen, und glitt an ihnen vorbei zum Altar. Er griff dahinter. Holte den langen Stab aus schwerem Holz hervor, und seine Hand fand sofort den einen Pfeil, den er benötigte.

Schwarz wie ihr Herz.

Es war ein höchst bemerkenswerter Pfeil. Hinter der Spitze war er drei Fingerbreit ganz aus weißem Knochen, während der Rest aus Hexenholz bestand.

Lissen Carak, Unterstadt · Der Rote Ritter

Es war gleichsam eine Ironie des Schicksals, dass bei einem Plan, dessen Gelingen von Vorbereitung, Planung und hermetischer Meisterschaft abhing, der erste Teil zwanzig tapfere Männer und eine Frau mittleren Alters erforderte, die ihr Leben riskieren mussten, um die Straße zu säubern. Und er wusste nicht einmal, ob sie erfolgreich sein würden.

Aber Thorn konnte nicht erwarten, dass er zu Pferde durch die Unterstadt zu ihm kam. Der Hauptmann hatte dafür gesorgt, dass Thorn ihn auf dem überdeckten Fußpfad erwartete.

Draußen in der Dunkelheit flackerte dort, wo die Unterstadt gewesen war, eine Reihe von Lichtern auf. Es war nur ein kleiner Zauber – kaum ein Kräuseln auf einem Meer voller schwerer Wellen.

Als aber die blauen Lichter aufzuckten, ließ der Hauptmann Grendel die Zügel schießen. Sie bezeichneten einen sicheren Weg durch den Schutt der Unterstadt.

Er stellte fest, dass ihm die Lichter Mut machten. Er würde nicht unterliegen, da er zu diesem Kampf bereit war.

Hinter dem Rabenantlitz seines Helms grinste er und streckte seinen Geist aus nach

Prudentia. Er war in dem Raum, und er wollte nichts mit der Tür zu schaffen haben. Er berührte nur seine Lehrerin, und sie lächelte.

»Finde mir Harmodius«, sagte er. »Öffne die Verbindung.«

Sie runzelte die Stirn. »Aber da gibt es etwas, das ich dir sagen muss …«

Er grinste. »Später.«

Dann sog er aufgespeicherte Kraft – nur ein kleines Rinnsal – aus der Sonne und leitete sie in einen Ring, den ihm die Äbtissin gegeben hatte. Er war bereits voller Macht gewesen, und nun benutzte er ihn dazu, im Äther seine Dunkelsicht zu wecken.

Dann war er in der Wirklichkeit zurück, und sein Gefühl für die Nacht veränderte sich. Der Umriss der Falle lag jetzt klar und deutlich vor ihm, und er grinste wie ein Wolf, dessen Beute allmählich ermüdete.

Thorn hatte etliche Kreaturen in den Graben hinter die Überreste der Stadtmauer geschickt – in den Graben, den seine eigenen Männer ausgehoben hatten, damit der Verkehr mit der Brückenburg aufrechterhalten werden konnte. Nun war er voller Kobolde, und das passte ihm sehr gut.

Weiter im Süden, am Zugang zu dem gesicherten Pfad, den die Bogenschützen an jedem Tag der Belagerung benutzt hatten, wartete eine Truppe von Dämonen. Es waren mindestens vierzig – also genug, um seine Ritter zu vernichten.

Er grinste. Diesen Weg habe ich nicht genommen, dachte er. Die Kreaturen der Wildnis waren nicht so geschickt wie die Menschen, wenn es darum ging, sich im Äther zu verbergen. Als er die steile Straße hinunterritt, kam ihm der Gedanke, dass sie sich vielleicht deshalb nicht versteckten, weil der Äther ihr natürliches Element war.

Thorn befand sich draußen auf der Ebene und bewegte sich stetig auf die Stadt zu.

Die große Gestalt war viel größer als ihre Verbündeten. Sogar aus der Entfernung war noch deutlich zu sehen, dass Thorn die Trolle, die ihn umgaben, weit überragte. Er maß mindestens zwanzig Fuß und hatte Geweihe auf beiden Seiten seines steinernen Gesichts. Trotzdem wirkte er aus der Entfernung von etwa fünfhundert Schritten nicht besonders furchterregend. Doch er war wie ein Leuchtturm im Dunkel, und seine Macht wob unzählige Fäden um ihn herum, die bis in den Himmel reichten, auch zu den Kreaturen um ihn herum und in den Wald hinter ihm …

Zwei Dutzend Trolle beschützten die gehörnte Gestalt und spiegelten ihre Macht wider.

Als der Rote Ritter den gehörnten Mann betrachtete, hob dieser seinen Stab.

Thorn hob seinen Stab. Er konnte die dunkle Sonne erkennen. Einen Moment lang war er versucht, seine gewaltige Magie über die rätselhafte, verzerrte Kreatur zu legen, doch wollte er nicht von seinem Plan abweichen. Sein Geist griff in die Schnecke an seiner linken Schulter, und grünes Feuer wogte über seinen rechten Arm, pulsierte einmal an seinem Stab – es war wie ein Zeichen der Freude, wie die Entfesselung einer ungeheuren Liebe.

Das Licht war wie das, das in den tiefsten Wäldern an einem vollkommenen Sommertag aufleuchtete. Es hatte nicht die Ausdehnung einer Nadelspitze, einer Linie, eines Schaftes oder eines Balles. Es war überall.

Die Äbtissin befand sich beim Chorgesang inmitten ihrer Schwestern und spürte den Angriff auf die magischen Wächter – sie spürte, wie sie ins Taumeln gerieten. Sie erhob die Stimme zusammen mit ihren Schwestern. Sie konnte sie hören, konnte sie im Ätherischen spüren, konnte auch Harmodius und Amicia spüren.

Das Licht war überall. Sein grünes Strahlen war verführerisch, der Sirenenruf des Sommers an die Jungen, von der Arbeit wegzulaufen und stattdessen zu spielen. Die Äbtissin erinnerte sich an den Sommer – an die Sommertage am Fluss, an ihren Körper, der nass vom Schwimmen war, an ihr grasendes Pferd …

Weit, weit entfernt waren die Sigille, die ihr Haus schützten …

Harmodius las den Zauber und dessen ungeheure Feinheit, und gerade als er seine Entgegnung auswerfen wollte, sah er die Falle.

Thorn wollte, dass er den fremden Zauber beiseitedrückte.

Das Sommerlicht glich einer heimtückischen Magie, die von allen Seiten unmittelbar auf die Sigille einwirkte und ihre Stärke in die Wildnis umleitete. Es war eine ausgezeichnete magische Handwerkskunst.

Die Macht, die daran beteiligt war, wirkte majestätisch.

Und jede Erwiderung, jeder Gegenschlag würde zusammen mit den Sigillen in den hungrigen Schlund fallen, der auf sie wartete.

Wenn ich das hier überlebe, werde ich diese Magie erlernen, dachte Harmodius.

Er nahm sein schmales Schwert aus hellblauer Macht und trennte die Verbindung der Äbtissin zu den Sigillen der Festung.

Die Sigillen der Festung fielen. Thorn gab ein Grunzen der Befriedigung von sich, die nur durch sein Wissen abgemildert wurde, dass Harmodius das einzig ihm Mögliche getan hatte, um nicht zusammen mit ihnen verschlungen zu werden.

Das Feenvolk umtanzte Thorns Haupt, als seine Macht plötzlich zunahm – diese uralte Macht, dieses Lebensblut der magischen Wächter, die seit Jahrhunderten standgehalten hatten. Nun blutete sie in den Boden zu seinen Füßen, und die Feen badeten darin; ihre geflügelten Gestalten waren wie winzige Engel, die in einem Regenbogen herumhuschten.

Der endgültige Zusammenbruch war wie das Öffnen eines Fensters. Zunächst blieben sie noch da – und dann war da nichts mehr.

Er hielt nicht inne, sondern hob den Stab und stieß seinen zweiten Zauber von sich – einen einfachen Hammer.

Einbein und Dreibein und die Blide und das gesamte obere Drittel des großen Nordturms verschwanden in einem einzigen Lichtblitz. Die darauf folgende Explosion zerstörte jedes Fenster in der Festung; die Bleiglasfenster der Heiligen wurden zu einem Wirbelsturm farbiger Splitter.

Pater Henry hatte sich hinter den Altar unter dem großen Fenster geduckt, wobei sein Rücken blutig gefetzt wurde. Die Robe wurde ihm vom Körper gerissen, doch Kopf und Arme konnte er schützen. Er schrie.

Der Hauptmann strebte in seinen Palast und zog Macht in den Ring.

Er hielt das verkohlte Tuch in seiner Panzerhand, sodass er es in der Finsternis nicht verlieren konnte – und leitete die Macht hindurch.

Vier Fuß unter den Lattenrosten in seinem Graben, unter der Koboldhorde, entzündeten sich zehn Lunten.

Über ihm, in der Festung, drang ein einzelner gewaltiger Machtpuls durch die Nachtluft – die Verkettung der Kräfte hätte ihn beinahe von Grendel abgeworfen.

Aber die Lunten brannten, und nun …

Nun waren es hundert lange Herzschläge bis Armageddon.

Er hatte den Fuß des Hanges erreicht und folgte dem Pfad zwischen den ersten der blauen Lichter, über Schutt und Geröll hinweg zum hinteren Tor der Stadt. Hier konnte sich Grendel nicht schnell bewegen, und dies war auch der schwächste Teil des ganzen Plans. Wenn er Thorn zu sehen in der Lage war, dann würde dieser ihn auch sehen können. Aber es ging ja gerade darum, dass Thorn ihn sah. Jetzt regten sich die Dämonen. Sie wussten inzwischen sicherlich schon, dass sie ihre Falle am falschen Ort aufgestellt hatten. Die gewaltigen Gestalten um den Feind herum waren neu.

Thorn hatte die Blide bereits zerstört.

Wir kommen zu spät.

Er hatte schon die halbe Strecke durch die Stadt zurückgelegt; Grendel bewegte sich langsam, denn ein einziger falscher Schritt wäre sein Untergang. Es war ein verrücktes Risiko.

Fünfzig Herzschläge.

Er drehte sich im Sattel und blickte zurück. Tom war unmittelbar hinter ihm, und der Klang der Reitertruppe erfüllte die Dunkelheit, während alle anderen Geräusche durch die Wucht der Explosion verstummt waren.

Er stellte sich in die Steigbügel, als Grendel über einen herabgestürzten Dachbalken hinwegschritt. Das blaue Licht schien sich zu kräuseln. Und dann war er hinter der Stadtmauer und auf freiem Gelände. Tom Schlimm passierte die Mauer hinter ihm, und nun ritten sie nebeneinander.

Er wendete Grendel und richtete sein Maul auf die gehörnte Gestalt aus, die sich zweihundert Schritte von ihm entfernt auf der Ebene befand. Hinter ihm fiel seine Truppe in eine Keilformation, nachdem sie die in Schutt und Asche liegende Stadt verlassen hatte.

Der Hauptmann dachte: Verdammt, wir sind gut.

Er hob den rechten Arm mit der Lanze. Mit ein wenig Macht erhellte er die Spitze, sodass sie wie ein Stern funkelte.

Dann senkte er seine Lanze.

Ein Zucken lief durch Grendel, und in drei Schritten war er aus dem Stand in einen Galopp gefallen, als befänden sie sich auf dem Turnierplatz.

Noch dreißig Herzschläge.

Lissen Carak · Thorn

Thorn beobachtete, wie die dunkle Sonne auf ihn zustürmte, und er wartete mit einer seltsamen Mischung aus Hochgefühl und Abscheu auf dieses missgebildete Ding. Es sah wie ein Mensch aus, aber es war keiner, sondern eine merkwürdige Verschmelzung von Mensch und Wildnis. Er hätte es bedauert, aber er musste es hassen, denn diese Verschmelzung war vollkommen anders als seine eigene.

Er kam, genau wie seine geheime Informationsquelle gesagt hatte. Aber er nahm nicht den Weg, den er angeblich hätte nehmen sollen. Das bedeutete, dass seine Informationsquelle nicht mehr zuverlässig war.

Und das bedeutete …

Die dunkle Sonne besaß eine Macht, die sich jeder Kreatur der Wildnis auf dem Schlachtfeld mitteilte.

Dies war der erste klare Blick, den er darauf hatte, und Thorn spürte einen Stich … keinen der Angst. Aber es war etwas an dieser Kreatur, das ihm eine Herausforderung zubrüllte – wie ein gewaltiges Raubtier, das seinen Trotz über die Sümpfe der Wildnis rief. Und jede Kreatur der Wildnis vernahm diesen Ruf. Manche wichen davor zurück. Manche wurden davon angezogen.

Das war die Art der Wildnis.

… und darum musste die dunkle Sonne eine Kreatur der Wildnis sein. Das bedeutete …

Thorns Erkenntnis kam sehr, sehr spät. Er hatte es sich erlaubt, mehrere Schläge seines großen, langsamen Herzens lang über die Schöpfung dieses Wesens nachzudenken, und in dieser Zeit hatte der Mann die Ruinen der Unterstadt wie ein Dhag durchquert – so schnell, dass sogar die Dämonen, die im Hinterhalt gelegen hatten, aus ihrer Deckung aufsprangen und zu Thorns Rettung herbeiströmten. Doch auch sie kamen zu spät. Die Keilformation der Ritter war schon an ihnen vorbeigeprescht.

Etwas ließ ihn langsamer werden!

Verdammtes Miststück!, brüllte er stumm. Sie legte ihm ihren Willen auf …

Er schüttelte diesen Zauber ab, als …

Lissen Carak · Der Rote Ritter

Er gab Grendel die Sporen – nur ein leichter Druck gegen die Flanken, damit das große Pferd wusste, dass es nicht anhalten sollte.

Thorn hatte sich der Festung zugewandt, und seine Leibwache aus missgestalteten Nachtmahren stand Schulter an Schulter und hielt gewaltige, stachelbesetzte Keulen und Hippen in den Klauen; sie trugen Rüstungen aus Holz und Leder. Dabei glühten sie – allerdings nicht in dem gesunden Sommergrün von Thorns Zauber, sondern in einer ekelhaft fauligen Farbe.

Der Hauptmann hatte gehofft, sich seine Lanze für Thorn aufsparen zu können, und griff nun zu einem Kniff, den er oft auf dem Turnierplatz anwendete. Er gab Grendel den Befehl, den Kopf zu senken. Er selbst hielt seine Lanze nach unten, und der Troll beobachtete die Spitze der Waffe und hob seine eigene …

Grendel erwischte den Troll, gerade als er den erwarteten Stoß der Lanze parieren wollte. Der Stachel am Haupt des Pferdes bohrte sich in die steingepanzerte Brust des Ungeheuers. Dieser Stachel war sechs Fuß lang, vorne spitz wie eine Nadel und weiter hinten so breit wie eine Menschenhand. Das Pferd wog aber ein Vielfaches des Trolls. Der Stachel zerbrach die Steinplatte in zwei Hälften, drang durch die Haut und zerschmetterte den Brustkorb. Grendel zertrampelte den Troll unter seinen Stahlhufen und wurde dabei nicht einmal wesentlich langsamer.

Mit der Übung, die er aus Hunderten von Turnierkämpfen gewonnen hatte, senkte der Hauptmann seine Lanze erneut. Thorn befand sich zehn Schritt hinter seiner Leibwache und machte sich gerade bereit, sich durch seine Magie zu schützen.

Der Hauptmann beugte sich im Sattel vor und fügte dem Gewicht des Pferdes auch noch die Kraft seines eigenen Körpers und seiner Hüften hinzu. Durch Glück, oder vielleicht auch durch Intuition, traf seine Lanze ungefähr dort, wo der Pfeil der Wurfmaschine Thorn etliche Stunden zuvor getroffen hatte. Sein Feind taumelte zurück. Thorn torkelte, streckte seinen Stab aus …

Und fiel nach hinten, stürzte zu Boden.

Der Hauptmann kämpfte nach dem Stoß um sein Gleichgewicht. Es hatte sich angefühlt, als würde er die Lanze gegen eine Burg rammen, doch er hielt sich im Sattel und ritt weiter; seine Lanze aber musste er zurücklassen. Die nächsten beiden Männer in der Formation – Tom Schlimm und Ser Tancred – stießen ihre eigenen Lanzen nach ihm in das Wesen. Das hoffte er zumindest, denn er ritt weiter, ohne zurückzuschauen, und der Rest der Leibwache strömte nun auf ihn zu. Die Trolle waren so groß wie er, und schon ein einziger Schlag von einer ihrer Waffen konnte seine Rüstung durchbohren und ihn töten. Doch er ritt weiter, wie in Trance. Er beugte sich aus dem Sattel, Grendel tänzelte, und kein Schlag traf ihn voll.

Grendel rammte den Stachel an seinem Haupt in den nächsten Troll. Dieses Einhorn aus gedrehtem Stahl bohrte sich tief ein, und wieder wäre der Hauptmann durch den Aufprall beinahe aus dem Sattel geschleudert worden. Das große Pferd blieb plötzlich stehen, schrie seine Wut heraus und trampelte mit den Hufen auf dem zu Boden gegangenen Troll herum – einmal, zweimal, mit noch größerer Wucht, als es zehn Rittern in voller Rüstung möglich gewesen wäre – und doch präziser als ein Boxer.

Das eklig grüne Blut des Ungeheuers aus der Wildnis schimmerte noch ein wenig, aber dieses Schimmern erlosch zwischen dem ersten und dem zweiten Hufschlag, während sich das Pferd triumphierend aufbäumte.

Der Hauptmann zog sein großes Schwert.

Ein weiterer Troll kreischte links von ihm, richtete sich zu voller Größe auf – und wurde von einer Lanze mitten in die Brust getroffen und zu Boden geworfen.

»Friss mich doch, du Hurensohn!«, brüllte Tom Schlimm und war in der grün gefärbten Dunkelheit verschwunden. Toms aufbrausende Art war ebenso legendär wie seine schlechten Manieren, seine Lüsternheit und seine Verbrechen. Ihn aber auf einem von Feuerschein erhellten Schlachtfeld zu sehen, das war wie ein Blick auf die Essenz des von einem Avatar auf die Erde gebrachten Krieges. Und als seine Ritter an ihm vorbeipreschten, beobachtete der Hauptmann, wie Toms Lanze durch die Trolle fuhr, ohne auch nur zu zittern.

»Lachlan für Aa!«, brüllte er.

Als seine Lanze im dritten Opfer brach, riss er seine fünf Fuß lange Klinge aus der Scheide und hieb mit ihr auf die Gegner ein. Die Feuer der Ebene spiegelten sich im gehärteten Stahl wider, der mit der gnadenlosen Präzision einer Bauernsense während der Ernte im Herbst auf und nieder fuhr.

Ganz allein schlug Tom Schlimm eine Bresche in die Gruppe der Ungeheuer.

Der Hauptmann trieb Grendel wieder an. An seiner Schwertseite erhob sich ein glatter Steinkopf aus der Dunkelheit, und er schlug mit seiner Waffe darauf ein, stellte sich dabei in die Steigbügel, um größeren Schwung zu bekommen – und das Schwert prallte von dem Stein ab. Doch der Kopf darunter platzte und fiel zur Seite. Das Brüllen des Wesens wurde zum Krächzen einer gewaltigen Krähe, als es zu Boden ging.

Und dann war er durch die feindliche Linie gebrochen. Sein Schwert war feucht und grün vom ätzenden Blut, und hinter ihm sammelten sich die Trolle, die den Angriff überlebt hatten, und versuchten ihm den Rückzug zur Festung abzuschneiden. Die frische Frühlingsluft war plötzlich voller Pfeile, von denen er zunächst nur ein Zischen wahrnahm, das über dem Klingeln in seinen Ohren kaum zu hören war. Doch dann regneten sie auf ihn herab. Und auf Grendel.

Knall.

Kling-Schepper-KNALL.

Hinter den Trollen befanden sich Irks, die nun in das Getümmel feuerten. Es schien sie nicht zu interessieren, ob sie einen der ihren trafen, und Thorn war vermutlich so gut gepanzert, dass er keinen Irk-Pfeil fürchten musste.

Weitere Kreaturen stürmten von beiden Seiten auf seine Ritter ein, und er ritt auf den langen Graben zu, den er hatte ausheben lassen. Den Graben voller Kobolde.

Fertig?, fragte er in den Äther hinein und blickte zurück.

Tom Schlimm hatte sich bereits umgedreht. Und mindestens ein Dutzend Ritter waren bei ihm.

Sie alle kannten den Plan und wussten, worum es ging. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren, doch bald musste es so weit sein.

Er ritt geradewegs auf den Graben zu und fragte sich, ob er Thorn hatte zu Fall bringen können. Er hoffte es. Er musste es doch hoffen. Es war ein furchtbarer Schlag gewesen.

Der Graben war nur noch wenige Schritte entfernt. Einige Pfeile stiegen hoch, um ihn zu begrüßen, aber die Kobolde waren genauso verblüfft wie ihr Meister. Dann bäumte sich Grendel auf.

Unter lautem Geklapper und Geschepper von Rüstung und Sattel trat das Pferd wieder auf. Der Hauptmann war für einen kurzen Augenblick geblendet, denn der Helm war ihm über die Stirn gerutscht …

… und dann erzitterte Grendel. Überall um ihn herum setzten die Ritter über den Graben. Kobolde drehten sich um – zu langsam.

Der letzte Reiter – Tom – sprang mit seinem Pferd über den Graben hinweg. Es landete, überholte Grendel und wurde unter dem Griff seines Herrn langsamer.

Die Kobolde sprangen nun wie eine Flut aus dem Graben heraus.

Dem Hauptmann blieb nur noch Zeit zu denken: Nun wäre es gut.

Das unter den Planken vergrabene Naphtha entzündete sich. Es explodierte jedoch nicht. Mit einem großen Zischen ging es los, als hätte Gott selbst es entflammt, und dann gab es hinter ihnen nur noch eine Wand aus Feuer.

Der Hauptmann hätte über diesen Triumph freudig lachen können, doch in diesem Augenblick starb Grendel unter ihm. Das Pferd hatte sein Leben hingegeben, damit es seinen Herrn noch über den Graben bringen konnte. Ein Dutzend gut gezielte Speere steckten in seinem Körper. Es brach auf dem Boden zusammen, und alles Licht ging aus.

Lissen Carak · Harmodius

Ein Drittel des Chors war tot.

Harmodius fand die Äbtissin, stützte ihren Ellbogen mit der Hand ab, aber da sprang sie aus eigener Kraft mit den Muskeln einer Tänzerin auf die Beine und griff in den Äther …

Er war verwundet. Der Junge hatte ihn verletzt.

Harmodius hatte Miram aufgerichtet, und der Chor begann von Neuem zu singen – zitternd, aber deutlich hörbar. Amicias Stimme lag über allen anderen – eine Minute lang, dann konnte sich der Chor wieder selbst tragen.

Die Macht war noch da – die ungeheure Macht der Quelle, eingehüllt in den Zauber des Chors.

Harmodius breitete die Arme aus, hob seinen Stab und begann damit, die Magie zu wirken.

Lissen Carak · Pater Henry

Pater Henry lag in einer Lache seines eigenen Blutes, während es in seinen Ohren klingelte.

Der Schmerz in Rücken und Schultern war unbeschreiblich.

Er kreischte.

Aber Christus hatte die Schmerzen ebenfalls ertragen. Der Schmerz war wie der Feind – er konnte besiegt werden.

Pater Henry kämpfte sich auf die Knie.

Wie durch ein Wunder war seine Bogensehne nicht durch all das Glas um ihn herum zerschnitten worden.

Mit zitternden Händen legte er den Pfeil ein.

Lissen Carak · Thorn

Thorn spürte die Schmerzen in seinen Wunden, doch sie quälten ihn nicht so sehr wie die Verhöhnung, die sich in diesem Angriff offenbart hatte. Die dunkle Sonne verspottete ihn; sie war mit blankem Hohn durch seine Falle geritten.

Hass durchsetzte und erfüllte ihn.

Er erhob sich auf die Beine. Erprobte seine Kraft und grunzte.

Er war von einem Armbrustpfeil getroffen worden, doch das bemerkte er kaum. Er spreizte die Finger; Flammen knisterten, eine Kuppel aus grüner Macht bildete sich über seinem Kopf, eine andere ballte sich um seine linke Hand wie ein grüner Faustschild, und mit der rechten Hand hob er seinen Stab.

Er machte einen Schritt auf den Graben zu, während ihm seine Leibwächter folgten.

Seht nur, ich bin ein sagenhafter Held, dachte er mit bitterer Ironie. Und alles muss ich selbst tun.

Er rannte nicht. Er machte lange Schritte auf seine Kobolde zu, die aus dem Graben wogten, den die Menschen wie eine obszöne Wunde in die Erde gerissen hatten.

Und dann explodierte das alchemistische Feuer vor ihm. Es war keine Manifestation von Macht, denn dies hätte er gespürt, und es wäre ihm möglich gewesen, den Brand sofort zu löschen. Er versuchte es trotzdem. Es kostete ihn wertvolle Sekunden, bis er begriff, dass seine Feinde den Boden unter dem Graben mit Naphtha gefüllt hatten – sie hatten Gift in die Adern der Erde hineingegossen.

Die Menschen mussten sterben.

Lissen Carak · Der Rote Ritter

Er verlor nie ganz das Bewusstsein, obwohl er sehr hart auf dem Boden aufgeschlagen war. Doch er stand auf, bevor ihn der Schmerz vollständig erfüllen konnte, und zum Glück hatte er sich nichts gebrochen. Sein Schwert lag unter Grendels Kadaver, aber er bekam den Griff zu fassen und zog es hervor.

Er schaute sich um, doch das Hufgetrappel sagte ihm bereits, dass sein Plan besser funktionierte, als er es hatte hoffen dürfen. Er hatte nicht gewollt, dass Tom zurückblieb und starb. Aber er hätte niemals geglaubt, dass er Grendel je verlieren würde.

Er hob sein Schwert nicht, weil er glaubte, überleben zu können, sondern schlicht darum, weil es ihm angemessen erschien.

Zum ersten Mal seit Beginn des Angriffs hatte er Zeit zu atmen. Hinter seiner Gesichtspanzerung lag nichts als die gewaltige, finstere und grausame Nacht. Vielen der Kobolde im Graben war die Flucht gelungen, und einige waren den Rittern schon gefolgt, noch bevor sich das Naphtha entzündet hatte, und natürlich war er selbst wie ein höllisches Leuchtfeuer für die Kreaturen der Wildnis. Sie kamen auf ihn zu.

Ebenso wie Thorn.

Hinter seinem Rabenschnabel konnte der Hauptmann nicht lächeln. Aber er zitterte auch nicht allzu schlimm und hatte wieder einen klaren Kopf.

Nun war es seine Aufgabe, Thorns Aufmerksamkeit so lange wie möglich zu erregen.

Er sollte es gut machen.

Er griff mit seiner Macht in die Dunkelheit hinein und befahl den Kreaturen der Wildnis, die sich in seiner Nähe befanden, ihm zu dienen, so wie seine Hexe von Mutter es ihn gelehrt hatte. Dabei hatte er sich geschworen, dies niemals zu tun. Aber das hier war sein letztes Gefecht. Nun musste er die Eide eines wütenden Kindes beiseitefegen …

Lissen Carak · Thorn

In der Herausforderung durch die dunkle Sonne lag tiefe Verachtung.

Auf der anderen Seite des Grabens zwang sie die Kobolde unter ihren Willen.

Thorn schrie vor Wut, als wäre er besiegt worden. Er schlug jede Vorsicht in den Wind und sprang über den brennenden Graben.

Lissen Carak · Der Rote Ritter

Der Hauptmann war von Kobolden umgeben. Sie drängten sich um ihn, während ihr beißender Gestank unter seinen Helm stieg.

Er war diesen Kreaturen noch nie so nah gewesen, und trotz seiner Abneigung gegen sie fand er es unmöglich, gewisse Dinge an ihnen nicht zu bemerken: dass ihre sanften Panzer wie Rüstungen geformt waren, oder dass ihre menschlichen Arme aus den Brustpanzern herausragten …

Er wartete auf den Gnadenstoß … doch er hielt die Kreaturen in seinem Bann, und all ihre Gedanken waren auch die seinen.

Dies war es, wozu er erschaffen worden war. Wohin er gelenkt und worauf er vorbereitet worden war.

Und er machte sich an die Arbeit.

Er war in dem Zimmer seines Palastes, und Prudentia war von ihrem üblichen Sockel herabgestiegen und stand jetzt vor der eisenbeschlagenen Tür. Zwar drückte sie mit ihren Steinarmen dagegen, und trotzdem erzitterte das Holz in den Angeln.

»Er kommt dich holen«, sagte sie.

»Öffne die Tür«, gab er zurück und versuchte, sein Grauen zu unterdrücken.

»Er will, dass du dich ihm im Äther entgegenstellst! Er will deine Macht fressen, du anmaßendes Kind!«, rief Prudentia. »Hörst du ihn nicht?«

Der Hauptmann hörte das Siegesgeschrei durch den Äther hallen. »Ich könnte ein wenig Rat gut gebrauchen«, entgegnete er.

»Stell dich nicht gegen die Mächte der Welt, bis du viel, viel mächtiger bist«, sagte Prudentia in sachlichem Ton. »Aber wenn rohe Gewalt nicht mehr hilft, dann musst du dir mit List helfen. Denk immer daran, Junge, dass er die Grenzen deiner Macht nicht kennt. Er nennt dich die dunkle Sonne.«

Ein guter Rat. Aber er wusste nicht, was er damit anfangen sollte. Er griff nach Harmodius und öffnete die Tür.

Da war Thorn.

Er hatte den Feuergraben überquert und stand nun rauchend da. Der beißende Gestank seiner Wunden stieg in Rauchfahnen auf, während er von dem Feuer im Graben erhellt wurde.

Der Hauptmann hustete.

Thorn ragte über ihm auf, obwohl er noch eine ganze Pferdelänge von ihm entfernt war, und der Hauptmann erkannte, dass der plötzliche Anprall der Lanzen ihn verletzt haben musste. Etwas Dunkles und Wässeriges quoll aus einer tiefen Grube in seiner Brust.

Du hast geglaubt, du seiest mir überlegen, mickriges Wesen.

Der Hauptmann bekämpfte die Welle der Übelkeit, die ihn zusammen mit der Angst überschwappte. Was immer Thorn auch sein mochte, seine Gegenwart brachte Schrecken, Abscheu und ein tiefes, krank machendes Gefühl von Bedrückung und Gewalt mit sich. Der Hauptmann kämpfte dagegen an. Für eine lange, lange Zeit war alles, was er sah, seine Mutter, die ihm versprach, dass …

Du hast es gewagt, dich mir entgegenzustellen. Weißt du überhaupt, wer ich bin?

Der Hauptmann erzitterte im Griff des Grauens. Sein rationales Bewusstsein begriff, dass nur die unsichersten Wesen solche Fragen stellten.

Und er hatte die Erfahrung eines ganzen Lebens, den Mutigen zu spielen, auch wenn er sich eigentlich nur zu einer Kugel zusammenrollen und weinen wollte. Es war wie ein Streit mit seiner Mutter.

Er wirkte einen Zauber – es war kein Angriff, sondern eine feine Verstärkung seiner Rüstung.

Dann hob er sein Schwert. »Nun«, sagte er. Sein Versuch, beherrscht zu sprechen, klang ein wenig hysterisch. »Nun«, wiederholte er, und jetzt war seine Stimme gleichmäßiger. Auf diese Weise hatte er seine Mutter stets gereizt. »Ich habe erfahren, dass du der Magus des Königs warst.«

Thorn beugte sich nach unten und schlug den Hauptmann mit der gigantischen, heißen Hand zu Boden. Er hatte den Schlag kommen sehen, seine Fäuste hatten seinem Willen gehorcht, sein Schwert war nach oben gefahren, und die Klinge zerschmetterte, als sie auf die skelettartige Hand des Zauberers traf. Die Macht von Thorns Schlag traf den Hauptmann durch die Stahlrüstung, obwohl seine Macht sie noch verstärkte.

Ich bin unendlich viel größer als der bloße Mensch, der ich als Magus des Königs war.

Dem Hauptmann wollte kein Lachen gelingen – nicht einmal ein Kichern. Aber er stand wieder auf, so wie er es immer getan hatte, wenn er von seinen Brüdern geschlagen worden war.

Thorn hob die Hand.

Ein Finger fiel ab.

Der Hauptmann verspürte eine wilde, dumme Freude. Er warf die Reste seines Schwertes fort und zog stattdessen seinen Dolch. »Du bist nur eine der vielen Mächte, die zur Wildnis gehören, Thorn.« Er holte tief Luft, obwohl seine Rippen stark schmerzten. »Werd nicht größenwahnsinnig, denn sonst wirst auch du gefressen werden.«

Guter Schuss, murmelte Harmodius im Palast seiner Erinnerung. Fast fertig.

Eine Pause entstand, als stünde die Erde still. Der Hauptmann versuchte Amicias Gesicht zu sehen – er versuchte in seinem letzten Augenblick an etwas Würdiges, Edles oder auch nur Menschliches zu denken, das nicht aus der Furcht geboren war und ihn nicht als Sklaven dieser Kreatur sterben ließ.

Aber er vermochte es nicht.

Halt durch, sagte Harmodius.

Du forderst mich heraus?

Der Rote Ritter drückte das Rückgrat durch, richtete sich so hoch wie möglich auf und sagte: »Meine Mutter hat aus mir die größte Macht der gesamten Wildnis gemacht.« Er atmete noch einmal tief ein – und sprach den nächsten Satz wie einen Schwerthieb. »Du bist doch bloß ein emporgekommener Kaufmannssohn, der versucht, die Verhaltensweisen der ihm Überlegenen nachzuahmen.«

Er befahl den Kobolden: Tötet Thorn! Und die Masse richtete die Waffen gegen ihren früheren Herrn.

Sie alle trafen, aber keiner von ihnen vermochte die glimmernde grüne Panzerung zu durchdringen. Er schloss die eine knorrige Faust.

Kobolde starben.

Die Wut des Zauberers war gedankenlos, nachdem Beleidigung über Beleidigung auf ihn getürmt worden war. Thorn brüllte: Du bist gar nichts! Schneller als der Hauptmann parieren oder auch nur reagieren konnte, schlug Thorns Faust zu und warf ihn erneut zu Boden, doch diesmal spürte er, wie Knochen in ihm brachen. War es das Schlüsselbein? Auf alle Fälle waren es die Rippen.

Plötzlich befand er sich in seinem Palast. Prudentia stand dort mit einem hübschen jungen Mann in schwarzem Samt, bestickt mit Sternen. So groß war seine Angst und Verwirrung, dass es einige Herzschläge dauerte, bis er erkannte, dass der Fremde Harmodius war.

Aber er konnte den Palast in seinem Geist nicht erhalten. Er hatte zu viel Angst, und als Harmodius den Mund öffnete, lag er wieder auf dem Rücken, und die Schmerzen waren beträchtlich. Vermutlich hatte ihn seine Rüstung vor dem Tod bewahrt. Nicht aber vor den Schmerzen.

Das war ein Witz.

Er spannte seine Bauchmuskeln an, um sich herumzurollen und wieder auf die Beine zu kommen.

Da war Thorn.

Warum bist du noch nicht tot?, fragte Thorn.

»Gute Rüstung«, sagte der Rote Ritter.

Ah! Ich kann deine Macht sehen. Ich werde sie für mich selbst nehmen. An dich ist sie verschwendet. Wer bist du? Du bist nicht anders als ich.

»Ich habe eine andere Wahl getroffen«, antwortete der Hauptmann. Das Atmen fiel ihm schwer, doch jetzt erfüllte ihn Stolz. Er hielt stand.

Thorn wirkte einen Zauber – hell wie ein Sommertag und schnell wie ein Blitz.

Der Rote Ritter parierte und lenkte ihn mit einem Blitz aus silbrigem Weiß in den Boden.

Jetzt verstehe ich. Du wurdest erschaffen. Du wurdest gebaut. Ah! Faszinierend. Du bist doch keine hässliche Spottgeburt, dunkle Sonne. Du bist ein gescheiter Hybrid.

»Der von Gott verflucht ist. Und der von allen rechtschaffen denkenden Menschen gehasst wird.« Der Hauptmann zog Kraft aus der reinen Verzweiflung. Da ihm nichts anderes mehr blieb, wollte er wenigstens seine Angst besiegen, so wie er sie schon tausendmal besiegt hatte.

Die Zeit der Menschen ist vorbei. Siehst du es nicht? Die Menschen haben versagt. Die Wildnis wird die Menschen zerschmettern, das Rehkitz und das Bärenjunge werden ihre Mütter fragen, wer die Steinstraßen gebaut hat, und die Fee wird um ihre verlorenen Spielzeuge weinen. Schon jetzt sind die Menschen nur noch ein schwacher Schatten dessen, was sie einmal ausmachte.

Doch du bist kaum ein Mensch zu nennen. Warum klammerst du dich an sie?

Das Atmen mochte ihm schwerfallen, aber er wurde allmählich ruhiger. Und Ruhe bedeutete die Beherrschung des Ätherischen.

Hoffnung erzeugte jedoch bloß weitere Angst. Aber Angst war der Ozean, in dem er schwamm, und er griff in die Angst hinein – er nutzte sie.

Er war wieder im Palast seiner Erinnerung, griff nach Amicia, die seine Hand packte und ebenso die von Harmodius, die der Äbtissin und die von Miram. Und die von Meg. Und die jeder überlebenden Nonne, die in der Kapelle sang.

Er beherrschte seine eigenen Gedanken.

Und wob sein bevorzugtes Phantasma.

»Heilige Barbara, Despoina Athena, Herakleitus«, sagte er und deutete auf jede der jeweiligen Statuen, während er die Namen aussprach. Der große Raum drehte sich.

Prudentia streckte ihm von ihrer Säule aus die Hand entgegen und ergriff seine Schulter. Sie lächelte ihn an. Es war ein trauriges Lächeln. Dann packte sie auch seine freie Hand. »Lebe wohl, mein guter Junge. Ich hatte dir noch so vieles zu sagen. O Philae pais …«

Er wurde mit Macht durchflutet – Macht wie Schmerz, wenn er jenseits aller möglichen Lüste aufsteigt – wie Sieg. Wie Niederlage, wie Hoffnungslosigkeit und Hoffnung. Und dort blieb er eine Ewigkeit, in der Schwebe zwischen allem und nichts.

Wie die Liebe, wenn die Liebe unerträglich wird.

Was meinte sie mit »Lebe wohl«?

Er war in der beißenden Nachtluft zurück.

Er fragte sich, ob die Ruhe, die ihn durchströmte, künstlich sein mochte.

Thorn beugte sich über ihn und löschte das Licht der Sterne.

Du gehörst zu uns. Nicht zu ihnen.

Der Hauptmann lachte; es war ein Lachen, das ihm sehr viel wert war. »Es gibt kein uns, Thorn. In der Wildnis gibt es nur das Gesetz des Waldes und die Herrschaft des Stärkeren. Und wenn ich mich zu euch geselle, werde ich deine Bedürfnisse den meinen unterwerfen.«

Zur Bekräftigung sandte der Hauptmann den Befehl aus, so wie es ihn seine Mutter gelehrt hatte. Kniet nieder.

Mehr als zwei Drittel der überlebenden Kobolde fielen sofort auf die Knie.

Es befriedigte ihn zutiefst zu sehen, wie Thorn so zusammenzuckte, dass sich seine verkohlten Zweige schüttelten, als führe ein starker Wind durch sie.

Während er mit dem Feind Worte wechselte, sich damit kostbare Zeit erkaufte und der Schmerz der Macht in ihm stärker wurde – der größten Macht, die er je gespürt hatte, als ob die personifizierte Liebe sein Phantasma antreibe … währenddessen wusste der Hauptmann zwischen zwei Herzschlägen, was Prudentia getan hatte.

Sie hatte nicht die Tür geöffnet, was Thorn erlaubt hätte, ihn in seinem Innern zu ergreifen.

Sie hatte ihr eigenes Ende herbeigeführt und als phantasmatisches Gebilde ihre eigene Macht und die Macht ihrer Schöpfung in den Hauptmann hineingegossen. Das erklärte das Gefühl der Liebe.

Oh, der Liebe!

Ich mache Feuer, sagte er im reinsten Hocharchaisch.

Lissen Carak · Thorn

Thorn spürte das Anschwellen der Macht – einer so süßen Macht mit einem Geschmack, den er inzwischen vergessen hatte. Er verlor das Tausendstel eines Herzschlags bei dem Versuch, sie zu bestimmen. Erst dann griff er nach seinem Schild aus stahlhartem Willen.

Erinnerst du dich nicht mehr an diesen Geschmack, mein Süßer? Dieser Geschmack ist die Liebe, und einst warst du zu ihr fähig.

Die Dame war in seinem Kopf – an seinem Ort der Macht, nackt, bloß, und bot sich ihm an.

Verwirrt – in einem Sturm aus Wut und Hass – schlug er nach ihr.

Und während er nach ihr schlug, hatte er seinen Schild nicht aufgerichtet.

Lissen Carak · Die Äbtissin

In fast vollständiger Dunkelheit stand die Äbtissin in der Kapelle. Ihr Haar fiel offen herab, die nackten Füße berührten die Glasscherben. Ihre Nonnen befanden sich dicht gedrängt hinter ihr, während ihre Stimmen sich zu heiliger Musik erhoben.

Harmodius stand neben ihr, hielt seinen Stab in der Hand, trieb den Gesang der Macht in die Finsternis hinaus, in den labyrinthischen Geist des jungen Mannes auf dem Felde dort unten, der einem Ungeheuer gegenüberstand …

Auch sie hatte einem Ungeheuer gegenübergestanden. Einer Vielzahl von Ungeheuern sogar, von denen etliche ihrem eigenen Wirken entsprungen waren. Sie hatte dieses Wesen geliebt, das nun den Untergang von allem betrieb, was sie ebenfalls liebte …

Sie traf ihn mit ihrer ganzen Enttäuschung und Liebe sowie mit den vielen Jahren des Verlustes. Sie goss die Liebe ihres Gottes in seine Wunden hinein und fügte ihre eigene Verachtung noch hinzu, weil er sie verlassen hatte und zum Verräter an der Menschheit geworden war. Weil er ihre Gaben genommen und damit diese Schändlichkeit erschaffen hatte.

Sie verletzte ihn.

Und er schlug zurück. Aber etwas schränkte ihn ein, und noch – noch – zögerte er, sie zu verletzen.

Sie traf ihn erneut. Sie hatte jahrelang Zeit gehabt, ihr Zögern zu überwinden.

Lissen Carak · Die Näherin Meg

Meg stand in einer der zerstörten Straßen der Unterstadt und spürte, wie die alte Äbtissin mit dem Feind kämpfte. Es war erschreckend, aber sie konnte die Macht der Äbtissin empfinden und hob mitfühlend die Hände. Die Näherin war nicht ausgebildet und besaß nur wenige Kenntnisse, aber ihre sorgsam angestaute Macht goss sie trotzdem in die Äbtissin hinein.

Die Äbtissin lächelte triumphierend.

Pater Henry erhob sich hinter dem Altar, spannte den Bogen mit den Zähnen und schoss.

Aus der Dunkelheit drang ein Schrei der Wut.

Die Äbtissin kreischte wie eine Seele unter der Folter und wurde auf das Gesicht geworfen. Sie war tot, bevor sie auf den Steinboden traf.

Blut quoll aus ihren Augen, während sie still dalag; ein bösartiger schwarzer Pfeil steckte in ihrem Rücken.

Feuer – ein reines Feuer aus kristallinem Blau, Prudentias Lieblingsfarbe – umhüllte Thorns sterbliche Hülle. Die Hitze war enorm.

Und aus dem Feuer stieg Rauch auf – ein fetter, weißer Rauch, schimmernd und lebendig, mehr als weiß sogar, mehr als Rauch, und der Hauptmann spürte, wie Harmodius den Rauch durch ihn hindurchsandte, durch seinen Ort der Macht, an seinem Arm entlang und in die Luft um ihn herum. Es war ein subtiler Zauber – heimtückisch, klug, der Nebel aus einer Million Spiegel.

Sie hatte ihm wehgetan, hatte ihm so sehr wehgetan. Und auch die dunkle Sonne hatte ihm wehgetan, und nun schrie er vor Qualen. Ein Augenblick der Reue – und die Kosten waren verheerend gewesen.

Aber er war gerettet – sie war tot, ihr Licht war erloschen, und nicht durch ihn. Eine andere Macht hatte sie niedergestreckt, und er war dieses Verbrechens nicht schuldig. Er drehte sich um und fühlte sich stark genug, diesen Heuchler zu erledigen.

Innerlich zuckte er jedoch unter dem Bewusstsein zusammen, dass sie tot war.

Es hatte geschehen müssen.

Es hätte nie geschehen würfen.

Aber – zu spät! Er spürte die Magie seines ehemaligen Lehrlings, das verwickelte und vielschichtige Phantasma war das Erkennungszeichen dieses Jungen – farbiger Rauch, so still, so harmlos, so komplex …

Er sprang an Harmodius’ Magie entlang, so wie er an der magische Linie seiner Geliebten entlang angegriffen hatte.

Harmodius spürte die Macht seines früheren Meisters herankommen.

Sein Gegenschlag war so fein und kaum erkennbar, dass es ihn fast keine Kraft kostete. Er verließ sich auf die Anmaßung seines Gegners und sein Gefühl für die eigene Macht.

Lissen Carak · Thorn

Thorn tötete den Lehrling ohne Mühen, auch wenn er aus irgendeinem Grund die gewaltige Macht des Mannes für sich selbst nicht nutzbar machen konnte. Das war typisch für ihn – lieber verschwendete er seine Macht, als sie seinem Meister zu übergeben. Sein früherer Lehrling fiel inmitten des Nonnenchores auf den Rücken. Hätte er Zeit gehabt, dann hätte er dieses Nest ausgeräuchert, aber die dunkle Sonne drang noch immer mit ihrem seltsamen blauen Feuer auf ihn ein.

Wäre Thorn ein Mensch gewesen, hätte er gelacht. Oder geweint.

Stattdessen raste sein Bewusstsein jedoch wieder zu der Ebene unter der Festung, wo seine Hülle vom Feuer verzehrt zu werden drohte.

Nach einem weiteren Herzschlag hatte er das blaue Feuer mit seiner Macht gelöscht.

Er war überrascht – und besorgt –, als er sah, wie schwer verletzt er war. Wieder musste er den anderen schwach erscheinen.

Er hatte keine Zeit für eine eingehendere Untersuchung. Inzwischen war er so schwer verwundet, dass ihn sogar eine der niederen Mächte überwältigen konnte.

Er hob seinen Stab und war verschwunden.

Lissen Carak · Der Rote Ritter

Lauf, Junge!, rief Harmodius.

Der Hauptmann versuchte zu laufen.

Er hastete zwischen den am Boden liegenden Kobolden umher. Er zwang sich weiterzulaufen, taumelte dahin und wartete auf den Pfeil im Rücken, der sein Leben beenden würde. Er stand im Palast, das Podest war leer. Prudentias Statue lag kalt und reglos auf dem Boden.

Verdammt.

Trauern konnte er später, falls er dann noch lebte.

Er sprang auf das Podest und rief seine Namen.

Honorius! Hermes! Demosthenes!

Verzweiflung, Glück und starker Wille.

Lebe wohl, Prudentia! Du hattest Besseres verdient als alles, was ich dir jemals geben konnte!

Er rannte zur Tür und zog sie auf.

Das Flackern eines Zaubers – Thorn streckte seine inneren Fühler aus, um die Quelle zu finden. Die dunkle Sonne befand sich noch auf dem Schlachtfeld. Wirkte sie nach wie vor ihre Magie?

Ich bin schwer verletzt, gestand er sich ein. Dann rief er seine Leibwache und gab den Befehl zum Rückzug.

Lissen Carak · Der Rote Ritter

… lud sein Phantasma mit Macht auf und warf die Tür wieder zu.

Sein Körper sprang hoch, segelte durch die erhitzte Luft und fiel wieder auf die Erde – eine Handbreit entfernt von der Mauer, die den Graben begrenzte.

Der Hauptmann wandte sich von dem Feuer ab, sah eine Keilformation aus Rittern, ihre spiegelhellen Rüstungen wirkten wie flüssiges Feuer in der rauchgeschwängerten Dunkelheit. Unsicher regten sich im Norden die Kobolde.

Ein Dämon hob herausfordernd seine Äxte.

Aber die Ritter hielten nicht zum Kampfe an. Während der Hauptmann lief, packten ihn starke Arme, einer unter jeder Schulter, und er wurde über den Boden gehoben, als hielte ihn ein großer Vogel in seinen Krallen.