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Albinkirk (Südfurt) · Ranald Lachlan

Als Ranald Lachlan seine Späher zum Ufer des Albin hinunterführte, mochte er seinen Augen kaum trauen.

Fünfzig große Boote, die wie Galeeren aussahen, lagen im Fluss. Die Flotte bedeckte das Wasser mit vier langen Reihen, und die Ruder fuhren wie die Beine eines auf dem Wasser laufenden Insekts vor und zurück.

Hinter ihm flatterte die königliche Standarte von Albia in der Brise über den Tortürmen von Albinkirk. Und auf den Feldern bei der großen Brücke waren keine Feinde mehr zu sehen. Es war wie ein Traum, denn das vertraute Gelände wirkte so verlassen.

Ranald saß auf seinem Pferd und beobachtete das Vorankommen der großen Flussschiffe. Während er zusah, wendeten sie plötzlich alle zusammen beim Aufblitzen eines großen Bronzeschildes, und auf einmal brachen die vier Reihen zu vier Linien auseinander, die auf das Nordufer zuhielten. Auf seine Seite des Ufers.

Er trieb sein Pferd langsam zum Landesteg, wo früher die Fähre angelegt hatte, und winkte.

Eine Frau im Bug der größten Galeere winkte zurück. Es war eine beeindruckend schöne Frau in einem weißen, fließenden Übergewand. Er musste seinen ganzen Willen aufbieten, um den Blick von ihr abzuwenden. Aus seinen Jahren im Süden kannte er sie gut.

Es war Königin Desiderata.

Unwillkürlich legte sich ein Lächeln über sein Gesicht und wurde breiter, bis er schließlich lauthals lachte.

Albinkirk · Desiderata

»Wer ist das?«, fragte Desiderata ihre Jungfern neckisch. Sie stand im Bug und winkte. »Ich habe den Eindruck, ihn zu kennen.«

Lady Almspend stand neben ihr und winkte ebenfalls. »Das ist Ranald, der barbarische Hochländer, Mylady«, sagte sie fröhlich.

Desiderata grinste ihre Schreiberin an. »Ihr scheint Euch zu freuen, ihn zu sehen«, sagte die Königin.

Lady Almspend setzte sich ein wenig zu schnell. »Er … hat mir ein wunderbares Buch geschenkt«, bemerkte sie zögerlich.

Die anderen Damen lachten, doch es klang nicht unfreundlich.

»Ist es ein dickes Buch gewesen?«, fragte eine von ihnen.

»Sehr alt?«, wollte eine andere wissen.

»Vielleicht eher eine schöne, dicke Rolle?«, meinte Lady Mary.

»Meine Damen«, tadelte die Königin. Die Ruderer kamen aus dem Gleichgewicht, da sie schallend lachten. Trotz der Strömung schien das Ufer auf sie zuzutreiben.

Als sie den Landungssteg erreicht hatten, trat die Königin auf das Dollbord und sprang von dort auf den Pier.

Ranald Lachlan, an den sie sich sehr wohl erinnerte, verneigte sich zuerst tief und kniete dann vor ihr nieder.

Sie reichte ihm die Hand. »Es ist lange her, seit du in meiner Brautgarde gedient hast.«

Er lächelte sie an. »Es war mir ein Vergnügen, Mylady.«

Sie blickte an ihm vorbei zum breiten Ufer hinüber, an dem Donald Redmane die Reiter hatte absteigen lassen. »Du hast hier eine kleine Armee. Willst du dem König zu Hilfe kommen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Mein Vetter hat im Gegenteil eine kleine Armee verloren, Mylady. Wir haben gegen die Hinterwaller gekämpft. Aber ich besitze tausend Rinder und ein paar Schafe, die ich gern an die königliche Armee verkaufen würde.«

Sie nickte. »Ich werde sie alle nehmen. Wie lautet dein Preis?«

Wenn ihre Art und ihr Tonfall ihn überraschten, dann zeigte er es jedenfalls nicht. »Drei Silbermark für jeden Kopf«, sagte er.

Sie lachte. »Du bist ein hartnäckiger Händler«, meinte sie. »Ist es ritterlich, mit der Königin zu feilschen?«

Ranald zuckte noch einmal die Achseln, aber er konnte sich nicht davon abhalten, ihr in die Augen zu sehen. »Lady, ich könnte jetzt sagen, dass ich kein Ritter, sondern ein Viehtreiber bin. Und ich könnte auch sagen, dass ich ein Hochländer und daher in keiner Weise Euer Untertan bin.« Er grinste, während er weiterhin vor ihr kniete. »Aber derjenige, der sich weigert, Euch als seine Königin anzuerkennen, muss ein grober Bastard sein und hat nicht das Recht, ein Mann genannt zu werden.«

Erfreut klatschte sie in die Hände. »Du verkörperst den Geist des Nordens, Ranald. Eine Mark für jeden Kopf.«

»Und Ihr, Mylady, seid die Verkörperung der Schönheit, aber für eine Mark hätte ich sie auch an den Kastellan von Dormling verkaufen können. Zwei Silbermark für das Stück.« Seine Augen richteten sich auf etwas hinter ihr, und sein Lächeln wurde noch strahlender.

»Du erinnerst dich offenbar an die sehr gelehrte Lady Almspend, meine Sekretärin?«, meinte die Königin. »Anderthalb.«

»Anderthalb hier, auf dieser Seite des Flusses?«, fragte er und verneigte sich noch einmal tief, diesmal vor ihrer Schreiberin, die lächelnd auf dem Dollbord stand. »Zwei, wenn ich die Tiere zuerst auf die andere Seite treiben muss.«

»Was ist er wert, ein Kuss?«, sang Lady Almspend. Dann errötete sie, über ihre eigene Kühnheit entsetzt.

»Alles!«, rief er zurück. »Aber das sind nicht meine Rinder, und deshalb kann ich sie nicht für einen Kuss hergeben, meine Liebste.« Dann lenkte er jedoch ein. »Euer Gnaden, mein Preis beträgt zwei Mark, aber ich werde sie dorthin treiben, wo Ihr sie haben wollt, und ich werde meinen Leuten befehlen, Euer Gnaden zu dienen.«

Die Königin nickte. »Gekauft. Holt mir den Kapitän der Flotte. Tausend Rinder müssen über den Fluss gesetzt werden.« Dann wandte sie sich wieder an den Hochländer. »Willst du trotz des elenden Geldes, das du jetzt erworben hast, noch immer einen Waffengang mit mir wagen?«

Sie legte besonderen Nachdruck in ihre Stimme, da sie eine plötzliche Kälte in ihm erkannte – etwas Abwesendes, einen Schrecken, der erst vor Kurzem vorübergegangen war –, und ihre Stimme liebkoste ihn wie flüssiges Gold.

Der Hochländer sah sie vorsichtig an. »Was ist das für eine Art von Waffengang?«

»Welcher Ritter fragt danach, was für eine Tat von ihm verlangt wird? Also wirklich, Ser Ranald«, sagte sie und hakte sich bei ihm unter.

»Ich bin kein Ritter«, wandte er ein. »Außer vielleicht in meinem Herzen«, fügte er hinzu.

Sie lächelte Lady Almspend an. »Wir müssen etwas tun, um das zu korrigieren.«

Am Ufer über ihnen beobachtete Donald Redmane seinen Vetter und die Königin.

»Was passiert da?«, fragte einer der Jungen.

»Wir haben soeben unsere Herde an die Königin verkauft«, antwortete Donald. »Was ist eine albische Mark wert?«, fragte er und zuckte die Schultern. »Aber erst einmal müssen wir lange genug leben, um das Geld auch ausgeben zu können.«

Lissen Carak · Harmodius

Harmodius lauschte der wütenden Menge und hielt den Kopf gesenkt. Fast alle Macht war aus ihm abgeflossen. Er brauchte mehr Zeit zur Erholung, und das Letzte, was er jetzt ertragen konnte, war eine Begegnung mit unverständigen Hexenjägern.

Damit sollte sich der Junge allein abgeben.

Behutsam zog er sich an. Die alte Äbtissin war nie seine Freundin gewesen, aber jetzt, da sie tot war, musste er sie bewundern. Sie hatte eine Macht bewiesen, die sie in ihrer Jugend nicht besessen hatte – und sie hatte diese Macht wundervoll entwickelt. Sie hatte den Feind lange Zeit hingehalten, während Harmodius seinen Meisterschlag vorbereitet hatte.

Doch leider war dieser Meisterschlag nicht ganz geglückt. Allerdings war sie nicht umsonst gestorben. Die Festung stand noch. Und der Bart des Feindes war schlimm versengt worden.

Wieder einmal.

Harmodius stellte sich vor, wie er vor dem Pult in Harnford stand, den Stab in der Hand, und eine Vorlesung über Hermetik hielt. Ich habe die Fundamente dessen, was wir Wirklichkeit nennen, inmitten eines Krieges erkannt, würde er sagen, und inmitten eines anderen Krieges habe ich gelernt, diese Fundamente zu manipulieren. Oder vielleicht würde er auch sagen: Ich habe die Welt für die Menschheit gerettet, aber ich habe lediglich auf den Schultern von Giganten gestanden. Das war besser. Ziemlich gut sogar.

Und nun würden all ihre Geheimnisse mit ihr ins Grab sinken, und ihre Seele stiege dann zu ihrem Schöpfer auf.

Harmodius fuhr sich mit den Fingern durch den Bart.

Was wäre, wenn …

Was wäre, wenn alle Macht der Welt aus einer einzigen Quelle strömte?

So war es doch, oder? In gewisser Weise war es eine Binsenweisheit.

Grün oder golden, weiß oder rot? Macht. Es war nur Macht.

Und das bedeutete …

Nichts Gutes. Nichts Böses. Kein Satan. Kein … kein Gott?

Bedeutete es das wirklich? Befanden sich tatsächlich weniger Engel auf dem Kopf einer Stecknadel, wenn alle Macht aus einer einzigen Quelle kam?

Ihm wurde schwindlig.

Was war, wenn Aristoteles unrecht hatte?

Er konnte kaum mehr atmen. Es war die eine Sache, so etwas zu denken. Doch eine andere, um die Wahrheit zu wissen.

Er taumelte die enge Treppe hinunter zum Gemeinschaftsraum des Dormitoriums und zwang auf seinem Weg zur Kapelle einen Fuß vor den anderen.

Tom Schlimm erschien an der Seite des Hauptmanns. Dieser gab sein Bestes, um wie ein Mitglied der Kongregation zu wirken. Er hatte gerade ein Kirchenlied gesungen. Dabei hielt er sich gut.

Sie hatte gewollt, dass er es versteht.

Er kniete nieder, sobald sich die anderen niederknieten. Schwester Miram zelebrierte die Messe in Abwesenheit des Priesters, doch dies schien keine Kommentare hervorzurufen.

Ich schwöre bei meinem Namen und meinem Schwert, dass ich Euch rächen werde, Mylady.

»Mylord?«, fragte Tom dicht neben ihm.

»Nicht jetzt.«

»Jetzt, Mylord«, beharrte Tom.

Der Hauptmann sah seinen Korporal finster an, stand auf, begab sich in das Mittelschiff, kniete vor der gekreuzigten Gestalt nieder, die vor ihm aufragte, und ging dann zur Tür zurück. Alle Köpfe drehten sich zu ihm um.

Zu dumm.

»Was ist los?«, brüllte er, als er draußen war. Die Nonnen sangen die tote Äbtissin zur Ruhe – jede Stimme im Gewebe der Musik war ein Faden der Macht. Unbeschreiblich schön.

Tom sah zu der Tür hinüber, die in die Kellergewölbe führte. »Ich hasse diesen Priester; möge Gott seine verrottete Seele zur Hölle schicken. Ich hab ihn in den dunkelsten Raum da unten eingesperrt.« Die Wut erstickte seine Stimme beinahe.

Der Hauptmann nickte.

»Du hast sie auch sehr geschätzt.«

Tom zuckte die Achseln. »Sie hat mich gesegnet.« Er wandte den Blick ab. »Dieser Priester wird kaum totzukriegen sein.«

Der Hauptmann nickte noch einmal. »Zuerst klagen wir ihn wegen Verrats an«, sagte er.

Tom stellte sich mit dem Rücken zur Tür. »Warum soll er einen Prozess bekommen? Ihr seid der Hauptmann einer belagerten Festung. Es gilt das Kriegsrecht.«

Lissen Carak · Gerald Random

Gerald Random bahnte sich vorsichtig einen Weg durch den Graben des Hauptmanns und folgte Ser Milus. Er kletterte über die gekochten Leiber Hunderter Kobolde, deren angesengte Leichen ein Zeichen für die Macht des Feuers waren. Sie rochen wie gebratenes Fleisch, und als er einmal das Gleichgewicht verlor und auf einen von ihnen traf, knirschte es, als trete er auf Holzkohle. Er blieb stehen.

Auf seiner Haut prickelte es.

Der Jäger Gelfred schritt an ihm vorbei, ging schneller, während seine Augen wachsam umherblickten. Dem Söldner schien es gleich zu sein, wenn er auf einen der verbrannten Kobolde trat.

Random fragte sich, wie lange er so etwas tun musste, bis er zu jemandem wie Gelfred oder Milus werden würde.

Hinter ihm bewegten sich vierzig Männer vorsichtig durch den Graben. Es waren Bogenschützen aus dem Söldnerheer sowie neue Rekruten und Bauernjungen. Die Verstärkung.

Unter der Mauer der Brückenburg kamen sie aus dem Graben hervor und riefen der Wache zu, das Ausfalltor zu öffnen. Random hatte nicht mal die Zeit gehabt, sich eine Rüstung anzulegen. Im Burghof schnappte er sich ein Stück Brot und einen knackigen Apfel, und eine der jungen Huren, die mit der Karawane gezogen waren, reichte ihm ein Stück guten Käse. Er lächelte. »Was treibt ein so schönes Mädchen wie du an einen solchen Ort?«, fragte er. Dora hieß sie. Dora Candle Irgendwie. Dem jungen Nick Draper gefiel sie, und Allan Pargeter hatte sie nackt gezeichnet, inmitten all des Aufruhrs von Magie und Monstren. Random musste lachen.

Sie lächelte ihn an. »Geld«, gab sie zurück. »Es ist wie bei Euch.«

Er schüttelte den Kopf und lachte abermals. »Wenn wir nach Harndon zurückkommen, musst du mich bitten, dir eine Arbeit zu verschaffen.«

Sie sah ihn eindringlich an. »Meint Ihr das ernst?«, fragte sie.

Er zog eine Grimasse. »Natürlich.«

Sie rollte mit den Augen. »Und das jetzt, wo wir alle sterben werden.«

Lissen Carak · Der Rote Ritter

Der Hauptmann spähte durch das Loch in der Wand und sah die Feuer in einer breiten Schneise quer durch das feindliche Lager brennen. Die Männer des Feindes kochten ihr Abendessen.

Der Rest des Lagers war dunkel.

Sein Rücken schmerzte. Ebenso wie seine Flanke, außerdem waren seine Rippen auf beiden Seiten des Brustkorbes angebrochen. Die Schultern waren gezerrt worden, als ihn seine Ritter vom Boden aufgehoben hatten, und die rechte Hand hatte seltsam taube Stellen, deren Ursache er nicht kannte.

Eigentlich sollte er im Bett liegen.

Toby stand unsicher bei der Tür.

»Ich vermute, du möchtest ins Bett gehen«, sagte er.

Toby zuckte die Achseln. »Ich bin hungrig«, sagte er.

Der Rote Ritter trat zum Tisch in der Mitte des Raumes und warf seinem Diener einen Keks zu.

Dann sah er die Laute auf dem Tisch. Er hatte sie nicht mehr gespielt seit …

Er konnte sich nicht mehr erinnern.

Er nahm sie auf, fällte eine Entscheidung und ging in den Korridor hinaus. Toby versuchte ihn daran zu hindern.

»O Toby«, sagte er. »Es ist mir egal.« Er klopfte an der Tür zu seiner Kommandantur.

Nach drei Herzschlägen war Michael da.

»Nimm deine Laute«, sagte der Hauptmann. »Guten Abend, Miss Lanthorn. Michael, diese Leute brauchen ein wenig Musik. Die grimmige Stille bekommt ihnen nicht. Wir sollten ein Feuer entzünden.«

Manchmal vergaß Michael, dass sein Herr nur wenige Jahre älter war als er selbst. Er grinste. »Gebt mir – uns – einen Moment.«

Lissen Carak · Die Näherin Meg

Meg spähte in die Dunkelheit hinaus, denn sie hörte Musik.

Da war sie wieder, es war der Klang einer Laute. Ein wilder, fröhlicher Klang.

Und dann antwortete eine weitere, tiefer gestimmte Laute.

Auf den Pflastersteinen brannte ein Feuer.

Cuddy, einer der Bogenschützen, sah aus dem Nordturm. Er rief etwas.

Amy Carter lugte aus der Stalltür hervor und sah Kaitlin Lanthorn im Feuerschein tanzen; ihre Beine blitzten auf.

Amy rannte wieder nach drinnen und rieb ihrer Schwester über die Wange. »Sie tanzen!«, rief sie.

Kitty setzte sich auf und war plötzlich hellwach.

Der kleine Sym hörte die Musik unter den Fenstern am Ende des Krankensaals. Er schwang die Beine aus dem Bett, ging leise über den Boden und öffnete eines der Fenster. Der Klang der Musik rauschte wie ein Zauber herein. Er beugte sich hinaus und lauschte.

Die Nonne erschien an seiner Seite. »Was ist los?«, fragte sie.

Sym kicherte. »Der Hauptmann spielt gern. Und schnell.« Er schüttelte den Kopf. »Zumindest hat er das früher getan. Auf dem Kontinent. Hab ihn seit Urzeiten nicht mehr spielen gehört.«

Sie lächelte und lehnte sich ebenfalls aus dem Fenster. »Du magst ihn«, sagte sie.

Sym dachte so lange über ihre Worte nach, dass sie schon keine Antwort mehr erwartete.

Von ihrem hoch gelegenen Aussichtspunkt aus sahen sie, dass die Musik ihren Zweck erreichte. Männer kamen aus den Stallungen und stiegen die Treppen vor den Türmen und Turmstümpfen herab. Frauen kamen aus den Ställen und dem Schlafsaal der Nonnen.

Plötzlich waren so viele Menschen zum Tanzen im Hof, als vorhin bei dem Aufruhr dort gewesen waren.

Die beiden Instrumente wurden jetzt von Pfeifen und einer Trommel unterstützt.

Die Tänzer drehten sich im Kreis.

»Ich hasse ihn nicht«, gab Sym zu.

Amicia drehte sich zu ihm um. »Du bist nicht verloren, Sym«, sagte sie. »Eher bist du ein Held als ein Schurke.«

Er trat von ihr zurück, als ob sie ihn geschlagen hätte. Aber dann grinste er.

Und versteifte sich. »Wohin geht Ihr?«, fragte er, als sie sich vom Fenster abwandte.

Sie lächelte. »Du kannst mich begleiten. Ich will tanzen gehen. Oder wenigstens dem Tanzen zusehen.«

Im Hof streckte Schwester Miram die Arme aus und lächelte den Roten Ritter müde an, der mit dem Rücken zum Feuer gewandt dastand und wie ein Verrückter auf seiner Laute spielte. Sie drehte sich zu Schwester Anne um und befahl, dass ein Fass Bier angezapft werden sollte.

Tom Schlimm stellte einen Soldaten vor die Tür zu den Kellergewölben und einen weiteren vor die Baracken. Er und Jehannes unterhielten sich eine Weile flüsternd hinter dem Feuer, und Jehannes verdoppelte die Wache und zwang einige unwillige Soldaten auf die Mauern, an eine Stelle, wo die Bauern sie deutlich sehen konnten. Jehannes beobachtete Tom, der mit der Tochter der Näherin tanzte.

Meg, Lis und Schwester Mary Rose trugen einen großen Kessel mit Fleischsuppe an die Tür des Dormitoriums. Von dort aus schleppten ihn freudige Bogenschützen und Bauern in den Feuerschein.

Langpfote erschien mit einigen Weinflaschen und übergab sie den ersten Männern, denen er begegnete. Sie brachten einen Trinkspruch auf ihn aus, und die Flaschen wurden herumgereicht, von Soldat zu Bauer, von Bauer zu Soldat, bis sie leer waren.

Einer der Bauern durchwühlte seine Habseligkeiten im Stall und kam mit einer Flasche zurück, in der sich Apfelschnaps befand.

Und die Lauten spielten weiter.

Lissen Carak · Michael

Irgendwann wusste Michael, dass er noch nie so gut gespielt hatte, und er wusste auch, dass seine Finger den ganzen nächsten Tag hindurch schmerzen würden. Kaitlin wirbelte vorbei, sprang in die Luft und wurde von Daniel Favor aufgefangen; Tom Schlimm fasste Megs Tochter Sukey um die Hüfte, und sie, eine Witwe von vierundzwanzig Jahren, quiekte wie ein junges Mädchen. Der kleine Sym drehte sich gerade zusammen mit der achtjährigen Tochter der Wackets, während Schwester Miram und Schwester Mary gemeinsam eine etwas gesittetere Pavane tanzten, da verneigte sich Langpfote auf kontinentale Weise vor ihnen, ergriff Schwester Mirams Hand und führte sie über den Hof. Francis Atcourt beugte sich über Schwester Mirams Hand, und sie lachte und machte einen Knicks. Amicia tanzte mit Ser Jehannes, Harmodius wirbelte Lis herum, als wäre er ein viel jüngerer Mann, und ihre schnellen Füße bauschten ihren Rock so auf, dass er wie der Mantel eines Königs wirkte. Dann wurde Amicia von Ser George Brewes zum Tanz aufgefordert, und der Rote Ritter trank sein viertes Glas vom roten Wein der Äbtissin und spielte weiter. Cuddy kippte die Flasche mit dem Apfelschnaps immer weiter nach hinten – und rollte von dem Fass herunter, auf dem er bis eben gehockt hatte. Er landete auf dem Rücken, bewegte sich nicht mehr, und die Bauern lachten. Mutwill Mordling hatte den Arm um Johne le Bailli gelegt und hielt in der anderen Hand eine Lederflasche. Er sang lauthals, und sein Gesicht loderte im Feuerschein wie das eines Dämons.

Die Carter-Mädchen tanzten nun ebenfalls – einen schnellen, blitzartigen Tanz aus ihrer eigenen Erfindung, und als die Lanthorn-Mädchen, die nicht zurückstehen wollten, in den Kreis sprangen, riss sie die Musik davon. Weitere Flöten fielen ein, und Ben Carter holte einen Dudelsack hervor. Seine Trunkenheit schien von ihm abzugleiten, als er für seine Schwestern spielte. Fran Lanthorn beugte sich aus dem drehenden Kreis und küsste ihn heftig auf die Wange, da sie an ihm vorbeiwirbelte, und er errötete heftig, während seine Melodie ins Schwanken geriet. Doch er fing sie wieder ein und spielte weiter.

Lissen Carak · Michael

Michael und sein Meister erlaubten ihren Fingern eine kurze Ruhepause. Die Lauten fielen aus der geschäftigen Musik, die weiterspielte.

Michael spürte, wie sich die Arme des Hauptmanns um seine Schultern legten. Er befürchtete, gleich weinen zu müssen. Nie zuvor hatte ihn der Hauptmann so umarmt – und auch sonst noch niemanden, soweit er wusste. Er hatte das Gesicht dieses Mannes auch nie so offen gesehen. So – schutzlos.

Und dann war es auch schon wieder vorbei, ging im wirbelnden Dunkel und Feuerschein unter.

Lissen Carak · Thorn

Thorn hörte die Musik. Sie zog ihn an, wie eine Kerzenflamme Insekten und Frösche in einer stillen Sommernacht in den tiefen Wäldern anzog. Schwer stapfte er zum Rand des Waldes und lauschte mit seinen scharfen Sinnen den Lauten der lachenden und tanzenden Menschen und dem Klang von mindestens zehn Instrumenten.

Er lauschte und lauschte. Und hasste.

Lissen Carak · Der Rote Ritter

Der Rote Ritter legte den Kopf in Amicias Schoß. Sie betrachtete die vom Feuerschein erhellte Szene zu ihren Füßen innerhalb der Mauern des Hofes, und er betrachtete die Linie, die ihre Kehle und ihr Kiefer zeichneten. Sie dachte: Wie einfach doch das Glück sein konnte! Und er spürte den Fluss ihrer Gedanken durch ihrer beider ineinander verschlungenen Hände.

Langsam – gletscherhaft langsam – senkte sie ihren Mund auf den seinen.

Neckisch leckte er ihr im letzten Augenblick über die Nase, und sie brachen beide in Lachen aus. Er regte sich, fasste sie unter den Armen, kitzelte sie, und sie kreischte und versuchte ihn zu hauen.

Er setzte sie sich auf den Schoß, beugte sich vor und wollte sie küssen. Sie wölbte den Rücken, damit sie besser an ihn herankam, und ihre Zungen berührten sich, ihre Lippen berührten sich …

Er trank sie, und sie trank ihn. Beide spürten den Kontakt – real, ätherisch, spirituell.

Er zog ihr die Robe über die Hüfte, und sie hinderte ihn nicht daran. Das Gefühl ihrer nackten Flanken entflammte ihn, und so machte er weiter.

Sie unterbrach den Kuss. »Halt«, sagte sie.

Er erstarrte.

Sie lächelte. Leckte sich über die Lippen. Rollte unter ihm weg, so geschwind wie eine Tänzerin. Oder eine Kriegerin.

»Heirate mich«, sagte der Rote Ritter.

Amicia hielt inne. Und erstarrte. »Was?«

»Heirate mich. Werde meine Frau. Lebe mit mir, bis wir sterben, alt und von unseren Kindern und Enkeln umgeben.« Er grinste.

»Das sagst du zu jedem Mädchen, das nicht gleich die Beine öffnet«, meinte sie.

»Ja, aber diesmal meine ich es ernst«, sagte er, und sie versetzte ihm einen Klaps.

»Amicia«, sagte Schwester Miram. Sie stand neben dem Apfelbaum und lächelte. »Ich habe dich beim Feuer vermisst.« Sie sah den Hauptmann an, der sich nun wie ein Schuljunge fühlte. »Sie kann selbst bestimmen, ob sie einen Söldner heiraten oder die Braut Christi sein will«, sagte Miram. »Aber das sollte sie nicht in einer nach Äpfeln duftenden Nacht, sondern bei hellem Tageslicht tun.«

Amicia nickte, doch ihre Augen hinter den halb gesenkten Lidern enthüllten Funken, die der Rote Ritter sah und willkommen hieß. Er sprang auf die Beine und verneigte sich tief. »Dann entbiete ich den Damen eine gute Nacht.«

Miram wich nicht von der Stelle. »Es war ein guter Gedanke«, sagte sie. »Die Leute brauchten etwas Freude. Und die Äbtissin hätte sich ein froheres Leichenbegängnis gewünscht, als wir es ihr bereiten konnten.«

Der Hauptmann nickte. »Es war ja auch gut. Ich habe nicht …« Er zuckte mit den Achseln. »Ich wollte einfach nur etwas Musik haben. Und vielleicht diese Dame in meine Fänge locken.« Er lächelte. »Aber es war wirklich gut.«

»Heute Nacht geht es uns trotz allem besser als in der letzten Nacht.« Miram sah Amicia an. »Wollt Ihr sie wirklich heiraten?«

Der Hauptmann beugte sich zu der Nonne vor. »Dann nennt Euren Namen«, sagte sie.

»Ich kenne ihn«, meinte Amicia. »Er lautet …«

Ein plötzliches Jubeln ertönte aus dem Hof, und dann erhoben sich brüllende Stimmen. Der Hauptmann sah, dass Ser Jehannes am Rande des Feuerscheins stand; hinter ihm befanden sich drei Männer in voller Rüstung, die durch die Flammen hindurch wie bewegliche Spiegel wirkten. Sie trugen schwarze Umhänge mit weißen Kreuzen darauf.

Der Rote Ritter wandte sich von den beiden Nonnen ab. Er winkte Ser Jehannes zu und beugte sich in den Hof hinein. »Was ist los?«

»Jemand ist durch den geheimen Tunnel gekommen«, sagte Ser Jehannes. »Von draußen. Vom König.« Bei dem Wort »König« brach der gesamte Hof erneut in Jubel aus. Jehannes deutete auf die drei gerüsteten Männer. »Es sind Ordensritter.«

Die Musik setzte aus.

Einer der drei Ritter hob das Visier. Es war ein alter Mann, doch sein Lächeln wirkte noch recht jung.

Die Erleichterung, die den Hauptmann nun durchdrang, war wie etwas Handgreifliches, Festes. Ihm wurde schwindlig. Plötzlich fühlte er sich schwach, und dann sagte er: »Ausgezeichnet.«

Der Hauptmann begab sich zu den Neuankömmlingen und ergriff die Hand des ersten Mannes im langen schwarzen Umhang, der die Ritter des Ordens vom heiligen Thomas von Acon auszeichnete.

»Ich bin der Hauptmann«, stellte er sich vor. »Der Rote Ritter.«

»Mark, Prior von Pyrwrithe«, erwiderte der Mann, dessen rechte Hand die seine umfasst hielt. »Dürfen wir Euch unsere Hochachtung für diese ausgezeichnete Verteidigung aussprechen? Allerdings habe ich soeben von Ser Jehannes erfahren, dass die Äbtissin tot ist.«

»Sie starb in der letzten Nacht, Mylords. In der Schlacht.« Plötzlich zögerte der Hauptmann. Er hatte keine Ahnung, wie die kämpfenden Orden zur Hermetik oder zu anderen Formen von Phantasmata standen.

Der Prior nickte. »Sie war eine großartige Dame«, sagte er. »Ich werde ihr die letzte Ehre erweisen. Aber vorher muss ich noch mitteilen, dass der König den Fluss überquert hat und sich vorsichtig auf diesen Ort zubewegt. Morgen Abend, spätestens aber übermorgen sollte er sich gegenüber der Brückenburg befinden.«

Der Hauptmann grinste vor schierer Freude. »Das sind willkommene Neuigkeiten.« Er sah die drei Männer in ihren vollen Rüstungen an. »Ihr werdet müde sein.«

Der Prior zuckte mit den Achseln. »Die Rüstung des Glaubens verursacht nur geringe Erschöpfung, mein Sohn. Aber ein Glas Wein wäre gewiss nicht verkehrt.«

»Wir sollten zur Kapelle gehen«, murmelte die mittlere Gestalt. Sie trug einen schwarzen Wappenrock mit dem achtstrahligen Stern des Ordens.

»Wenn Ihr erlaubt, würde ich lieber hier bei Euch bleiben, wo Euch die Leute noch ein wenig länger sehen können«, sagte der Hauptmann. »Es hat viele Zweifel an Eurem Eintreffen gegeben.«

Der Prior schüttelte den Kopf. »Wir sind spät dran; daran kann kein Zweifel bestehen.«

Der Hauptmann hob die Hände und bat um Stille. Trotzdem hörte man im Hof weiteren Jubel. Doch bald wurde es ruhiger, als Meg rief: »Haltet endlich das Maul, ihr Narren!« Nur noch ein wenig Gelächter erhob sich.

»Freunde!«, rief der Hauptmann mit lauter und durchdringender Stimme. »Unsere Gebete sind erhört worden. Der König ist hier, und diese drei Ordensritter bilden seine Vorhut.« Neuer Jubel ertönte, doch er redete weiter. »Heute Abend haben wir den einen oder anderen Schluck genossen – und wir haben getanzt. Aber wenn der König kommt, werden wir diese Belagerung durchbrechen müssen. Der Feind steht noch immer dort draußen. Deshalb sollten wir jetzt ein wenig schlafen. In Ordnung?«

Die Männer, die ihn noch vor wenigen Stunden als Satan verflucht hatten, schwenkten nun ihre hölzernen Knüppel.

»Roter Ritter!«, riefen sie, während andere brüllten: »Heiliger Thomas!«

Und dann, wie durch Magie, schlurften sie auf ihre Betten zu. Sym und Langpfote trugen Cuddy zum Hospital. Ben Carter stellte fest, dass er von Mutwill Mordling und Fran Lanthorn zu seinem Strohballen im Stall geschleift wurde.

Gemeinsam gingen die vier Männer in die Kapelle.

Der Rote Ritter blieb stumm. Die Äbtissin lag auf ihrer Bahre, während die drei Ritter um sie herum niederknieten. Nach einiger Zeit erhoben sie sich gleichzeitig. Dann führte sie der Hauptmann in seine Kommandantur, die, wie er erwartet hatte, leer stand. Auch von Michaels Schlafzeug war nichts zu sehen.

»Das hier ist mein Arbeitsgemach«, sagte der Hauptmann. »Wenn Ihr Eure Waffen ablegen wollt, kann ich Euch ein paar Bogenschützen zu Hilfe holen.«

Ser John lächelte. »Ich schlafe in Rüstung, seit ich fünfzehn bin«, sagte er.

»Seid Ihr drei allein?«, fragte der Hauptmann.

Der Prior schüttelte den Kopf. »Ich habe sechzig Ritter in den Wäldern östlich der Furt«, sagte er. »Sie sind beinahe unsichtbar, es sei denn sie werden in Kämpfe mit dem Feind verwickelt.«

Der Größte unter den Rittern nickte und zog den Helm über seinen Kopf. Dann stieß er einen Seufzer des reinsten Vergnügens aus. Er nahm ein Kissen von einem der Stühle, schob es sich unter den Kopf und schlief sofort ein.

Lissen Carak · Gerald Random

Die Belagerung von Lissen Carak. Vierzehnter Tag.

Gestern haben die Einwohner des Dorfes von Aufstand geredet – aber das war nur der Schock über den Tod der Äbtissin, und der Hauptmann hat die Ordnung dann rasch wiederhergestellt. Niemand wurde verletzt. Der Priester Henry wurde in Gewahrsam genommen. Die Belagerungsmaschinen des Feindes haben gegen die Mauern gefeuert, aber der Feind war zögerlich und vorsichtig in seinen Bewegungen. Wir haben gesehen, wie eine große Streitmacht den Fluss im Westen durchquert hat. Am Nachmittag hatten wir dann heftigen Regen, und bei Anbruch der Nacht hat der Hauptmann (durchgestrichen) die Leute das Fest des heiligen Georg gefeiert. Nach Einbruch der Dunkelheit sind Ritter vom heiligen Thomas gekommen und haben uns gesagt, dass uns der König bald helfen werde.

Es war ein lieblicher Frühlingsmorgen. Nebel hing über dem Boden – Meister Random betrachtete ihn eine Weile und genoss dazu sein Leichtbier. Er winkte Gelfred zu, der sich mit seinen Falken beschäftigte, und suchte dann nach dem jungen Adrian, der ihm die Rüstung anlegen sollte.

Noch als dieser damit beschäftigt war, ertönte der Alarm.

Bevor die Glocke verstummte, befand er sich bereits bei dem Jäger auf der Ringmauer der Brückenburg. Die Brücke war noch nicht hochgezogen, und obwohl das Tor verschlossen und mit schweren Riegeln versehen war, hoffte jeder Kaufmann in der unteren Festung, dass noch weitere Überlebende aus der Wildnis herbeiströmten – obwohl allem Anschein nach die Aussicht darauf gering war.

Gelfred hatte drei große Falken, und von Zeit zu Zeit stieg einer von ihnen in das Morgenlicht auf. Er sprach nicht gern, sondern unterhielt sich meist nur mit seinen Vögeln; er murmelte in derselben Sprache zu ihnen, die auch Randoms Töchter verwendeten, wenn sie mit ihren Puppen redeten.

Zwei Bogenschützen waren ihm behilflich.

Random beobachtete die freie Strecke vor dem Saum der Bäume. Dort fanden heute Morgen zahlreiche Bewegungen statt – Kobolde krochen durch das hohe Gras. Sie glaubten wohl noch immer, dass sie im Gras unsichtbar waren, und Random zumindest hoffte, dass sie dies auch weiterhin glauben würden.

Er wandte sich an einen der kleinen Jungen, die den Angriff auf die Karawane überlebt hatten. »Sag Ser Milus, dass es bald einen Koboldangriff auf die Ringmauer geben wird«, sagte er – und war stolz darauf, dass seine Stimme gelassen und geschäftsmäßig klang. Er weigerte sich, daran zu denken, wie eine Formation von Kobolden seine Männer auseinandergenommen hatte.

Der Junge lief über die Mauer.

Wieder ertönte die Glocke. Die neue Truppe formierte sich. Es war ein zusammengewürfelter Haufen: ein Dutzend Goldschmiede mit Armbrüsten, ein Dutzend Speerwerfer, allesamt Bauernsöhne oder junge Kaufleute in geborgten Rüstungen. Doch die Frontlinie bestand aus richtigen Soldaten, und Ser Milus führte sie höchstpersönlich an.

Als sie sich formiert hatten und er ihre Ausrüstung überprüft hatte, führte er sie über die Leitern auf die Ringmauer.

»Guten Morgen, Meister Random«, sagte er, als er die oberste Sprosse seiner Leiter erreicht hatte.

»Guten Morgen, Ser Milus«, erwiderte Random. »Nett von ihnen, sich anzukündigen.«

»Ich habe die Wachen in den Türmen verdoppelt«, bemerkte Ser Milus. »Habt Acht!«, rief er laut und deutlich, und die Männer stellten ihre Gespräche ein und blickten zwischen den Zinnen hinaus. »Du da – Lukas Lustig, oder wie immer du heißt! Wo ist dein Ringkragen? Leg ihn sofort um!«

Unten im hohen Gras schossen die Irks und Kobolde nun ihre Pfeile ab.

Einer, der entweder perfekt gezielt war oder nur von großem Glück getragen wurde, traf einen der Speerwerfer in der dritten Reihe und tötete ihn sofort. Als hätte er keine Knochen im Leib, sank der Mann von der Mauer in den Hof dahinter.

Die anderen bäuerlichen Speerwerfer regten sich sehr unbehaglich.

»War sein Ringkragen umgelegt?«, brüllte Ser Milus. »Hatte ich es ihm nicht gerade gesagt?«

Gelfred hatte seine Vögel inzwischen an ihre Sitzstangen gebunden und ihnen die Hauben übergestülpt. Er ging in den Nordturm, gefolgt von seinen beiden Bogenschützen. Seine ruhigen, beinahe gemütlichen Bewegungen standen in einem scharfen Gegensatz zu dem Verhalten der Speerwerfer.

Doch dann erstarrten sie.

Die Kobolde rannten auf die Mauer zu. Es waren so viele, dass sie den gesamten Boden bedeckten – es war wie der Angriff eines ganzen Ameisenhaufens. Das Gras schien lebendig geworden zu sein, und nun waren sie da – Hunderte, die auf die Mauern zuhuschten, während sich die elfenhaften Irks in großen Sprüngen vorwärtsbewegten.

Wie die meisten Festungsmauern am Rande der Wildnis hatte auch diese an ihrer Basis einen Hang, der auf den letzten Metern steil nach oben ragte. Dies war nicht nur der Stabilität geschuldet, wie Random während der letzten vier Angriffe bemerkt hatte. Die Kobolde unterschätzten immer wieder die Steigung und versuchten, sie im Lauf zu nehmen. Doch es gelang ihnen kaum. Nur wenige kamen oben an und konnten die Mauer überklettern, doch ihr Erfolg stachelte dann die anderen an, ihren zumeist nutzlosen Lauf fortzusetzen.

Die Soldaten machten sich mit ihren Streitäxten und schweren Schwertern daran, die weichen Leiber der Angreifer niederzumetzeln.

Die Armbrustschützen erschossen alle, denen es gelungen war, auf die Zinnen zu gelangen; ihre schweren Bolzen stießen die Kreaturen von den Mauern, sodass ihre Körper beim Aufprall auf dem Boden zerschmettert wurden.

Die Speerwerfer waren dazu da, alle zu erwischen, die durch die ersten beiden Verteidigungslinien gebrochen waren.

Random reihte sich in die dritte Linie ein. Er war viel besser gerüstet als die Bauernjungen, und dennoch ähnelte er eher ihnen als einem Ritter. Oder einem Soldaten.

Zwei lange Minuten lief der Kampf sehr gut. Die gerüsteten Soldaten schlachteten die Kobolde ab, und die Armbrustschützen spickten ihre Rücken mit Pfeilen. Ein besonders großer und schneller Kobold, der Ser Stefan zu Boden geschlagen hatte, erhielt einen Bauernspeer in den Leib und zuckte wie ein aufgespießter Käfer, bis ihm ein halbes Dutzend Äxte den Garaus machte. Ser Stefan kämpfte sich wieder auf die Beine; er war unverletzt.

Random blieb an alldem unbeteiligt und schien beinahe gelangweilt – trotz der Woge von Ungeheuern, die gegen die Mauern anbrandete. Aber seine Haltung der Langeweile rettete sie schließlich alle, denn er war der Einzige, der die Schreie der Wachen im Nordturm hörte.

Random wirbelte herum und sah Kobolde auf der Turmspitze.

Er drehte um, rannte durch den offenen Türdurchgang in den Turm hinein und zog sein schweres Schwert. An der Hüfte trug er einen Schild und riss diesen nun mit der linken Hand hervor.

»Kobolde auf dem Turm!«, rief er einer Gruppe von Männern zu – es waren Gelfred und seine Gefährten.

Dann rannte er die Leiter zur Turmspitze hinauf.

»Gebt Alarm!«, brüllte Gelfred.

Random warf die Falltür zum Dach auf und erhielt sofort einen Schlag gegen den Kopf. Die Panzerung lenkte den Schlag ab, und während er weiter auf der Leiter hinaufstieg, hielt er sich den kleinen Schild über den Kopf, fing zwei schnelle Schläge ab, hatte die oberste Sprosse erreicht, hieb mit seinem Schwert zu und spürte, wie es sich in ein Koboldbein fraß. Dann drückte er sich mit den Beinen ab und sprang aus der Falltür.

Er erhielt einen Hieb gegen seinen Rückenpanzer.

Random schlug mit seinem Schild aus; der Stahlrand brachte einen Koboldkopf zum Platzen; was ein Gefühl war, als gebe eine Hummerschale nach. Dann wirbelte er in den Hüften herum – eine für ihn neue Bewegung, die er von Ser Milus gelernt hatte – und hieb mit seinem Schwert zu, einmal, zweimal. Der zweite Schlag war nutzlos, aber der erste hatte getroffen, einen Schädel gespalten. Und ein weiterer Hieb trennte dem Wesen den Kopf vom Rumpf. Blut spritzte hervor.

Aber sie waren überall um ihn herum und stießen mit ihren Speeren auf ihn ein. Einer schrammte über seinen Rückenpanzer und traf ihn in der Achselhöhle des Schildarms, aufgefangen nur vom Kettenpanzer, und ein anderer Stoß versetzte seinem Kopf einen so heftigen Schlag, dass er Sterne sah. Er taumelte vorwärts, geriet mit einem weiteren dieser Wesen aneinander, das ihn bewegungsunfähig zu machen versuchte, indem es alle vier Glieder um seine Beine wand. Doch er rammte ihm den Schwertgriff mitten ins Gesicht. Die Nase des Kobolds schien sich in der grausamen Parodie auf einen Schlund zu öffnen, war mit Spießen gesäumt. Das Wesen schrie vor Schmerz auf, während alle vier Gliedmaßen mit ungeheurer Geschwindigkeit zuckten.

Random riss seinen Schild in einem verzweifelten Bogen hoch und holte den Dolch aus dem Gürtel. Er rammte die Waffe in die lederartigen Teile der Koboldbrust, die in sechs Abschnitte untergliedert war, und stach viel öfter zu, als er zählen konnte. Das Wesen zerfiel unter seinen Händen buchstäblich in Stücke.

Dann sah er etwas Dunkelgrünes aufblitzen. Gelfred war da, schwang einen gewaltigen Speer mit kurzem Schaft, stieß zu, schlug zu, stieß nochmals zu – wie ein Waffenmeister, der seiner Klasse eine Vorführung gibt.

Und dann waren die Feinde erledigt.

Random war zwar blutüberströmt, doch er fühlte sich wie ein Gott.

Er beugte sich über die Brüstung, wollte Ser Milus etwas zurufen und sah, dass der Hof voller Kobolde war.

Weiße Kobolde. In Rüstungen. Wichte.

»Gelfred!«, schrie er.

Lissen Carak · Der Rote Ritter

Der Rote Ritter erwachte mit einem Lächeln auf dem Gesicht, denn er hatte von Amicia geträumt und musste feststellen, dass Tom Schlimms Hand auf seiner Schulter lag.

»Du siehst ja schrecklich aus«, sagte der Hauptmann.

»Die Brückenburg wird angegriffen«, erklärte Tom. »Es ist ganz entsetzlich, und sie geben kein Signal mehr.«

»Also gut«, sagte der Hauptmann und holte tief Luft. Natürlich wusste der Feind, dass der König nur noch einen halben Tagesmarsch entfernt war. Daher der Angriff. Alles oder nichts. Und die Blide stand ihnen nicht mehr zur Verfügung. Allerdings hatte Bent den ganzen gestrigen Tag zusammen mit den Bauern darauf verwendet, eine neue Blide zu errichten, die auf dem Stumpf des alten Turms stand. Der Hauptmann rollte sich aus dem Bett. Er war vollständig angezogen.

»Bent!«, rief er.

Der alte Bogenschütze kam unter dem Gerüst hervor. »Mylord?«

»Stellt Kübel mit Steinen auf«, befahl er. »Feuert, sobald ihr geladen habt.«

Bent salutierte.

Der Hauptmann wandte sich an Tom. »Sag den Bogenschützen, sie sollen auf das Gebiet zwischen dieser Stelle und der Brückenburg schießen. Mit allem, was wir haben. Spart keine Pfeile. Jemand soll die Steine für die Blide erhitzen. Michael! Hol mir Harmodius!«

Sein Knappe hatte die Nacht anscheinend in seinem Zimmer verbracht.

»Und dann die Rüstung, die Handschuhe und den Helm!«, rief er.

Tom leckte sich die Lippen.

»Ein Ausfall?«, fragte er.

»Das wäre ziemlich aussichtslos. Tom, die drei Herren in der Kommandantur sind Ordensritter. Sorg dafür, dass sie einen Becher Wein bekommen …«

»Und Pferde«, fügte der Prior hinzu, der in der Tür erschien. »Wenn Ihr erlaubt, Mylord, werden sich meine Ritter unten auf dem Feld zu uns gesellen. Das könnte eine schmerzhafte Überraschung für unsere Feinde sein, so Gott es will.«

Er hob die Hand, machte ein Zeichen und sprach ein Wort auf Archaisch – ein einziges Wort, das der Hauptmann nicht verstand.

Etwas geschah. Doch der Hauptmann wusste nicht, was es war.

Nun allerdings wurde ihm klar, dass die Ritterorden Hermetik benutzten.

»Also Wein und Kriegspferde«, sagte der Hauptmann. Der König naht. Wir wollen nicht unbedacht handeln.

Über ihm wurde die Blide eingerichtet und gespannt, dabei ächzte das gesamte Gerüst.

Dann flogen große Mengen von Steinen und Kies in den frühen Morgen.

Über ihm schossen die schweren Armbrüste von den Überbleibseln des Südturms aus auf die Kreaturen, die sich im Gelände unter ihnen befanden.

»Ihr habt gerufen?«, fragte Harmodius.

»Ich muss die Brückenburg retten. Er wirft seine ganzen Streitkräfte dagegen – und er wartet, dass wir darauf reagieren. Ich hoffe, wir können seinen Angriff mit unserer Artillerie niederkämpfen, aber darauf darf ich nicht ausschließlich setzen. Der Prior hier hat uns einen weiteren Trumpf angeboten, aber ich brauche noch mehr. Was können wir tun?«

»Das ist ja der Magus des Königs!«, rief der Prior. »Der König sucht unablässig nach Euch.«

Harmodius zuckte die Schultern. »Ich war doch immer da.« Er betastete seinen Bart. »Ich glaube, er wurde in die Irre geleitet.« Er lächelte – es war ein ausgesprochen böses Lächeln. »Er glaubt, ich bin tot.«

Lissen Carak · Gerald Random

Random führte die Diener und die Speerwerfer gegen die Feinde. Es waren fünfzig, und sie waren größer und viel besser gepanzert als die Kobolde, die die Turmmauern erklettert hatten.

Als Gelfred den Hof erreicht hatte, waren viele der Kaufleute, die mit den ersten Karawanen hergekommen waren, bereits tot. Sie hatten keinen echten Gegner für die Kobolde dargestellt, die schneller und besser gerüstet waren und an jedem Glied eine Sense oder einen Stachel hatten. Die Kaufleute besaßen keine Rüstungen wie die Söldner und starben daher umso schneller.

Doch im Schein der Sonne machten sich Gelfred und seine Bogenschützen nun daran, sie wie Ratten in einer Falle abzuschlachten.

Die schweren Pfeile der Langbögen durchdrangen die Eisenrüstungen mit dumpfen, geradezu feuchten Geräuschen, und die großen Kobolde schrien im Sterben und kletterten übereinander, um die Turmleiter zu erreichen. Andere hasteten über Leitern hinauf, die an die Ringmauern angelehnt waren – sie kletterten auf der Oberseite und der Unterseite. So versperrten sie den offenen Durchgang zum Turm, und Gerald Random kämpfte darum, die Tür zu halten.

»Die Festung gibt ein Signal!«, rief Nick Draper. »Sie kommen.«

Die vom Turm herabfliegenden Pfeile wurden vom Gelände vor der Burg und aus dem Hof beantwortet. In der Mauer klaffte inzwischen ein Loch, das unablässig Ungeheuer ausspuckte.

Es waren gewaltige Irks, die gar nicht mehr jenen elfenartigen Gestalten glichen, die er kannte. Sie waren so groß wie ein Mensch, steckten in Kettenpanzern und verfügten über Schilde und Langschwerter. Kobolde, die so weiß wie der Mond waren, befanden sich bei ihnen; sie trugen Speere mit Widerhaken daran sowie eiserne Panzer. In einer gewaltigen Woge drangen sie vor.

Bauernjungen rammten ihre Speere an dem Kaufmann vorbei. Manchmal behinderten sie seinen Schwertarm, einer stach ihm leicht in den Hintern, aber er diente ihnen als Schild, und sie waren seine Waffe. Ihre neun Fuß langen Speere spießten die gepanzerten Wesen auf, sodass Random Stücke aus ihnen heraushacken konnte, und auch die Pfeile setzten dem Feind weiterhin schwer zu.

Doch mehr und mehr von diesen Geschöpfen drangen in den Hof ein.

Allem Anschein nach ereignete sich der Ausfall nach einem gemeinsamen Abfeuern aller Maschinen in der Festung. Es war ein Regen aus Geschossen, die vom faustgroßen Stein bis zu dem zwanzig Pfund schweren Felsbrocken reichten. Die Bolzen aus den Armbrüsten waren zwei Fuß lang und wogen ganze zwei Pfund.

Der Ausfalltrupp ritt in vollem Galopp den Hang hinunter, war kaum mehr als ein verschwommener Fleck am Rande der Finsternis und hielt erst am Fuß des Berges an, um sich in Formation zu begeben. Aber es dauerte zu lange. Etliche Männer und Pferde waren zu weit zurückgefallen, andere waren über den Versammlungspunkt hinausgeritten und mussten nun umkehren. Hundert Herzschläge wurden vertan, bis die Formation stand.

Thorn beobachtete den Ausfalltrupp des Feindes. Er sah zu, wie die Männer den Hang hinunterritten und schmeckte die Macht des Phantasmas, das sie umgab. Er musste spucken.

Thorn ließ den mächtigen Zauber los, den er den ganzen Tag über vorbereitet hatte. Die Macht sprang rau und grün in das Licht des späten Morgens und verschmolz …

Thorn würgte.

Das war nicht der Ausfall! Das war eine Illusion. Das Trugbild eines Ausfalls.

Der gefallene Magus brüllte vor Wut. Aber es war zu spät, und die sorgfältig vorbereitete Macht seiner magischen Faust rammte in die bloße Erde.

Lissen Carak · Harmodius

»Früher war er nicht so leicht zu bekämpfen«, sagte Harmodius und sah den Hauptmann an, der auf einem geborgten Schlachtross saß. Der Magus grinste wie ein kleiner Junge. »Die Wildnis hat seine Phantasie ausgetrocknet.«

Der gewaltige Donner, den die entfesselte Magie des Feindes ausgelöst hatte, hallte noch in ihren Ohren wider, während der grelle Lichtblitz auf der Netzhaut des Hauptmanns Nachbilder erschuf. »Kann er das wiederholen?«, fragte er.

»Vielleicht«, erwiderte Harmodius. »Aber ich bezweifle es.«

Der Hauptmann tauschte einen raschen Blick mit Pampe, die neben ihm ritt. Tom war an der Reihe, Wachtdienst auf der Festung zu schieben, und der große Mann war sehr enttäuscht darüber, nicht an dem Ausfall teilnehmen zu können.

»Keine Heldentaten!«, rief der Hauptmann. »Nur über die Ebene zur Burg, und dann um die Mauern herum. Tötet alles, was euch unter die Hufe kommt.«

Die Wildnis · Peter

Peter hatte gerade das Frühstück vorbereitet, als zwei Kobolde an sein Feuer kamen. Sie hatten je zwei gehäutete Hasen in den Armen – insgesamt also acht. Außerdem trugen sie einen ebenfalls vorbereiteten großen Tierleib an einer Stange zwischen sich.

»Kock fr unz?«, fragte der Größere der beiden.

Peter erkannte, dass das, was er für ein größeres Tier angesehen hatte, in Wirklichkeit eine Frau war – geköpft und gehäutet. Ausgeweidet. Gesäubert.

»Kock?«, fragte der größere Kobold noch einmal.

Peter holte tief Luft, zeigte auf die tote Frau und schüttelte den Kopf. »Ich werde doch keinen Menschen kochen«, sagte er.

Sein Feuer brannte stetig, und seine Freunde hatte er bereits verköstigt. Also gab er dem größeren Kobold die Überreste des Eichhörncheneintopfs mit Oregano. »Iss«, sagte er.

Der Kobold sah seinen Gefährten an. Kurz berührten sich ihre Köpfe, und dann erfüllte eine Flut verschiedener beißender Gerüche die Luft.

Der kleine Kobold öffnete seinen Schlund, schluckte die Hälfte und gab den Kupfertopf dann an den größeren weiter, der den Rest verspeiste.

Peter sah nicht zu.

Ota Qwan kam herbei und stellte sich neben ihn. »Sollt ihr beiden denn nicht bei dem großen Angriff mitmachen?«, fragte er.

Sie blieben vollkommen reglos. So reglos wie wilde Tiere. Als könnten sie ihn nicht verstehen.

»Kock?«, fragte der Größere wieder.

»Ich … werde … die … Hasen … kochen«, sagte Peter ganz langsam.

»Gud.« Der größere Kobold sprang auf und ab. »Gehen töten. Zurück zum Essen.« Er machte ein zwitscherndes Geräusch, sein Gefährte erhob sich ebenfalls, und dann sprangen sie in die dichter werdende Nacht hinein.

Ota Qwan sah Peter an. »Hast du die Macht, Jungchen?«, fragte er.

Peter schüttelte den Kopf.

Ota Qwan zuckte mit den Achseln. »Bei den Sossag sind es hauptsächlich die Schamanen, die mit der Wildnis reden können«, meinte er. »Ich fände es gut, wenn mir die Kobolde folgen würden. Falls sie anbieten sollten, uns zu unterstützen, wirst du das annehmen.«

Peter schluckte. »Du willst sie wirklich in unserem Lager haben?«

Ota Qwan schüttelte in gespielter Verärgerung den Kopf. »Kobolde sind große Medizin, weißt du das nicht?«

»Woher kommen sie?«, wollte Peter wissen. »Ich hatte noch nie einen gesehen, bevor ich … hierhergekommen bin.«

Ota Qwan setzte sich neben den Leichnam der ausgeweideten Frau. Er schien sie gar nicht wahrzunehmen, oder sie war ihm gleichgültig. »Ich weiß es nicht, aber ich kann dir sagen, was über sie geredet wird. Es heißt, dass sie in großen Kolonien aufwachsen, die wie riesige Termitenhügel aussehen und tief in der Wildnis liegen – weit im Westen. Alle Kreaturen der Wildnis fürchten sie. Die großen Mächte der Wildnis machen sie sich zunutze, rekrutieren ganze Kolonien und schicken sie in den Tod.« Ota Qwan seufzte. »Ich habe gehört, dass sie von einer großen Macht erschaffen wurden, um in einem uralten Krieg zu kämpfen.«

Peter schüttelte den Kopf. »Mit anderen Worten: Du weißt es nicht.«

»Glaubst du?« Ota Qwan lachte. »Du musst noch so vieles über die Wildnis lernen. Zum einen behaupten die Mächte, dass sie nichts fürchten, zum anderen aber fürchten sie die kleinen Kobolde. Tausend von ihnen sind aber auch wirklich ein beängstigender Anblick. Und eine Million …« Er zuckte die Achseln. »Wenn sie genug zu essen bekämen, könnten sie die Welt erobern.«

Peter schluckte seine Galle herunter.

»Vielleicht könntest du für sie kochen?«, meinte Ota Qwan. »Du weißt, dass dir die Matronen einen Namen gegeben haben?«

Peter nickte erwartungsvoll.

»Nita Qwan«, sagte Ota. »Das ist ein sehr mächtiger Name. Gut gemacht.«

Peter sprach ihn in seinen Gedanken aus. »Er gibt … etwas.«

»Er gibt Leben«, erklärte Ota Qwan.

»Wie dein eigener Name«, meinte Peter.

»Ja. Sie betrachten uns als zusammengehörig. Das gefällt mir.« Er nickte.

»Was heißt Ota?«, wollte Peter wissen.

»Nehmen. Wie ota nere!« Er verstummte.

»Nimm Wasser. Wenn wir auf dem Marsch sind.« Peter nickte und drehte sich um. »Du bist Nimm Leben, und ich bin Gib Leben

Ota Qwan lachte. »Du hast’s begriffen. Du warst Grundag, und jetzt bist du Nita Qwan. Mein Bruder. Und mein symbolisches Gegenteil.« Er nickte erneut. »Und jetzt rekrutierst du mir diese Kobolde. Die Belagerung ist fast vorüber; wir werden nach Hause gehen, sobald die Toten gegessen sind.«

Peter schüttelte den Kopf. »Ich besitze nicht deine Kriegserfahrung«, sagte er. »Aber die albische Armee zieht gerade das Tal des Cohocton herauf.«

Ota Qwan rieb sich das Kinn. »Das«, sagte er, »ist eine ernste Sache. Aber Thorn sagt, dass wir heute Nacht siegen werden.«

»Wie?«, fragte Nita Qwan.

»Nimm deinen Bogen und Speer, und komm mit mir«, sagte Ota Qwan nur.

Nita Qwan streckte vorher noch die Hasen auf grüne Holzspieße und überließ es seiner Frau, sie über dem Feuer zu braten. Er nahm seinen Bogen und den neuen Speer mit der Spitze aus feinem blauem Stahl, der ihm seit der Schlacht an der Furt gehörte. Viele neue Dinge besaß er, und seine Frau war beeindruckt davon.

Es hatte ihn nur ein einziges Jahr seines Lebens gekostet. Er spuckte aus und folgte Ota Qwan, denn es war einfacher zu folgen, als zu denken. Er lief und packte Ota Qwan am Ellbogen. Der Kriegsführer blieb stehen.

»Noch eine Sache«, sagte Nita Qwan.

»Machs schnell, Jungchen«, meinte Ota Qwan.

»Ich bin nicht dein Jungchen. Nicht deines und nicht das von irgendjemandem. Hast du mich verstanden?« Nita Qwans Blick bohrte sich in den des Anführers.

Er hielt stand. Aber nach mehreren Atemzügen blähten sich seine Nüstern, und er lächelte. »Ich habe dich verstanden, Nita Qwan.«

Er drehte sich um und lief weiter. Nita Qwan folgte ihm zufrieden.

Am Rande des Waldes warteten bereits viele der überlebenden Sossag-Krieger – es waren beinahe fünfhundert. Hinter ihnen befanden sich die Abonacki, deren Bemalung im Sonnenlicht feurig rot leuchtete, außerdem waren da auch ein paar Mohak in ihrer charakteristischen Skelettfarbe.

Akra Chom, der Kriegsführer der Abonacki, trat in die Mitte zwischen die einzelnen Gruppen. Er holte eine Axt aus seinem Gürtel und reckte sie hoch in die Luft über seinen Kopf.

Ota Qwan lächelte. »Wenn er heute fällt, werde ich der Kriegsführer der Sossag und vielleicht auch der Abonacki sein.«

Nita Qwan fühlte sich, als hätte er einen Tritt in den Bauch erhalten.

»Sei nicht so treuherzig«, sagte der ältere Mann. »So ist die Wildnis nun einmal.«

Nita Qwan holte tief Luft. »Was sagt er gerade?«

»Er sagt, dass wir, wenn wir jemals wieder nach Hause kommen wollen, heute Nacht für Thorn kämpfen und die gepanzerten Reiter töten müssen, so wie wir es schon viele Male getan haben. Wir sind tausend Krieger. Wir besitzen Bögen und Äxte. La di da.« Ota Qwan sah sich um. »Um die Wahrheit zu sagen, dieser Thorn scheint keinen richtigen Plan für unseren Einsatz zu haben. Er glaubt wohl, dass er uns nur aus dem Wald auf das Feld schicken muss, und schon töten wir alle Ritter für ihn.« Er zuckte mit den Achseln.

Nita Qwan erschauerte.

Ota Qwan legte den Arm um ihn. »Wir werden uns am rückwärtigen Tor des Feindes in einen Hinterhalt legen«, sagte er. Er wartete kaum, bis der Abonacki-Mann seine Rede beendet hatte, sondern sprang auf, schüttelte seinen Speer, und die Sossag gaben einen Kriegsschrei von sich und folgten Ota Qwan in das Grün des Waldes hinein.

Lissen Carak · Der Rote Ritter

Die Pferde waren allesamt müde, und viele von ihnen hatten auch leichtere Verletzungen davongetragen, ebenso wie ihre Reiter.

Es waren fünfundzwanzig Soldaten – eine erbärmliche Zahl gegen ein ganzes Meer von Feinden.

Am Fuß der Erhebung markierte ein abkühlender Kreis aus Glas die Bemühungen ihres Feindes.

Der Hauptmann handelte unter einem Schleier der Erschöpfung und des Schmerzes, der fast alle anderen Gefühle überlagerte. Wie aus der Ferne war ihm bewusst, dass die Äbtissin nicht mehr da war. Dass Grendel, beinahe so etwas wie ein Freund für ihn, tot und wahrscheinlich schon gefressen war. Und dass seine geliebte Lehrerin nur noch kalter Marmor sein mochte – nicht einmal mehr ein Abbild des Lebens.

Doch das alles stieß er weit von sich.

Kannst du jeden Tag kämpfen?

Er wusste, dass er es konnte. Jeden Tag, bis die Sonne unterging.

Der Ort in seinem Kopf, an dem seine Freunde noch einmal starben, war wie ein schlimmer Zahn, und mit einer ungeheuren Willensanstrengung brachte er sich dazu, nicht andauernd mit der Zunge darüberzufahren.

Und er dachte auch nicht: Wenn wir heute gewinnen, sind wir gerettet.

Er unterließ es, weil er nicht über seine nächste Kriegslist hinausdachte, und allmählich gingen ihm die Einfälle und Überraschungen aus.

All dies ging ihm zwischen zwei Sprüngen seines neuen Reittieres durch den Kopf.

Er brachte Schmerz hervor.

Sie alle taten das.

Und dann befand sich der Ausfalltrupp auf der Ebene und bildete eine Keilformation.

Random war müder, als er es je zuvor gewesen war, und wenn er nicht eine erstklassige Rüstung trüge, wäre er schon längst tot gewesen. Immer öfter trafen ihn Hiebe und Schläge, während die Ungeheuer im Hof über ihre toten Artgenossen krochen und ihn zu erreichen versuchten.

Zweimal verrieten ihm Schreie hinter ihm, dass es weitere dieser verfluchten Geschöpfe auf den Turm oder die Mauer geschafft hatten – anscheinend benutzten sie ihre rudimentären Flügel, oder es handelte sich bei ihnen um eine neue, noch schrecklichere Brut. Aber die Speerwerfer in seinem Rücken hielten noch stand.

Zweimal wurde ihm eine kurze Atempause gewährt, deren Grund er nicht kannte. Wenn er keuchte, reichte ihm jemand Wasser, und schon begann der nächste Angriff. Die weißen Kobolde waren schlimm. Aber die großen Irks waren noch schlimmer.

Der Bauer hatte versucht, ihm in der Tür zu helfen – entweder war er tapferer oder dümmer als die anderen. Und dann starb er fast sofort, nachdem er seinen neuen Posten bezogen hatte.

»Du hast doch keine Rüstung!«, rief ein größerer Mann mit einem Harndonder Akzent.

Seine Arme und Beine waren ungeschützt, sodass ihn die schrecklichen Sensen sogleich in Stücke schnitten. Er wurde zu Boden gerissen und aufgeschlitzt. Sie fraßen ihn an Ort und Stelle – sogar die Sterbenden nahmen sich noch einen Bissen.

Random konnte seinen Schild nicht mehr besonders hoch heben. Er wusste, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis ihm ins Visier oder in die Lendengegend gestochen wurde. Lediglich Glück und die Anstrengungen der Speerkämpfer hatten ihn bisher davor bewahrt.

Weitere Irks drangen hinzu. Langsam kämpften sie sich über den Hügel der Toten und griffen ihn dann gemeinsam an. Ein Schild traf seinen ausgestreckten Arm. Die Schiene fing den Schlag zwar auf, aber er geriet aus dem Gleichgewicht, und die Kobolde zerrten ihn sofort auf die Knie. Dann traf ihn ein Schlag an der Hinterseite des Helms, und er lag am Boden.

Er spürte einen scharfen Schmerz am Spann. Irgendetwas hackte auf sein gepanzertes Schienbein ein, und dann wurde er zu seinem großen Entsetzen aus dem Türdurchgang zu dem Haufen der Leichen gezerrt.

Dagegen konnte er sich nicht wehren. Er schrie.

Dann wurde er nicht mehr gezerrt, sondern ein schweres Gewicht drückte ihn nieder. Nur die Stärke seiner Brustplatte verhinderte, dass ihm der Atem ausgepresst wurde.

Nun setzte ein brennender Schmerz in seinem rechten Fuß ein.

Er versuchte zu rufen, und plötzlich war sein Helm voller Flüssigkeit. Er spuckte. Es war die Hölle – dunkel und bitter. Er würgte und spuckte und erkannte, dass er gerade ertrank.

In Koboldblut.

Er versuchte zu schreien.

Noch mehr Schmerzen.

Christus, ich werde bei lebendigem Leibe gefressen.

Christus, errette mich in meiner Stunde der Qualen.

Die Wildnis · Peter

Nita Qwan sprang durch den Wald. Der Sonnenkreis stand hoch über ihm. Es war eine schlechte Zeit zum Aufstellen einer Falle, und er wollte noch bis zum Anbruch der Nacht warten, aber es war später Frühling, und die Dunkelheit – die richtige Dunkelheit – war noch weit entfernt.

Ein grelles smaragdfarbenes Licht erhellte im Süden plötzlich den Himmel. Und ein titanischer Donner erschütterte die Erde.

Ota Qwan grinste. »Unser Signal. Er ist mächtig, unser Herr. Los geht’s. Gots onah!« Der Anführer rannte vor seiner Schar dahin. Sie hasteten durch das Gras, wandten sich nach Osten, und das Sonnenlicht warf Schatten.

Sie hatten fast eine ganze Meile zurückzulegen. Nita Qwan war ein starker Mann und lebte nun schon seit Wochen bei den Sossag, aber ein Lauf von einer ganzen Meile bis zum Kampfplatz war auch für ihn außerordentlich anstrengend – besonders nachdem er den ganzen Morgen erst mit der Suche nach Essbarem und dann auch noch mit Kochen verbracht hatte. Er hielt den Kopf gesenkt und versuchte seinen Geist von den Beinen und der Lunge abzukoppeln, während er immer weiter rannte.

Der Lauf nach Osten dauerte viele lange Minuten, aber schließlich hob Ota Qwan die Hand. »Runter!«, rief er, und sein Volk ließ sich ins hohe Gras fallen. Er wandte sich an Skahas Gaho und einen anderen Krieger und schickte sie weiter nach Osten, dann legte er sich neben Nita Qwan.

»Jetzt dauert es nicht mehr lange«, sagte er. »Wir sind am richtigen Ort. Wir werden bald erfahren, ob Thorn weiß, was er tut.«

Lissen Carak · Thorn

Thorn beobachtete von dem vollkommen sicheren westlichen Rand des Waldes aus die Entwicklung der Ereignisse. Er war heute nicht stark genug, um sich selbst einzubringen, denn er hatte zu viel Kraft in einen einzelnen Zauber gesteckt. Das machte ihm gehörig zu schaffen. Doch ihm standen Tausende Diener zu seiner Verfügung, und heute würde er sie wie Wasser vergießen und seine gewöhnliche Vorsicht fahren lassen.

Viele seiner Diener wären sicherlich verwirrt, wenn sie wüssten, dass er schon beschlossen hatte, sie alle einzusetzen, falls es sein musste. Er wusste, wo er immer wieder neue und frische Kreaturen der Wildnis ausheben konnte. Er selbst hingegen war unersetzlich.

Und sie war tot.

Er hatte Fehler begangen, aber die Endphase des Kampfes würde sich mit der Unausweichlichkeit eines jener alten Theaterstücke abspielen, die er früher so genossen hatte und an die er sich nun kaum mehr erinnern konnte.

Der König würde kommen und besiegt werden. Die Falle war bereits gestellt.

Und dann würde alles ihm gehören.

Albinkirk · De Vrailly

Er stellte sein Zelt nicht mehr fern von der Armee auf. Heute Nacht lagerte sie bei einem kleinen Nebenfluss des Cohocton. Der Kadaver eines großen Tieres der Wildnis lag in all seiner scheußlichen Majestät mitten im Wasser, die Knochen waren säuberlich abgenagt. Etliche andere Kadaver, ebenso wie die Schreie und Kämpfe der Tiere, die sich an den Toten labten, markierten den Schauplatz einer erst kürzlich geschlagenen Schlacht.

Der König befahl, dass die Wagen näher aneinander herangezogen werden sollten, sodass sie eine Festung ergaben, und nicht einmal de Vrailly konnte ihn wegen dieser Vorsichtsmaßnahme tadeln. Sie befanden sich mitten in der Wildnis, und der Feind war in ihrer Nähe deutlich zu spüren. Viele Fußsoldaten und nicht wenige Ritter hatten Angst – schreckliche Angst zumeist. De Vrailly hörte ihr weibisches Gelächter in der vom Feuerschein erhellten Finsternis. Doch er selbst empfand nichts als eine erregende Freude darüber, dass er endlich – endlich – auf die Probe gestellt und für würdig befunden werden würde. Die so oft beschworene Festung Lissen Carak lag nur noch drei Meilen weiter nördlich, und die Flotte der Königin war den Berichten zufolge schon in der Mitte des Stroms vor Anker gegangen und bereit, den Angriff am folgenden Morgen zu unterstützen. Sogar die vorsichtigen alten Frauen aus dem Rat des Königs mussten eingestehen, dass es eine Schlacht geben würde.

Er kniete auf seinem Betpult, als der Engel kam. Er kam mit einem kleinen Donnerschlag und einem Duft nach Myrrhe.

De Vrailly schrie auf.

Der Engel schwebte heran, sank zur Erde nieder; sein mächtiger Speer berührte den Querträger des großen Zeltes.

»Mylord de Vrailly«, sagte der Engel. »Der größte Ritter der Welt.«

»Du spottest meiner«, wandte de Vrailly ein.

»Morgen wirst du von jedem Manne anerkannt sein«, versprach der Engel.

Jean de Vrailly kämpfte gegen seine Zweifel an. Er fühlte sich wie ein Mann, der weiß, dass er eine gewisse Tatsache seiner Frau gegenüber nicht erwähnen sollte, es dann aber trotzdem tut und damit einen vorhersehbaren Streit heraufbeschwört. »Du hast gesagt, wir werden eine Schlacht schlagen«, sagte er und hasste dabei das Jammern des Zweifels in seiner Stimme. »Bei Albinkirk.«

Der Engel nickte. »Ich bin nicht Gott«, sagte er. »Ich bin nur ein Diener. Die Schlacht wird hier stattfinden. Sie sollte sich eigentlich bei Albinkirk ereignen, aber gewisse Mächte – und Umstände – haben mich zu einer Änderung gezwungen.«

Das Zögern des Engels ließ de Vrailly erstarren.

»Was sind ’n das für Mächte, Herr?«, fragte Jean de Vrailly.

»Kümmere dich um deine Rolle in diesem Spiel und überlass mir die meine«, erwiderte der Engel. Seine Stimme klang wie eine Peitsche. Wie de Vraillys eigene Stimme. Schön und gleichzeitig schrecklich. Durchtränkt von Macht.

De Vrailly seufzte. »Ich erwarte deine Befehle«, sagte er.

Der Engel nickte abermals. »Morgen, bei Tagesanbruch, wird der König angreifen. Der Feind hat eine Sperreinheit auf der Straße zwischen dieser Stelle hier und der Brücke postiert. Lass den König den Angriff anführen, und wenn er fällt …« Der Engel hielt inne.

De Vrailly spürte, wie sein Herzschlag aussetzte.

»Wenn er fällt, ergreifst du das Kommando. Kämpf dir den Weg frei, rette die Armee des Königs, und du wirst den ganzen Tag gerettet haben.« Die Stimme des Engels klang rein und klar. »Seine Zeit ist vorüber. Aber er wird einen guten Tod sterben, und du wirst seine Frau nehmen und selber König sein, denn sie ist das Königreich. Ihr Vater war nach dem König der größte Lord von ganz Albia. Gemeinsam mit dieser Frau wirst du herrschen. Ohne sie aber wirst du es nicht tun. Habe ich mich dir verständlich machen können?«

De Vrailly kniff die Augen zusammen. »Und was ist mit dem Norden?«, fragte er. »Muss ich diese mächtige Festung dem Untergang preisgeben, wenn ich die Armee retten soll?«

»Du kannst sie später zurückerobern«, sagte der Engel vernünftig. »Wenn du eine Armee aus Gallyen hergebracht hast.«

De Vrailly neigte den stolzen Kopf und beschattete seine Augen vor der Helligkeit des Engels. »Verzeih mir«, sagte er laut. »Ich habe gezweifelt und wurde von falschen Bildern in die Irre geführt.«

Der Engel berührte ihn am Kopf. »Gott vergibt dir, mein Sohn. Vergiss aber nicht: Wenn der König fällt, wirst du das Kommando ergreifen und dir den Weg freikämpfen.«

De Vrailly nickte und hielt den Blick gesenkt. »Ich verstehe es sehr wohl, Herr.«

Lissen Carak · Der Rote Ritter

Der Hauptmann richtete seine Keilformation nach Süden aus und hob die Hand. Er spürte die Hitze, die der Glaskreis rechts von ihnen abstrahlte – sie fuhr geradewegs durch seine Armschienen und den gepanzerten Handschuh.

Au, dachte er. Und dankte Harmodius mit einem stummen Nicken.

»Wir reiten los«, rief er, und in enger Formation setzten sie sich in Bewegung – ein perfektes Ziel für einen weiteren Ausbruch der Macht.

In seinem Rückgrat kitzelte es, als er von dort wegritt, wo er den Feind spürte, und auf die Brückenburg zuhielt, die kaum zweihundert Pferdelängen entfernt lag.

Die Formation überwand vorsichtig den Graben – noch in der letzten Nacht hatte sich hier ein Inferno ereignet – und verlor dabei wertvolle Zeit. Einige Männer mussten sogar absteigen.

Doch es war besser, als den anderen Weg um die Mauern herum zu nehmen.

Einige Männer sprangen hinüber, aber die meisten waren weniger angeberisch und vorsichtiger.

Auf der anderen Seite formierten sie sich neu und wurden nicht daran gehindert.

Der Hauptmann richtete sich in den Steigbügeln auf. Er deutete quer über das dunkler werdende Gras auf die Ecke der Brückenburg, die ihnen am nächsten lag.

»Das ist eine Falle. Wenn es keine wäre, hätten diese Kobolde da vorn …« – er deutete auf hundert oder mehr Kobolde, die sie von einer hastig aufgeschütteten Angriffsrampe aus beobachteten, die sich bis hoch zur Mauerkrone der Brückenburg erhob – »… dann hätten diese Kobolde versucht, den Graben zu halten und gegen uns zu verteidigen. Stattdessen beobachten sie uns wie bloße Zuschauer.«

»Ist die Brückenburg gefallen?«, fragte Pampe.

Der Hauptmann sah das Gebäude zehn Herzschläge lang an. »Nein«, sagte er dann.

Der Prior von Harndon ritt neben ihn. »Wenn Ihr mir erlaubt, mein Signal zu geben, werden meine Ritter zu uns kommen«, sagte er. »Sie befinden sich da drüben, in dem Waldstück, das dem Fluss am nächsten liegt.«

Der Hauptmann beobachtete die Burg weiter. »Dann würden wir ihren Angriff in die Zange nehmen«, sagte er. »Ja.« Er drehte sich zu seinem Diener um. »Signal. Einzelne Marschreihe, voller Zwischenraum.«

Lissen Carak · Peter

Ota Qwan kniete im hohen Gras. Der Feind – eine kleine Gruppe von Rittern in glänzend polierten Rüstungen – zögerte am Rand des Feuergrabens, wie die Sossag ihn nun nannten, obwohl er kalt und schwarz in der Sonne lag.

»Dieser Kerl versteht sein Geschäft«, sagte Ota Qwan. »Ich kenne ihn nicht. Wessen Banner ist das?« Er spuckte. »Er streut seine Ritter aus.«

»Und?«, fragte Nita Qwan.

»Wenn sie dicht zusammenbleiben, töten seine Männer höchstens ein paar unglückliche Krieger, aber wir schlachten sie von allen Seiten ab. In einer langen Reihe aber wird jeder von ihnen einen feindlichen Krieger töten – oder vielleicht auch fünf. Und derjenige, der einen der Ritter mit einem Pfeil trifft, darf sich glücklich preisen.«

Die Ritter ritten unter dem hellen Licht dahin, während sich der blaue Himmel in ihren Panzerungen spiegelte. Sie wirkten wie Ungeheuer aus dem Äther – mythische Bestien. Die Sonne glitzerte auf ihrem Stahl und stach den Männern in die Augen.

Skahas Gaho erschien wie durch Magie im Gras. »Weitere Büchsenmänner hinter uns«, sagte er. »Sie formieren sich im Wald am Fluss.« Er zuckte mit den Schultern. »Ihre Pferde sind nass. Sie haben den Fluss durchschwommen.«

Ota Qwan gab ein Grunzen von sich. Nita Qwan erkannte, dass er in diesem Augenblick eine Entscheidung gefällt hatte. Der Kriegsführer erhob sich, setzte ein Horn an die Lippen und blies einen langen Ton.

Die Sossag standen aus dem Gras auf und huschten davon wie Singvögel vor einem Adler. Sie rannten nach Norden, obwohl sich die beiden langen Reihen der Ritter langsam um sie schlossen.

Lissen Carak · Der Rote Ritter

Der Hauptmann beobachtete, wie sich der Bemalte nur hundert Pferdelängen vor ihm aus dem Gras erhob, in sein Horn blies und nach Norden losrannte, heraus aus den Zangen des doppelseitigen Angriffs. Er beobachtete all dies mit einem Gefühl des Versagens und einer gewissen Bewunderung. Er kannte die Hinterwaller.

Dann befahl er seinem Diener, das Signal zum Angriff zu blasen.

Seine Marschreihe erwischte einige Nachzügler, aber getreu seinen Befehlen wich sie nicht ab, um die Sossag zu verfolgen. Pfeile flogen durch die Luft, als die Nachhut der Sossag ihr Leben für das ihrer Gefährten gab, und einer der Ritter ging in einem Gewirr aus Rüstungsteilen und toten Pferdegliedern zu Boden. Dann aber hatten die schwarz gekleideten Ordensritter die Nachhut von der Flussseite her überrannt und töteten jeden Einzelnen von ihnen ohne Gnade.

Der Prior ritt an ihm vorbei, hob die Hand und rief seine Ordensritter zu sich, ohne dass dazu ein Wort ausgesprochen worden wäre. Es war eine großartige Zurschaustellung seiner Macht.

Der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Und ich habe geglaubt, wir sind gut«, meinte er.

An Pampes Lanzenspitze klebte Blut, als sie ihr Pferd zügelte. Jacques blies zum Sammeln, und ein verwundeter Ritter – Ser Tancred – wurde auf Ser Jehannes’ Pferd gehoben. Pampe beugte sich zum Hauptmann vor. »Wir sind gut«, sagte sie.

Links von ihnen wechselte die gesamte schwarze Schwadron innerhalb weniger Hufschläge vom Galopp in den Stand – und wirbelte dann herum, als werde gerade eine Zigeuner-Pferdenummer vollführt. In sauberer Keilformation stand sie auf die Brückenburg ausgerichtet.

Pampe schüttelte den Kopf – in ihrer Panzerung war diese Bewegung kaum zu bemerken. »Heiliger Jesus. Sie sind wirklich gut«, gab sie widerstrebend zu.

Der Prior ritt in die Mitte der neuen Formation. »Also, Hauptmann?«, fragte er. »Sollen wir die Burg retten?«

Der Hauptmann hob die Hand. »Auf Euer Kommando, Prior.«

Siebzig Ritter in ihren Rüstungen ließen die Erde erbeben.

Die Kobolde zerstreuten sich.

Lissen Carak · Thorn

Thorn sah in müder Wut zu, wie seine nutzlosen Verbündeten davonliefen, anstatt sich dem Feind gegenüberzustellen. Sie hatten im Brustton der Überzeugung behauptet, jeden besiegen zu können – auch diese stahlbedeckten Ritter.

Er sah zu, wie sie wegrannten und wusste – im Schmerz seines messerscharfen Verstandes –, dass sein gesamter Plan für den heutigen Tag in Trümmern lag.

Ein Ausbruch von Macht, wie er sich auf dem Feld ereignete, erregte seine Aufmerksamkeit. Die Macht selbst war nicht sehr intensiv, aber auch äußerst streng beherrscht. Nur jemand, der eine solche Meisterschaft wie er selbst besaß, konnte sie überhaupt erkennen.

Und dabei sofort den Zauberer benennen.

Prior Mark.

Thorn beobachtete, wie der Prior seine Macht nutzte, um Befehle an seine Ritter zu erteilen – um sie in wunderbare Waffen zu verwandeln, die seinem Willen unterworfen waren. Noch ein Mann, der die Macht liebte.

Einen Augenblick lang dachte er daran, alle ihm verbliebene Kraft in einen einzigen Zauber zu gießen und damit den Prior zu töten.

Doch das wäre dumm gehandelt. Er brauchte diese Macht. Er rief sich in Erinnerung, dass keine Eile nötig war. Die Armee des Königs würde den Fluss niemals erreichen.

Aber der Fall der Brückenburg würde all das unnötig machen.

Thorn sprach selten laut. Er hatte niemanden, mit dem er sich hätte unterhalten können – dem er seine Unschlüssigkeit oder seine geheimen Ängste hätte mitteilen können.

Aber nun richtete er das Wort an seine verblüfften Wächter. Es waren Schamanen, die ihn anbeteten. Und es war die Wolke von mückenartigen Gefolgsleuten, die sich um all seine Bedürfnisse kümmerten. Seine Stimme drang als ein harsches Krächzen hervor, wie die Stimme eines Raben.

»Vor dreißig Tagen hat ein Dämon versucht, diesen Ort einer Frau zu entreißen, die über keine Soldaten verfügte«, sagte er. »Schicksal und Pech haben es mir überlassen, mit dem König von Albia und ganzen Armeen von Rittern darum zu streiten, die auf ein Dutzend fähiger Magier und die besten Krieger der Welt zählen können.« Er lachte, und sein böses Krächzen scheuchte die Vögel in den Bäumen auf. »Und doch werde ich sie alle besiegen.«

Lissen Carak · Der Rote Ritter

Nichts hielt ihrem Angriff stand, und die starke Truppe der Ritter fegte über den Boden um die Brückenburg herum. Sie ritten nahe an den Mauern vorbei und töteten jede Kreatur der Wildnis, die ihnen nicht rechtzeitig aus dem Weg sprang. Die kleineren Kobolde rannten entweder davon oder ließen sich ins hohe Gras fallen, wo sie schwer zu finden waren, und die größeren Kobolde und die Irks – jene mit einer Rüstung – sprangen in ihre hastig gegrabenen Tunnel und kamen in einem letzten Ausbruch von Gewalt in der Hölle des Innenhofes wieder hervor.

Der Hauptmann hob die Hand und befahl seiner Truppe anzuhalten, als sie wieder bei der Rampe aus weicher Erde angekommen waren, über die die Arbeiter-Kobolde geklettert waren – hoch zur Ringmauer an der Nordseite der Brückenburg.

»Absteigen!«, rief er. Es war schon nach Mittag, und die Sonne hatte den Zenit überschritten, aber es blieben noch immer etliche Stunden Tageslicht übrig. Die Erfahrung sagte ihm jedoch, dass er der Brückenburg verlustig ginge, wenn er den Hof nicht vor Einbruch der Dunkelheit gesäubert hatte.

Und dann würde er die Verbindung zum König verlieren.

Falls der König überhaupt kam.

Jeder der Diener nahm die Zügel von fünf Pferden.

»Speere!«, befahl der Hauptmann, und seine Männer bildeten eine enge Formation am Fuß der Rampe. Zuerst kamen die Soldaten, die Knappen bildeten die Mitte und die Bogenschützen die Nachhut.

Der Prior ritt zu ihm und salutierte. »Wir geben Euch Deckung!«

Der Hauptmann erwiderte den Salut, als ihm Michael seinen schweren Speer reichte. »Wenn wir vor der Dunkelheit nicht wieder draußen sind, könnt Ihr annehmen, dass die Brücke verloren ist«, sagte der Hauptmann.

Der Prior bekreuzigte sich. »Möge Gott mit Euch sein, Ritter.«

»Gott interessiert sich hierfür nicht«, erwiderte der Hauptmann. »Aber es ist der Gedanke, der zählt. Zu mir!«, rief er also und machte sich daran, die frisch aufgeschüttete Rampe zu erklettern. Der Boden war feucht, doch die obere Schicht war hart – hart von etwas, das die Kobolde abgesondert haben mussten, sofern man von dem Geruch ausgehen konnte. Es stank beißend, wie Naphtha.

Auf den Mauern befanden sich etwa fünfzig Kobolde, und sie alle starben, als die Ritter kamen und durch sie hindurchpflügten.

Der Hauptmann schaute auf das Inferno im Innenhof hinunter. Alle Kaufmannswagen standen in Flammen, und im Hof wimmelte es vor Gestalten, die geradewegs der Hölle entsprungen zu sein schienen. Menschen war die Haut vom Leibe gerissen worden, und nun schrien sie inmitten von gepanzerten, weiß im Feuerschein glänzenden Kobolden. Die meisten von ihnen strebten der Tür zum nächstgelegenen Turm zu, und weitere ergossen sich aus der klaffenden Wunde in der Erde, wo ein Dutzend Steinplatten beiseitegeworfen worden waren. Sie waren wie Maden in einem aufgeblähten, geöffneten Leichnam. Noch weitere Kobolde befanden sich auf den Mauern – doch auf der Ostmauer kämpfte eine kleine, disziplinierte Truppe Rücken an Rücken gegen den Angriff, der von beiden Seiten kam.

»Nach rechts!«, rief der Hauptmann und führte seine Leute von der Ringmauer hinunter – über die Rampe, die eigentlich für Verteidigungsmaschinen erbaut war, damit diese auf die Mauerkrone gezogen werden konnten. Zwei bleiche Kobolde mit Streitäxten erwarteten sie dort.

Er hatte keine Zeit für Feinheiten, hob seinen Speer, senkte die Spitze und fing den Schlag der ersten Kreatur mit dem Schaft ab, packte ihren Arm und riss ihn vom Körper ab wie jemand, der ein Krabbenbein von einer frisch gekochten Krabbe zupft.

Der andere Arm des Geschöpfs flog auf ihn zu. Er rammte ihm die Speerspitze in den Kopf, ließ den Schaft sofort los und schlug dem Kobold die gepanzerte Linke gegen die Kehle. Der große Schlund öffnete sich, die Mundwerkzeuge blitzten vor seinem Visier auf, dann packte er den Speer wieder, rammte ihn in den Schlund, und beißendes Blut spritzte hervor wie die Lava aus einem Vulkan.

»Front formieren!«, brüllte er, während Pampe den zweiten gepanzerten Kobold mit ihrer Axt köpfte.

Ser Jehannes setzte sich links neben ihn. Pampe zog ihre Waffe zurück, trat in die Reihe und klopfte sowohl Ser Jehannes als auch Ser Tancred gegen die Brustpanzer – und die Linie war gebildet.

Die gepanzerten Wesen versuchten die Verteidiger des Nordturms zu überrennen, und der Hauptmann deutete mit seinem Speer auf sie. »Angriff!«, rief er.

Es waren zwanzig Schritte bis zu den Feinden.

Seine Panzerstiefel klapperten auf dem Steinboden, da stolperte er über eine Leiche.

Und dann – folgte ein Sturm aus Eisen. Bebende Schreie und heftiges Klacken erklangen wie der Schlag eines wahnsinnigen Trommlers, als sich die Masse am Nordturm umdrehte und auf ihn zuwogte.

Nun stand er Aug in Auge mit einem gepanzerten Ungeheuer, das so groß war wie Tom Schlimm. Die komplizierte Schichtung seines Frontpanzers über den Zwischenräumen der sechs Brustpanzer erinnerte an obszön klaffende Mäuler, als das Wesen zurückwich und mit seinem großen Hammer zu einem gewaltigen Schlag ausholte. Sein Körper spannte sich bei dieser Anstrengung wie ein Bogen an.

Der Hauptmann fing den Schlag mit dem Schaft seines Speeres ab und rammte ihn dann mitten in den Helm seines Gegners. Die Spitze durchdrang die Panzerung, und das Wesen zuckte.

Hinter dem sterbenden Feind ragte ein weiterer auf, der zwei lange Schwerter in den Händen hielt. Der Hauptmann musste zusehen, wie diese Kreatur den neuen Knappen von Ser Jehannes enthauptete, indem sie die beiden Waffen wie eine Schere blitzartig um den Kopf des Jungen schloss. Jehannes sprang vor, um seinen Knappen zu rächen, erhielt allerdings einen Schlag gegen den Helm, auf den hin er ins Taumeln geriet. Zwei blitzschnelle Schläge folgten, die ihn vollends zu Boden warfen.

Der Hauptmann schrie innerlich auf. Die Kobolde hatten seine Soldaten aufgehalten. Das hätte niemals möglich sein dürfen! Es gab in der ganzen Wildnis überhaupt nichts, das zwanzig voll gerüstete und bewaffnete Männer aufhalten konnte.

Zumindest nicht viel.

Der Hauptmann hielt inne und starrte jenes Wesen an, das über Jehannes stand, und nun begriff er, dass es ihn kannte. Er sprang es an, doch sein Speer steckte noch immer in dem Kobold.

Das Wesen mit dem Doppelschwert wandte sich von seiner Beute – Jehannes – ab und stellte sich ihm entgegen. Es war wieder eine andere Art von Kobold, ein schlanker, der größer als Tom Schlimm und mit Muskeln bedeckt war. Es trug ein von Menschen gefertigtes Kettenhemd, das all seine Glieder bedeckte, sowie eine kräftige Panzerung, die vielleicht angewachsen war oder aber sehr fein geschmiedet sein musste. Ein Wicht.

Am Rande seines Blickfeldes rammte Pampe gerade einen Speer durch den Panzer eines weiteren Ungeheuers und stieß dabei ihren Kriegsschrei aus.

Ser Tancred kämpfte gegen noch eines dieser Wesen und hielt es mit kräftigen Armen fest, während ihm sein Knappe immer wieder das Langschwert in die Armbeuge rammte. Es waren schnelle, genaue Stöße, und bald zuckte das Wesen und schlug um sich.

Doppelschwert hielt seine Klingen auseinander und sprang den Hauptmann mit animalischer Schnelligkeit an.

Der Hauptmann riss seinen Dolch aus dem Gürtel und vertraute ganz auf seine Rüstung. Er trat zwischen die beiden Klingen, die rasend schnell zusammenfuhren, riss die Arme hoch, hielt den Dolch mit beiden Händen, und die Schwerter krachten gegen seine Schulterplatten. Der gehärtete Stahl bog sich und riss; er schnitt in die Ringe des Kettenhemdes darunter, doch die Klingen drangen nicht in seinen Körper ein. Allerdings quetschten sie die schwer gepolsterte Joppe unter dem Kettenhemd, und seine Schultern trugen Prellungen davon …

Doch er schwang den Dolch und rammte ihn dem Kobold in den Hals.

Sechsmal.

Die Glieder des Wesens zuckten, aber seine Unterarme wurden fest wie ein Stahlband und schlossen sich um die Schultern des Hauptmanns. Es leuchtete vor Macht, seine Augen glühten kalt und blau, als es sich vorbereitete …

Er rammte ihm das gepanzerte Knie zwischen die Beine, doch da war nichts, was dem Wesen hätte Schmerzen bereiten können. Allerdings verlor es das Gleichgewicht. Der Hauptmann stellte den linken Fuß vor und stieß das Wesen über sein ausgestrecktes rechtes Bein. Sein eigenes Gewicht beschleunigte den Fall, aber es klammerte sich mit allen Gliedmaßen an den Hauptmann, und dann fiel er auf die Kreatur; der Griff seines Dolches ragte aus seinen Fäusten hervor.

Sein Stahlpanzer hielt.

Der des Ungeheuers aber hielt nicht. Die dreieckige Klinge durchdrang den Schutz, und nun spritzte Blut heraus.

Er hörte nicht auf, sondern zog den Stahldolch, der einen Fuß lang war, aus der Wunde und rammte ihn in die Mundwerkzeuge des Wesens, die sich mit schrecklicher Gewalt um das glatte Metall seines Helms öffneten und schlossen. Sie rissen ihm das Visier ab, zwangen seinen Kopf in einem schmerzhaften Bogen zurück, und nun war er Aug in Auge mit der feindlichen Kreatur. Seine Augen glühten vor entfesselter Macht.

Er konterte mit einem blitzschnellen Schlag und stieß dem Wesen seinen Dolch in das Auge, wieder und wieder, bis ein sichelbewehrtes Bein nach seinem Gesicht ausschlug.

Es würde nicht sterben, bevor es nicht sein Phantasma gewirkt hatte.

Er bekam den linken Arm unter den Kopf des Geschöpfs und rammte ihm den Dolch nun in die andere Augenhöhle – durch das Lid, durch Haut und Knochen. Er tastete nach dem Palast seiner Erinnerung, um die Macht des Wesens zu bekämpfen, die noch immer gewaltig war, obwohl er mit seiner Waffe bereits bis ins Hirn vorgedrungen war.

Und eine Welle der Macht drang in ihn ein, eine krankhaft bläuliche Welle von eiskalter Intensität. Er zuckte zusammen und wand sich …

Das Wesen verlor auch das zweite Auge.

Er nahm seine Macht in sich auf und saugte das fremdartige Leben aus, wie es die Kreaturen der Wildnis taten. So etwas hatte er nie zuvor getan, und er hatte nicht einmal gewusst, wie es möglich war. Vermutlich war es gut, dass Prudentia nicht zugesehen hatte.

Er sprang auf die Beine, berechnete blitzschnell die Möglichkeiten seiner Truppe in diesem Kampf, und einen flüchtigen Augenblick lang konnte der Hauptmann aus den Augen beider Parteien im Hof sehen.

Doch das Kräfteverhältnis hatte sich verschoben.

Ein Drittel seiner Männer lag am Boden: tot, verwundet oder vielleicht auch nur gestolpert; er wusste es nicht. Doch das Rückgrat des Feindes war gebrochen, und schon entstand an den Rändern eher eine Jagd als ein Kampf.

Seine Bogenschützen säuberten die Mauern; ihre Pfeile erhielten Gesellschaft von dem Dutzend Bogenschützen auf den Türmen, und der Sieg kam immer schneller. Ein Dutzend der weißen Kobolde fielen in ein Loch. Ein Mann, dem die Hälfte der Haut abgerissen worden war, die ihm nun am Rücken herunterhing, schrie erneut auf, und einer der Bogenschützen schoss ihm mit grober Gnade einen Pfeil in die Kehle. Überall im Hof öffneten Kämpfer in Rüstungen ihre Visiere und saugten verzweifelt Luft in ihre Lungen.

Der Hauptmann trat an eine Rampe aus Leichnamen, die sich an der Tür zum Nordturm befand, wo sich ein junger, von beißendem Koboldblut durchtränkter Riese auf eine sechs Fuß große Spitzaxt mit schwerem Stahlkopf stützte.

»Gut gekämpft, junger Daniel«, sagte der Hauptmann.

Der frühere Kutscher zuckte die Achseln. »Es war Meister Random, der die Tür gehalten hat, Hauptmann. Fast eine ganze Stunde lang, wie mir scheint.«

»Ist er tot?«, fragte der Hauptmann.

Daniel zuckte noch einmal die Achseln. »Sie haben ihn zu einem Leichenhaufen gezerrt«, sagte er. »Wir haben noch um seinen Körper gekämpft, aber er ging verloren, als Ihr angegriffen habt.« Er richtete sich noch mehr auf. »Nur … ich glaube, er hat es verdient, dass wir ihn finden.« Er schien seine Ermüdung abzuschütteln, streckte den Arm aus, spießte einen gepanzerten toten Kobold mit dem Widerhaken seiner Axt auf und warf ihn vom Leichenhaufen, ganz so wie ein Bauer, der das Heu mit der Gabel wendet.

Der Hauptmann packte einen weiteren. Wenn sie tot waren, wirkten die Kobolde seltsam harmlos – abscheulich, aber weniger insektenartig und eher wie gewöhnliche Tiere. Er stieß noch einen zur Seite und dann noch einen. Seine Hände zitterten dabei. Seine Knie waren schwach.

Er war ungeheuerlich angefüllt mit Macht.

Pampe gesellte sich zu ihm. »Was sollen wir jetzt tun? Die Verwundeten töten?«, fragte sie. Ihre Stimme klang ein wenig zu scharf und hell. Dies war ein Kampf gewesen, den sich die Männer – und Frauen – noch oft in ihrem Geiste vergegenwärtigen würden.

»Wir suchen nach einem Leichnam«, erklärte der Hauptmann. Jetzt steckte er bis zur Hüfte in den Körpern.

»Ich habe sein Bein gefunden!«, rief Daniel.

Michael kam zu ihnen, und plötzlich waren da auch Ser Milus und Ser Jehannes, dem das Blut noch aus dem Schultergelenk tröpfelte. Sie halfen alle mit, und bald hatten sie den Körper des Kaufmanns erreicht.

Er wurde steif und schrie.

Seine Rüstung war glitschig vom Blut der Kobolde und Menschen, und mit einem schmatzenden Geräusch wurde er aus dem Leichenhaufen gezerrt. Das Fleisch am linken Fußgelenk war verschwunden, Blut trat dort aus der Wunde, wo scharfe Mundwerkzeuge die Haut von den Knochen gerissen hatten.

»Druckverband! Beinschiene aufschneiden!«, brüllte der Hauptmann.

Schon hatte Daniel ein kleines Messer in seiner riesigen Pranke und schnitt die Bänder durch, von denen die Beinschiene gehalten wurde. Pampe klappte danach den Verschluss auf, und die Schiene fiel ab, wobei ein Schwall frischen Blutes hervortrat.

Der Hauptmann ergriff den Beinstumpf. Pampe legte ihren Schwertgürtel um das Gelenk und zog ihn mit aller Kraft zu.

Die Blutung hörte auf.

»Abbinden«, sagte der Hauptmann unnötigerweise. Im Notfall wurde jeder seiner Soldaten zu einem brauchbaren Feldscher.

Dann holte er müde Luft und lief zur Mauer.

Lissen Carak · Thorn

Thorn spürte, wie die dunkle Sonne Exrech überwältigte – und fluchte. Er fluchte, weil er wieder zum Narren gehalten worden war, und er fluchte, weil jeder seiner Züge gegen ihn gewendet zu werden schien.

Der Machtzuwachs der dunklen Sonne ließ diese noch gefährlicher werden, als sie es ohnehin schon war.

Thorn streckte seine inneren Fühler zu den beiden Sossag-Schamanen aus, die bei ihm waren, und nährte sich an ihrem Innersten und ihrer Macht. Die ausgesaugten Körper fielen zu Boden. Es war nicht viel Macht, reichte jedoch aus, um sehen und senden zu können.

Die herannahende Dunkelheit war nicht sein Freund. Er brauchte das Licht, in dem er seine zahlenmäßig überlegenen Kräfte zur Schau stellen und auch die große Zahl seiner Bogenschützen zeigen konnte.

Dann sandte er seine mächtige Sonne auf der Suche nach Clackak aus. Er fand ihn tief in der Erde unter der Steinfestung am Wasser, wo er sich mit hundert weiteren seiner Art verbarg.

Abbrechen, befahl er.

Die Sonne sank auf den Horizont zu. Es waren noch viele Stunden bis zur Nacht.

Thorn schüttelte seinen massigen Kopf und Körper. »Morgen«, sagte er.

Lissen Carak · Der Rote Ritter

Die Bogenschützen öffneten das Tor, und die Ritter preschten hindurch. Ihre schwarzen Umhänge verbargen das Glänzen der Rüstungen, und die schwarzen Pferde wirkten in der Finsternis wie Kreaturen aus einem Albtraum.

Der Prior ritt zum Hauptmann, der auf einem Faltschemel saß und sich den Dreck aus den Beinschienen kratzte, damit sie beweglich blieben. Sein ganzer Körper fühlte sich wie eine schlecht gepflegte Maschine an.

»Mit Gottes Hilfe habt Ihr gesiegt.«

»Wenn Ihr es so seht«, meinte der Hauptmann. »Für den Augenblick mag das stimmen. Aber es ist uns nur mit knapper Not gelungen. Und wo sind all die Lindwürmer? Und die Dämonen? Und die Wildbuben?« Er starrte in das letzte Schimmern des Tageslichts hinaus. Es hatte eine weitere Stunde gedauert, die restlichen Kobolde zu töten, und nun schleuderten die feindlichen Maschinen wieder Steine.

Die Diener stapelten Leichen vor dem Tor auf. Im Hof der Brückenburg stank es nach verbranntem Holz, toten Kobolden und Ausscheidungen. Pferde und Ochsen waren abgeschlachtet worden, Menschen und Kobolde waren gestorben. Das verwesende Fleisch roch wie ein böses Opfer in der allzu warmen Abendluft, und Mücken überfielen die hart schuftenden Männer wie eine Plage.

Der Prior stieg ab, seine Panzerstiefel hallten laut auf den Steinen des Hofes. »Das stimmt – wo sind sie? So viele böse Kreaturen habe ich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen.«

»Wir haben sie jeden Tag beobachtet. Aber jetzt sind sie fort«, sagte der Rote Ritter und fügte hinzu: »Vielleicht kommen sie mit der nächsten Angriffswelle. Das ist meine Vermutung. Sie wollten uns mit den Kobolden mürbe machen, und die größeren Kreaturen werden uns danach besiegen.« Er drehte den Fuß hin und her.

»Dann …«

»So würde ich es machen. Zuerst würde ich uns mit Wesen angreifen, die einfach zu ersetzen sind, damit die anderen aufgespart werden können. Er braucht sie im Kampf gegen den König. Das alles war nur dazu gedacht, uns hier an Ort und Stelle festzunageln.«

»Wir können durchhalten, bis der König eintrifft«, sagte der Prior. Er zog sich die schweißnasse Kappe vom Kopf und schlug nach einer Mücke.

»Trotz der Lindwürmer und Dämonen? Ich hoffe es«, meinte der Hauptmann und stand auf. »Michael, sag den Dienern, sie sollen Bier und Ahornsirup bringen.« Er lächelte den Prior an. »Schließlich wird es eine lange Nacht werden.« Er sah sich um. »Gelfred?«

»Mylord?«, sagte Gelfred.

»Du musst etwas wahnsinnig Tapferes für mich tun«, sagte er.

Gelfred zuckte nur mit den Achseln.

»Kannst du eine Botschaft von mir an den König überbringen?«

»In der Dunkelheit? Durch die feindlichen Linien hindurch?« Gelfred lächelte. »Mit Gottes Hilfe wird es mir gelingen. Aber bei meinem Glauben, Messire, wenn Ihr noch einmal behauptet, Gott kümmere sich nicht um uns, dann könnt Ihr Eure verdammte Botschaft selbst überbringen.«

Der Hauptmann reichte dem Jäger die Hand. »Diesen Tadel muss ich wohl einstecken, Gelfred.«

Gelfred zuckte noch einmal mit den Schultern. »Betet zusammen mit mir«, sagte er.

»Wir sollten es nicht übertreiben«, erwiderte der Hauptmann.

Gelfred lachte. »Warum mag ich Euch so sehr?«

Nun war es an dem Hauptmann, mit den Schultern zu zucken. »Dieses Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit.«

Eine halbe Stunde später begab sich Gelfred in den Fluss.

Er schwamm eine Viertelstunde lang in der Finsternis und ließ sich dann von der Strömung forttragen, während er sich ausruhte. Er hörte oder spürte einen Lindwurm in der dunklen Luft über sich, tauchte unter und blieb dort, solange es ihm möglich war. Als er wieder an die Oberfläche kam, schlug sein Herz so schnell, dass er ans Ufer schwimmen musste.

»Da geht der tapferste Mann meiner Truppe dahin«, sagte der Rote Ritter zum Prior.

»Ist er vielleicht der tapferste, weil er sich seinen Ängsten stellt?«, gab der Prior zu bedenken. »Er hat Gottes Hilfe.«

Der Hauptmann schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Er beobachtete nur die Dunkelheit und wünschte sich, er befände sich in der Festung. Dann berührte er das verdreckte Taschentuch, das noch immer an seinem Wappenrock haftete. Es war nicht mehr weiß, denn es hatte das Blut und den Eiter verschiedener Feinde abbekommen, und es war fast in zwei Hälften geteilt worden.

Lissen Carak · Amicia

Amicia versuchte, nicht zum Tor zu gehen. Sie versuchte, nicht aus dem Fenster zu schauen. Als eine Gruppe von Soldaten auf erschöpften Pferden in den Hof einritt, zwang sie sich zu warten, bis die Verwundeten hereingebracht wurden.

Ser Tancred teilte ihr mit, der Rote Ritter werde die Nacht auf der Brückenburg verbringen.

Als die letzten Verwundeten geheilt waren, kniete sie in der Kapelle neben der aufgebahrten Äbtissin nieder und betete. Sie öffnete sich ganz für Gott, wie es ihr die Nonnen beigebracht hatten. Und sie gab ein zutiefst empfundenes, ernstgemeintes Versprechen ab.

Irgendwo · Gelfred

Er war müde, ihm war kalt, und er bekam große Angst, als er am anderen Flussufer menschliche Stimmen hörte. Er schwamm so leise wie möglich.

Sie hatten Boote.

Nach einiger Zeit schwamm er auf eines der Boote zu, und ein Wachtposten sah ihn.

»Halt! Alarm! Mann im Wasser!« Eine Armbrust wurde abgefeuert, und der Pfeil flog an ihm vorbei.

»Freund!«, rief er außer Atem. »Aus der Festung!«

Zwar waren sie sehr wachsam, aber sie waren keine großen Schützen. Er schwamm weiter auf sie zu und rief dabei immer wieder, dass er ein Freund sei. Endlich hörten sie auf, ihn zu beschießen, und starke Arme zogen ihn in eine große Barke.

»Bringt mich zum König!«, sagte er.

Ein großer Mann mit dem Akzent eines Hochländers setzte ihn auf eine Bank. »Trink das, Junge«, sagte er. »Du hast nicht den König, sondern die Königin gefunden.«