Kapitel 45
Bad Wiessee, Donnerstag, 21. 12., 07.32 Uhr
Noch immer wollte es nicht Tag werden. Pollingers Augen tränten vor Müdigkeit. Er hatte zwei Opern gehört. Seine Ohren klingelten. In seinem Magen brannte ein Höllenfeuer. Erst war er erleichtert gewesen. Quercher lebte. Sie hatten ihn bereits vor dem Anruf der Amerikanerin gefunden. Noch hatte er keinem der Anwesenden von dem Telefonat erzählte. Er wollte noch ein Ass im Ärmel behalten. Aber dann war er in Agonie verfallen. Was würde passieren, wenn Quercher keine Beweise hatte?
Vor der Wandelhalle waren mittlerweile mehrere Wagen diverser TV-Sender aufgefahren. Jemand hatte geplaudert. Die Zutaten für eine große Geschichte lagen auf der Hand: mehrere Leichen, eine aus Geheimdienstkreisen, zudem die größte Lawine seit Langem hier in der Gegend. Einige Reporter hatten das herbeigerufene SEK identifiziert. Überall wurden gleißende Kamerascheinwerfer aufgebaut, vor die sich müde und unerfahrene Journalisten stellten und Sinnloses stammelten. Das Biest wollte gefüttert werden.
Pollinger trug noch seine großen Kopfhörer. Er drehte sich um, sah in den Raum und sein Blick blieb bei einer Gruppe um Picker hängen. Der stand mit Straßberger, Brunner und dem Typen vom BKA zusammen. Ab und an sahen sie zu ihm herüber, schüttelten den Kopf.
Quercher hatte noch im Hubschrauber darauf bestanden, sofort verhört zu werden. Die zwei SEK-Beamten hatten das an die Einsatzzentrale in Wiessee durchgegeben. Dort erntete man nur höhnisches Gelächter. Quercher hatte nach dem ranghöchsten Staatsvertreter gefragt und Dr. von Stock aus dem Bayerischen Innenministerium hatte sich schließlich doch bequemt, das Telefonat anzunehmen. Kurze Zeit später wurde Quercher gegen den Willen des Notarztes nach Wiessee geflogen. Er war glimpflich davongekommen. Der Bruch seines Beins musste nach der Erstversorgung operiert werden, aber das hatte noch Zeit. Er hatte bereits Infusionen bekommen, und als ein Sanitäter ihn durch einen Hintereingang in die Wandelhalle schob, fühlte er sich schon bedeutend besser. Kaum war er in dem großen Saal angekommen, zog er alle Blicke auf sich. Selten hatte er einer solchen Wand aus Feindseligkeit gegenübergestanden.
Aber die wenigen Sätze, die Quercher mit von Stock während des Telefonats im Hubschrauber gewechselt hatte, hatten ausgereicht, dass sich der hagere Mann mit den blonden Haaren nun von seinem Tisch erhob und eiligen Schrittes auf ihn zuging.
In den großen Fenstern spiegelten sich die ersten Strahlen der Morgensonne. Quercher war erschöpft. Aber das Schwierigste stand ihm noch bevor.
Es war eine Abstellkammer. Stühle und Tische stapelten sich bis zur Decke. Fenster gab es nicht. Es roch nach Putzmitteln und Schimmel. Von Stock hatte einen Tisch und einige Stühle mit rotem Polster in die Mitte des Raumes stellen lassen. Quercher saß in einem Rollstuhl des Roten Kreuzes. Ihm gegenüber nahmen von Stock, Pollinger und der BKA-Beamte Platz. Neben Quercher stand eine Infusionsstange mit einem Plastikbeutel. Er konnte kaum die Augen offen halten. Pollinger hatte ihm einen Tee und Süßigkeiten besorgt. Ohne Rücksicht auf gutes Benehmen hatte Quercher sie schon auf den Weg in den Raum verschlungen.
Von Stock begann das Gespräch. »Das ist ausdrücklich kein Verhör. Sie sind nicht vernehmungsfähig, wollen aber den Ermittlungsbehörden Informationen zur Verfügung stellen. Gegen Sie wird in zwei Mordfällen ermittelt. Dieses Gespräch ist quasi inoffiziell. Ich lasse das nur zu, weil wir unseren Leuten immer eine Chance geben wollen. Da draußen wartet eine Meute Journalisten, denen mein Chef noch heute einen Verdächtigen präsentieren wird. Und Sie sind nach derzeitigem Kenntnisstand in der engeren Auswahl. Ich kann …«
»Ich habe wenig Zeit, Herr Dr. von Stock. Also fasse ich mich kurz«, sagte Quercher knapp.
»Das wäre wünschenswert«, antwortete sein Gegenüber ungerührt.
Quercher trank einen Schluck Tee, verbrannte sich die aufgerissenen Lippen und begann: »Im Mai 1945 retteten sich mehrere ehemalige SS-Soldaten hierher ins Tal. Einer von ihnen lebte unter einer anderen Identität. Das war nicht ungewöhnlich. Er nannte sich Hans Kürten und hatte den Namen eines Mannes angenommen, den er in einem Kriegsgefangenlager kennengelernt hatte und der dort starb. In dieser Zeit waren die SS-Leute nicht sonderlich beliebt bei den neuen Machthabern. Die Herren hatten im Krieg nicht nur Grauen und Schrecken verbreitet. Sie hatten auch große Mengen an Gold zur Seite geschafft. Dies galt es, klug anzulegen. Nur durften sie nicht in Erscheinung treten. Das machte der feine Herr Kürten für sie, der nun ja offiziell keine SS-Vergangenheit mehr hatte. Bald wusste das auch der neu gegründete Bundesnachrichtendienst. Der deckte alles. Klar, waren ja alte Kameraden. Die Herren schoben das Geld hin und her, so wie sie es eben brauchten. Und damit war auch nicht Schluss, als die alten Herren starben. Nach meinen Erkenntnissen gibt es diesen, nennen wir es Handel im Graubereich immer noch. Noch immer agieren ehemalige Agenten und BND-Mitarbeiter in dieser undurchsichtigen Zone, nutzen Geldquellen aus alten Agentenzeiten. Und damit das Geld aus diesem Handel von Grau zu Weiß wird, hat man hier am See das Projekt Sol gegründet. Darin verstrickt sind verschiedene Honoratioren. Dr. Rieger scheint von einem Mitwisser erschossen worden zu sein, allerdings …« Quercher stockte.
Pollinger sah ihn an und hob eine Augenbraue.
Quercher verstand den Hinweis und blieb im Ungefähren. »… allerdings ist das nur eine Vermutung. Nun zu dem anderen Toten. Ich war Zeuge des Todes von Josef Schlickenrieder, nicht jedoch der Mörder. Elli Schlickenrieder tötete ihren Mann, weil er sie mit seiner Waffe bedrohte. Zuvor hatte er sie verprügelt und misshandelt. Näheres kann der behandelnde Arzt hier aus Bad Wiessee bestätigen. Elli wollte aus dieser Hölle fliehen. Ihr Mann stellte sie mit einer Waffe, wollte die Flucht verhindern. Ich sah, wie er seine Waffe auf sie richtete. Elli wehrte sich in einem Akt der Verzweiflung mit ihrem Nordic-Walking-Stock. Dabei gerieten beide ins Stolpern, sie stürzten in den Schnee, und der Stock traf Schlickenrieder so unglücklich, dass er starb. Es war ein Unfall. Danach ist Elli verschwunden. Vermutlich wurde sie ebenfalls ein Opfer der Lawine.«
Er machte eine kurze Pause und trank einen Schluck Tee. Er spürte, dass seine Kräfte ihn endgültig verließen. Er musste zum Punkt kommen, den entscheidenden Schuss abgeben.
Für all die alten Geschichten hatte er keinerlei Beweise. Auch nicht dafür, dass er Rieger und Schlickenrieder nicht ermordet hatte. Schließlich war er der einzige Zeuge. Er musste alles auf eine Karte setzen und sich ganz auf seinen Retter Franz Heilingbrunner verlassen.
»Ellis Mann gehört zu einem Kreis oder Netzwerk, das hier erhebliche kriminelle Geschäfte am See vollzieht. Elli, eine alte Schulfreundin von mir, gab mir dazu umfangreiches Beweismaterial. Nun zu dem Killer, der vermutlich von dem alten Rieger beauftragt wurde. Kurz vor seinem Tod gestand dieser Hudelmeier, den Schreiner Andreas Birmoser getötet zu haben. Die Ermittlungen sind nach meinem Dafürhalten bewusst zu früh eingestellt worden.«
»Das sind ja höchst wirre Anschuldigungen. Gibt es dafür Beweise?«, fragte der Mann vom BKA.
Quercher sah ihn müde an. »Haben wir uns schon vorgestellt?«
»Mein Name ist Meschede. Ich bin vom Bundeskriminalamt. Wo sind die Beweise und wo ist Frau Kürten, die Sie betreuen sollten? Liegt sie auch da oben tot im Schnee, Herr Quercher?«
Der schüttelte den Kopf, aber ehe er antworten konnte, beugte sich Pollinger vor. »Frau Kürten rief mich vor einer Stunde an, versicherte mir ihre Lebendigkeit und informierte mich über den Fundort Querchers. Ich hielt es für ratsam, erst einmal mit dieser Information zu warten, bis sich Herr Quercher selbst äußern konnte. Frau Kürten wird vorerst wohl nicht mehr in Deutschland auftauchen. Sie sei aber bereit, in New York vor einem FBI-Team eine eidesstattliche Aussage zu machen, die Querchers Ausführungen zum Tode Riegers und Schlickenrieders bestätigen.«
Quercher hob verwirrt den Kopf. Warum wollte Hannah das tun? Sie war beim Mord an Rieger nicht dabei gewesen. Und sie hatte aus der weiten Entfernung unmöglich erkennen können, wie Elli ihren Mann tötete.
»Eine Frau, die nicht mehr nach Deutschland reisen möchte? Ob deren Aussage der Wahrheit nahekommt?«, ätzte Meschede, aber von Stock nickte nur kurz und der BKA-Polizist schwieg genervt.
»Darf ich einen Laptop haben?«, fragte Quercher.
Pollinger schloss sein digitales Musikarchiv und schob seinen Laptop zu Quercher. Der gab einen Namen und verschiedene Nummern ein. Dann wartete er, während der Computer mit einem lauten Summen rechnete. Quercher schwitzte. Hatte Heilingbrunner zu Hause die Dateien von den USB-Sticks auf seinen Computer geladen? Hatte er mit Sepp, dem alten Verschwörungstheoretiker, Kontakt aufgenommen und die Inhalte der USB-Sticks, ohne sie selbst dechiffrieren zu können, an Sepp weitergeleitet? Quercher hielt die Luft an. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Pollinger sah ihn besorgt an.
Dann drehte Quercher den Laptop zu den anderen, damit sie auf den Bildschirm sehen konnten. »Das sind Mitschnitte aller Gespräche, Meetings und Sitzungen zwischen dem Bürgermeister Stangassinger, dem Immobilienmakler Brunner, dem BND-Pensionär Rieger und anderen. Hinzu kommen Scans und Kopien über Verträge und Grundbucheinträge. Sie sind echt.«
Meschede klickte die Dateien an und kurze Zeit später hörten sie die Stimmen der Männer, von denen jetzt zwei draußen vor der Tür warteten, während die anderen beiden sich mit einer Kugel und einem Nordic-Walking-Stock im Kopf im Jenseits befanden.
Von Stock fand als Erster die Worte wieder. »Herr Pollinger, sind Sie so nett und warten mit Herrn Quercher draußen? Wir haben da Klärungsbedarf mit unseren Vorgesetzten, wie Sie sicher verstehen werden.«
Pollinger hatte sich erhoben und Querchers Rollstuhl Richtung Tür gedreht, als von Stock noch eine Frage stellte. »Wo befinden sich die USB-Sticks jetzt?«
Quercher grinste. »Ich bin im Besitz der USB-Sticks. Sie sind sicher. Und um Ihre eigentliche Frage zu beantworten: Sie können jederzeit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.« Er zeigte hinaus zu den in einer Reihe stehenden Reportern, die hinter einem Absperrband der Polizei auf die Stellungnahme oder Aussagen der Ermittler warteten.
Pollinger schob den Wagen nach draußen, beugte sich nach vorn und flüsterte Quercher ins Ohr: »Wenn einer, der mit Mühe kaum geklettert ist auf einen Baum, schon meint, dass er ein Vogel wär, so irrt sich der.«
Der Magen des einen brannte. Das Bein des anderen schmerzte. Aber beide lachten laut. Denn beide hatten Wilhelm Busch in der Schule auswendig lernen dürfen.
Sie ließen sich Zeit. Quercher war in seinem Rollstuhl eingeschlafen. Wie ein Seniorenheimbewohner, den man in die Sonne geschoben hatte, schlief er mit dem Kopf auf der Brust, erschöpft und ruhiggestellt von den Medikamenten. Zu seinen Füßen lag Lumpi und schlief schnarchend auf Querchers Jacke. Pollinger, obwohl selbst sterbensmüde, hatte auf die beiden aufgepasst. So schlichen die Kollegen an dem sonderbaren Trio vorbei, bemüht, keinen Krach zu machen. Still genoss der alte Mann seinen Triumph über Rieger, den alten Feind vom BND. Es hatte lange gedauert. Aber jetzt war es passiert. Pollinger wollte nie Rache. Das war etwas für dumme Menschen. Rache machte blind und fesselte den Verstand und das Herz, fand er. Pollinger wollte Gerechtigkeit. Diese braunen Gespenster, die sein Land nach dem Krieg so geprägt und geführt hatten, waren verschwunden, ihre Netzwerke zerschlagen und ihre Pläne hier im Tal vereitelt worden. Oder war das nur ein Anfang?
Pollinger dachte an den Tod, den er bislang zu ignorieren versucht hatte. Aber mit dieser Wendung waren wieder sein Starrsinn und sein Wille zum Überleben erwacht. Er sah auf den ramponierten Quercher und entschied mit einem Lächeln, den Kampf gegen den Krebs aufzunehmen.
Dann war Meschede aus dem Zimmer geeilt, hatte kurze Anweisungen an sein Team erteilt und war wieder in den kleinen Raum verschwunden. Nacheinander wurden die aufgebrachten und schreienden Herren Brunner und Stangassinger von den Kollegen verhaftet. Man führte sie draußen am Absperrband entlang. Das kam einer öffentlichen Hinrichtung gleich. Meschede und von Stock mussten sich ihrer Sache sehr sicher sein, die Aufzeichnungen hatten wohl kaum Raum für Interpretationen gelassen.
Dann stand von Stock vor Pollinger. »Wecken Sie Ihren Mitarbeiter, bitte.«
Pollinger drückte Quercher sanft an der Schulter, wie es sonst nur Väter taten.
Quercher presste seine Augen fest zusammen. Er hatte tief geschlafen. Das Schmerzmittel, das ihm der Notarzt gegeben hatte, wirkte hervorragend.
Von Stock setzte sich auf eine Bank neben Querchers Rollstuhl. »Herr Quercher, Dr. Pollinger. Es ist für uns alle sehr mühsam. Unsere Stellen in Berlin haben sich beraten. Niemandem wäre damit geholfen, wenn dieser alte Schmutz einer neuen Bewertung zukommen müsste. Man hat Stillschweigen vereinbart. Egal, wer was, wann und wo veröffentlicht. Und deswegen darf ich Sie im Sinne der Staatsräson über Folgendes in Kenntnis setzen: Ihre, sagen wir, scheinbaren Erkenntnisse über die Vergangenheit unseres Staates sind nicht belegbar. Dr. Rieger hat sich bei einem Ausflug auf dem Tegernsee mit einem Jagdgewehr getötet. Schon länger plagte ihn eine Altersdepression, wie Freunde und Familie bestätigen werden. Die Familie Rieger hat einer schnellen Urnenbeisetzung zugestimmt.«
Quercher lächelte müde und nickte nur kurz. So war es eben.
»Die Todesursache von Josef Schlickenrieder ist ungeklärt. Und sie bleibt es, bis wir die USB-Sticks gesichert haben. Das ist Ihnen wohl klar. Unser Gespräch hat nie stattgefunden. Sie sollten wissen, dass wir jederzeit die Ermittlungen in Ihre Richtung aufnehmen können.«
Quercher verstand. Das war der Deal. Würde er den Mund halten, würde zu der ganzen Sache auch von staatlicher Stelle aus nichts gesagt werden. Aber er konnte damit leben. Es war eben Bayern.
»Was ist mit Sol?«, fragte Quercher bitter lächelnd.
Von Stock stand auf und reichte Quercher die Hand. »Na, das wissen Sie doch am besten. Herzlichen Glückwunsch. Sie haben den wohl größten Immobilienskandal in der Geschichte des Bundeslandes aufgedeckt. Gut, die Gemeinde wird wohl bald pleite sein ohne einen neuen, seriösen Investor. Aber da finden wir schon jemanden.«
Quercher wurde angesichts des Zynismus übel.
Von Stock gab sich jedoch weiter redselig. »Die Informationen auf den Sticks sind so umfassend, dass sie das gesamte Gewirr aus Abhängigkeiten zwischen den Herren Brunner, Schlickenrieder und Stangassinger erklären werden. Aber Rieger war so geschickt, die Hintergründe für sich zu behalten. Das wissen Sie, Ihr Vorgesetzter, der Herr Meschede und ich. Eine Win-win-win-Situation, wenn Sie so wollen. Das BKA kann mit diesem Wissen sicher im internen Wettbewerb zum BND punkten. Ich habe dem Land Bayern eine sinnlose Diskussion um seine Geschichte erspart. Und Sie beide … na ja … Gehen Sie raus und lassen sich feiern. Lorbeeren für den Sieger, heißt es doch.« Er sah auf das gebrochene Bein. »Ein Hubschrauber der Polizei wird Sie in die Klinik nach Agatharied bringen. Hals- und Beinbruch sollte ich wohl nicht mehr wünschen.« Von Stock lächelte sardonisch. »Und noch etwas, Herr Quercher. Unser Land braucht solche hartnäckigen Männer wie Sie. Ihr Gesuch auf Frühpensionierung ist natürlich zurückgezogen worden.«