Kapitel 29
Rottach-Egern, Mittwoch, 20. 12., 11.45 Uhr
Der Leeberg liegt am Ostufer des Tegernsees. Er bietet die sonnigste und teuerste Lage am gesamten See und einen grandiosen Blick über das Tal und den Alpenkamm. Die Preise für Villen fangen bei zwei Millionen Euro an. Wer hier von der Hauptstraße den Berg hinauffährt, sieht Schilder wie Privat und Kein Durchgang. Sie zeugen davon, dass Fremde nicht wirklich willkommen sind. Doch die Abgeschiedenheit ist bedroht: denn das abgeschottete Idyll kommt ins Rutschen. Eine Bürgerinitiative verweist seit Jahren auf geologische Gutachten, die belegen sollen, dass sich der Berg in Bewegung setzen könnte. Zigtausende Kubikmeter Erde und Geröll würden dann in Richtung See stürzen und einige der teuren Häuser unter sich begraben oder mit sich reißen.
Dr. Rieger hatte in den letzten Jahren immer wieder private Bohrungen des Untergrunds vornehmen lassen. Und tatsächlich hatten die von ihm beauftragten Geologen ein Risiko erkannt, aber gegen entsprechende Leistungen das Gegenteil behauptet. So war der Wert der Rieger’schen Immobilien stetig gestiegen. Eine dieser Villen diente als Gästehaus. Hier wohnten seine Freunde aus alten Tagen, genossen den Winter am See und fanden sich zum alljährlichen Winterfest in der Rieger-Villa ein.
Er hatte gerade seinem Freund aus der bayerischen Staatskanzlei heimlich angewidert beim Vernichten einer Weißwurst zugesehen. Rieger kannte den Beamten Howinger schon lange. Sein fettes Gesicht wurde von einer zu kleinen Brille mit kreisrunden Gläsern nochmals verunstaltet. Hinzu kamen zwei braune Warzen am sonst käsigen Halswulst.
Noch während er das letzte Stück Wurst kaute, redete Howinger auf Rieger ein und fuchtelte dabei mit der Gabel herum. »Du kannst dich nicht mehr auf uns verlassen! Die Zeiten haben sich spätestens mit diesem dämlichen Koalitionspartner geändert. Wir decken deine Arbeit nicht mehr. Die Beamten der Polizei in Miesbach haben keine Spur der Leiche in dem verbrannten Wagen gefunden. Das heißt, die geistert wie der Fliegende Holländer noch irgendwo hier im Tal herum! Du selbst musst da jetzt mit großem Fingerspitzengefühl dran. Uns rennt die Zeit davon. Im Frühjahr wird in diesem Bundesland gewählt. Einen solchen Skandal kann sich meine Partei nicht erlauben. Ein toter SS-Mann, der ganze Mist mit unserer glorreichen Vergangenheit. Wem wollen wir erklären, dass das in einer anderen Zeit war?«
Auch ein Dinosaurier wie Rieger hatte sich diesen Regeln zu beugen, wollte Howinger noch hinzufügen, vermied es aber aus Respekt seinem Gastgeber gegenüber.
»Was schlägst du vor?«, fragte Rieger leise, während er mit einer Serviette spielte, sie faltete und auseinanderblätterte.
Howinger spürte die unterdrückte Aggression in Riegers Stimme. »Du kannst nicht immer Gewalt sprechen lassen. Das ist die Sprache des Kalten Krieges. Die heutige Generation ist mit Geld und Status sehr schnell zu befriedigen. Die sind aus einem anderen Holz als wir damals. Du sollst wissen: Wir haben unsere Ressourcen. Du hast Handlungsvollmacht. Aber ich möchte kein Blut in den Zeitungen haben.«
Rieger nickte. »Weißt du, Jörg, all die Jahre haben wir für euch die Drecksarbeit gemacht. Dein Ministerpräsident wollte seine Flugzeuge verkaufen. Was haben wir gemacht? Genau, gut Wetter vor Ort bei den Arabern und den Negern mit viel Geld und einer Ausbildung durch meine Leute. Kredite sollten eingefädelt werden, damit bayerische Firmen und Parteispezln verdienen konnten? Haben wir organisiert. Unliebsame Ausplauderer wurden stumm gemacht. Wir vom Dienst haben immer abgeraten. Aber ein Verteidigungsminister und späterer Ministerpräsident bestand darauf. Weil er Weltpolitik machen wollte. Ist halt schöner, mit dem amerikanischen Präsidenten zu frühstücken als mit dem Chef der Isar Amper Werke. Jahrzehntelang haben wir vom BND euch gut dastehen lassen und die Prügel aus Bonn und später Berlin bekommen. Und jetzt, wo deine Partei nur noch aus mittelmäßigem Personal besteht, bekommt ihr Fracksausen. Lieber Fehler vermeiden, als mit Risiko Erfolge vermelden.«
Howinger lächelte. Riegers Bitterkeit war ihm ein vertrautes Schauspiel und in gewisser Weise konnte er ihn verstehen. Die Welt, in der er jetzt lebte, war nicht mehr so einfach in Schwarz und Weiß einzuteilen. Es gab für einen Rieger eigentlich keinen Platz mehr in Zeiten der Globalisierung.
Rieger hingegen fühlte sich für einen Moment erleichtert, wenn er dieser Parteischranze, die einst sein Freund gewesen war, die Meinung sagen konnte.
Howinger musste Rieger auf das Kernproblem aufmerksam machen, ihn von der Weltpolitik und der Vergangenheit in die Gegenwart holen. »Aber was ist denn nun mit dieser Leiche?«
»Diese Leiche ist nicht entscheidend«, zischte Rieger. »Der Kürten ist 1963 auf natürliche Weise gestorben. Wir haben ihn nicht exekutiert. Aber du hast recht: Wir müssen handeln. Wenn klar wird, dass wir mit Judengeld aus dem Dritten Reich Grundstücke gekauft haben, im Auftrag des BND und mit Wissen der Regierung, dann bleibt kein Stein mehr auf dem anderen. Und wir alle hängen da drin.«
Rieger hatte sich diese Drohung für den Schluss aufgehoben. Howinger sollte sich nicht zu sicher sein und ihn als Außenseiter positionieren.
Er stand auf, sah hinaus in das Schneetreiben auf seiner Terrasse. Eine Meise hatte sich in dem Freisitz versteckt, suchte die Wärme. Sie hatte sich aufgeplustert und dicht an die Wand gedrückt. Regungslos saß sie da. Der Vogel sah nicht die rot-weiße Katze, die sich tief gebückt durch den Schnee an den Rand der Terrasse geschlichen hatte. Der Kater des Nachbarn.
Rieger sah ins Tal hinab. Er wollte noch einmal auf die Langlaufpiste. Allein, um die Wut, die sich in dieser kurzen Zeit in ihm aufgestaut hatte, abzubauen.
Der Kater sah die Meise, verharrte ebenso, wobei er die rechte Vorderpfote anhob.
Langlaufen, dachte Rieger, war das, was am Ende übrig blieb. Wie sehr er früher das Abfahrtskifahren geliebt hatte. Aber eine künstliche Hüfte hatte all das zunichte- und ihn mit sechzig Jahren zu einem Greis gemacht. Mühsam und mit vielen Therapiestunden hatte er sich inzwischen immerhim zum Langlaufen vorgearbeitet.
Die Katze verengte ihre Augen. Sie setzte zum Sprung an.
Noch würden die Gemeinden die Loipen spuren lassen. Aber bald würde der viele Schnee alles bedecken, ihn in das Haus zu seinen Freunden zwingen, zu ihren belanglosen Reden über Krankheiten und Sterben.
Mit einem Satz war der Kater in der Ecke. Der Vogel hüpfte kurz hoch. Aber mit nur einer Pfote drückte der Kater ihn auf den Boden zurück und biss ihm in den Kopf. Der Vogel hatte keine Chance.
Der Schneefall wurde jetzt so dicht, dass er vom Tal nichts mehr sah.
Der Kopf der Meise hing schlaff herunter. Bedächtig schritt der Kater mit dem Vogel im Maul davon.
Rieger griff in den großen Porzellantopf, nahm eine dampfende Weißwurst heraus und legte sie auf Howingers Teller. »Ich muss noch zu einem Termin. Wir sehen uns heute Nachmittag zum Tee wieder«, war seine knappe Verabschiedung.
Wenig später hatte er seinen Mercedes-Geländewagen auf dem Parkplatz unterhalb des tausendsiebenhundert Meter hohen Wallbergs an der Südseite des Sees geparkt. Rieger trug eine graue Jacke, eine ebenso graue Skihose und eine Fellmütze, die auch die Wangen schützte. Er war wie all die anderen gekleidet, die sich hier für einen Aufstieg zum Gipfel mit Stöcken, Schlitten oder Skiern bereit machten. Ihr Ziel war die mehrere Kilometer lange, ausgesprochen anspruchsvolle Rodelbahn, die vom Gipfel des Wallbergs ins Tal führte.
Rieger sah einen Mann in einem eleganten Lodenmantel und einer knallroten Pudelmütze. Das war Brunner. Ein Mann, der die Bedeutung der Unsichtbarkeit nie begriff. Zu viel verlangt von einem Makler.
Rieger ging an ihm vorbei, grüßte nicht. Das wenigstens verstand Brunner. In geringem Abstand stapften sie durch den Schnee hinauf in das Kassenhaus. Sie standen hintereinander und warteten in der Schlange an der Seilbahn. Jeder löste eine Karte und sie stiegen wie zufällig zusammen in eine der blauen Gondeln.
Es war noch keine Ferienzeit. Der Trubel am Berg ging erst in wenigen Tagen los. Die knapp fünfzehn Minuten in der Gondel bis zum Gipfel mussten für einen Gedankenaustausch reichen.
Der alte Mann sah an Brunner vorbei hinauf zum Berg, wo ein fades Restaurant mit ebenso fadem Essen wartete. Dann begann er leise zu reden.
»Der Quercher gibt nicht auf. Er, die Kürten und diese Türkin recherchieren, überwachen und analysieren unsere Schritte. Bei der Untersuchung des Leichenwagens fanden die Beamten keine menschlichen Überreste. Ich konnte zwar den Hinweis im Polizeibericht etwas modifizieren. Aber die Leiche bleibt verschwunden. Das Einschüchtern, das Drohen und das massive Verschleiern haben Quercher erst auf unsere Spur gebracht. Ich denke, Sie sollten mir auf zwei Fragen gute Antworten geben. Erstens: Wo ist die Leiche? Zweitens: Was tun Sie, um dieses Ermittlertrio aus dem Tal zu verscheuchen?«
Brunner wollte ihn unterbrechen.
Aber Rieger hob nur seine knochige Hand und fuhr unbeirrt fort. »Denken Sie bitte nach, bevor Sie antworten. Bis zum Gipfel will ich eine Lösung.«
Alfred Brunner spürte Angst in sich aufsteigen. Rieger war ein anderes Kaliber als seine üblichen Feinde. Wenn er vernichtete, tat er dies gründlich. Brunner selbst hatte es vor Jahren miterlebt. Und so nickte er erst einmal, um Zeit zu gewinnen. Die Gondel wurde in die Höhe gezogen, ließ den Blick auf Tannengipfel und eine gerodete Schneise frei werden, wo Brunner Spuren von Wildtieren erkannte. Er atmete durch. Die Strategie des Einschüchterns war auf seinem Mist gewachsen. Diese Methode hatte bislang immer funktioniert.
»Stangassinger hat mit dem Bestatter geredet. Der hat sie definitiv nicht mehr im Lager. Wir gehen davon aus, dass Quercher sie versteckt hält. Schlickenrieder wird sich darum kümmern. Aber so leicht ist das nicht. Wir sollten die Handschuhe ausziehen, Herr Rieger. Ihr Mann sollte das final lösen. Wir bringen die drei unter fadenscheinigen Gründen zusammen und lassen sie dann verschwinden. Das Ganze sieht wie ein Unfall aus. Wir hinterlassen noch etwas Diskreditierendes in Querchers Wohnung und dann wächst ganz schnell Gras über die Sache. Und was immer mit der Leiche passiert, ist uns dann egal.«
Rieger sah Brunner unverwandt in die Augen. Es war die offensichtliche Dummheit, die Rieger so schmerzte. Schließlich hatte er den Enkel seines Freundes aufbauen wollen. Und somit war es auch seine Schuld, dass dieser Mann so unfassbar dümmlich war. Das war immer die Krux mit der Auswahl geeigneten Personals. Waren sie zu klug, wurden sie renitent und schlecht führbar. Waren sie nicht die hellsten Lichter im Kronleuchter, dachten sie nicht über den Tellerrand, machten Fehler und mussten schnell ausgewechselt werden.
Aber dieser Fall war schwierig. Er hatte Brunners Großvater auf dessen Sterbebett versprechen müssen, dass er sich um seinen Sohn und seinen Enkel kümmern würde. Als der Enkel dann mit dieser riesigen Immobiliennummer für Bad Wiessee zu ihm kam, schwante Rieger, dass dieses Projekt nur von Profis zu stemmen sei. Den ganzen Ort zu entwickeln, wäre das Größte, hatte Brunner ihm erzählt. Drei Kilometer Uferfläche, das Jodschwefelbad im Zentrum, ringsherum Kliniken, Hotels und Forschungszentren für die immer älter werdende, aber große Babyboomer-Generation. Schon jetzt kamen doch die Araber. Was, wenn erst einmal die Chinesen und Inder, die Russen und Südamerikaner an den Tegernsee reisten? Da stecke so viel Potenzial dahinter. München vor der Tür. Salzburg auch. Und alles sauber und diskret, wie es die Ausländer mögen. Und Rieger könne seine Leute ebenfalls überall unterbringen. Ein Las Vegas der Gesundheit könne Bad Wiessee werden. Und das ganze Schwarzgeld könnte so über die Firma auf den Kaimaninseln wunderbar investiert werden. Das Netzwerk würde in wenigen Jahren davon profitieren können. Niemand würde Fragen stellen, wenn die Kräne erst einmal das Ortsbild prägten und den Ort zu einem Hotspot der Rehakliniken werden ließen.
Das schiefe Bild mit den Kränen hätte Rieger schon stutzig machen müssen. Auch vom Bürgermeister hielt er nichts. Aber am schlimmsten war der Elektriker. Jähzornig und unbeherrscht. Manchmal schien es Rieger, als ob er am Ende seines Lebens nur noch mit mittelmäßigem Personal arbeiten müsse, um eine Schuld zurückzuzahlen. Weil er in seiner aktiven Zeit so viele gute, fähige Leute verbrannt hatte?
Schon als die Gondel die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, war Rieger klar, dass er selbst tätig werden müsste. Er musste noch mehr über diesen Quercher erfahren, um seine Stärken und Schwächen, seine Anreizpunkte zu verstehen. Und dann musste er mit ihm reden. Es würde ihn anöden, mit einem subalternen Beamten zu sprechen statt mit dessen Vorgesetzten. Gleichwohl dachte Rieger, dass er einen Plan B benötigte. Einen Plan für den Fall, dass Quercher sein Angebot nicht würde annehmen wollen. Hudelmeier stand in den Startlöchern. Er hatte ihn gebeten, dieses Mal etwas unblutiger vorzugehen und ein paar Spuren bei dem Elektriker zu hinterlassen, damit er einen möglichen Täter hatte. Er wusste, dass er sich auf Hudelmeier verlassen konnte.
Brunner plapperte weiter, aber Rieger hörte schon nicht mehr zu. Als sie oben angekommen waren, ließ er Brunner aussteigen und fuhr gleich wieder ins Tal zurück.
Brunner stand am Rande der Rodelstrecke und blickte mit klammer Sorge der Gondel hinterher, in der Rieger saß. Und weil er mit dieser Sorge nicht allein sein wollte, griff Brunner im dichten Schneetreiben zu seinem Handy und wählte die Nummer seines Freundes Josef Schlickenrieder. Der brüllte, statt sich mit Namen zu melden, nur etwas Unverständliches ins Telefon, was Brunner als »Ich rufe zurück« interpretierte. Im Hintergrund vernahm er jedoch Schreien und lautes Weinen.
Spätestens jetzt war Brunner voller Angst.