Kapitel 36

Bad Wiessee, Mittwoch, 20. 12., 15.30 Uhr

Ronald Hudelmeier war Soldat aus Pflichtgefühl. Und er war ein Killer – aus Lust. Das erste Mal hatte er es als Offizier bei der KSK, der Spezialtruppe der Bundeswehr, bemerkt. Dort hatte Rieger ihn gefunden, ihn aufgebaut und ihm Arbeit verschafft. Aber die Bilder waren Hudelmeier nie aus dem Kopf gegangen. Da drüben, in Afghanistan, hatte er seine andere Seite ausleben können. Jetzt war er Riegers Mann. Und der hatte ihm klare Anweisungen gegeben.

Die kleine Türkin hatte er ›geparkt‹. Die würde er sich nach Kreuth vornehmen. Vorher kam Josef Schlickenrieder dran. Er hatte versucht, ihn anzurufen, ihn jedoch nicht erreicht. Hudelmeier fand ihn schließlich im Bett der Nachbarin. Er hatte getrunken. Und wie die Nachbarin erzählte, »auch keinen hoch bekommen«. Ihr hämisches Lachen wurde von Schlickenrieder mit einer Ohrfeige quittiert.

Hudelmeier wandte sich an Schlickenrieder: »Du Idiot hast deine Alte nicht im Griff. Rieger sagt, Elli hat Beweise, die sie dem Münchner Bullen präsentieren will. Wir müssen das verhindern.«

Schlickenrieder versuchte, gegenüber Hudelmeier Ruhe zu demonstrieren, und sah ihn spöttisch an. »Ach ja, und was für Beweise sollen das bitte sein?«

»Deine gute Laune wird dir gleich vergehen. Elli soll alle Unterlagen zum Sol-Projekt bei sich haben. Also komm mit.«

Fluchend erhob sich Schlickenrieder, zog sich an und lief hinüber zu seinem Haus. Hudelmeier folgte ihm. Im Arbeitszimmer durchsuchte Schlickenrieder hektisch seine Schreibtischschublade. Aber unter dem Haufen Papier war nichts mehr – Elli hatte seine USB-Sticks mitgenommen. Blut schoss in sein Gesicht. Er schloss für ein paar Sekunden die Augen. Dann rannte er in den Keller, suchte hektisch nach einem Schlüssel und öffnete einen Metallschrank. Mindestens sechs Langwaffen, die meisten Jagdgewehre, waren fein säuberlich aufgereiht.

»Die nehme ich.« Schlickenrieder nahm sich eine Schrotflinte. »Sie soll leiden.« Hudelmeier hatte seine Waffe im Kofferraum seines Autos.

In Kreuth parkte er den Wagen neben dem einsam im Schnee stehenden Benz von Quercher. Zusammen mit Schlickenrieder hetzte er am Klausurgebäude der CSU vorbei.

»Da steht der Landrover«, wies Hudelmeier mit dem Finger hinunter zum Parkplatz. »Du holst dir deine Frau. Und ich kümmere mich jetzt endgültig um diesen Quercher.«

Er war nicht sicher, ob er Schlickenrieder eventuell helfen müsste. Aber als er sah, wie ruhig dieser trotz seines Alkoholpegels die Waffe lud, machte er sich keine Sorgen mehr. Schlickenrieder schien seinen Zorn auf seine Frau fokussiert zu haben. So konnte sich Hudelmeier nach Siebenhütten aufmachen. Er hatte seine Schneeschuhe vergessen und musste nun mühsam in Querchers Spuren laufen. Immer wieder sackte er bis zu den Knien im Schnee ein. Aber er war trainiert. Auch in Afghanistan hatte er im Schnee operiert, Kommandoaktionen übernommen. Warten, schauen, analysieren, dann zuschlagen und auslöschen. Allerdings hatte Rieger ihm ausdrücklich verboten, Quercher und Hannah Kürten zu exekutieren. Quercher sollte erst später, wenn Rieger wusste, welche Informationen er eingesammelt hatte, sterben. Rieger hatte stets gewusst, dass der alte Schlickenrieder Tagebuch geführt hatte. Diese Informationen – so hatte er Hudelmeier eingeschärft – durften auf gar keinen Fall offiziell werden. Denn Rieger war sich sicher, dass die Kürten einzig und allein wegen ihnen nach Deutschland gekommen war.

Sein Chef hatte sich nicht mehr gemeldet. Aber solange es keine andere Anweisung gab, hielt sich Hudelmeier an den Plan. Seine Waffe und ein Fernglas hatte er dennoch mitgenommen. Jetzt sah er eine Person weit unterhalb seiner Position auf einem Weg neben dem Bach laufen. Er warf sich in den Schnee und griff nach seinem Fernglas. Es war Elli, die mit ihren Stöcken schnell Richtung Parkplatz ging. Sie schien ihre Informationen bereits preisgegeben zu haben. Hudelmeier schwenkte sein Fernglas nach links in die Richtung, aus der Elli gekommen war, folgte dem Weg, stellte das Fernglas auf die Almhütte scharf und sah Quercher, der mit seinem Hund und der Kürten vor einer Tür stand. Sie schienen zu reden. Quercher hielt etwas in der Hand. Waren das Bücher? Er hatte sie also bekommen. Etwas bewegte sich in Hudelmeiers rechtem Augenwinkel. Er drehte seinen Kopf und erkannte Schlickenrieder. Der schien an den Fischteichen vorbei durch den kleinen Fluss waten zu wollen, um seiner Frau den Weg abzuschneiden.

Hudelmeier dachte angestrengt nach. Schnelles Reagieren und Improvisieren waren schon immer seine Stärke gewesen. Und auch jetzt zahlte sich die harte Ausbildung bei den KSK-Spezialtruppen aus. Schlickenrieder würde auf Elli treffen, sie bedrohen, wenn nicht gar töten. Dann müsste er schießen. Quercher würde zu Hilfe eilen. Würde er die Bücher bei sich haben? Hudelmeier hatte einen Plan.

Elli sah aus der Ferne eine Person, die im Bachlauf stand.

Josef Schlickenrieder trug seine Schrotflinte in der rechten Hand. Er wollte hinauf auf den Weg. Das Schrot hatte nur eine eingeschränkte Reichweite und er wollte nicht von unten nach oben angreifen. Seine Frau war jetzt für ihn nur noch ein Ziel. Etwas, das es zu zerstören galt. Sie hatte seine USB-Sticks weggegeben, seinen einzigen Trumpf. Seine Lebensversicherung. Und dafür würde sie zahlen. Er dachte nicht an Spuren oder Beweise. Er wollte seine Frau töten. Schlickenrieder sprang auf einen Stein und von dort in den Schnee am Ufer, versank aber sofort bis zu den Knien. Jetzt erkannte Elli ihn, schrie und rannte hinter eine große, einsam am Wegrand stehende Fichte. Mit großer Mühe zog Schlickenrieder seine Beine aus dem Schnee, spürte einen Baumstumpf an seinen Füßen und stellte sich darauf. Er lud durch, zielte auf die Fichte und schoss. Wieder ein Schrei. Elli warf sich neben den Baum. Sie atmete schwer. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie wollte wieder schreien. Aber nur ein Krächzen entrann ihrer Kehle. Ihr Körper zitterte. Eines ihrer Beine schlug, ohne dass sie das wollte, wild im Schnee umher. Die Rinde des Baumes war vom Aufprall des Schrots aufgeplatzt. Rauch stieg vom Stamm auf.

Josef Schlickenrieder hatte das Fieber. Das Fieber, das er von Drückjagden in Tschechien kannte. Er zog seine Beine aus dem Schnee und hangelte sich an einem herunterhängenden Ast weiter vorwärts. Eine Ladung war noch im Lauf. Er sah, wie Elli vom Baum wegrollte und sich hinter einer Schneewehe versteckte.

Er lachte. Laut und meckernd. »Glaubst du, dass der Schnee dich schützt?«

»Josef, bitte! Es ist vorbei. Lass mich gehen!«, schrie sie.

Er stand jetzt keine drei Meter von ihr entfernt. Sie hatte sich hinter dem Schneehaufen zusammengekauert. Er sah ihre rote Mütze. Josef Schlickenrieder wollte ihr eine Ladung in den unteren Rücken schießen, damit sie nicht sofort starb, sondern winselnd vor ihm lag. Er schoss. Sie schrie. Aber sie hatte sich wieder wegrollen können. Jetzt war sein Lauf leer. Er öffnete ihn und kippte ihn nach vorn, sodass er nachladen konnte. In seiner Jackentasche suchte er nach weiteren Patronen. Seine Finger waren kalt und steif. Er hatte Mühe, die Patronen zu nehmen und in den Lauf zu stecken.

Dann stand sie vor ihm, weinend. Das Gesicht blau geschlagen – von ihm. Sie hob ihren Nordic-Walking-Stock, hielt ihn wie einen Speer gegen ihn. Und Josef Schlickenrieder lachte. Er lachte noch, als er die zwei Patronen in den Lauf schob, ihn zurücknahm und anlegte.

Quercher hatte sich für den schnellen Weg entschieden. Über den geräumten, aber engen und weit ausholenden Pfad entlang des Flusses wäre er zwar trocken, aber sicher zu spät zu Elli gekommen. Also rannte er, so gut es ging, durch den Fluss, sprang auf Sandbänke und Eisplatten und versuchte, dennoch in Deckung zu bleiben, um nicht in eine Falle zu laufen. Nach einer Biegung sah er sie. Schlickenrieder stand an einem Uferabbruch im Schnee und zielte mit einer Schrotflinte auf Elli. Sie stand zwar über ihm, hatte aber nur einen Stock in der Hand, mit dem sie ihn absurderweise abwehren wollte. Quercher war jetzt vielleicht zwanzig Meter entfernt. Das würde reichen. Plötzlich setzte wieder dichter Schneefall ein. Während er lief, griff er nach seinem Holster. Ein Fehler. Durch die Bewegung seines Arms nach hinten verlor er das Gleichgewicht. Quercher fiel in das eiskalte Wasser. Sofort sog sich seine wattierte Jacke voll. Seine Pistole lag auf dem Grund des Flusses, wenige Meter vor ihm. Er sah sie. Aber er würde sie nicht mehr rechtzeitig nehmen und zielen können. Er schnappte nach Luft, hielt sich an einem Granitfelsen fest, wischte sich das Wasser aus dem jetzt eiskalten Gesicht und blickte in Richtung Elli und Schlickenrieder. Der hatte sein Gewehr erhoben. Gleich würde der Schuss fallen. Seine Hände rutschten von dem Felsen ab und Quercher fiel wieder zurück. Die Strömung drückte ihn nach unten. Er schrie. Wasser füllte seinen Mund. Als er wieder auftauchte, sah er, wie Schlickenrieder einsackte, nach hinten kippte und dabei das Gewehr nach oben riss.

Schlickenrieder drückte unwillkürlich ab, wurde noch weiter nach hinten gerissen und lag plötzlich wie ein Maikäfer auf dem Rücken, die Beine bis zur Hüfte fest im Schnee. Elli Schlickenrieder stieß den Stock nach vorn und verlor dabei das Gleichgewicht. Mit der ganzen Wucht ihres Körpers drang die Spitze des Stocks in das linke Auge ihres Ehemanns, drückte den Augapfel beiseite und fuhr in das Vorderhirn. Aus Schlickenrieders Mund kam ein schriller Schrei. Elli wollte den Stock loslassen, verhakte sich aber in der Schlaufe, und so drang der Stock rotierend weiter in den Kopf von Josef Schlickenrieder. Es dauerte einen Augenblick, bis Elli sich befreit hatte. Sie fiel zur Seite und weinte. Josef Schlickenrieder zuckte noch ein wenig. Dann starb er. Es roch plötzlich nach Urin. Er hatte sich eingenässt.

Quercher griff nach seiner Waffe, die immer noch auf dem Grund des Flusses trieb, und zog sich zum Ufer. Mit größter Anstrengung stapfte er durch den Schnee zu Elli. Sie hatte sich erhoben und sah ihn mit ausdruckslosem Gesicht an.

»Alles wird gut. Er hat es verdient«, stieß er atemlos hervor, zwei Meter von ihr entfernt stehend.

»Nein, Max, ich habe ihn getötet. Und damit ist alles zu Ende.« Sie griff sich die Flinte, legte den Lauf in den Mund und drückte ab.

Quercher erstarrte. Ein leises »Nein« quoll aus seinem Mund. Aber es klickte nur. Die Flinte schien eine Ladehemmung zu haben. Er hechtete nach vorn, fiel mit seinem ganzen Gewicht auf Elli und riss sie zu Boden. So blieben sie liegen, still und sekundenlang.

»Mach es nicht. Es ist nicht richtig«, flüsterte er bibbernd vor Kälte in ihr Ohr.

Ihr ganzer Körper zitterte, Tränen rannen über ihre Wangen. »Es ist alles aus. Ich habe den Vater meines Kindes getötet.«

Quercher strich über ihren Kopf. »Nein, Elli, er wollte dich töten. Du hast dich gewehrt. Das war richtig. Zum ersten Mal hast du dich gewehrt. Und es ist gut so.«

»Wie soll ich das meiner Tochter erklären?«, schluchzte sie.

Rotz rann aus ihrer Nase. Quercher wischte ihn mit seinen klammen und nassen Händen ab. Dann erhob er sich, zog sie empor, darauf achtend, dass sie die Leiche ihres Mannes nicht sah. Die nasse Kälte war kaum auszuhalten.

»Du frierst«, stellte Elli sachlich fest.

»Passt schon«, antwortete er.

»Max, was soll ich jetzt machen?«

Quercher dachte nach. Ihre Karten waren wirklich nicht gut. Die Kollegen von der Kripo würden Ellis Flug nach Indien als Vorbereitung zu einer Flucht betrachten. Es hing von seiner Aussage ab. Aber er wusste ja selbst nicht, ob er diesen Fall überstehen würde.

Er sah sie an. Und in diesem Moment war ihm klar, dass sie es schaffen konnte. Er würde ihr dabei helfen.

»Elli, nimm deinen Wagen und fahr nach Innsbruck. Es ist gut so. Du hast die Kraft. Geh. Ich helfe dir. Vertrau mir.«

Sie löste sich aus seiner Umarmung und schaute ihn nur kurz an, bevor sie sich umdrehte. Er sah ihr noch nach, wie sie durch den Schnee zu ihrem Auto lief.

»Viel Glück, Elli«, murmelte er, ehe er sich abwandte.

Seine Jacke war voller Blut. Aber sie war warm und vor allem trocken. Aus schierer Verzweiflung hatte Quercher die Jacke von Josef Schlickenrieder angezogen. Wie er das jemals den Ermittlern erklären sollte, war ihm schleierhaft.

Jemand schrie. Es kam aus der Richtung der Hütte. Es war Hannah. Er rannte über den Weg, den Elli genommen hatte, zurück. Er spürte, wie die Kraft ihn langsam verließ. Seine Lungen brannten. Sein Kopf schien zu zerspringen. Zwei Tote in drei Stunden waren auch für ihn zu viel. Er würde etwas Zeit brauchen, um das zu verarbeiten. Aber jetzt sah er in fünfzig Metern Entfernung durch einen Vorhang aus dichtem Schnee Hannah, die winkte und wild in Richtung Süden deutete. Lumpi lief auf ihn zu. Der Weg machte eine breite Schleife. Er würde wieder abkürzen müssen. Aber hier war der Fluss flach und leicht passierbar.

»Was ist?«, rief er, als er die Hütte erreicht hatte.

Hannah stand vor ihm und hielt sich den Kopf. »Ein Typ hat mich niedergeschlagen und mit einer Waffe bedroht.«

Schwer atmend packte er ihre Schultern und nahm vorsichtig ihre Hand vom Kopf. Er spürte nur eine kleine Beule. »Was ist mit Ellis Tagebüchern?«

»Ich weiß es nicht, Max. Ich weiß es nicht.«

Quercher hechtete hinein in das Holzhaus. Die Sporttasche lag nicht mehr auf dem Tisch. Quercher rannte wieder aus der Hütte hinaus zu Hannah, die sich immer noch den Kopf hielt.

»Wo ist er hin?«

Sie deutete auf den Wald. »Er ist über die Brücke und dann nach links gelaufen.«

»Trug er Schneeschuhe oder Skier?«

Sie schüttelte verwirrt den Kopf.

»Gut, dann haben wir einen kleinen Vorteil. Los, zieh deine Schneeschuhe an. Auf geht’s, Lumpi. In einer halben Stunde ist es stockdunkel.«