Kapitel 23
Bad Wiessee, Mittwoch, 20. 12., 10.09 Uhr
Quercher stieß die Tür zur Polizeiinspektion auf, zeigte dem wachhabenden Polizisten hinter der Glassscheibe im Eingangsbereich seinen Ausweis und trat ins Treppenhaus. Er eilte in das Büro von Straßberger. Der saß mit zwei Kollegen des Kriminaldauerdienstes an einem ovalen Tisch. Alle sahen ihn fragend an.
»Grüß Gott, Kollegen. Ich wollte nur kurz fragen, wie weit ihr mit dem Birmoser-Fall seid. Ich könnte mir vorstellen, dass …«
»Max, bitte. Ehe du jetzt aufdrehst, hör dir einmal an, was die ersten Ergebnisse aus der Rechtsmedizin ergeben haben.« Straßberger sah ihn ärgerlich und auf eine unbestimmte Weise nervös an.
Ein junger Kollege fasste die Ergebnisse zusammen. »Die Mediziner haben einen hohen Wert an THC im Blut des Verstorbenen gefunden. Sie gehen davon aus, dass er unter erheblichem Marihuanaeinfluss nicht rechtzeitig reagieren konnte, von der Säge erfasst wurde und so verstarb. Eine Fremdeinwirkung ließ sich unter anderem auch aufgrund der schweren Kopfverletzungen nicht feststellen. Der Staatsanwalt hat die Leiche schon wieder freigegeben. Der Mann von der Berufsgenossenschaft bestätigt die Vermutung. Für uns ist der Fall abgeschlossen.«
Quercher schüttelte unmerklich den Kopf.
Das war alles zu einfach. Aber er konnte unmöglich seine weichen Thesen ausbreiten. Ein Hund, der möglicherweise gequält und bewegungslos gemacht wurde. Eine Holzarbeit, für die die Kreissäge nicht benötigt wurde. Bislang war alles nur Spekulation, alles war auf Vermutungen aufgebaut. Er hatte nichts in der Hand. Ihm blieb jetzt nur noch eins: Er musste seine Verdächtigen, die Hintermänner, aus der Reserve locken, sie Fehler machen lassen. Den Birmoser-Fall konne er nur auf Umwegen lösen. Er musste von hinten anfangen, um nach vorn zu dem toten Schreiner zu gelangen. Das glich einem Ritt über den Bodensee. Aber es war seine einzige Chance.
Quercher nickte und verabschiedete sich von den drei Männern.
Wenig später stand er mit Hannah neben einer Eisfläche und hielt zwei Eisstöcke in der Hand, die er aus dem Keller seiner Mutter geholt, entstaubt und poliert hatte. Sie gehörten seinem Vater, der in Querchers Kindheit viele Stunden auf dem Eisplatz verbracht hatte. Im Winter war das Eisstockschießen die einzige Sportart, die von so ziemlich allen Männern und auch einigen Frauen im Ort mit Fanatismus und Ehrgeiz betrieben wurde. Nur eine Sorte Mensch war nie gerne gesehen: Preußen. Was wiederum für die Einheimischen alle Menschen nördlich der Autobahn München–Salzburg umfasste. Quercher hatte lange nicht mehr gespielt. Ihn hatte schon früher das dumme Gequatsche der Alten genervt, die jeden Wurf mit Klugscheißersprüchen aus dem alten Fundus kommentieren mussten.
Aber er war nicht zum Spaß hier. Dort drüben standen sie zusammen, Schlickenrieder, Brunner und Stangassinger. Sie tranken etwas Heißes aus einer Thermoskanne, während ein Platzwart mit einem Unimog, an dem ein Riffeleisen befestigt war, das Eis aufraute.
Der Schneefall hatte eine Pause eingelegt. Still standen Quercher und Hannah am Rande der Eisfläche und blickten in einen makellos blauen Himmel, der nur von dem schnurgeraden Kondensstreifen eines Flugzeugs durchschnitten wurde. Quercher hatte beschlossen, Hannah nichts von den Erkenntnissen des frühen Morgens zu erzählen, solange er nicht wusste, wie er sie zu interpretieren hatte.
»Es ist so schön, als ob Walt Disney das alles entworfen hätte«, flüsterte Hannah.
Quercher nickte, sah sich um und atmete tief ein und wieder aus, sodass sich eine riesige Wolke aus feuchtem Atem vor seinem Mund bildete. Zum ersten Mal seit Jahren war er nicht von diesem Ort abgestoßen, genoss ihn fast, hegte ein nie zuvor da gewesenes Gefühl des Stolzes, das er sofort wieder vertreiben wollte.
Er musterte die drei Männer vor ihnen. Zwei Flutlichtmasten ließen trotz des Tageslichts die Eisfläche glitzern. Schlickenrieder, groß und zweifellos gut in Schuss, lachte laut. Auf seinem Kopf thronte ein schwarzer Filzhut. Er trug eine enge Jeans und eine gelbe Steppjacke mit Kunstpelzbesatz. Alles an ihm schrie: Ich will jung sein. Anders Brunner. Obwohl er im gleichen Alter wie Schlickenrieder war, trug er einen langen grünen Lodenmantel und kräftige braune Stiefel. Ähnlich war auch der deutlich kleinere Bürgermeister gekleidet. Von Weitem wirkte es, als ob Brunner und Schlickenrieder auf den Politiker aufpassen müssten.
»Kennst du die da alle?«, fragte Hannah.
Quercher nickte. »Die großen Tiere? Ja, ein Hund, ein Schaf und ein Schwein.«
Hannah sah ihn nur verwundert an.
»Eine etwas grobe Charakterisierung, gebe ich zu. Also … Der Große da, in der gelben Jacke, das ist der Elektriker Josef Schlickenrieder. Eindeutig der Hund. Ich bin mit ihm zur Schule gegangen.«
»Du bist wohl mit ziemlich vielen hier zur Schule gegangen, oder?«
»Na ja, ich gehörte zu den geburtenstarken Jahrgängen. Viele haben das Tal nicht verlassen. Und wenn ich hierherkomme, dann läuft man sich über den Weg. Schlickenrieder ist ein gefährlicher Bauernschlauer. Ein klassischer Emporkömmling, verbittert, dass er es ›nur‹ zum Handwerker gebracht hat, will er immer bei den Großen und Reichen dabei sein. Neigt zur Gewalt, riecht unmittelbar die Schwächen anderer und beißt wie ein Rottweiler sofort und gnadenlos zu. Ich habe ihn vor Jahren mal erlebt, wie er auf einem der Waldfeste, so eine Traditionsnummer im Sommer hier im Tal, einen jungen Typen, der seine Frau angebaggert hatte, verprügelt und in den See geworfen hat. Seine Frau, die Elli, kenne ich ganz gut.« Er schwieg für einen kurzen Augenblick.
Hannah war versucht, nachzufassen, spürte aber, dass es ein ungünstiger Zeitpunkt war.
»Schlickenrieder will aus dem Mief des Handwerks heraus. Und das Projekt hier am See kann sein großer Durchbruch sein. Der geht über Leichen. Da war noch so eine Geschichte. Anke hat sie mir mal vor Jahren erzählt. Einem Kunden aus München, irgend so einem Beratertyp, hat er die Villa komplett mit allem Elektronikzeug ausgebaut. Aber der Berater hat nicht gezahlt. Dann brannte die Bude ab. Niemand konnte Schlickenrieder etwas nachweisen. Vielleicht aber wollte es auch keiner.«
»Und der Bürgermeister daneben? Schwein oder Schaf?«
Quercher wog den Kopf. »Eher Schaf. Er ist erst seit Kurzem im Amt, aber schon lange in der lokalen Politik tätig. Seine Partei ist hier in Bayern seit Ewigkeiten an der Macht. Nur Stangassingers Vorgänger war für eine Periode als Parteiloser am Drücker. Stangassinger hat sechs Jahre lang wirklich alles getan, um den Mann zu zermürben. Obwohl der die Modernisierung erst angestoßen hatte, schreibt sich heute Stangassinger alles auf seine Fahnen. Ein ehrgeiziger, aber nicht so bösartiger Mann wie Schlickenrieder. Daneben aber steht der wirklich Böse, ein Schwein eben. Der in diesem grauenhaften Mantel und mit den zurückgegelten Haaren. Das ist Brunner. Der kommt aus München, hat hier am See mit Immobilien ein Vermögen gemacht. Den kenne ich kaum. Aber man sagt, dass man an dem nicht vorbeikommt, wenn man hier ein teures Grundstück erwerben will.«
Hannah sah ihn fragend an. »Und die Herren müssen mitten in der Woche nicht arbeiten, sondern können sich sportlich betätigen?«
»So ist das halt auf dem Land. Ein Handwerker, ein Immobilienmakler und der Bürgermeister können sich ihre Zeit frei einteilen. Das findet hier keiner komisch.«
»Und was willst du jetzt hier?«
Er grinste, immer noch die Dreiergruppe im Auge. »Du als erfolgreiche Geschäftsfrau bist doch sicher begabt, andere so lange zu piesacken und zu ärgern, bis sie die Nerven verlieren?«
»Ich fürchte, du hegst ungesunde Vorurteile gegenüber Frauen in Führungspositionen.«
»Spiel einfach ein wenig die Eisprinzessin. Das kannst du bestimmt gut.«
Sie lächelte giftig.
Eisstock ist Brauchtum. Und das legt viel Wert auf Regeln. Zwei Mannschaften ›schießen‹ – niemals werfen oder stoßen – drei Kilogramm schwere runde Scheiben, in deren Mitte ein gebogener Holzstock steckt, über eine Distanz von dreiundzwanzig Metern auf ein Ziel, die Daube. Es ist mit dem Curling verwandt, jener Sportart, bei der zusätzlich mit einem Besen der Lauf des Stocks verbessert oder gar gelenkt wird.
Gerade schoss Josef Schlickenrieder seinen Stock in Richtung Daube, als Quercher seinen Stock mit einer schnellen Bewegung dazwischenwarf und prompt den Lauf des Schlickenrieder’schen Stocks veränderte. Sofort drehten sich die drei Männer zu Hannah und Quercher um.
Schlickenrieder stapfte mit ärgerlichem Gesicht los. »Bist du blöd? Was soll der Schmarrn?« Er war bis auf einen Meter an Quercher herangekommen, als er rutschte, mit weit rudernden Armen nach hinten auf seinen Steiß fiel und schrie.
Quercher beugte sich über ihn, wünschte einen Guten Morgen und schloss ein »Habe die Ehre« an. Umständlich richtete sich der Elektriker auf und schlug Querchers Hand aus, die ihm dieser entgegenhielt. Quercher ging an Schlickenrieder vorbei und richtete an die verbliebenen zwei Männer einen ebenso zuckersüßen Gruß.
Dann wandte er sich zu Hannah, die ihm gefolgt war. »Das ist der Herr Stangassinger, der Bürgermeister dieses hübschen Ortes. Und das ist Herr Brunner, der große Immobilienmakler hier im Tal. Der Mann ohne Schneeketten hinter uns ist der Strippenzieher, nicht wahr? Das, meine Herren, ist Frau Hannah Kürten.«
Stangassinger legte das Profipolitikerlächeln auf. Ebenso wie Brunner verneigte er sich artig. Von Schlickenrieder aber kam nur ein gebrummeltes »Servus«.
»Was verschafft uns die Ehre?«, fragte der Bürgermeister Hannah. »Ich dachte, Sie seien schon abgereist.«
Sie nahm ihre Mütze aus Kaschmir vom Kopf und schüttelte ihr dunkles langes Haar. »Ach nein, es ist ja so reizend hier! Und ich liebe den Winter. Was spielen Sie denn da?«
Schlickenrieder sah böse zu Stangassinger, der aber ganz Herr der Lage sein wollte. »Darf ich es Ihnen als Gast unseres wunderbaren Ortes zeigen?«
Stangassinger reichte Hannah den Arm und sie legte ihren lächelnd hinein. Brunner trippelte den beiden hinterher und ließ Schlickenrieder mit Quercher allein.
»Was willst du hier mit der?«
Quercher sah ihn verwundert an. »An einem so schönen Tag schon wieder auf Touren? Nicht dass es zu einem Kurzschluss kommt.«
»Sehr witzig. Ich kenne alle Elektrikerwitze.«
Quercher lächelte. »Da bin ich mir nicht so sicher. Wir werden das einfach mal überprüfen. Also schön die Dioden gespitzt! Was sagst du denn zu deinem Handwerkerkollegen Birmoser?«
Schlickenrieder zuckte mit den Schultern, griff in seine Jacke und steckte sich eine Zigarette in den Mund. »Was willst du von mir? Ich war an dem Abend zu Hause.«
Quercher beobachtete, wie sich Stangassinger hinter Hannah stellte, ihren Arm umfasste, einen Eisstock hineinlegte und mit ihr die Schwungbewegung übte. Quercher war sicher, dass Stangassinger schon jetzt eine Erektion hatte.
»Fahr halt wieder nach München. Hier nervst du nur«, stieß Schlickenrieder hervor.
Quercher drehte sich zu ihm um. »Hör zu, Kabelkönig, wenn ihr mich nervt, drehe ich euch die Sicherungen raus. Ihr seid nicht die Ersten, die glauben, mir auf den Sack gehen zu können. Ich bin nämlich mit Bildung gesegnet. Ich durfte schließlich das Abitur machen. Das konnte ja nicht jeder. Aber die ohne dürfen dann die Lampen anschließen bei denen, die das Abitur haben, nicht wahr?«
Schlickenrieder hätte den gleich großen Quercher am liebsten sofort hier auf dem Eis verprügelt, ihm den Fuß in die Eier und das Gesicht auf das Eis gedrückt.
Quercher sah seine Wut. Er ging noch näher zu Schlickenrieder. Ihre Nasenspitzen berührten sich fast. »Wenn das mal mit eurem Projekt klappt. Nicht, dass du weiter auf zugigen Baustellen herumturnen und der Unternehmersgattin das Kabelrohr verlegen musst. Bist ja auch nicht mehr der Jüngste.«
»Quercher, pass auf. Du bist nicht unantastbar. Es ist alles sauber mit den Grundstücksverkäufen. Und das wirst du auch nicht mehr ändern können. Nicht wegen der Leiche da oben. Na ja, jetzt ist sie ja verbrannt.«
Quercher hörte Hannahs Lachen und spürte, dass er ein gefährliches Spiel spielte. Er klopfte nur auf den Busch. Aber gespickt mit Halbwissen und Andeutungen konnte er, so sagte ihm seine Erfahrung, bei Männern wie Schlickenrieder, denen der Jähzorn ins Gesicht geschrieben stand, punkten. Er hatte bereits erfahren, dass die Wachsleiche mit den Grundstücken in Verbindung zu bringen war. Aber bei Stangassinger und Brunner würde das nicht so einfach laufen. Diese Runde ging an ihn. Die nächste würde schwieriger werden. Er ließ Schlickenrieder stehen und ging hinüber zu den anderen.
»Lasst mich auch noch einmal spielen.«
Er griff sich einen Stock und schoss ihn wenige Zentimeter rechts neben die Daube, was Stangassinger ein anerkennendes Pfeifen wert war.
»Wie dein Vater.« Schlickenrieder ging hinter Quercher vorbei und zischte noch gehässig: »Jetzt übt er unter Wasser, der alte Quercher.«
Während Hannah mit Quercher und Brunner spielte, redete Schlickenrieder auf den Bürgermeister ein. Quercher sah es aus den Augenwinkeln.
»Max, kommst mit?«, rief der Bürgermeister. »Ich gehe schnell rüber ins Hotel Friedrich und hole uns eine Terrine mit Weißwürscht. Hilfst mir? Der Schlickenrieder mag doch auch mal gegen Frauen verlieren.«
Quercher hielt Schlickenrieder seinen Eisstock hin. Der griff danach, doch ehe er den Stock in der Hand hatte, ließ Quercher ihn fallen. »Entschuldige, plötzlicher Stromabfall«, murmelte er und folgte Stangassinger.
Sie schlitterten über das Eis und stellten die leere Thermoskanne auf dem Tresen des Platzwarthäuschens ab. Stangassinger rief von dem alten Festnetztelefon im gegenüberliegenden Hotel an, bestellte die Würstchen mit Brezen und fünf Weißbier.
»Setz dich. Das wird uns hierher gebracht. Siehst du die zwei Häuser da?« Stangassinger zeigte auf eine Ansammlung von Gebäuden neben der Eisfläche.
Quercher nickte. Er wußte, was jetzt kommen würde.
»Das sind typische Pensionen von Einheimischen, stammen alle aus der Zeit nach dem Krieg. Früher waren die im Sommer voll mit Stammgästen. Nie Ausfall. Immer sicheres Geld. Im Winter kamen auch noch ein paar Touristen. Das reichte für das ganze Jahr. Aber dann haben unsere Nachbarn in Tirol aufgerüstet, sich professionalisiert. Hier schlief man, war fett und gönnte dem Nachbarort nicht den Dreck unter den Fingernägeln. Seit Jahren haben wir massive Rückgänge im Tourismussektor. Der Kurort ist veraltet, man fährt durch nach Österreich. Vielleicht kommen noch ein paar Tagesgäste, aber die goldene Zeit ist vorbei. Niemand will das wahrhaben. Es reicht für die meisten noch für die Rente. Die Kinder ziehen weg. Die Alten bleiben. Seit fünf Jahren wollen wir das ändern. Aber nichts geschieht. Geld wurde für sinnlose Studien von Experten aus dem Norden ausgegeben. Und während andere Regionen wie Kitzbühel oder Sylt das Geld säckeweise nach Hause tragen, ist mein Gemeindehaushalt knallrot. Wenn die Entwicklung so weitergehen würde, wären wir in vier Jahren pleite, müssten aber vorher noch unser Tafelsilber, die gemeindeeigenen Grundstücke, verscherbeln.«
Quercher kannte die Leier. Das hatte er von seiner Schwester bei jedem der seltenen Telefonate gehört. Ignoranz, Faulheit und Neid – immer die gleichen Attribute, die Veränderungen behinderten.
»Und jetzt«, fuhr Stangassinger fort, »kommt unser Projekt Sol. Es ist richtig groß gedacht. Der Ort wird zu einem modernen Reha- und Wellnesszentrum im oberen Preissegment ausgebaut. Keine Pensionen mit der Dusche auf dem Flur. Dafür Rekonvaleszenz für die Best Ager und die Babyboomer mit ihren Verschleißerkrankungen und dem besonderen Anspruch. Die wollen Loungemusik statt Kurkonzert, Qi Gong statt Kneippwechselbäder. Dieser Plan hat ein Gesamtvolumen von über hundert Millionen Euro.«
Quercher war erstaunt, wie leicht dem Bürgermeister all diese Phrasen und Satzblasen aus dem Mund fielen.
»Aber wir haben nur einen Schuss frei. Wenn dieses Projekt scheitert, wird das alles hier zum Friedhof. Dann ist das tatsächlich ein großes Altersheim.«
Quercher hob die Hände. »Und warum erzählst du mir das alles?«
Ein Mädchen mit einer weißen Schürze, ausgetretenen Boots und einer Felljacke balancierte unsicher ein Tablett mit einer Terrine und fünf Weißbiergläsern über die Straße. Quercher erhob sich, nahm es ihr ab und stellte es auf die Bank neben sich, während Stangassinger aus einem Louis-Vuitton-Portemonnaie einen blauen Geldschein zog und den Rest als Trinkgeld gab.
Kaum war das Mädchen außer Hörweite, antwortete Stangassinger. »Ich will dir ein Bewusstsein geben. Dich interessiert nur, wer verdächtig ist. Du denkst in Schwarz und Weiß. Aber es gibt eben auch viele Grautöne. Neunzig Prozent in diesem Tal wollen ihre Ruhe. Es interessiert sie nicht, was in fünf, zehn oder zwanzig Jahren hier passiert. Sie sind dann tot oder weggezogen. Ich aber muss weiterdenken. Weil ich eine Verantwortung habe. Ja, Brunner und Schlickenrieder verdienen ihr Geld dabei. Vermutlich werden sie reich. Und auch ich profitiere vom Erfolg. Aber nur so sind Menschen zu Wagnissen bereit. Mir ist klar, dass dieser Unternehmergeist einem Beamten des bayerischen Staates womöglich abgeht. Aber es ist auch deine Heimat. Und deine Familie lebt auch noch hier. Noch einmal: Du hast auch eine Verantwortung.«
Quercher nickte. »Die habe ich. Und wenn alles rechtmäßig läuft, bin ich schon weg.«
Der Bürgermeister grinste eher dürftig. »Q wie Qualität, Q wie Quercher. Das war auch schon das Motto deines Vaters.«
»Nein, meins ist Q wie Qual.«
Stangassinger beugte sich zu Quercher hinüber. »Wenn du einen Fehler machst, mein lieber Max, wird’s nichts mit der Insel.«
»Was du so weißt. Welche Insel? Die der Glückseligen? Oder die der fehlenden Gäste? Denn tote Soldaten auf Wanderwegen lassen Kurgastzahlen auch nicht zwingend nach oben schnellen.«
»Wir verstehen uns«, fauchte der Bürgermeister.
Sie schwiegen und sahen den dreien beim Eisstockschießen zu.
Brunner löste sich aus der Gruppe und kam lachend auf Quercher und Stangassinger zu. »Ihr zwei seht aus wie die Rentner an der Säbener Straße beim FC Bayern.«
Brunners Witz zündete nicht. Quercher sah aus den Augenwinkeln, dass Stangassinger ganz leicht mit dem Kopf schüttelte. Brunner machte eine Handbewegung und der Bürgermeister erhob sich.
»Ich gehe mal, damit unser Besuch aus den USA nicht einen falschen Eindruck von diesem Ort bekommt.« Er trottete zu Hannah und Schlickenrieder.
Brunner setzte sich nicht, stellte nur ein Bein auf die Bank neben Quercher. »Meine Freunde in München, im Innenministerium, erzählten mir von Ermittlungen, die in die Fünfzigerjahre zurückreichen sollen. Dein Chef ist da wohl vorstellig geworden.«
Quercher schoss das Blut ins Gesicht. Pollinger. Hatte er die Politiker gewarnt oder wollte er sie sensibilisieren, um ihn zu schützen? Was bezweckte der Alte damit? Seine Gedanken purzelten plötzlich.
Brunner war ein Mensch, der schon früh in seiner Karriere ein Gespür dafür entwickelt hatte, wann er einen Gegner ins Wanken gebracht hatte. Jetzt galt es, den Sack zuzumachen.
»Quercher, fahren Sie zurück. Feiern Sie Weihnachten oder veranstalten Sie ein Truthahnessen mit Ihrer kleinen Freundin da drüben. Sie werden hier nicht weiterkommen. Sie rennen gegen eine Wand.«
Quercher sah ihn fassungslos an. »Das ist doch nicht Ihr Ernst? Wie wollen Sie mich, einen Beamten des Landeskriminalamtes, aufhalten?«
Brunner lächelte. »Gar nicht. Dich nicht.« Scheinbar mühelos wechselte er die Anrede, als ob er mit einem kleinen Jungen spräche. »Nein, den großen Inspektor Clouseau aus München, den halte ich natürlich nicht auf. Aber jeder Mensch, auch der Superbulle, hat eine schwache Seite. Du hast gleich zwei: Deine Mutter, krank und alt, hat Hypotheken auf dein Elternhaus aufgenommen, um deiner Schwester Geld für ihr Schützenstüberl zu geben. Hast du Platz in München für deine Mutter? Und deine Schwester bekommt heute Nachmittag Besuch vom Gesundheitsamt. Ich bin da ja kein Fachmann. Aber was ich so höre, wird der Laden angesichts der eklatanten Mängel bis Anfang Februar geschlossen. Keine Weihnachtsfeiern, keine Silvesterpartys, die die Familie ja so dringend braucht. Und manchmal ist sowieso alles schnell vorbei.«
Er erhob sich, machte das kreischende Geräusch einer Kreissäge nach und winkte dann in Richtung der Eisstockgruppe. »Die Würtschl sind da.«