Kapitel 34

Gmund, Mittwoch, 20. 12., 13.26 Uhr

Quercher war ein echtes Arschloch, dachte Arzu, als sie sich von Ankes Mann nach Gmund zum Frauenarzt fahren ließ. Er hatte sie schlicht mit Hannah ausgetauscht. Diese Elli konnte den ersten wirklichen Einstieg in den Fall bedeuten. Und ausgerechnet jetzt sollte sie nicht dabei sein!

Sie wollte die Arztgeschichte schnell hinter sich bringen. Im Radio liefen die Wetternachrichten. Wieder wurde vor einem Unwetter mit erhöhter Lawinengefahr und starkem Schneefall gewarnt.

Sie fuhren am nördlichsten Punkt des Sees vorbei, wo Quercher gestern auf dem Eis gelandet war. Ein prachtvoller Blick auf das Tal und den See tat sich auf. Hier war wirklich ein schöner Flecken.

Der Arzt öffnete ihr die Tür. »Guten Tag, ich bin Dr. Pauly. Sie sind …?«

»Arzu Nishali, ich bin hier zu Besuch. Und …«

»Verstehe, Sie hatten sich heute Morgen angemeldet. Kommen Sie bitte mit. Hier ist mein Behandlungszimmer.«

Arzu war von Dr. Pauly beeindruckt. Er war groß, äußerst muskulös, athletisch und wirkte sehr konzentriert.

»Den Mutterpass haben Sie dabei?«

Arzu nickte. »Hier ist er.«

»Gut.«

Es war nur ein Gedankenblitz. Aber Arzu fand die Situation befremdlich. Sie war jetzt allein mit dem Arzt. Niemand war da, wenn … Aber sie vertraute ihm und lief hinter dem Arzt in das Behandlungszimmer.

»Setzen Sie sich doch erst einmal. Ist es etwas Dringendes? Ich sehe in Ihrem Mutterpass, dass Sie eigentlich in München bei einer Kollegin in Behandlung sind.«

Arzu setzte sich vor seinen Schreibtisch, musterte kurz die Wand hinter ihm, wo diverse Holzbretter mit eingeprägten Wappen hingen.

»Ja, ich habe das Gefühl, dass sich … also … nichts mehr bewegt.« Sie deutete auf den Bauch.

Pauly las weiter in ihrem Mutterpass. »Ihr Termin ist ja Ende Januar. Das sind noch vier Wochen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Sie das Kind nicht immer spüren. Wir schauen uns das einmal an.« Er zeigte auf den Behandlungsstuhl. »Wenn Sie sich einmal freimachen würden. Ultraschall kennen Sie ja.«

Sie zog sich aus und setzte sich auf den Behandlungsstuhl. Arzu erschrak, als Dr. Pauly das kalte Sonografie-Gel mit seinen behaarten Händen und einem Schaber über ihren Bauch verteilte.

»Machen Sie Ferien hier im Tal?«, versuchte er zu plaudern, während er mit der Sonde über ihren Bauch fuhr und gleichzeitig aufmerksam auf den Bildschirm des Ultraschallgeräts starrte.

»Nein, ich bin beruflich hier.«

Der Arzt hob den Kopf und lächelte Arzu an. »Also, Herztöne sind erkennbar, ich kann keine Auffälligkeiten feststellen. Ihr Junge ist genau da, wo er sein sollte. Hatten Sie Übungswehen? War die Bauchdecke etwas hart und angespannt?«

Arzu nickte.

»Gut, das soll auch so sein. Ihr Körper übt sozusagen die Geburt schon einmal. Eine Art Generalprobe. Und sehr bald haben Sie auch Senkwehen. Das ist alles im Rahmen. Ihr Kind wird langsam Richtung Becken geschoben. Es rutscht weiter nach unten. Dann senkt sich auch der Bauch. Können Sie denn schlafen? Irgendwelche Beschwerden? Sie sehen etwas blass aus.«

»Ja«, sagte Arzu. »Ich fühle mich ein wenig schlapp.«

»Ich gebe Ihnen ein Mittel – am besten intravenös, das wird Sie nach vorn bringen.«

Ein Telefon klingelte, während er die Spritze in ihren Arm stach und eine Verbindung zu einem Infusionsbeutel herstellte. Sie verzog nicht einmal das Gesicht. Immer noch klingelte das Telefon.

Pauly griff nach einer Rolle Papiertücher und reichte sie Arzu. »Sie können sich wohl besser allein säubern«, lächelte er. »Ich muss leider kurz ans Telefon gehen. Meine Sprechstundenhilfe ist heute Nachmittag nicht da.«

Arzu war erleichtert. Ihr Kind war gesund. »Gehen Sie ruhig. Ich mache das schon sauber«, antwortete sie beinahe euphorisch.

Er verschwand eilig aus dem Behandlungsraum und Arzu wischte sich mit mühsam nach oben gerecktem Kopf ihren voluminösen Bauch ab. Die Papierrolle neigte sich dem Ende zu. Sie wuchtete sich aus dem Stuhl, griff nach dem Infusionsständer und sah sich um. Nicht weit von ihr erspähte sie eine weitere Rolle am Waschbecken, das neben dem Schreibtisch installiert war. Vorsichtig wischte sie sich weiter ab, zog ihre Hose wieder an und hörte, wie Pauly telefonierte.

Dann sah sie es. Ein Bild an der Wand. Es war eine Ehrung. Jemand überreichte einem Mann mit Brille und Bauch eine Urkunde. Sie konnte lesen, dass es um die Verleihung eines Bürgerpreises an den Arzt Dr. Pauly ging.

Aber der Mann auf dem Foto war nicht der, der sie behandelte.

Arzu erstarrte. Der vermeintliche Pauly telefonierte immer noch. Sie hielt die Luft an, um Satzfetzen zu verstehen.

»Die Elli hat Beweise? Woher … – Eine SMS abgefangen, okay. – Wo? … – Siebenhütten. – So schnell? Weiß ich nicht. – Halten Sie ihn auf, dann kann ich die Vorbereitungen treffen.«

Arzu wurde heiß. Wer war das? Was hatte er mit Elli Schlickenrieder zu tun und warum wusste er von Querchers Treffen mit Elli irgendwo da draußen? Arzus Kopf schien zu glühen. Sie musste hier raus. Aber als sie versuchte, den Gürtel ihrer Hose zu schließen, kam sie nicht an die Schnalle. Etwas behinderte sie. Ihre Arme hingen schlaff herunter. Immer noch war sie an die Infusion angeschlossen. Was war hier los? Sie schwankte durch den Raum, suchte Halt. Stützte sich auf das Gestell für die Beine am Behandlungsstuhl. Mit letzter Kraft rutschte sie auf den Stuhl. Dann verlor sie das Bewusstsein.

»Frau Nishali, hallo?«

Wie durch Watte vernahm sie seine Stimme. Sie öffnete die Augen. Dr. Pauly hatte sich über sie gebeugt. Er lächelte sie an. Wie zäher Brei, der von einem Löffel fällt, drangen die Erinnerungen zu ihrem Bewusstsein durch. Sie wollte zum Frauenarzt. Das war der Mann über ihr. Er hatte ihr Ultraschallbilder ihres Kindes gezeigt. Dann war er weggegangen. Sie war zusammengeklappt. Warum? Sie spürte seinen warmen Atem. Ihr selbst war kalt. Sehr kalt. Arzu wollte sich abwenden. Aber kein Körperteil gehorchte ihr. Sie lag wie ein Stück Fleisch auf dem Stuhl.

»Ich habe Sie ein wenig ruhiggestellt. Das muss Sie jetzt nicht sorgen. Sie haben ja eben Ihr Kind gesehen. Noch ist es sehr gesund. Ich spiele Ihnen noch einmal die Bilder auf den Monitor.«

Es war kein Albtraum. Sie war bei Bewusstsein. Und dieser falsche Arzt war eine Gefahr. Ihr Atem beschleunigte sich.

»Schauen Sie nach rechts, da sehen Sie Ihr Kind. Und wenn Sie sich aufregen, wird das der kleine Mann da auch tun.«

Arzu wollte ihren Mund öffnen, der trocken war und schmerzte. Aber sie bekam nur ein Krächzen zustande.

»Liebe Frau Nishali, wenn Sie sich bitte auf das konzentrieren würden, was ich Ihnen zu sagen habe? Einfach nicken, ja?«

Sie nickte. Aber die Panik rauschte wie ein Strom durch sie hindurch.

»Gut. Je mehr Sie sich aufregen, desto schneller verteilt sich das Gift in Ihrem Körper. Das ist der Punkt, mit dem ich beginnen möchte, der positive Teil sozusagen. Ich habe Sie sediert. Das heißt, Sie sind temporär gelähmt und betäubt und spüren keinerlei Schmerzen. Alles rauscht an Ihnen vorbei. Sie könnten nun zu Recht einwenden, dass ich keinerlei medizinische Ausbildung besitze. Aber ich habe diverse Sanitätslehrgänge absolviert. Sie sind also in professionellen Händen. Nun aber die schlechte Nachricht. Sie werden sterben. Wie, ist jetzt unwichtig. Sie haben keine Chance. Ja, ich sehe, das regt Sie auf.«

Der Mann hatte Arzu mit einem EKG-Gerät verbunden. Es piepste laut und gab den Herzschlag wieder.

»Aber, wenn Sie mir ein paar Fragen zufriedenstellend beantworten, kann Ihr Kind leben. Ich sage bewusst ›kann‹. Sie wissen, wir Männer wollen nie etwas endgültig versprechen. So viele Dinge können schieflaufen. Ich beschreibe es Ihnen: Ihre Plazenta wird eine Insuffizienz erleiden. Details müssen Sie nicht belasten. Sie werden vergiftet. Ihre Nieren kollabieren. Sie sterben. Aber den kleinen Körper schneide ich, wenn ich rechtzeitig zugegen bin, in einer Notoperation heraus. Vorher muss ich jedoch ein paar Fragen loswerden. Einverstanden?«

Sein Gesicht war jetzt ganz nah an ihrem Ohr. Sie roch alles deutlich intensiver. Sein Rasierwasser stach scharf in ihrer Nase. Arzu krächzte.

»Ich nehme das als ein Ja. Fangen wir an: Ihr Vorgesetzter Maximilian Quercher will sich heute um 15.30 Uhr in Wildbad Kreuth mit der Ehefrau meines Freundes Josef Schlickenrieder treffen. Stimmt das?«

Arzus Hirn war wie ein waberndes Stück Lava. Alles wankte. Sie konnte sich kaum konzentrieren. Sie wollte nicht Ja sagen, aber es gab keine Schranke, keinen Widerstand, es nicht zu tun. Sie nickte. Seine Hand streichelte ihre Wange. »Sehr gut. Hat der Herr Quercher seine neue Freundin Hannah Kürten dabei?«

Sie hatte keine Ahnung, aber sie nickte.

»Hat er eine Waffe?«

Sie nickte noch einmal.

»Weiß der Herr Quercher, was die Elli ihm geben möchte?«

Langsam und nur wenige Zentimeter schüttelte sie den Kopf.

»Das war es schon. Tat gar nicht weh. Heute Nacht werden Sie schon wieder bei Ihrem Herrn Quercher sein. Und wenn Sie Glück haben, gibt es eine Hölle für reiche Enkelinnen und da wird dann Frau Kürten weilen. Ich werde mich jetzt umziehen. Es soll schneien. Und Sie werden gleich sterben.«