Kapitel 19
Bad Wiessee, Dienstag, 19. 12., 23.55 Uhr
»Nein, Mutter, sie möchte keinen kalten Schweinsbraten. Hannah kommt aus den USA! Da essen alle sehr gesund.«
Er hatte den Satz fast geschrien. Seine Mutter sah ihn verständnislos an, während Hannah sie freundlich anlächelte.
Arzu hob die Augenbrauen. »Wir sind schon beim Du? Was so eine nicht angezogene Handbremse alles schafft. Und seit wann essen die Amis eigentlich gesund? Die sehen doch alle aus wie …«
Quercher unterbrach Arzus Redefluss mit einer unwirschen Handbewegung.
Sie saßen mit Querchers Mutter in deren Küche und ließen den Tag Revue passieren. Quercher hatte den Wagen schlussendlich zwar von der Eisfläche bekommen, ihn aber nicht mehr den Hang hinauffahren können. So hatte er ihn stehen gelassen, ein Taxi gerufen und war mit Hannah und Lumpi nach Wiessee gefahren. Er war sich sicher, dass jemand den Wagen manipuliert hatte. Aber in der Nacht machte es keinen Sinn, das zu überprüfen. Sein technischer Sachverstand hätte dazu auch nicht ausgereicht.
Arzu hatte einen großen Schreibblock, den Kinder gemeinhin für ihre Wachsmalexperimente nutzen, auf dem Tisch ausgebreitet. »Hier sind die Fakten. Ein Toter, der nicht 1945 gestorben ist. Ein Schreiner, der mit diesem Fund vielleicht jemanden anschwärzen will und kurze Zeit später getötet wird, ein …«
»Arzu, nur die Fakten«, mahnte Quercher.
Sie verzog ihr Gesicht. »Also, ein Schreiner, der die Leiche findet und dann zufällig stirbt. Zwei Drohungen, die professionell und eindrucksvoll waren. Zwei Autos, die manipuliert … Entschuldigung, nicht funktionstüchtig waren. Mit dem Ergebnis, dass alle außer uns nun denken, dass die Leiche verbrannt ist und man euch einen Schrecken eingejagt hat. Und zu guter Letzt ein LKA-Beamter, der die Leiche hat verschwinden lassen und damit unter anderem gegen die Totenruhe verstoßen hat. Was habe ich vergessen? Stimmt, ein Vorgesetzter, der will, dass wir wieder nach München kommen. Kurz: Wir können nicht offiziell ermitteln, müssen schön die Köpfe einziehen, werden bedroht und haben nur noch wenig Zeit.«
Quercher legte das Bild aus dem Schützenstüberl auf den Tisch. »Schaut mal, das sind laut Bildunterschrift die Herren Schlickenrieder, Brunner und Birmoser. Die Männer daneben sind nicht namentlich gekennzeichnet worden.«
Querchers Mutter kam aus dem Keller, stellte eine Flasche mit Milch auf den Tisch und legte einen Teller mit Aufschnitt daneben. Hannah goss sich ein Glas voll und trank mit großem Durst.
Die alte Quercher sah über die Schulter ihres Sohnes. »Woher hast du denn das?«
»Aus Ankes Restaurant. Das hing da an der Wand«, sagte Quercher. »Kennst du die?«
Querchers Mutter griff in ihren Kittel und kramte eine verbogene Hornbrille heraus. Mühsam setzte sie sie auf und studierte das Bild. »Na, das eine ist der alte Schlickenrieder und sein Schreiner, der alte Birmoser. Die waren ja ein Herz und eine Seele. Die anderen kenne ich nicht. Doch, der eine ist der … Augenblick … das ist der …«
Ihr Sohn wurde ungeduldig. »Ja, das ist der Brunner, das steht hinten drauf. Das war im Hotel Seegarten in Rottach, unten in der Bar bei einer Silvesterfeier, in den Fünfzigern oder so.«
»Nein, den meine ich nicht. Der andere da, im Hintergrund, der seine Arme so auf die beiden legt. Das ist der … verflixt … der Hans halt.«
Quercher erstarrte und sah zu Hannah. Die reagierte sofort. »Und wie hieß der, Frau Quercher?«
Die alte Frau ließ das Bild aus ihrer zitternden Hand fallen. Quercher hob es auf.
Seine Mutter drehte sich wortlos um und ging die Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinauf. Sie hörten noch einige Augenblicke ihre Schritte auf den Holzdielen.
Dann war es still.
»Was hat sie?«, fragte Hannah.
»Ihr ist es peinlich, wenn sie so zittert. Sie hat Parkinson. Die Krankheit frisst sie auf.«
Quercher spürte die Beklemmung, die in ihm aufstieg. In München wäre er jetzt an sein Rudergerät gegangen, hätte die Angst und die drohende Panik weggearbeitet. Aber er musste sich um die zwei Frauen kümmern. »Was hast du noch, Arzu?«
»Gut, also Schlickenrieder ist hier am See so was wie der bunte Hund oder Hansdampf oder King of the Wurst oder was immer ihr wollt. Er führt einen Elektrobetrieb und verwaltet die Immobilien seines Großvaters. Der liegt dement in einem Seniorenheim in Kreuth, nicht weit von hier. Diese Immobilien hat der alte Schlickenrieder Stück für Stück von Vater Staat, genauer dem Bundesvermögensamt, in den frühen Siebziger- und Achtzigerjahren erworben.«
Quercher stutzte. »Warst du beim Grundbuchamt, oder wer hat dir das erzählt?«
Sie stöhnte leise. »Max Quercher, selbst hier im Tal, wo man vermutlich im Genpool stehen kann, haben sie auf online umgestellt. Es war eine kleine Anfrage.«
»Klar, ohne zu fragen.«
Arzu zuckte mit den Schultern.
Hannah ging auf diese Feinheiten des deutschen Rechtswesens nicht ein. »Warum hatte das Bundesvermögensamt hier so viele Immobilien? Selbst Beamten musste doch klar sein, dass sich mit dem aufkommenden Reichtum der Wert der Grundstücke steigern würde.«
»Vielleicht war der Staat gezwungen zu verkaufen, brauchte Geld oder man schmierte damals«, antwortete Arzu, froh, nicht mehr auf das Hackerthema angesprochen zu werden. »Und wenn der Mann auf dem Foto Ihr Großvater ist?«
Quercher hob das Foto nah an sein Gesicht, ehe er es Hannah gab.
Die sah sich das Bild aus dem Schützenstüberl noch einmal genauer an. »Was sagt uns das Bild?«
Quercher gähnte. »Das kann eine Menge bedeuten. Damit hätten wir eventuell eine Verbindung zwischen der Leiche, dem Jagdhüttenbesitzer und deinem Großvater. Etwas dünn, zugegeben, aber dennoch naheliegend.«
Es klingelte an der Haustür. »Das ist meine Schwester. Sie wohnt nicht weit von hier. Ihr könnt bei Anke schlafen. Sie hat zwei Gästezimmer frei. Alles etwas spartanisch und nicht so schick. Aber zumindest sicher. Ich bleibe hier in meinem gemütlichen Kinderzimmer. Morgen früh machen wir ein paar Besuche. Aber jetzt will ich schlafen.«
Anke hatte Arzu und Hannah die beiden Zimmer, das Bad und die Küche gezeigt und sich dann mit dem Hinweis, dass sie sich wie zu Hause fühlen sollten, zurückgezogen.
Als Arzu vor dem Waschbecken im Badezimmer stand und sich mit einem Wattepad abschminkte, kam Hannah mit einer Kanne Tee aus Ankes Küche herein. »Störe ich?«
Arzu sah sie lächelnd an. »Ja, ich mache mich zwar bettfertig, wie man in Deutschland sagt, aber ich bin noch nicht müde.« Sie zögerte, überrascht über die eigene Schroffheit, und fügte hinzu: »Wir können uns noch in mein Zimmer setzen, wenn ich hier fertig bin.« Sie drückte vorsichtig, aber bestimmt mit ihrem Fuß die Tür vor Hannah zu.
Die verstand und verschwand.
Wenig später trafen sich die beiden in Arzus Zimmer. Hannah setzte sich in einen Korbstuhl aus den frühen Siebzigern, der neben dem Fenster stand, und sah der Deutschtürkin überrascht dabei zu, wie diese sich unbekümmert das T-Shirt über den Kopf zog und es mit einer laschen Handbewegung auf das Fensterbrett warf.
»Wann ist es so weit?«
»Ich bin nicht so eine Frau. Ich habe den Termin, den mir der Arzt gesagt hat, vergessen.«
Hannah musterte Arzu interessiert. Sie hatte schon viele Schwangere gesehen. Aber seltsamerweise war sie noch keiner schwangeren Frau so nahegekommen. Sie sah auf die großen festen Brüste mit ihren geweiteten Brusthöfen und den gewölbten Leib. Fast schien es Hannah, als sei dies die absolut perfekte Körperform, was ihr für einen kurzen Augenblick Schmerz bereitete. Sie hatte nie Kinder gewollt. Zumindest hatte sie das lange geglaubt. Ihr war das alles zu viel. Sie wollte in der Männerwelt des großen Business bestehen. Und dann, plötzlich, vor zwei Jahren, hatte sie es doch gewollt. Er war groß, klug und verheiratet. Sie erzählte es ihm in einem Café in New York. Eine trächtige Katze war direkt vor ihnen vorbeigeschlichen auf der Suche nach Happen, die Touristen ihr zuwarfen. Ein gutes Zeichen, hatte sie noch gedacht. Aber er hatte nur geschwiegen. Dann hatte er auf den Boden gesehen und den Kopf geschüttelt. Sie war aufgestanden, hatte etwas Geld auf den Tisch gelegt und die Katze weggescheucht. Zwei Tage später war sie in einer Blutlache aufgewacht. Das Kind in ihr war gestorben, ihr Körper hatte es abgestoßen. Kein Sonderfall, wie ihr Arzt sagte. In ihrem Alter.
Arzu bückte sich mit einem leisen Stöhnen und griff nach einer weißen Dose mit Hautlotion. Ihr olivfarbener Körper war für diesen Zeitpunkt der Schwangerschaft erstaunlich muskulös. Sie strich sich die Lotion mit Bedacht über die Arme und den Nacken. Ihre Brüste hingen herab. Mehr Fruchtbarkeit geht nicht, dachte Hannah bitter.
»Freust du dich nicht?«, fragte sie.
Offensichtlich duzte Hannah jetzt nicht nur Quercher, sondern auch Arzu.
»Wieso freuen? Auf die Schmerzen der Geburt? Auf das Alleinsein danach im Krankenhaus? Das Stück Leben, das ich dann in eine viel zu kleine Wohnung nehme? Ich wollte kein Kind. Nie. Aber ich bin Türkin. Da ist ein Kind ein Geschenk. Zudem ist es ein Junge.«
Jetzt waren ihre Beine dran. Mit lang ausholenden Bewegungen fuhren ihre schmalen Hände mit den langen Fingern über die Beine. Hannah betrachtete sie. Keine Delle an den Oberschenkeln, nichts deutete auf das Alter hin. Aber es wartete auf sie, dachte Hannah.
»Und deine Familie? Die freut sich doch, also … Die sind doch …«
»Ah, ja. Die Türken sind ja so familienorientiert und so kinderfreundlich. Aber diese Familie hat mich jahrelang genervt und manchmal auch fertiggemacht. Ich bin Polizistin. Unter anderem wegen Typen wie Quercher.«
»So? Warum?«, fragte Hannah so beiläufig wie möglich.
»Quercher kenne ich seit meiner Ausbildung bei der Bereitschaftspolizei. Er kam aus Düsseldorf, hatte da einen spektakulären Fall gelöst. Trotzdem wollte er nach Bayern zurück. So ein Wechsel ist sehr aufwendig und funktioniert nur, wenn zeitgleich ein Kollege in das andere Bundesland wechseln will. Ein Ringtausch sozusagen.«
Hannah war nicht so sehr an den Feinheiten der bayerischen Versetzungspolitik interessiert, wusste aber, dass gleich mehr kommen würde. Menschen brauchen Vorlauf für Vertrauen, das hatte sie als Firmenchefin schnell lernen müssen.
»Er kam dann für kurze Zeit zu einer Einheit der Bereitschaftspolizei, dem Unterstützungskommando. Dort war er kommissarischer Leiter und die haben ihn gehasst. Quercher mag keine Waffen. Er hält sie für überschätzt. Bei einer Demo von Faschisten in München war ich ihm zugeteilt. Wir mussten bei Straftaten zugreifen, die jeweiligen Leute aus dem Demonstrationszug holen. Am Abend spielte Deutschland im Finale der EM. Alle Kollegen wollten nach Hause oder in die Kaserne. Quercher hasst die Nazis. Und einer der Veranstaltungsleiter kam ihm dumm. Wollte ihn provozieren und trat auf ihn zu. Ganz nah.« Arzu zeigte den Abstand mit der Hand. »Quercher drehte sich weg und ordnete eine Leibesvisitation bei dem Mann an. Die Nazis hatten einen Anwalt dabei. Der kam mit Paragrafen daher. Also ließ Quercher den Nazi selbst seine Taschen ausräumen. Plötzlich lag da eine kleine Schusswaffe in seiner Hand. Der Typ schrie, das wäre nicht seine. Und warf sie weg. Dabei löste sich ein Schuss. Quercher drückte den Typ zu Boden, löste die Demo mit den Worten ›Schlagstock frei‹ auf und alle sahen am Abend das Fußballspiel.«
Hannah konnte sich an Arzus fast atemlos erzählter Heldengeschichte kaum satthören. Sie war so sehr von dieser zweifellos illegalen Tat begeistert, dass sie die Dimension des Rechtsbruchs nicht erkannte. Doch der war ihr auch egal. Hier war es ja um eine gute Sache gegangen.
Arzu nahm eine Bürste aus einer Plastiktüte, die ihr Anke gegeben hatte und die notwendigsten Utensilien für eine Übernachtung beinhaltete. Eine Bürste war ein Muss bei Arzus langen und kräftigen Haaren, die ihr in den letzten Tagen aus für sie unverständlichen Gründen in größeren Büscheln ausfielen. Umso zorniger zog sie die Bürste durch die lange schwarze Pracht.
»Quercher will weg, aufhören, warum?«, fragte Hannah.
Arzu schloss die Augen. Genau darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Sie hatte von Querchers Plänen ja auch erst gerade im Schützenstüberl erfahren. Wegen Leuten wie ihm war sie zur Polizei gekommen. Ohne ihn würde ihre Arbeit anders werden. Arzu lehnte an der Heizung und sah auf die beschlagenen Fenster, an denen Tropfen langsam ihren Weg nach unten zogen.
Hannah spürte ihre Traurigkeit, war aber zu müde, um darauf einzugehen. »Ich gehe ins Bett. Schlaf gut.«
Sie legte flüchtig ihre Hand auf Arzus Schulter, ehe sie leise über den Flur tapste und in ihr Zimmer schlüpfte.