Kapitel 5
Bad Wiessee, Dienstag, 19. 12., 08.45 Uhr
Der Schnee. Wie Quercher ihn hasste. Da war ihm der Regen noch lieber, den er in den Düsseldorfer Jahren fast genossen hatte. Kälte war ihm schon immer zuwider gewesen. Seit er mit seiner Schwester am Skilift warten musste. Wie alle hier hatte auch Maximilian Quercher das Skifahren lernen müssen. Bei dem Gedanken, sich in ein Tal zu stürzen, war ihm regelmäßig übel geworden. Aber Skifahren war hier nicht nur ein Hobby. Man musste es perfekt beherrschen, besser als all die Preußen, die im Winter auf Sommerreifen hierher kamen und sich in lächerlichen Skihosen und kreischbunten Jacken über die Landschaft hermachten wie Heuschrecken über die Ernte. Nur im Sommer hatte er sich wohlgefühlt. Da war der See sein Element. Er war gerne geschwommen, getaucht und mit sechzehn Jahren schon einmal eine ganze Nacht auf einer Badeinsel aus Holz inmitten des Sees geblieben. Doch seit diesem Tag vor drei Jahren mied er auch den See, schaute nicht einmal hin, wenn er, was selten genug vorkam, seine Mutter und Schwester besuchte. Auch für die Berge ringsherum, das Wandern, das Bergsteigen, den ganzen Rummel winters wie sommers hatte er nur ein verächtliches Schulterzucken übrig. Und ausgerechnet jetzt, kurz bevor er auf seine Insel ziehen wollte, musste er genau dorthin – in die Berge.
Quercher hatte im Foyer des Wellnesshotels in Rottach-Egern gewartet. Er saß in einem roten Plüschsessel, sah die weibliche Kundschaft der ansässigen Schönheitsfarm hereinstapfen und schmunzelte über Rottach und seine Einwohner. Wenn die Orte, die sich um den See wie Herpes um einen geöffneten Mund legten, Geschwister wären, dann hätte Rottach die Rolle der schönen, jungen, aber recht dummen Schwester eingenommen. Hier war mehr Sonne, mehr Reichtum, mehr ›Bling-Bling‹, wie Quercher fand. Bad Wiessee wirkte wie die praktische, aber verhärmte ältere Schwester, die keinen Mann mehr fand und auf Heiratsschwindler hereinfiel.
Dann kam Hannah. Nein, sie erschien. Einen Schritt hinter ihr watschelte Arzu – wie zur Bestätigung des Klischees, dass sich schöne Frauen immer mit unförmigen und weniger attraktiven Frauen zeigten, um mehr zu glänzen und zu wirken. Hannah trug eine enge weiße Skiweste mit einem hellbraunen Pelzbesatz. Darunter hatte sie einen Wollpullover angezogen, der wieder einmal mehr betonte als verhüllte. Ihre Füße steckten in grauen Ugg-Boots, ihr Kopf war von einer modischen Wollmütze bedeckt. Quercher wuchtete sich aus dem Sessel. Er hatte sich seine alten Bergstiefel, eine Jeans und eine mausgraue Daunenjacke angezogen.
Arzu, die angesichts ihres Zustands nicht auf den Berg gehen konnte, kommentierte es so trocken wie treffend: »Die Schöne und das Biest.«
Quercher lächelte nicht. »Wir gehen zum Fundort einer Leiche, nicht zum Après-Ski.«
Hannah reagierte nicht, sondern marschierte schnurstracks nach draußen, setzte sich auf den Beifahrersitz und widmete sich dort ihrem Smartphone.
Während sie nach Bad Wiessee fuhren, besprach Quercher mit Arzu die Aufgaben.
»Während du in der Dienststelle bleibst und den Bestatter anrufst, werden Frau Kürten und ich den Fundort ansehen. Sag dem Bestatter, dass er sofort hochkommen soll und mit der Bergung anfangen kann. Den Rechtsmediziner aus Miesbach könntest du auch noch einmal kontaktieren. Er hat ja eine Probe von der Leiche untersucht. Ich will nur ganz sicher gehen. Vielleicht können wir so noch mehr über die Todesursache herausfinden.« Quercher wandte sich Hannah zu. »Das dürfte ja auch in Ihrem Interesse sein.«
Hannah hatte ihren Kopf weit nach vorn gebeugt, tippte und wischte auf ihrem iPhone herum und nickte nur.
»Wollen Sie in dieser Kleidung auf den Berg hoch?«, fragte er in die Stille.
Sie antwortete nicht.
»Arzu, kümmere dich um das DNA-Gutachten, und hier ist ein Zettel mit ein paar Fragen und Telefonnummern, die du bitte abtelefonierst.«
Jetzt erst hob Hannah den Kopf. »Ermitteln Sie etwa?«
Nun war es Quercher, der nicht antwortete.
Als er mit seinem Mercedes vor der Dienststelle parkte, fuhr er um ein Haar zwei Männer um, die Quercher kannte. Es waren Kollegen der Kripo aus Miesbach.
Arzu lief sofort in die Dienststelle und bat Hannah, mitzukommen. Sie brauchte einen Abstrich aus ihrem Mund für den DNA-Vergleich.
Quercher grüßte die Kollegen mit einem Nicken. »Andi, Siggi, servus. Was macht ihr denn hier?«
Einer der beiden hatte sich gerade ein großes Stück einer Semmel mit Kalbsfleischwurst in den Mund gesteckt. Deshalb antworterte der andere. »Ein Toter – da oben.« Er zeigte zu einer Siedlung, die an den Bergen angrenzte. »In einer Schreinerei. Routinesache. War vermutlich ein Unfall. Keine Fremdeinwirkung. Der Sachverständige ist schon …«
Quercher unterbrach ihn. »Wie hieß denn der Schreiner?«
Der andere Kollege hatte mittlerweile seine Semmel hinuntergeschluckt. »Birmoser Andreas. Ist mit dem Kopf in die Bandsäge gekommen.«
Quercher hob die Augenbrauen. Er fühlte Unruhe in sich aufsteigen. »Wo ist der Straßberger?«
Der Kollege zeigte wieder auf die Siedlung. »Sichert momentan den Tatort und redet danach mit einer Angehörigen. Warum?«
Statt zu antworten, fragte Quercher: »Darf ich mir mal den Tatort ansehen?«
Als er die skeptischen Blicke der Kollegen sah, fügte er hinzu: »Der Typ ist der Grund, warum ich hier bin. Der hatte … Ach, das erzähl ich euch gleich. Ich sage nur meiner Kollegin Bescheid.«
Die beiden Männer zuckten mit den Schultern, stiegen in einen roten BMW und fuhren vom Hof. Quercher holte sein Telefon heraus und rief Arzu an, die nur wenige Meter von ihm entfernt in der Dienststelle der Deutschamerikanerin eine DNA-Probe entnahm. »Arzu, hör jetzt einfach zu. Der Schreiner, der den Baum gefällt hat, ist tot. Ich will mir das mal in Ruhe anschauen. Frag nicht. Sag nichts. Beschäftige die Truse und warte auf mich. Bin gleich wieder da.«
Von Weitem sah er das Blaulicht. Auf dem Bürgersteig vor der Werkstatt des jungen Birmoser standen zwei Polizeiwagen und ein Bulli. Die Einfahrt war mit einem rot-weißen Flatterband abgesperrt. Quercher tastete in seiner Jacke nach seinem Dienstausweis. Ehe der junge Beamte in der grünen Uniform etwas sagen konnte, hatte er sich ausgewiesen, sich unter dem Band hindurchgebeugt und war die Treppen zu der Werkstatt hinaufgegangen. Zwei Männer in weißen Schutzanzügen kamen ihm entgegen. Er nickte. Spurensicherung, dachte Quercher noch, als er den Kollegen Straßberger von der Polizeistation Bad Wiessee erkannte. Der metallische Geruch von Blut schoss Quercher in die Nase. Straßbergers Gesicht war weiß wie eine Wand.
Dann sah er nur noch Rot.
»Was ist passiert?«, fragte Quercher leise in Richtung Straßberger, während er dabei versuchte, jedes Detail des Tatorts aufzunehmen.
Straßberger räusperte sich, winkte ihn zu sich. Langsam rückwärtsgehend, kam Quercher zu ihm.
»Heute Nacht beschwerten sich Nachbarn über den Lärm aus der Werkstatt vom Birmoser Andi. Nicht das erste Mal. Trotz der Kurzone, in der die Werkstatt liegt, und der damit verbundenen Ruhepflicht ließ der Anderl immer wieder die Kreissäge auch abends oder nachts laufen. Meist, weil ein Auftrag dringend fertig werden musste. Wir schickten eine Streife hin. Das war gegen ein Uhr morgens. Und die fanden ihn so.«
Straßberger rang nach Luft und übergab Quercher Bilder des Tatorts. Andreas Birmoser lag hinter der Formatkreissäge, die aus einem drei Meter langen Metalltisch bestand, aus dem ein Kreissägeblatt ragte. Überall auf den Fotos sah man Blut. Getrocknet, aber auch noch als große dunkelrote Lache unter dem Tisch. Birmosers Beine hingen noch auf dem Tisch. Sein Oberköper und der Kopf hatten auf dem Boden aufgesetzt. Er sah aus wie ein Taucher beim Sprung ins Wasser. Zwischen seinen Beinen ragte ein blutiges Sägeblatt hervor.
»Wir glauben, dass er eine große Platte, die du hier siehst …«, Straßberger deutete auf eine Spanplatte, die mit mehreren blutigen Handabdrücken bedeckt war, »… auf Format sägen, also etwas ausschneiden wollte. Er beugt sich nach vorn. Am Hals trägt er eine Stahlkette. Die rutscht aus dem Hemd, verfängt sich im Blatt der Kreissäge, reißt nicht sofort, zieht blitzschnell Andis Kopf nach vorn. Das Blatt reißt ihm ins Gesicht und in den Hals. Er versucht, den Notschalter auf Kniehöhe zu erreichen, dabei stürzt er kopfüber und gerät erneut in das Sägeblatt – diesmal mit den Beinen.«
Quercher brachte nur ein »Um Gottes willen! Was für ein Tod!« heraus.
Straßberger redete weiter, als ob ihn das Beschreiben des Hergangs beruhigen würde. »Wir sind natürlich Hinweisen auf Fremdeinwirkung nachgegangen. Der Kriminaldauerdienst aus Rosenheim ist auch schon da. Aber nach deren ersten Untersuchungen ergab sich diesbezüglich kein Verdacht.«
»Ja, ich habe die Kollegen unten an der Polizeistation getroffen. Die waren sich sehr sicher. Schließt ihr Suizid aus?«, fragte Quercher leise.
»Wir haben weder hier noch bei ihm daheim einen Abschiedsbrief gefunden. Eben war ein Mann von der Berufsgenossenschaft da. Auch der sagt, dass es nach einem Unfall aussieht. Der Körper ist bereits in München und geht auf jeden Fall in die Rechtsmedizin, hat der Staatsanwalt angeordnet. Es könnte ja sein, dass er gezwungen wurde …«
Quercher nickte. Er sah sich weitere Fotos an. Birmoser hatte ein T-Shirt getragen, was angesichts der Kälte draußen und der kühlen Werkstatt ungewöhnlich war. Quercher betrachtete die Arme. Wenn jemand den Schreiner an die Säge gezwungen hätte, müssten Hämatome an den Oberarmen erkennbar sein. Als die Fotos gemacht wurden, hatte die Leichenstarre schon eingesetzt. Das Blut war in die Handregion gesackt. Aber Quercher konnte an den Armen nichts entdecken.
»Was sagt der Arzt?«, fragte er Straßberger.
»Zum Todeszeitpunkt war er bei Bewusstsein. Die Abdrücke der Hände stammen von Birmoser. Keine Kampfspuren in und um den Tatort sowie auf der Säge selbst. Trotz der schweren Verletzung hat er wohl noch einige Minuten gelebt.«
Straßberger und die Kollegen aus Rosenheim hatten gute Arbeit geleistet, soweit er das beurteilen konnte. Auch Quercher wäre, wenn er hier ermittelt hätte, auf dieses vorläufige Ergebnis gekommen.
»Weiß die Mutter es schon?«, fragte Quercher den Kollegen.
»Ja, ich war eben bei ihr.« Straßberger stockte die Stimme. Beide kannten Christl Birmoser. Erst war vor wenigen Jahren der Mann gestorben, jetzt der einzige Sohn.
Quercher und Straßberger verabredeten, sich in einer Viertelstunde vor der Polizeistation zu treffen. Hier in der Schreinerei gab es nichts mehr für sie zu tun. Quercher stieg in seinen Wagen, wo Lumpi selig auf der Vorderbank geschlafen hatte und nun müde zu ihm aufschaute. Er kraulte ihren Nacken und spürte, wie sie angesichts der Kälte zitterte.
»Du bist ein echt knallharter bayerischer Jagdhund, Lumpi.«
Wann immer seine Gedanken sich verdüsterten, genügte ein Blick von Lumpi, eine zärtliche Geste, und er lächelte. Der Psychiater hatte ihm ein Haustier empfohlen, und als seine Mutter ihm am Telefon von dem Welpen erzählt hatte, wollte er ihn sich zumindest einmal anschauen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Mit ihren großen braunen Augen, den schmalen ledrigen Ohren und der langen Schnauze sah die kleine Hündin aus wie Pluto von Micky Maus. Vermutlich war sie das einzige weibliche Wesen, das er bedingungslos liebte.
Für ein paar Minuten verharrte Quercher regungslos auf dem Fahrersitz. Ausgerechnet der Mann, der wenige Tage zuvor den Baum gefällt und die Wachsleiche gefunden hatte, war jetzt tot. Straßberger schien keinen Zusammenhang zu sehen. Quercher schüttelte den Kopf. Vermutlich sah er schon Gespenster. Jetzt würden sie die Wachsleiche holen und bald wäre alles vorbei.