Kapitel 42

Bad Wiessee, Donnerstag, 21. 12., 01.57 Uhr

Die Wiesbadener hatten das Heft schnell in die Hand nehmen wollen. Riegers Tod hatte das Innenministerium in Berlin aufgeschreckt. Zu Recht. Der Kanzleramtsminister, unter anderem zuständig für die Koordination der Geheimdienste sowie der Ämter, wollte eine bayerische Vertuschung vermeiden. Noch in der Nacht, von seinem Bett aus, wies er den Innenminister an, ein Team des Bundeskriminalamtes zu aktivieren. Dort war Quercher kein unbeschriebenes Blatt. Die Vertreter des BKA wussten von den Eigenmächtigkeiten des Kollegen seit dem spektakulären Junktim-Fall. Auf dem Flug nach München mit der letzten Maschine äußerte der Teamleiter den Verdacht, Quercher und Pollinger hätten auf eigene Faust recherchiert und dabei sei der unkontrollierbare Quercher aus dem Ruder gelaufen. Alle sollten sich auf Querchers Taten konzentrieren. Die türkischstämmige Kollegin Nishali sei nicht vernehmungsfähig, liege im Koma. Die Amerikanerin sei ebenfalls verschwunden.

Straßberger hatte die alte Wandelhalle des Kurorts, ein Monstrum der Nachkriegszeit, für die Sonderkommission herrichten lassen. Überall wurden Computer und Telefone aufgebaut. Hektische Betriebsamkeit herrschte. Dazwischen saß Pollinger auf einer Bierbank und aß eine Bockwurst.

Der junge Mann vom BKA saß in einem alten Drehstuhl und fuchtelte mit einem Kugelschreiber vor Pollingers Gesicht herum. »Die Fakten: Quercher ist verschwunden, die Kürten auch. Und überall sind Leichen. Auch wenn sein Vorgesetzter Pollinger auf Fairness insistiert …«

»Sind Sie so nett, mich als anwesend wahrzunehmen und nicht in der dritten Person von mir zu reden? Danke. Oder sehen Sie mich nicht?« Pollinger biss in seine Wurst. Wasser und Fett spritzten heraus.

»Vorerst sehe ich nur eins, Dr. Pollinger: eine riesige Blutspur, verursacht von Ihrem Mitarbeiter. Kaum hat Maximilian Quercher das Tal betreten, sterben ein Schreiner und ein reicher Rentner mit BND-Vergangenheit. Zudem haben Bergungsmannschaften in Siebenhütten einen toten Elektriker gefunden. Und die Frau des Elektrikers sowie eine schwerreiche Amerikanerin mit deutschen Wurzeln werden vermisst.«

Pollinger blieb gelassen. »Sie haben keine echten Beweise, dass Quercher die Toten auf dem Gewissen hat. Mein Mitarbeiter hat ausführlich zu jeder Zeit Bericht erstattet. Noch gestern Mittag bat er mich um Rat. Er hatte einen Termin mit Dr. Rieger. Die beiden wollten Langlaufen gehen. Und Herr Schlickenrieder zählt, äh, zählte nach unseren Ermittlungsergebnissen zu den Hauptverdächtigen in einem Immobilienskandal.«

Der junge Kollege aus Wiesbaden wollte von Pollingers Erklärungen nichts wissen. »Wir haben mehrere deutliche Zeugenaussagen von Bürgern, die von Erpressungsversuchen und Bedrohungen durch Max Quercher berichten.«

Er deutete auf zwei Männer, die auf einer Bierbank am Ende des Raums saßen. Es waren Stangassinger und Brunner. Sie saßen dort bleich und still. Auch die Tassen mit heißem Kaffee, die Straßberger den beiden reichte, munterten das Duo nicht auf.

»Zur Leiche am See: Anwohner bestätigen, dass sich ein Mann, auf den die Beschreibung Querchers passt, vom Tatort entfernte, gebückt und schnell, um nicht erkannt zu werden. Die nächsten Toten Ihres Mitarbeiters …«

Pollinger hob die Hand.

Aber der BKA-Beamte ließ sich nicht beirren. »Die Kollegen in Siebenhütten fanden neben Schlickenrieders Leiche Querchers Jacke mit seinem Handy und seinem Ausweis. Querchers Mutter hat uns bestätigt, dass die Jacke ihrem Sohn gehört. Schlickenrieder starb durch einen Skistock. Jemand hat den Stock in sein Auge gerammt. Wohl kaum seine Frau. Dafür braucht es die Kraft eines Mannes. Laut den Kollegen von der Spurensicherung gab es am Tatort nur Spuren von Schlickenrieder, seiner Frau sowie einer zweiten, vermutlich männlichen Person, die sich wieder Richtung Siebenhütten wegbewegt hat. Quercher hat gestern erfahren, dass sein Elternhaus versteigert werden soll. Neuer Besitzer der Altschulden ist Herr Brunner. Der wiederum sagt aus, dass Quercher ihn bedroht haben soll. Vermutlich wollte Quercher seine Familie schützen, das ist es. Dann ist er Amok gelaufen. Für Ihren Immobilienskandal gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Oder möchten Sie mir etwas vorlegen?«

Pollinger drehte sich zur Seite. Ein Kollege goss sich gerade etwas Kaffee in eine Tasse ein.

»Schau an, der Dr. Picker. Was machst du denn hier? Ich dachte, du leckst deine Wunden wegen des verpatzten Einsatzes?«, fragte Pollinger eine Spur zu hämisch.

Picker trat auf ihn zu und schüttelte den Kopf. »Wiesbaden bat mich, hier zu unterstützen. Ich habe mich mit Herrn Dr. von Stock ins Benehmen gesetzt. Du warst ja nicht erreichbar, da du bei deinem Krebsarzt warst.«

Pollinger konnte mangelnden Respekt nicht ertragen. Zu gerne wäre er aufgestanden und hätte Picker vor allen Kollegen zusammengestaucht. Aber weder hatte er die Kraft noch die Argumente dafür. Er musste abwarten, was das BKA und Picker in der Hand hatten. Und er brauchte Quercher – lebend. So wie es jetzt aussah, bauten das BKA und andere interessierte Kreise darauf, dass Quercher von der Lawine verschüttet und tot war. Nur so konnte man ihm die ganze Schuld in die Schuhe schieben. Und Picker witterte die Chance, mit seiner Unterstützung für das BKA sein persönliches Desaster vom gestrigen Morgen auszugleichen. Durchschaubar, aber bestechend.

Picker setzte seine Tasse ab und begann, dem BKA-Beamten seine Version zu erzählen: »Wussten Sie, dass Quercher ein Haus auf einer italienischen Insel gekauft hat? Und in seiner Wohnung fanden wir Flug- und Fährtickets für die kommende Woche. Der syrische Geschäftsführer des Restaurants, an dem Quercher beteiligt war, soll nach unseren Angaben für den Geheimdienst gearbeitet haben.« Picker konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ich sehe das so: Quercher wollte weg aus Deutschland. Bei uns im LKA war er längst abgeschrieben. Kurz, er besaß keine Zukunft. Dann fährt er an den Tegernsee, sieht, dass seine Familie vor dem Aus steht. Seine Schwester, hoch verschuldet, wie wir wissen, muss sich wegen gravierender Hygienemängel verantworten. Seine Mutter steht bald auf der Straße. Sein Mentor, Herr Dr. Pollinger, ist krank, wird bald ausscheiden. Quercher ist verzweifelt …«

Picker stockte. Jetzt hatte er den Rubikon überschritten. Nun gab es kein Zurück mehr. Er hatte seinen Kollegen verraten. Und er stellte sich gegen den alten, kranken König Pollinger. Auch der BKA-Beamte sah ihn skeptisch an. Ein kurzer Gedanke schoss Picker durch den Kopf: Man liebt den Verrat, aber nicht den Verräter.

Der Referent Dr. von Stock hatte sich zu den Männern gesellt und wandte sich an Pollinger: »Herr Pollinger, wollen Sie uns nicht etwas mehr erzählen?«

Pollinger fischte sich aus dem Kessel eine neue Wurst heraus, nahm den Pappteller mit zu seinem Tisch und klappte dort seinen Laptop auf. Er griff zu seinen Kopfhörern, klickte in seinem Musikarchiv auf eine Oper von Puccini und sagte laut: »Diese heitere Raterunde gefällt mir. Aber solange Herr Quercher nicht gefunden wird, bitte ich Sie, mich mit Ihren mageren Erkenntnissen zu verschonen.«