Kapitel 14
Rottach-Egern, Dienstag, 19. 12., 20.45 Uhr
Hannah schrie mehr, als dass sie sprach. »Ich hatte mein iPad im Zimmer liegen gelassen. Erst an der Rezeption bemerkte ich das. Ich ging hoch. Und als ich das iPad startete, erschienen Fotos mit meinem Gesicht auf dem Bildschirm. Jemand hatte sie so verändert, dass ich wie ein Brandopfer aussehe. Wissen Sie, was das bedeutet?«
Quercher wusste es nicht, ahnte es aber, als er ihre aufgerissenen Augen betrachtete.
Er hatte Arzu ins Auto gedrückt und ihr auf dem Weg nach Rottach-Egern die neue Situation erklärt. Dann waren sie beide mit Lumpi, die Quercher fortan nicht mehr allein lassen wollte, in die Lobby des Wellnesshotels gestürmt. Hannah saß auf einem der Sofas, der hinter ihr stehende Weihnachtsbaum passte so gar nicht zu ihrer Stimmung. Es war keine Angst, eher Wut, die ihr ins Gesicht geschrieben stand, sodass selbst die Damen an der Rezeption eingeschüchtert in ihre Richtung sahen.
»Was sind das für Fotos?«, fragte Quercher.
Sie sah ihn kurz irritiert, dann böse an. »Von mir und meinen Freunden.«
»Kann ich sie mal sehen, also die Fotos?«
Hannah starrte ihn an, als ob er nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte. »Herr Quercher, ich bin runter in die Lobby gelaufen, weil ich Angst hatte allein da oben in meinem Zimmer. Aber ich wollte auch kein großes Aufsehen um die Sache machen. Also versuchte ich, mich wieder zu beruhigen, und ging nach fünf Minuten wieder zurück. Die Fotos waren vom Bildschirm verschwunden. Dafür war eine Mail aufgepoppt.«
»Und was stand drin?«, fragte Quercher.
Sie drehte ihren Kopf, atmete durch, ehe sie fortfuhr: »Ein Fluch. Etwas, was orthodoxe Juden den Ungläubigen, den Goj, an den Kopf werfen. Es ist etwas sehr, wie soll ich sagen, sehr Kabbalistisches. Jemand weiß offenbar, dass ich mich mit so etwas beschäftige. Verstehen Sie eigentlich die Situation? Wer immer das tat, kennt mich sehr gut, hat Zugriff auf mein iPad, kann meine Fotos mit einem elektronischen Bildbearbeitungssystem verändern, sie auftauchen und wieder verschwinden lassen und schickt mir auch noch Mails, die ebenfalls nach ein paar Minuten wieder verschwinden. Ein Stümper ist das nicht.«
Quercher tat erstaunt. »Dann sperren Sie doch einfach Ihren Account.«
Hannah konnte ihren Ärger über die schroffe Art nicht artikulieren.
Arzu griff besänftigend ein. »Sie ist eine Geschäftsfrau. Da ist man mit so etwas äußerst sensibel. Bei dir wäre das wurscht.«
Quercher verriet Hannah nicht, dass auch er bedroht worden war und dass der Mann, der die Leiche ihres Großvaters gefunden hatte, nicht mehr lebte. Sollten beide Drohungen und der Tod von Andi Birmoser in einem Zusammenhang stehen, hatten sie es in der Tat mit Profis zu tun. Und er, Quercher, hatte die Verantwortung, Hannah zu beschützen. Gleichzeitig musste er vorsichtig sein. Hannahs Rolle in diesem Fall war ihm nicht ganz klar. Die Leiche, da war er sich sicher, konnte nicht ihr Großvater sein. Jedenfalls nicht der Großvater, der ihren Angaben zufolge 1945 gestorben war. Wieder fühlte Quercher den Wunsch nach Flucht in sich aufsteigen.
Arzu hatte in einem Sofa gegenüber von Hannah Platz genommen und legte ihre Hände auf ihren großen Bauch. Sie trug noch immer eine knallrote Pudelmütze. Quercher tippte auf seinen Kopf. Arzu verstand und nahm das rote Wollmonster ab.
Quercher wandte sich wieder Hannah zu. »Was erwarten Sie jetzt von uns? Wollen Sie eine große Ermittlung? Können wir machen. Dann werden Sie aber heute Abend nicht mit Ihrem Großvater nach München fahren, um morgen in die USA zu fliegen. Die örtliche Polizei wird ermitteln. So etwas wird hier sehr ernst genommen.«
Hannah blickte sich um, winkte dann mit dem Finger Arzu und Quercher näher zu sich. »Ich werde bedroht. Verstehen Sie das? Das ist keine Aufgabe für einen Dorfpolizisten. Und ich würde das gerne mit Ihnen an einem Ort besprechen, der etwas weniger exponiert ist. Meinen Sie, dass Sie in der Lage sind, so etwas in Ihrer wunderschönen Heimat aufzutreiben? Oder wollen Sie wieder brav nach München zurückfahren?«
Quercher entschuldigte sich und bat Arzu kurz vor die Tür. Gemeinsam standen sie frierend in der Kälte und starrten in den Schnee.
»Hör zu. Du bist hochschwanger. Wenn ich jetzt auf eigene Faust ermittle, ziehe ich dich in etwas hinein, das ich nicht abschätzen kann. Ich setze dich gleich am Bahnhof in Gmund ab und du fährst entspannt nach Hause.«
Die Türkin drückte ihre Hände in die Hüfte und stöhnte: »Das ist Quatsch. Hier ist was faul. Und wir lassen uns nicht von diesen Leuten einschüchtern. Max, wir sind nicht irgendwelche Dorfbullen. Wir sind vom Landeskriminalamt. Die wollen Ärger? Gut, den können sie haben.«
Quercher schüttelte den Kopf. »Lass gut sein. Wir packen ein. Ich will nur noch Frau Kürten …«
»Jetzt hör mal gut zu, Maximilian Quercher. Deine Scheißinsel ist mir wurscht. Mir ist auch wurscht, dass uns irgendjemand unter Druck setzt. Das ist Teil unserer Arbeit. Aber du hast mir selbst immer vorgelebt, dass wir die Guten sind. Und die lassen sich nicht einschüchtern. Nicht von den ganz Großen und auch nicht von denen hier in diesem Inzuchttal.«
Er legte seine Hände auf ihre Schultern. »Bitte, Arzu. Die Sache wird heikel. Wir haben einen toten Andi Birmoser, und sowohl die Kürten als auch ich sind bedroht worden. Du bist nicht wirklich einsatzfähig. Ich kann dich nicht hier lassen.«
»Doch, kannst du. Ich brauche ein Zimmer, eine WLAN-Verbindung, einen High-Speed-Internet-Anschluss, ein Sofa und viel Essen. Keiner sieht mich. Keiner stört mich. Und du ermittelst draußen.«
Spätestens, als sie ›Essen‹ sagte, war ihm klar, welcher Ort in Arzus Kopf herumgeisterte: das Büro seiner Schwester im Schützenstüberl.
»Kommt nicht infrage«, widersprach er. »Meine Schwester ziehe ich da nicht mit hinein.«
Arzu schüttelte müde den Kopf. »Warum, glaubst du, hat Pollinger uns beide losgeschickt? Eine Hochschwangere und einen von allen gemiedenen Bullen mit Hang zum Dickkopf, der sich trotz aller Widerstände wie beim Junktim-Fall durchsetzt und weiter ermittelt?«
Quercher verstand nicht. »Pollinger will, dass wir so schnell wie möglich zurückkommen. Er hat kein Interesse daran, dass wir ermitteln. Im Gegenteil. Ich soll so schnell wie möglich wieder in München sein.«
Arzu lächelte. »Eben. Er will uns unter Druck setzen. Ich habe mir mal die Akte, die er uns mitgegeben hat, angesehen. Das ist mehr als eine Hintergrundinformation für die Rückführung einer Leiche. Pollinger weiß etwas, was wir noch nicht wissen. Ich bin mir nur nicht im Klaren darüber, was er vorhat.«
Quercher zitterte. Es war saukalt und seine Knochen schmerzten. Er griff in seine Jackentasche, um wenigstens die Finger warm zu halten. Seine Finger berührten das Foto, das er im Schützenstüberl eingesteckt hatte. »Okay, was genau schlägst du vor?«
Arzu bog ihre Hüfte. Das lange Stehen gefiel ihr und dem Baby nicht. Sie beeilte sich. »Ich glaube, der Dreh- und Angelpunkt ist die Leiche. Also Hannah Kürtens Großvater. Wenn die erst einmal in den USA ist, haben wir keine Chance, deine Vermutung zu überprüfen. Nun ist der Transport schon gebucht. Es würde auffallen, wenn wir die Leiche ohne richterlichen Beschluss hierbehalten würden. Keine Ahnung, wie wir das machen.«
Quercher nickte. Ihm schwante da etwas. Er musste telefonieren. »Okay, klappere weiter, schwangere Auster.«
Sie streckte ihm die Zunge heraus. »Du quetscht die reiche Erbin da drin aus. Ich fahre mit dem Taxi zu deiner Schwester, setze mich an den Rechner und checke mal die Daten von Brunner, Schlickenrieder und Stangassinger. Ferner werde ich mich mit den Herren Birmoser senior und junior beschäftigen.«
»Du gehst nicht in deren Mails und Textnachrichten! Ich weiß, dass du das kannst. Kein Trojaner!«
Sie lächelte müde. »Schon klar. Wo hast du das Wort ›Trojaner‹ aufgeschnappt? Homer gelesen? Du kannst doch nicht mal dein Smartphone richtig bedienen.«
Ein Taxi hielt auf dem Vorplatz des Hotels. Zwei Männer in Pelzmänteln stiegen aus. Arzu watschelte auf den Wagen zu und war im nächsten Moment verschwunden.
»Sie hat ihre Jacke vergessen.«
Quercher drehte sich um und sah Hannah Kürten, die ihre Jacken über dem Arm trug. »Wo fahren wir hin?«
Quercher nahm ihr die Kleidungsstücke ab. »Ziehen Sie sich warm an. Es wird kalt.«
»Danke für die Fürsorge, Herr Quercher.«
Er sah sie überrascht an und suchte in ihrem Gesicht nach Ironie. Aber da war wirkliche Dankbarkeit. Er murmelte etwas Unverständliches.
Hannah trat näher an ihn heran. »Ich habe wie Sie gedacht, dass das alles eine Routineangelegenheit sei. Aber das ist es wohl nicht. Irgendjemanden stört, dass die Leiche gefunden wurde. Und ich habe nicht den Wunsch, mir von Provinzlern den Schneid abkaufen zu lassen. Die wollen Ärger? Den können sie haben.«
Quercher lächelte. »Schauen wir mal.«