Kapitel 38
Wolfsschlucht, Gemeinde Kreuth, Mittwoch, 20. 12., 16.46 Uhr
Im frisch gefallenen Schnee konnten Quercher und Hannah die Spuren des Mannes noch gut verfolgen. Er war über die Brücke gerannt, hatte dann den Weg nach rechts in die Schlucht angetreten. Dieser führte wieder durch ein Waldstück, stieg und fiel und stieg wieder. Der Mann musste, wie Quercher zu seiner Zufriedenheit feststellte, immer wieder tief im Schnee eingesackt sein. Die Löcher, die seine Beine hinterlassen hatten, reichten mindestens bis zum Knie. Aber nur noch die Dämmerung des Abends gab etwas Restlicht. Es war ein Wettlauf gegen die Dunkelheit. Schon jetzt sah Quercher nur wenige Meter weit. Er blickte zu Hannah. Aber auch sie würde bald müde werden.
Er musste den Kerl bekommen. Der Mann hatte die Beweise, die ausreichen würden, eine umfangreiche Ermittlung des LKA durchzuführen. Durch Ellis Informationen, die USB-Sticks und die Tagebuchnotizen hatte Quercher seine Vermutungen bestätigt bekommen. Diesen Trumpf würde er nicht mehr hergeben. Es war, als ob er in der zehnten Runde eines Boxkampfes nach fast verlorenem Kampf zurückgekommen wäre. Nur das trieb ihn voran.
Quercher stapfte mit grimmiger Wut voran und blieb plötzlich stehen, um in den Wind hineinzuhören. Er hörte ein Keuchen. Der Mann konnte nicht weit von ihnen entfernt sein. Der Weg führte in Serpentinen steil bergauf. Sollten sie abkürzen? Quercher erinnerte sich schwach an den Verlauf des Weges. Rechter Hand mussten Almhütten stehen, die Privatleuten gehörten. Quercher blieb auf dem Weg, machte noch einmal Tempo und ließ Hannah damit einige Meter zurückfallen. Tatsächlich erkannte er jetzt die Grundmauern einer Hütte und überblickte nach weiteren Schritten im dichten Schneefall die weiße Fläche einer Almwiese von ungefähr zwei Hektar Größe. Er kniff die Augen zusammen. Da lief er, keine hundert Meter entfernt. Auf dem Rücken trug er Ellis Sporttasche und er hatte etwas Langes in der Hand. Vielleicht noch dreißig Meter trennten ihn von einem Waldstück, das hinter der Wiese lag. Danach verlief der Weg rechts neben der Weißach entlang bis zum Ende der Schlucht. Quercher sah hoch hinauf zum Massiv der Blauberge, die Grenze zu Österreich. Es wirkte auf ihn wie eine von Giganten errichtete Steinwand. Da würde der Typ nie hochkommen. Er saß in der Falle. Nur die Nacht konnte ihn noch retten. Quercher lief weiter und sah dabei auf seine Uhr. Vielleicht noch zehn Minuten. Dann wäre es stockdunkel. Der Schneefall wurde immer dichter.
»Bleib hinter mir«, rief er, ohne sich zu Hannah umzudrehen.
Der Mann stoppte und wandte sich um. Jetzt sah er sie, und es war Quercher, als ob der Mann lachte. Aber das konnte er von seiner Position aus nicht wirklich erkennen. Quercher griff nach hinten, um seine nasse Waffe zu ziehen. Die Glock 17, die er trug, war robust. Aber sie hatte lange im kalten Wasser der Felsweißach gelegen.
Wieder lief der Mann ein Stück weiter, stoppte, griff nach dem Gewehr, das er auf dem Rücken trug, und streckte seinen Arm aus. Er legte die rechte in die linke Hand und visierte das Ziel an. Quercher hatte kaum Zeit zu reagieren. Blitzschnell drehte sich der Mann um, warf sich auf den Boden und schob das Gewehr nach vorne. Zwei Mal drückte er ab, ehe Quercher sich auf den Boden fallen ließ. Der Knall der Geschosse war extrem laut. Der Schall erhob sich von dem Schneefeld und prallte an den Felswänden in Tausenden Echos zurück. Quercher sah nach hinten. Wo war Hannah? Vermutlich hatte sie an der Hütte, die sie vorher passiert hatten, Deckung gesucht. Kluges Mädchen, dachte Quercher. Er drückte sich fest in den Schnee, grub mit Armen und Beinen eine Mulde und drückte auch Lumpi, die die ganze Zeit neben ihm gelaufen war, hinunter. Sie winselte. Die Hündin war nicht schussfest und hatte fürchterliche Angst bei Knallgeräuschen jeder Art.
Gegen einen Gewehrschützen wollte Quercher nicht antreten. Es war zwar nicht das erste Mal, dass jemand auf ihn schoss. Aber meist waren das Amateure gewesen, die ungeübt im Umgang mit einem Gewehr waren. Dieser hier wirkte sehr professionell. Vorsichtig lugte Quercher nach oben. Der Mann war wieder aufgestanden und machte sich Richtung Wald auf.
Und dann fiel der Schuss. Dann noch einer. Quercher sah nach rechts. Hannah stand knapp zwanzig Meter vor ihm auf der rechten Seite am Waldrand, ging mit schnellen Schritten auf den Mann zu, der sein Gewehr erhob und es auf Hannah richtete. Woher hatte sie die Waffe? Ein dritter Schuss. Der Mann wirbelte herum, schrie und fiel. Hannah schritt weiter auf ihn zu, wie ein Roboter, die Waffe in beiden Händen haltend und auf den Mann gerichtet.
Quercher erhob sich und schrie. »Lass die Waffe fallen, Hannah!«
Sie drehte sich nicht einmal zu ihm um. Er riss seine Glock in die Luft und feuerte einmal. Wieder dröhnte der Schall in der Schlucht.
Hannah hatte den Mann im Schnee erreicht, beugte sich zu ihm hinunter.
Quercher schrie erneut. »Lass ihn, Hannah! Ich komme jetzt rüber. Zeig mir deine Waffe. Los!« Das letzte Wort hatte er fast gekiekst. Würde sie ihn jetzt genauso kaltblütig töten? Wer war diese Frau? Tatsächlich hob sie jetzt ihre Schusshand und hielt die Waffe in die Luft.
»Wirf sie weg, Hannah, in den Schnee!«
Sie schüttelte den Kopf. Quercher ging auf unsicheren Beinen auf sie zu. Hannah stand breitbeinig da, die Waffe zwar immer noch in der Luft, aber sie ließ keinen Zweifel daran, sie sofort wieder zu benutzen. Quercher war jetzt drei Meter von ihr entfernt. Er blickte auf den Boden. Dort lag der Mann und presste seine Hände fest auf seinen Bauch. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Quercher hatte den Mann noch nie gesehen. Hannah entriss ihm die Sporttasche, senkte dann die Waffe, steckte sie in ihren Hosenbund und tat so, als ob nichts passiert wäre.
»Hannah, gib mir die Waffe«, bat Quercher leise.
Sie schüttelte wieder den Kopf.
»Hannah, bitte. Knall mich nicht auch noch ab. Wir müssen dem Mann helfen, mach schon.« Er sprach eindringlich, aber leise mit ihr. Mittlerweile war das Feld nur noch in sehr fahlem Restlicht getaucht.
Endlich sah Hannah ihn an. »Ich gehe jetzt. Wenn du ihn retten willst, bitte. Ich habe, was ich wollte.« Sie ging ohne jede Regung an ihm vorbei in Richtung der kleinen Hütte.
Quercher sprang nach vorn und sah sich den Mann genauer an. »Wer sind Sie, verdammt? Was wollten Sie mit der Tasche? Los, wie heißen Sie?« Er griff nach dem Gewehr, einer Jagdflinte, die neben dem Mann lag, und schleuderte sie einige Meter weit in den Schnee.
»Ich bin Oberleutnant Hudelmeier und Sie sind bald tot, wenn Sie Ihrer Freundin weiterhin den Rücken zukehren.«
»Klar, Sie sind ja bestens informiert. Wer schickt Sie?«
»Unser gemeinsamer Freund Rieger will Sie nicht töten. Er will …« Hudelmeier stöhnte. Dunkles Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Er hatte einen Bauchschuss erlitten.
Vielleicht war in Schlickenrieders Jacke ein Handy. Quercher durchsuchte hektisch die Jackentaschen.
»Ich kenne Schussverletzungen, Quercher. Vergessen Sie es. Außerdem haben Sie hier keinen Empfang. Warum tragen Sie eigentlich …«, wieder verzog er das Gesicht vor Schmerz, »… Josefs Jacke? Wo ist er?«
»Ah, Sie sind befreundet? Sehr interessant. Ihr Freund liegt weiter vorn bei Siebenhütten tot mit einem Stock im Auge. Aber Sie werden jetzt garantiert nicht sterben. Ich will endlich wissen, was hier los ist. Warum sind Sie so scharf auf Ellis Sachen gewesen?«
»Herr Quercher, ich sterbe. Aber vorher sollten Sie wissen, dass Sie mit einer äußerst zielstrebigen Frau zusammenarbeiten. Und die will nur eins: die Aufzeichnungen des alten Schlickenrieder. Sie will sie, um ihr Imperium zu retten. Die Notizen sind ihr persönlicher Sargnagel, weil …«
Quercher beugte sich nah zu ihm und drückte seine Faust auf die Wunde. Hudelmeier schrie.
»Wer hat den Schreiner Birmoser umgebracht? Waren Sie das?«
Hudelmeiers Gesicht war knallrot, die Halsadern schwollen an. Er versuchte, seinen Schmerz nicht hinauszuschreien. Der Schnee um ihn saugte das Blut, das aus seinem Bauch herauspulsierte, förmlich auf. Es färbte sich und sah im fahlen Restlicht wie Tinte aus.
»Glauben Sie wirklich, dass mich dieser Holzwurm interessiert hat?« Hudelmeier grinste trotz der Schmerzen. »Jeder stirbt, wie er gelebt hat. Ich sterbe jetzt im Kampf. Und dieser Idiot wurde von seiner Kreissäge in die Holzhölle gerissen.« Er lachte heiser. Dabei quoll Blut aus seinem Mund. Hudelmeier hustete.
Etwas brummte, rollte oberhalb von ihnen. Ein Flugzeug? Quercher sah in Richtung der Blauberge, konnte aber nichts erkennen. Das Geräusch kam näher.
Dann verstand er.
Es hatte tagelang geschneit. Immer wieder waren die Temperaturen leicht gestiegen und dann wieder gefallen. Am obersten Hang der Blauberge, unterhalb des Gipfels des Blaubergschneids, war ein Schneebrett durch den Schall der Schüsse in Bewegung geraten. Jetzt riss es weitere Bretter in der Umgebung mit. Mit der Geschwindigkeit eines Zuges rasten Tausende Tonnen hinab in die Schlucht, nahmen auf dem dort aufgestauten Schnee wie auf einer Sprungschanze weiter Fahrt auf, rissen Geröll und große Granitsteine aus dem Flussbett mit. Die schmale Schlucht ließ dem Zug nur eine Richtung und die Enge der Bahn verdoppelte das Tempo. Fichten und Kiefern wurden entwurzelt. Und über den rasenden Schneemassen fegte ein immer schneller werdender Windstrom hinweg, überholte die Lawine, traf auf ein Waldstück, knickte wie von Geisterhand die zum Teil hundert Jahre alten Bäume wie Streichhölzer um, riss eine Schneise hinein und fegte über die freie Almwiese.
Quercher reagierte schnell. Er drehte sich zu Hannah um und schrie: »In die Hütte, Hannah! In die Hütte!«
Sie wandte sich um, sah die Lawine und begann zu rennen, sackte ein, zog sich aus dem Schnee heraus und versuchte weiterzurennen.
»Schieß die Tür mit deiner Waffe auf!«, rief Quercher noch, als er Hudelmeier hochriss und versuchte, ihn über seine Schulter zu stemmen. Der Mann schrie wie am Spieß. In diesem Moment nahm Quercher Lumpi wahr, die immer noch stur neben ihm stand.
»Lauf, lauf zu Hannah!« Er deutete auf die Hütte, und die Hündin sprang davon.
Hudelmeier wehrte sich schwach. »Lassen Sie das. Laufen Sie. Wir sind zu langsam.«
Kaum hatte Quercher den Mann geschultert, versank er trotz der Schuhe bis zu den Knien im Schnee. Er stemmte sich mit aller Macht dagegen. Aber es war zwecklos. Er legte Hudelmeier wieder ab und sah, wie Hannah auf die Tür der Hütte schoss und mit dem Hund darin verschwand. Quercher wusste, dass er hier draußen keine Chance hatte. Noch zweihundert Meter bis zu dem rettenden Gebäude.
Dann kam der Windstrom, riss ihn hoch, ließ ihn wie ein Stück Papier vom Schnee abheben und wieder auf den Boden fallen – und das alles in wenigen Sekunden. Quercher versuchte, mit seinen Händen zu rudern. Aber der Strom blies weiter über die Fläche, stach in sein Gesicht. Er verlor Hudelmeier aus den Augen, drehte sich, machte Purzelbäume. Der Wind wurde immer stärker, wirbelte ihn erneut herum. Bäume rutschten an ihm vorbei, meterlang, und ihre Äste schlugen in sein Gesicht. Die Hütte kam immer näher, vielleicht waren es noch fünfzig Meter, er fühlte sich wie auf einem Talstück bei einer Skiabfahrt. Dann prallte er gegen das Gatter der Hütte. Es krachte und der Schmerz war so schlimm, dass er fast das Bewusstsein verlor. Er fiel in den Rundgang der Hütte, sah auf sein Bein und bemerkte, dass sein Unterschenkel direkt unter dem Knie nach rechts abstand. Quercher drehte den Kopf. Eine weiße Wand, scheinbar Hunderte Meter hoch, rollte auf ihn zu. Er hämmerte gegen die Tür der Hütte und tatsächlich öffnete sie sich.
Hannah zog ihn herein, verschloss die Tür und schrie: »Da vorn ist ein Keller, nicht tief, aber wie es aussieht, in den Stein gehauen!«
Quercher konnte sie kaum verstehen. Draußen wütete ein Inferno. Er nickte.
»Ich bekomme die Falltür nicht allein auf«, brüllte Hannah gegen das Tosen an.
Sie half Quercher auf die Beine und drückte ihm eine Eisenstange in die Hände. Trotz seiner Schmerzen nahm Quercher ihr die Stange ab, zog sie durch eine metallene Schlaufe und zog die schwere Stahltür nach oben. Er drückte Hannah und Lumpi hinein und warf sich danach selbst hinunter in die muffige Enge.
Der Keller war eine Höhle, sie war förmlich in den Bergstein hineingetrieben worden. Es gab kein Mauerwerk, das sie schützte. Lediglich der Kalkstein, der nicht für seine Stabilität bekannt war, umgab sie. Die Luft wurde knapp. Sie japsten. Der Sog, der sich über ihnen ergoss, zog den Sauerstoff durch die Ritzen der Eisenplatte hinauf. Lumpi steckte ihren Kopf zwischen Querchers Beine und zitterte. Alles quietschte. Der Boden vibrierte wie bei einem Erdbeben. Etwas Gewaltiges drückte gegen die Stahltür, schob sie gegen die Verankerung. Sie bog sich und ließ eine kleine Öffnung frei werden. Sofort schwappten Schneemengen herein, fielen in Brocken herab, füllten den ohnehin schon engen Raum. Quercher hörte das Ächzen der Balken über ihnen. Es krachte. Dann war alles still.