Kapitel 44

Wolfsschlucht, Gemeinde Kreuth, Donnerstag, 21. 12., 02.01 Uhr

Bergretter Franz Heilingbrunner kannte Lawinen. In jedem Winter brachte er mit seinen Kollegen Dutzende von ihnen kontrolliert zum Abgang. Er warf Sprengstoff aus Hubschraubern oder kletterte die Hänge hinauf und deponierte den Sprengstoff dort, um so das Tal frei zu halten. Aber noch nie hatte er so eine Lawine hier erlebt. Die Blauberge, so konnte er sich erinnern, waren die letzten Jahre immer lawinenfrei geblieben. Und jetzt lag vor ihm und seiner Mannschaft im gleißenden Schein der eilig aufgestellten Flutlichtscheinwerfer des Technischen Hilfswerks ein zwei Kilometer langer Strom aus Schnee, Geröll, zerfetzten Bäumen und Granitblöcken. Er reichte von der Wolfsschlucht bis hinab nach Siebenhütten. Es würde Tage dauern, bis sie hier die Körper der Verschütteten finden würden und bergen konnten. In aller Eile hatte er mit einem Rundruf über fünfzig Bergwachtler zusammengetrommelt: Mit zwei Meter langen Sonden standen sie in einer Reihe und bewegten sich langsam aufwärts. Vor dieser Gruppe gingen drei Teams mit ihren Suchhunden. Heilingbrunner führte sie mit seinem Australian Shepherd an.

Es war ein Wettlauf gegen die Zeit. Heilingbrunner wusste um die Kraft und Wucht der Schneemassen. Allein das Überleben in der Lawine grenzte an ein Wunder. Eine solche Schneebrettlawine, wie er sie hier vorfand, donnerte mit einer Geschwindigkeit von acht bis zehn Metern in der Sekunde zu Tal. Sie konnte dabei einen Druck von dreißig bis vierzig Tonnen pro Quadratmeter entwickeln. Zum Zerbrechen einer Ziegelsteinmauer genügte bereits ein Druck von einer halben Tonne pro Quadratmeter. Nach fünfzehn bis fünfunddreißig Minuten trat der ›tödliche Knick‹ der Überlebenswahrscheinlichkeit ein. In dieser Zeit starben alle Verschütteten ohne Atemhöhle an raschem Ersticken. Mit dem rettenden Luftraum im Schnee konnte man zwar bis zu neunzig Minuten in relativer Sicherheit überleben, Sauerstoffmangel und Unterkühlung führten aber nach spätestens zwei Stunden meist zum Tod. Nur mit sehr großen Atemhöhlen oder einer Luftverbindung nach außen waren auch längere Überlebenszeiten möglich. Wenn die Temperatur im einstelligen Minusbereich lag. Doch als Franz Heilingbrunner sein Team in Bewegung setzte, herrschten siebzehn Grad – minus.

Niemand sprach. Man hörte die Schritte der Männer im Schnee und das Keuchen der Hunde. Der Mond half mit seinem Licht. Ruhig und konzentriert lief Heilingbrunner in seinem Rhythmus, versuchte, sich in den Ort hineinzudenken. Da, wo ein Wald den Weg in die Schlucht begrenzte, war eine weiße Fläche, aus der ein paar umgestürzte Bäume mit zerrissenen Stümpfen hervorragten. Wie ein Schlachtfeld, dachte Heilingbrunner, als er etwas vernahm. Es war ein Ruf. Er riss seine Hand nach oben. Die Gruppen blieben sofort stehen. Heilingbrunner schob seine Mütze vom Kopf, drückte seine Hände gegen die kalten Ohren und lauschte dann in die Stille. Da war es wieder. Irgendwo weiter vorn, schwer zu lokalisieren. Er nahm sein Fernglas mit Restlichtverstärker und schwenkte über die Fläche. Es war nichts zu sehen. Nur Baumstümpfe, Felsbrocken und Schnee. Ein Fuchs lief über die Lawinenfläche. Heilingbrunner schwenkte nach rechts und griff dabei vorsichtig nach seinem Funkgerät.

»Fünfzig Meter auf ein Uhr, das muss etwa Standpunkt Königshütte sein. Da habe ich was gehört.«

Der Hundezugführer hinter ihm wollte sein Tier losbinden und laufen lassen. Aber da sahen sie ein Schneebrett, das sich weit oberhalb aus dem Lawinenfeld gelöst hatte und sich langsam, aber stetig über die freie, abschüssige Fläche schob. Selbstschutz war für die Retter das oberste Gebot. Sofort zog Heilingbrunner seine Mannschaft nach links und ließ das Brett passieren. Es bildete aufgrund seines geringen Tempos keine Gefahr für sie, mahnte aber zur Vorsicht. Als er wieder den Befehl zum Weitersuchen geben wollte, meldete sich die Einsatzzentrale. Man wies ihn an, die Suche sofort abzubrechen.

Heilingbrunner war verstört und wütend. »Was soll das? Wer ordnet das an? Spinnt ihr? Wir haben hier gerade etwas gehört.«

Es waren der Bürgermeister von Kreuth und der Polizeichef aus Bad Wiessee, die keine Zweifel an ihrer Anweisung ließen. Man solle bei Tageslicht und somit sicheren Konditionen fortfahren. Jetzt sei die Suche unverantwortlich.

Das war ein Novum. Normalerweise überließ die Zentrale solche Einschätzungen dem Einsatzführer vor Ort.

Heilingbrunner drehte sich um, gab zornig, aber dennoch pflichtbewusst den Befehl zur Rückkehr. Als der letzte seiner Kameraden wieder auf Höhe von Siebenhütten war, horchte er noch einmal. Er kniete sich zu seinem Hund, drückte dessen Kopf nah an seinen eigenen und flüsterte. Der Hund sprang los und hechtete über die Eisfläche. Heilingbrunner hörte, wie einer seiner Leute nach ihm rief.

»Los, Max Quercher, zeig dich«, flüsterte er.

Der Hund lief bellend kreuz und quer über die Fläche, fand aber nichts. Heilingbrunner hob die Hand, um den Männern zu signalisieren, dass er jetzt auch umkehren würde. Er pfiff, um seinen Hund zurückzubeordern. Aber der war stehen geblieben und scharrte im Schnee. Heilingbrunner sah, wie das eben noch auf dem Feld stehende Tier plötzlich in einem Loch verschwand, und rannte los. Das war nicht ungefährlich, weil sich in dem Lawinenfeld auch tiefe Spalten befinden konnten. Prompt sackte er bis zur Hüfte in den Schnee.

Als Heilingbrunner sich zu befreien versuchte, sah er ihn. Ein brauner Hund, mit einer langen Schnauze, Pluto aus dem Disney-Comic wie aus dem Gesicht geschnitten, krabbelte zusammen mit seinem Australian Shepherd aus dem Loch empor und kläffte laut. Wie zwei Angeber standen die Tiere im Mondlicht und bellten in seine Richtung.

Heilingbrunner war der Erste, der sich von einem schnell aufgebauten Dreibein aus mit einer Seilwinde zu Quercher hinabließ. Mit einer kleinen Schaufel grub er den Schnee um ihn herum beiseite. Quercher hatte die Augen geschlossen. Heilingbrunner sprach ihn an und beugte sich dicht über sein Gesicht. Dann, nach quälenden Sekunden, öffnete Quercher die Augen, erkannte Franz Heilingbrunner und lächelte.

Wenig später ließen die Rettungstrupps eine Eisentrage mit Gurten und großen Wärmeplanen herunter. Noch ehe sich weitere Helfer in den Keller hinabließen, griff Quercher nach Heilingbrunners Jacke und zog ihn zu sich. Die Männer an der Seilwinde sahen, dass ihr Chef grinste, als er Quercher zuhörte. Es schien so, als ob Quercher Franz Heilingbrunner zum Dank etwas zustecken würde. Aber das konnte auch eine Täuschung sein.

Auf der Trage wurde Quercher von einem Schneemobil hinab ins Tal gebracht. Aus Gmund war ein Rettungshubschrauber gekommen und auf dem Parkplatz nahe dem CSU-Tagungsgebäude gelandet. Ein Notarzt untersuchte Quercher, drehte sich zu den zwei Männern in schwarzer Uniform und Sturmmasken um und nickte. Kaum hatte der Hubschrauber seine Fracht aufgenommen, klickten an Querchers Arm die Handschellen. Und während er in die Luft emporstieg, wurde Quercher klar, dass er jetzt nur noch auf die Integrität seines Haschischfreundes und Bergwachtlers Heilingbrunner setzen konnte.