Kapitel 21
Bad Wiessee, Mittwoch, 20. 12., 06.11 Uhr
Quercher hatte still neben seiner Mutter gesessen. Und als ihre Hand wieder zitterte, hatte er auf den Boden geblickt. Er konnte sie nicht berühren. Dann hatte er sich die Jacke angezogen und war hinaus in den Schnee gegangen. Er reckte seinen Kopf, ließ die Flocken in seine Augen fallen, kniff sie zu und lächelte kurz. Als er sie wieder öffnete, sah er eine alte Frau, die sich mühsam durch den Schnee arbeitete.
Er wollte Hannah und Arzu noch ein wenig Schlaf gönnen. Er selbst würde die Zeit für einen kurzen Spaziergang nutzen und Lumpi die Gelegenheit geben, ihrem Lauftrieb nachzugeben. Anschließend musste er seinen Mercedes holen, der noch an der Nordseite des Sees stand.
Auf den Straßen kamen ihm nur alte Menschen entgegen. Keine jungen Leute, geschweige denn Kinder. Er wusste von seiner Schwester, dass das Tal überaltert war. Auch wenn er der Idylle hier nicht viel abgewinnen konnte, so wünschte er dem Tal, dass es nicht zu einem riesigen Altersheim verkommen würde.
Ein Schneepflug kam die Straße herauf. Die Kehre schrappte über den freigelegten Teerboden und erzeugte ein knirschendes Geräusch. Quercher hielt Lumpi am Halsband fest, ließ den Unimog passieren und wechselte die Straßenseite. Er war nicht länger als eine Viertelstunde in der Dunkelheit dieses Wintermorgens gegangen, als er an der Birmoser-Schreinerei vorbeikam. Niemand war zu sehen. Er rutschte über den Hof zum Eingang der Werkstatt. Die Tür war versiegelt. Quercher ging um das Haus und fand tatsächlich einen Kellereingang, der nicht verschlossen war. Es roch nach Schimmel und Nässe, als er die Tür geöffnet hatte und Lumpi hineinschlüpfen ließ. Die Hündin schnupperte sofort in allen Ecken, ohne an dem Gestank Anstoß zu nehmen. Quercher kannte sich hier nicht aus, fand aber eine Treppe, die ins Erdgeschoss führte. Vor ihm lag die Werkstatt.
Sie war in zwei Räume aufgeteilt. Linker Hand standen große Tische, an denen Birmoser zu seinen Lebzeiten kleinere Arbeiten verrichtet oder größere Möbel abgestellt hatte, um sie zu bearbeiten. Im rechts davon liegenden Raum standen die großen Maschinen. Dort war der Unfall passiert. Auf den ersten Blick wirkten das herumliegende Holz, die Späne auf dem Boden, einzelne Möbelstücke und die Vielzahl an Werkzeugen wie ein einziges Chaos. Quercher aber wusste, dass alles so sein musste. Schreiner hatten in diesen Zeiten einen ständigen Durchlauf an Holz. Das war in den letzten Jahren so teuer geworden, dass sich eine Lagerung immer lohnte. Aber den meisten fehlte Stauraum. Und so nutzten die kleinen Schreinereien jeden Meter Stellfläche aus, um ihre langen Bretter aus Fichte, Kirsche, Esche und Eiche trocken zu lagern, bis ein Kunde ein Möbelstück aus einem bestimmten Holz wünschte. Wer wie Birmoser allein arbeitete, hatte dann doppelte Arbeit. Er musste die bis zu vier Meter langen Bretter ohne Hilfe auf die Hobelmaschine wuchten, dort durchziehen und sie wieder entnehmen. Das ging mit der Zeit jedem dieser Kleinstunternehmer auf die Gesundheit.
Quercher sah sich auf den Werkbänken um. Rechnungen von Holzlieferanten, Kataloge diverser Werkzeug- und Schraubenhersteller, dazwischen immer wieder der Akku eines Bohrers und unter einem Fenster eine Hundedecke, die Lumpi sofort beschnupperte. Quercher wusste nicht genau, wonach er suchte. Es war ein Mythos aus schlechten TV-Krimis, dass er ausgerechnet hier den entscheidenden Beweis finden könnte, der die Theorie vom Unfall widerlegen könnte.
Woran hatte Birmoser zuletzt gearbeitet?
Auf einem der Arbeitstische lag eine große Platte, auf die kleine Holzschindeln genagelt waren. Als Bayer erkannte Quercher das sofort. Schindeln waren hier als Dachverkleidung sehr beliebt. Die Platte entsprach in etwa der Größe eines Daches für Brennholzhäuschen oder Müllhäuserl. Quercher wusste aus seiner Kindheit, dass diese Arbeit meist von Zimmerleuten gemacht wurde. Schreiner schraubten lieber – sie hassten das Einschlagen von Nägeln.
Querchers rudimentäres Handwerksverständnis reichte aus, um zu wissen, wie öde so eine Arbeit sein konnte. Aber Birmoser schien das egal gewesen zu sein. Der Hammer lag noch auf der Platte, der Karton mit den Nägeln aber war umgestürzt und die Nägel waren überall verstreut. Die Schindeln mussten nicht geschnitten werden, dachte Quercher. Man konnte sie sich in großen Paketen anliefern lassen. Einige davon lagen neben dem Tisch, teils angebrochen, teils noch verschlossen.
Warum hatte Andi Birmoser dann die große Formatkreissäge angeworfen? Was hatte er sägen wollen?
Quercher ging hinüber in den anderen Raum. Auf dem Boden sah er das getrocknete Blut. Lumpi schnupperte daran, ehe er sie wegzog, was sie nur widerwillig erduldete.
Quercher versuchte, sich zu konzentrieren. Was war passiert? Birmoser ist noch lange in der Werkstatt. Draußen wird es Nacht. Vielleicht ist seine Laune schlecht, weil er ahnt, dass die Baumfällaktion Ärger bedeutet. Er schindelt. Dann geht er, warum auch immer, in den Raum mit den Maschinen. Nach Mitternacht wirft er die Säge an. Quercher stellte sich an die Maschine, bedeutete seinem Hund, sitzen zu bleiben, und beugte sich über das rot gefärbte Blatt. Birmoser startet die Maschine. Quercher stellte sich den Lärm und den Dreck vor. Birmoser beugt sich nach vorn. Er ist müde. Aus seinem Hemd fällt seine Kette. Vielleicht bemerkt er das noch, aber seine Hand erwischt den Schmuck nicht mehr, bevor er sich in der laufenden Maschine verfängt. Das Sägeblatt reißt sich mit seinen Zähnen blitzschnell in den Kopf, Birmoser schreit. Dann wird er bewusstlos, die Säge zertrennt die Halsschlagader und fährt tiefer in den Körper. Er stirbt …
Quercher stand sekundenlang vor der Maschine, sah zu der erwartungsvoll blickenden Lumpi, um dann wieder in den anderen Raum zu schreiten. Da fehlte doch was. Er sah es. Es war vor ihm. Natürlich – der Hund. Der Hund vom Birmoser. Wo war der, als der Unfall passierte? So ein Tier winselte doch, kam angelaufen, wenn dem Herrchen etwas passierte. Quercher sah auf seine Uhr. Konnte er Birmosers Mutter schon anrufen? Es war egal. Er hatte die Telefonnummer nicht auf seinem Handy gespeichert und musste sich wieder über die Auskunft verbinden lassen.
»Birmoser«, vernahm er nach langem Klingeln aus dem Hörer.
»Grüß Gott, Frau Birmoser. Hier ist der Quercher Max, nicht böse sein, dass ich Sie so früh schon störe.«
»Nein, kein Problem. Ich kann sowieso nicht schlafen. Bin schon lange wach.«
»Sagen Sie, Frau Birmoser. Der Andi, der hatte doch einen Hund?«
»Ja, der Bobby, das arme Vieh. Der ist noch beim Tierarzt. Der Bobby ist doch beim Andi in der Werkstatt im Leim herumgelaufen. Die Polizei hat ihn gefunden. Gejault hat er, weil er sich nicht bewegen konnte. Der Straßberger war so nett und hat ihn zum Tierarzt gebracht. Warum?«
»Ach, nur so. Fiel mir ein, als ich an der Werkstatt vorbeikam. Wann ist denn eigentlich die Beerdigung?«
Er hört ein leises Schluchzen. Die Frage war unklug gewesen.
»Der Polizist, also der meinte, wenn die den Andi heute freigeben, dann noch vor Weihnachten. Wollen Sie kommen?«
»Ja, wenn ich es einrichten kann«, log Quercher und verabschiedete sich schnell. Er würde noch einmal mit dem Kollegen Straßberger reden müssen.