Kapitel 3
München, Montag, 18. 12., 10.05 Uhr
Arzu war Türkin, schwanger und Münchens größte Klugscheißerin. Keine gute Mischung. Klar, dass mir Pollinger ausgerechnet die zuteilt, dachte Quercher. Arzu hatte sich auf das Metallbänkchen im Foyer gesetzt und auf ihn gewartet. Ihre langen dicken Haare hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden, unter ihrem verblassten grünen Parka wölbte sich der Bauch. Ihre Füße steckten in zu großen Boots. Sie war auf dem besten Weg, zu einer türkischen Mama zu mutieren, fand Quercher. Ausgerechnet Arzu, das heiße Ding. Das auf den Festen und in den Klubs, in denen auch Quercher verkehrte, wild tanzte und den typischen Münchner Strizzis in den weißen T-Shirts mit V-Ausschnitt den Kopf verdrehte. Das Männer liebte, aber auch die eigene Familie und sich ihr zuliebe von einem Anatolier ein Baby andrehen ließ. Einem Anatolier, der vor einem Monat zu Arzu nach München kommen durfte und zwei Tage später von einer Tram überfahren wurde. Ihr Kind war Waise, noch ehe es die kalte Münchner Luft atmen konnte.
Er begrüßte sie auf Türkisch.
Sie nickte und brummelte: »Kaum wird man Mutter, muss man Babysitter für dich spielen.«
Arzu jammerte gern. Obwohl Quercher sie mochte, konnte er das heute nicht gebrauchen. Er sah sie genervt an. »Geh, fahr nach Hause, zur Gymnastik oder sonst wohin. Ich mache das alleine.«
Sie stemmte sich hoch, kam ihm auffallend nah und verzog das Gesicht. Er roch seltsam. »Hast du nicht geduscht?«
Er neigte sich ihr noch näher zu. »Sie war jung, schön, fest, und alles war da, wo es hingehörte.« Er blickte auf ihren Bauch und ihre Brüste.
Arzu lächelte. »Und wie teuer?«
»Ich muss nichts zahlen.«
»Bullenrabatt?«
»Nee, die finden mich noch geil.«
»Glaubst du?«
»Weiß ich.«
»Ja, schon klar. Komm, Sugardaddy. Wir holen jetzt die Tante ab.«
Die Stadt nannte sich ›Weltstadt mit Herz‹, ein Paradox wie ›deutsche Comedy‹, fand Quercher. Nach den Jahren in Westdeutschland kotzte ihn die Stadt nur noch an. Sie war perfekt und wie eine Puppenstube mit zu vielen Männern in roten Cordhosen und Frauen mit modischem Trachtenjankerl. Hier trieben die Menschen Sport, indem sie verbissen die Isar hoch und runter liefen. Sie rauchten nie, tranken Caffè Latte und fühlten sich wichtig und reich. Letzteres war meist der Fall, Ersteres nie.
Querchers T-Modell schlitterte über die Schneebahnen, die einst Straßen waren. Lumpi saß mit ernstem Gesicht zwischen ihm und Arzu. Quercher hatte vor langer Zeit eine durchgehende Sitzreihe einbauen lassen, damit der Hund vorne neben ihm schlafen konnte.
Huldvoll hatte Lumpi Arzu, die sie auffallend ignorierte, Platz gelassen. Dennoch drückte sie ihren warmen Körper gegen Arzus dicken Bauch, die das still genoss, aber niemals zugegeben hätte. Die gelben Räumfahrzeuge, obwohl in Heeresstärke angetreten, kamen mit dem Räumen nicht mehr nach. So standen sie schon auf dem Mittleren Ring im Stau.
»Wann landet sie?«, fragte Arzu vom Beifahrersitz.
»11.20 Uhr mit der Lufthansa am Terminal 2.«
»Was weißt du über sie?«
»Pollingers Assi hat etwas über sie zusammengestellt. ’ne Riesenakte.«
Sie sah ihn erwartungsvoll von der Seite an. »Und?«
»Die Akte liegt auf dem Rücksitz. Lies halt und lass mich hier fahren.« Er merkte, wie ihm der Verkehr die letzten Reste seiner Konzentration raubte. »Lies doch bitte laut vor«, schlug er versöhnlicher vor.
»Geht nicht, dann muss ich kotzen.«
Er verdrehte die Augen. Arzu Nishali musste immer das letzte Wort haben. Es war ihre Art, mit der Männerdominanz im Job und in der Familie umzugehen.
Arzu grinste. »Na gut, so wie es hier drinnen stinkt und aussieht, würde Kotze auch nicht auffallen.«
Quercher ignorierte die Bemerkung über das Chaos in seinem Wagen. Er schlief eben von Zeit zu Zeit hier, wenn es in der Wohnung zu voll wurde. Und generell würde nie jemand ein so dreckiges Auto klauen. Es war seine eigentliche Heimat.
Arzu angelte sich den Aktenordner von der Rückbank und raschelte mit dem Papier. »Hannah Kürten, einundvierzig Jahre alt, 1979 mit den Eltern in die USA übergesiedelt. Die hatten hier in Deutschland in kürzester Zeit mit verschiedenen Firmen einen unglaublichen Reichtum angehäuft. Der Vater stand auf der Todesliste der RAF. Darum wanderten sie wohl aus. In den USA hat der Vater weiter in Start-ups investiert. Die Tochter hat in Harvard Politik und Volkswirtschaftslehre studiert. Dann gab es einen schweren Unfall, Vater, Mutter und Bruder starben. Hannah Kürten war mit gerade einmal sechsundzwanzig Jahren plötzlich Alleinerbin. Es gab keine weiteren Verwandten. Der Großvater war im Krieg gefallen. Geschätztes Vermögen laut Manager-Magazin: dreihundertneunzig Millionen Euro. Die reiche Dame ist im Vorstand diverser deutsch-amerikanischer Vereine. Vor zehn Jahren hat sie ein hohes Tier in der US-Regierung geheiratet. Nach fünf Jahren geschieden. Lebt in New York und den Hamptons. Hübsches Bootshaus.« Arzu sah auf eine Fotokopie, die ein gigantisches Strandhaus am Meer zeigte. »Dann gibt es noch einen Hinweis von den Sympathieträgern aus Wiesbaden.«
Arzu spielte auf die Kollegen des Bundeskriminalamtes an, deren Hauptsitz sich dort befand. BKA und LKA mochten einander nicht.
»Frau Kürten scheint wohl für die Bundesregierung in Washington so eine Art Verbindungsfrau zu sein. Der Rest ist nur auf Anfrage in Wiesbaden zu erhalten.«
Quercher blies Luft aus. »Na, das scheint ja ein hübsches Früchtchen zu sein.«
Arzu sah ihn spöttisch an. »Hübsches Früchtchen? Wo hast du den Begriff denn ausgegraben? Redest du sie vielleicht gleich mit ›Fräulein‹ an?«
»Menschen mit Migrationshintergrund ist Sprachkritik verboten. Nicht gewusst?«
Arzu schlug ihn leicht gegen den Arm. »Warum müssen wir das eigentlich machen? Ich meine, kann die nicht von irgendeiner Streife abgeholt werden?«
»Du hast doch gerade vorgelesen, wie wichtig die ist. Und weil das so ist, holen sie eben eine Schwangere und einen Abgeschobenen. Es reicht bei uns beiden halt gerade zum Chauffeur.«
Arzu spürte, dass hinter Querchers Sarkasmus Traurigkeit steckte. Sie fragte nicht nach. Stattdessen las sie weiter vor. »Frau Kürten hat keine Kinder und …«
»Danke, war mir bekannt. Weiter.«
Sie sah ihn skeptisch an. »Sie ist stille Teilhaberin an zwei großen Waffenkonzernen, unter anderem an einem hiesigen Panzerkonzern … Das wird ja immer besser … Quercher, Pass auf!«
Er bremste abrupt. Vor ihm hatte sich ein Lkw gedreht. Der Benz rutschte trotz Vollbremsung bedrohlich nah auf den Hänger zu, blieb aber wenige Meter vor ihm stehen. Quercher setzte zurück, schlitterte, noch ehe sich wieder ein Stau bilden konnte, an dem nun festsitzenden Lkw vorbei und fuhr stadtauswärts, vorbei am Fußballstadion, das alles hatte, nur keine Stimmung.
Sie hatten sich in eine Schenke am Ausgang der Ankunftshalle gesetzt. Quercher spielte mit dem Gedanken, einen Wein zu bestellen. Er verzichtete jedoch angesichts der Tageszeit und der drohenden Fahne. Der Morgen war ruhig geblieben. Aber sie waren da, das spürte er. Etwas hatte schon bei Pollinger in seinem Nacken gesessen. Er nannte sie Dämonen, sein Arzt nannte es Panikattacken. Beides war schlecht. Er trank ein Radler, das seinen Magen reizte. Dann zerbiss er eine Tablette, die er in seiner Manteltasche gefunden hatte, zu einem Brei im Mund, schluckte ihn herunter und musste würgen.
Arzu sah ihn angewidert an. »Mann, Quercher, das ist eklig. Reiß dich mal zusammen.«
»Einmal Döner mit Tomaten ohne Zwiebeln, bitte.«
»Sehr witzig.« Sie beugte sich zu ihm und stieß ihren Finger unter sein Sternum. Quercher verzog das Gesicht. Der Hund hob den Kopf und knurrte.
»Da ist sie.« Arzu deutete auf eine Erscheinung, nach der sich in diesem Moment so ziemlich alle Männer mit schwarzen Anzügen und schlecht sitzenden Krawatten im Ankunftsbereich den Hals verdrehten. Sie maß mindestens ein Meter fünfundsiebzig. Ihre kräftigen nussbraunen Haare schien sie noch im Flieger aufgedreht zu haben. Unter einem schwarzen Wildledermantel mit Pelzbesatz und oberhalb einer körpernah geschnittenen Lederhose trug sie einen hautengen schwarzen Rollkragenpullover. Und das Darunter konnte nicht der liebe Gott aus Liebe zu den Menschen geschaffen haben, dachte Quercher, sondern eher ein durchgeknallter Chirurg. Quercher hatte die Angewohnheit, den ersten Eindruck, den er bei Menschen gewann, einem Popsong zuzuordnen. Sie war definitiv Love Machine von Supermax und hätte dauerhaft in Slow Motion gehen müssen.
»Sie sind der Fahrer?«
Quercher nickte und Arzu verneinte. »Er sieht nur so aus. Aber man gab ihm vor langer Zeit den Titel Kriminalrat.«
»Und die dürfen bei Ihnen das Auto fahren?«
Es hatte nicht mehr als zehn Minuten gedauert, bis Quercher nur noch wütend vor sich hin schwieg. Auf dem Parkplatz hatte Kürten mit einer lässigen Handbewegung den Hund auf die Rückbank des Wagens verscheucht. Minutenlang hatte sie sich dann über die mürrischen Grenzbeamten, das langsame Gepäckband und das kalte Wetter beschwert. Überall hielten Autos. Die Feiertage nahten. Junge Menschen kamen oder fuhren zu ihren Eltern, um sich dort mit schwerem Essen vollstopfen zu lassen. Quercher hatte, bereits restlos bedient, den Wagen aus der zugeschneiten Parkbucht der Bundespolizei rangiert, während Arzu vom Rücksitz die ihr bekannten Fakten über das Wetter der nächsten Tage zum Besten gab. Hannah Kürten hatte sie nur kurz angesehen und auf Quercher gezeigt, ehe sie sagte: »Autofahren ist nicht seine Stärke, oder, Wetterfee?«
Sie hatten die Autobahn erreicht, die östlich um München führt, als Quercher den Wagen hinter ein Streufahrzeug setzte und im Schleichtempo fuhr.
»Wollen wir hoffen, dass Ihre Ermittlungen schneller vorangehen.« Sie sprach mit einem leichten amerikanischen Akzent.
»Mir liegt Ihre Sicherheit sehr am Herzen. Sicherheit spielt für Amerikaner ja gewöhnlich eine große Rolle.«
Sie lächelte gequält. Das aufflackernde Alarmsignal des Streufahrzeugs verstärkte die unterdrückte Wut in ihrem Gesicht. »Nun, Ihr Fahrstil hilft mir nicht, mich sicher zu fühlen. Jeder pakistanische Taxifahrer in New York fährt besser.«
Arzu war immer noch hin und weg von dieser Erscheinung aus New York. »Bleiben Sie länger, Frau Kürten?«, versuchte die Türkin, das Gespräch ein wenig zu drehen.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte nur sehen, wo mein Großvater starb. Dann werde ich seine sterblichen Überreste sofort in die Staaten bringen lassen.«
Arzu stemmte sich nach vorn zwischen die Sitze, ehe sie weiterfragte. »Ihr Großvater war ein Nazisoldat, nicht wahr?«
Quercher zuckte innerlich zusammen. Es gab Fragen, die in ihrer Deutlichkeit kaum ein Deutscher stellen würde.
Kürten stöhnte. »Wer sind wir, dass wir diese Zeit nach über siebzig Jahren beurteilen wollen? Mein Großvater war im Krieg, ja. Ich weiß nicht, was er dort alles gemacht hat. Er war ein einfacher Soldat. Aber wie wollen Sie das alles als Ausländerin verstehen?«
Quercher schaltete sich ein. »Wir sagen jetzt Migrantin oder, noch genauer, Frau mit Migrationshintergrund.«
Arzu funkelte ihn böse an.
Kürten lachte verächtlich. »Das haben Sie aber brav auswendig gelernt, Herr Kriminalrat.«
Quercher sah auf die Uhr. Morgen um diese Zeit war er diese Gewitterhexe los. Er schwieg.
Sie bogen von der Ostumfahrung Münchens auf die A 8 Richtung Salzburg.
Kürten las Mails auf ihrem iPad. »Ich bin im Hotel Schöne Höfe in Rottach-Egern gebucht. Sie kommen doch von dort. Ist das empfehlenswert, Herr Kriminalrat?«, fragte sie spitz.
Quercher nickte. »Ja, das Hotel beherbergt auch eine Schönheitsfarm.«
»Ihrem Gesicht täte eine nachhaltige Behandlung sicher auch gut. Dann klappt es vielleicht bei den Frauen«, kam es ätzend von der Seite.
Arzu verstand die Welt nicht mehr. Diese Frau war wirklich auf Krawall aus.
Die Türkin glaubte, Quercher verteidigen zu müssen. »Also, ich finde alles an dir richtig und passend«, sagte sie schmunzelnd in Querchers Richtung.
»Oh, ich wusste nicht, dass die bayerische Polizei so viel Wert auf Paarbildung am Arbeitsplatz legt«, erwiderte Kürten, weiter auf ihre Mails starrend.
Quercher reagierte nicht und wechselte auf die mittlere Fahrbahn, übersah aber ein Auto, das ihn von hinten überholte und nach rechts zog. Er stieg in die Bremsen. Sofort rutschte der Wagen.
»Entschuldigung«, murmelte er, als er ihn wieder auf die rechte Spur brachte und im zweiten Gang weiterfuhr – erneut hinter dem Streufahrzeug.
»Das ist die A 8, diese Streckenführung hat Adolf Hitler persönlich geplant. Sonst wäre sie nämlich nicht über den Irschenberg und am Chiemsee entlang …«
Quercher räusperte sich. »Arzu, bitte.«
»Der Tegernsee ist unter den Münchner ›Hausseen‹ wie dem Starnberger See und dem Ammersee der kleinste, aber auch der schönste. Umgeben von prächtigen Waldbeständen, reicht er fast an die Grenze zu Österreich. Knapp sieben Kilometer lang und bis zu drei Kilometer breit liegt er in einem Tal und nimmt nicht nur jenen Besuchern, die ihn zum ersten Mal sehen, den Atem. So kitschig und so jedem Klischee- und Wunschbild eines Alpenpanoramas entsprechend, lässt er schnell die Idee von Gottes Land aufkommen. Wer hier wohnen darf, so meinen viele Besucher, habe einen Hauptgewinn gezogen«, las Arzu auf ihrem Smartphone von der Homepage des örtlichen Tourismusverbands ab.
»Aber meist hat man nur ein Erbe bekommen oder die Schraubenfabrik im hessischen Hinterland verhökert, um sich hier einzukaufen«, kommentierte Quercher bitter, als sie von Gmund, dem Ort am nördlichen Eingang des Tals, Richtung Bad Wiessee fuhren.
Der Kurort Wiessee lag am westlichen Ufer des Tegernsees. Eine Jod-Schwefel-Quelle ließ die noch Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts kleine Bauernschaft nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Kurort besonderer Güte werden. Doch mit Gesundheitsreformen und Überalterung kam der Niedergang. Heute war es ein Ort mit leer stehenden Geschäften und alten Menschen, die in großzügigen Landhäusern auf ihren Tod warteten. Vom See war bei diesem Wetter nichts zu sehen. Der Schnee hatte sich einer Wand gleich vor das sonst so häufig fotografierte Panorama gelegt.
»Wir fahren erst zu den Kollegen in die Dienststelle. Ich kenne den Leiter. Und dann bringe ich Sie gerne zu Ihren Schönen Höfen«, sagte Quercher in Richtung Kürten.
»Und Sie fahren wieder nach München? Ich dachte, Sie bleiben mir die ganze Zeit über erhalten.«
Die Polizeidienststelle in Bad Wiessee, in Uringelb gestrichen, lag neben einem Supermarkt. Quercher parkte seinen Kombi auf dem davorliegenden Parkplatz, nuschelte »Ich muss was holen« und verschwand in dem Laden, während Arzu und Hannah auf ihn warteten. Quercher hatte den Motor laufen lassen. Die Scheibenwischer quietschten über die Frontscheibe.
»Haben Sie was miteinander?«, fragte Hannah Kürten in die Stille zwischen den Wischerintervallen.
»Finden Sie die Frage nicht ein wenig zu persönlich?«, erwiderte Arzu säuerlich vom Rücksitz. Ihr Bauch spannte. Es tat weh. Aber sie verzog keine Miene.
»Sie wirken wie ein altes Ehepaar.«
»Mein Bedarf an männlicher Nähe ist gedeckt«, stellte Arzu klar.
Jetzt drehte sich Hannah nach hinten und blickte verdutzt auf den Bauch, ehe sie ein »Na ja« murmelte.
Arzu hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. »Sie sind nicht gern hier, nicht wahr?«
Hannah schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nicht wirklich. Deutschland ist sehr eng, nicht nur im geografischen Sinn.«
Die Wagentür wurde aufgerissen. Quercher stellte den Motor ab und und bat die Damen aus dem Auto. In der Hand hielt er eine Plastiktüte.
Sie stapften, den Kopf eingezogen, durch die Schneeböen zum Eingang des gelb gestrichenen Baus. Ein dicker Mann in grüner Uniform ließ sie durch die Sicherheitstür. Neben ihm stand auf einem Tisch ein Adventskranz mit drei brennenden Kerzen. Quercher begrüßte den Mann herzlich und hob die Tüte.
Der Dicke schmunzelte und wies auf eine Treppe. »Der Chef ist oben.«
Quercher griff in die Tüte, nahm ein Päckchen in Alufolie und warf es dem Dicken zu, als er die Treppe nach oben ging.
»Was ist das?«, fragte Hannah.
»Leberkässemmel. Das isst man hier. Affen bekommen im Zoo Nüsse, Bullen auf dem Land Leberkässemmel.«
Quercher klopfte an eine Tür, neben der auf einem Schild Dienststellenleiter Straßberger zu lesen war, und öffnete sie im selben Augenblick.
»Servus, Lothar, habe die Ehre«, begann Quercher auf Bayerisch das Gespräch.
Der Angesprochene stand an einem Tisch und sah auf Pläne. Lumpi tapste auf den hünenhaften Mann zu, sprang an ihm hoch und ließ sich genüsslich kraulen. Lothar Straßberger war mit einem erheblichen Bierbauch ausgestattet. Seinen Schnurrbart trug er mit Stolz.
»Servus, der Maxl und die Lumpi, habe die Ehre. Kommst du gleich mit drei Frauen?«
Quercher sah zu Hannah, verzog keine Miene und nickte.
»Sie sind die Frau aus New York?«
Auch wenn er von ihrem Aussehen beeindruckt war, ließ es Straßberger sich nicht anmerken. Quercher reichte ihm eine Semmel. Er wickelte sie ungerührt aus und biss hinein.
Hannah war schockiert. Der Mann aß bei einem solchen Anlass! Er wollte wohl demonstrieren, wie lässig er war, dachte sie.
Aber damit lag sie in diesem Fall falsch. Der kräftige Mann mit dem Bart stand kurz vor der Pensionierung, wollte sich in wenigen Monaten seinem Hobby, dem Schrauben an alten Autos, widmen und liebte seine Frau immer noch – auch nach fünfundvierzig Jahren. Ihr zuliebe machte er gerade eine Vorweihnachtsdiät, die ihm jedoch sehr schwerfiel. Da kam die Semmel gerade gelegen. Er riss ein kleines Stück ab und warf sie Lumpi in das offene Maul.
Straßberger wandte sich wieder Hannah Kürten zu. »Mein herzliches Beileid, ich weiß, dass diese Reise schwer für Sie ist. Wir haben die Leiche, wie Sie es gewünscht haben, an Ort und Stelle belassen. Gefunden wurde sie ja schon vor einigen Tagen.«
Das war Quercher neu. Kürten hatte darum gebeten, die Leiche noch nicht zu bergen, und war damit bei den Dienststellen durchgekommen? Sie musste über einen erheblichen Einfluss verfügen.
»Wann kann ich die Überreste sehen?«, fragte Hannah.
Straßberger ging auf Hannah zu, nahm sie an der Hand und zog sie zu einer Landkarte. Hannah bemerkte seinen nach süßem Senf riechenden Atem.
Straßberger zeigte auf eine gelbe Fahne, die inmitten eines Höhenzuges oberhalb des Sees lag. »Hier hat der Birmoser Andi Ihren Großvater gefunden. Das ist auf tausendzweihundert Metern. Nicht besonders hoch im Sommer, da gehen Sie über den Breitenbachweg in neunzig Minuten auf die Alm.« Seine Hand zog eine Linie über die Karte. »Im Winter müssen Sie mindestens das Doppelte rechnen. Jetzt ist es bereits drei viertel vier. Bleiben Sie hier. Wir gehen morgen mit dem Heilingbrunner Franz von der Bergwacht und dem Sohn des örtlichen Bestatters nach oben und bringen die Leiche in den Ort. Wenn Sie Ihren Großvater unbedingt noch einmal sehen wollen, dann können Sie das auch hier im Tal tun.« Er spürte ihre Skepsis. »Frau Kürten, morgen ist doch auch noch ein Tag. Ich erkläre Ihnen erst einmal die Umstände, die zum Auffinden der Leiche führten. Setzen Sie sich doch.«
Er wies zum Tisch, griff dann zum Hörer, bat einen Kollegen, ihm eine Kanne Tee nach oben zu bringen, und öffnete eine rosafarbene Aktenmappe mit Bildern und Berichten.
»Vor einer Woche steigt der Schreiner Andreas Birmoser am Abend hoch Richtung Falzeralm. Er will dort, ohne Erlaubnis, einen gut gezogenen Baum im nahen Umfeld einer Jagdhütte schlagen.«
Straßberger zog ein großformatiges Foto aus dem Papierstapel, das einen umgestürzten Baum in einem Wald zeigte. Man sah undeutlich eine Vertiefung. Daneben lag ein Meterband.
Straßberger legte das nächste Foto auf den Tisch. »Unter der Wurzel … hier in etwa … liegt in einem Hohlraum der Tote.« Das Foto zeigte lediglich ein paar Stofffetzen, die von Wurzelwerk überzogen waren. »Birmoser meldet es, obwohl er natürlich mit einer Strafe rechnen muss. Er hat wild Holz geschlagen. Noch in derselben Nacht gehe ich mit dem Förster und einem Rechtsmediziner aus Miesbach nach oben. Es gibt da eine Besonderheit: Der Körper war aufgrund der Lage seines Fundorts nicht verwest. Anhand der Reste seiner Uniform und einer sogenannten Hundemarke gelang uns eine erste Identifizierung, die uns zu Ihnen führte, Frau Kürten.«
Er deutete auf ein Foto mit der Nahaufnahme des Blechschilds, das Millionen Soldaten im Krieg getragen hatten. Das nächste Bild zeigte einen kaum noch als solchen zu erkennenden Ausweis.
Hannah, die immer noch neben dem Tisch stand, wollte in den Packen mit den Fotos greifen, aber Straßberger hielt sie zurück. »Frau Kürten. Die Leiche ist, nun, wie ich sagte, sie ist eine sogenannte Wachsleiche. Der Anblick ist sicherlich nicht angenehm. Wir haben bereits DNA-Proben genommen und werden diese mit Ihren vergleichen, sodass Sie ganz sicher sein können, dass es sich um Ihren Großvater handelt.«
Hannah trat einen Schritt zurück. »Was genau ist denn eine Wachsleiche?«, fragte sie leise.
Straßberger zog etwas zu laut den Atem ein, ehe er erklärte. »Leichen, die in sehr feuchten, luftundurchlässigen Böden bestattet werden, verwesen nicht. Aufgrund eines besonderen chemischen Prozesses werden sie wächsern. Das stellt vor allem die Friedhöfe hier in Bayern vor große Probleme, weil einerseits Platz …«
Quercher nickte und hob beschwichtigend die Hand. »Sie hat es verstanden.«
»Ich kann auch gut für mich selbst sprechen«, bemerkte Hannah streng.
Quercher nickte nur. »Toll. Sie sind ja ein echtes Leichen-Ass.«
Sie reagierte nicht darauf, sondern blickte weiter auf die Fotos auf dem Tisch.
Quercher hatte sich mittlerweile gesetzt und schaute zu Hannah. Ohne Frage war sie schön. Sie hatte kräftige, fast drahtige Haare. Ihre Nase war zweifellos korrigiert worden, aber eben nicht zu einem Stupsnäschen mutiert, wie es heute gerne der Fall war. Um ihre großen Lippen und den stark ausgeprägten Unterkiefer zogen sich erste Falten. Die sogenannten Labialfalten, wie Quercher von seinen jungen Freundinnen wusste, die in seiner Gegenwart so selbstverständlich von kosmetischen Operationen redeten wie er über einen Friseurbesuch. Ihre Lider hingen ein wenig, machten ihren Blick aber geheimnisvoll.
»Ich will da hoch«, brach es aus Hannah heraus.
Straßberger schaute fragend zu Quercher, der müde mit den Schultern zuckte. »Wenn es der Wahrheitsfindung dient.«
Arzu saß hinter Hannah und starrte ihr unverhohlen auf den Hintern.
»Warum hat er nicht am Thomastag geschlagen?«, wollte Quercher wissen.
Noch ehe Straßberger antworten konnte, fiel ihm Hannah ins Wort. »Was ist der Thomastag?«, fragte sie und sah abrupt hoch.
Quercher wischte sich über die Augen, um davon abzulenken, dass er Hannahs Formen etwas zu genau studiert hatte. »Das ist der 21. Dezember. Meist der kürzeste Tag im Jahr.«
»Menschen, die mit Holzfällen und Holzverarbeitung zu tun haben, wissen, dass der Winter im Allgemeinen die beste Zeit zur Holzgewinnung ist. Insbesondere der Thomastag. Die Säfte sind abgestiegen, das Holz ›arbeitet‹ nach dem Schlagen weniger«, ergänzte Straßberger.
Hannah nickte. »Und ausgerechnet unter dem Baum, den der Schreiner schlagen will, liegt mein Großvater.«
Straßberger nickte stumm.
Sie sah ihn skeptisch an. »Gut, ich bleibe heute hier, morgen gehen wir aber da hoch.«
Quercher verdrehte die Augen.
Er fuhr zunächst Arzu zu einem Hotel am Ortsausgang, das üblicherweise Reisebustouristen beherbergte. Aber jetzt war es so gut wie leer. Daneben lag eine Langlaufstrecke, auf der zwei Rentner mit großem Eifer ihre Runden drehten.
Hannah sah den Eingang des Hotels, drehte sich um und schüttelte den Kopf. »Hier hängt man sich ja in der Dusche auf. Ich will für Ihre schwangere Partnerin ein besseres Hotel. Kommen Sie mit mir. Ich lade Sie ein. Und ehe Sie sich fragen, ob das nicht eventuell unter Korruptionsverdacht fällt, rufen Sie Ihren Vorgesetzten an. Der wird mein Ansinnen bestätigen.«
Quercher wollte widersprechen, aber er gönnte es Arzu, auch wenn es gegen die Vorschriften war. Wegen so einer Lappalie rief er nicht bei Pollinger an.
Nachdem er Arzu und Hannah in ihrem Hotel abgesetzt hatte, schneite es immer stärker. Mittlerweile hatte sich eine feste Schneedecke auf der Straße gebildet. Eine Piepsstimme warnte im Lokalradio vor weiteren Schneestürmen in den nächsten Tagen.
Ihm war das egal. Morgen schon wäre er hier wieder weg, sein Antrag von Pollinger unterzeichnet, und dann käme die Insel.
Sein Handy klingelte. »Hier ist deine Mutter.«
Straßberger musste sie angerufen und ihr verraten haben, dass er im Tal war. Quercher fluchte stumm. Jetzt konnte er sich nicht mehr in dem billigen Hotel einquartieren, sondern musste in seinem Elternhaus übernachten. Er hielt noch kurz an einem Supermarkt in Wiessee und kaufte die notwendigen Toilettenartikel ein.
Seine Mutter hatte ihn kurz begrüßt, ihn dann aber intensiv mit Berichten über die wohlgeratene Tochter seiner Schwester belästigt, um sich schlussendlich nur noch mit Lumpi zu beschäftigen. Quercher hatte sich den Sermon angehört, während er hastig das von seiner Mutter zubereitete Abendbrot herunterschlang, und sich dann mit einem Verweis auf seine Erschöpfung mit einem Tegernseer Bier zurückgezogen. So lag er jetzt in dem viel zu kleinen Bett in seinem Kinderzimmer im Keller der elterlichen Wohnung in Bad Wiessee, studierte die Akten, die ihm Straßberger mitgegeben hatte, und dachte nach. Der Hund schlief auf einer Decke vor seinem Bett und schnarchte.
Bis heute roch das Haus nach Leim, Leder und Schweißfüßen. Sein Vater war Schuster gewesen. Dazu kam der Geruch von Feuchte und Kellerschimmel. Das Haus der Eltern lag im Schatten der Berge, oberhalb des örtlichen Fußballplatzes. Daneben standen Gemeindehäuser für sozial schwache Familien, wie man das heute so nannte. Die Dorfbewohner fanden für diese Menschen meist hässlichere Begriffe. Im Winter kam die Sonne nur für drei Stunden am Morgen, dann wanderte sie hinter den Baumwipfeln in den Westen, ohne diesem feuchten Flecken Erde je Wärme und Licht zu schenken. Noch zu Querchers Kinderzeiten war hier ringsherum Moor gewesen. Zwei Bäche drängten das ganze Jahr den Berg hinunter, ließen die Wiesen und den Wald weiter unten morastig und feucht werden. Und jetzt im Winter lag hier noch mehr Schnee als an den sonnigen Stellen des Ortes.
Seine Mutter litt an Parkinson. Es tat weh, sie zitternd und unsicher zu sehen, und er wünschte, er könnte fürsorglicher mit ihr umgehen. Aber sie war auch jene Frau, die ihn früher nachts geweckt hatte, nur um ihn zu verprügeln, nur um ihre Wut an ihm auszulassen. Die Wut, die manche bekamen, wenn sie mit einem zusammenlebten, der als Soldat aus dem Krieg wiedergekommen war und immer schwieg. Sein Vater gehörte eigentlich zur Großvatergeneration. Er hatte seine beiden Kinder erst spät gezeugt. Quercher glaubte, dass der Vater all dem Wahnsinn des Todes, den er miterlebt haben musste, etwas Leben entgegensetzen wollte. Nie hätte Max gewagt, dem hageren Mann mit den vielen Narben an Körper und Geist nach seinen Erlebnissen zu fragen. Aber oft hatte er die Schreie aus dem Schlafzimmer gehört. Wenn der Vater träumte und die Mutter ihn nicht bändigen, nicht herausreißen konnte aus seinem Krieg. Vor drei Jahren war es so schlimm geworden, dass seine Mutter ausgezogen war. Zu einer Freundin, wie sie offiziell sagte. Zu einem Witwer, wie man tuschelte. Sein Vater war einen Tag später mit einem Fischerkahn hinaus auf den See gefahren. Man mutmaßte, er habe einen Betonsockel, den er einst für einen Sonnenschirm selbst gegossen hatte, an seine Füße gebunden und das Boot zum Kentern gebracht. Sie fanden ihn nie.
Querchers Telefon brummte und signalisierte den Eingang einer SMS. Er las sie und war erstaunt. Die SMS war von Elli, seiner ersten Liebe. Elke hatten ihre Eltern sie genannt. Ein Name, der für die Region mehr als ungewöhnlich war und der den ein oder anderen zu blöden Sprüchen verleitete. Sie waren am Gymnasium drüben in Tegernsee ein Paar gewesen. Er hatte sie geliebt.
Habe dich im Supermarkt gesehen. Freue mich, dass du hier bist. Lust auf Kaffee?
Quercher atmete tief durch. Er hatte sich lange nicht mehr gemeldet, seitdem er sie vor zwei Jahren das letzte Mal gesehen hatte. Auf einem der berüchtigten Waldfeste. Sie hatten ihre Nummern ausgetauscht. Aber dann war ihr Mann dazugestoßen. Ein Volldepp, wie Quercher fand. Er hatte Elli versprochen, sie anzurufen, war dann aber Hals über Kopf aus dem Tal verschwunden. Es war wieder zu viel Heimat gewesen. Er löschte die SMS und sog die muffige Luft des Zimmers tief ein.
Seit seiner Rückkehr aus Düsseldorf hatte er für Pollinger immer ›besondere Aufgaben‹ übernommen. Zu etwas anderem war Quercher auch nicht in der Lage. Das große Talent, das einst von der bayerischen Polizei nach Westdeutschland ging, um die ganz großen Fälle zu lösen, musste zurückkehren. Er hatte sich bei seinem letzten Fall mit zu vielen Menschen angelegt. Aber eines hatte er während dieser Zeit gelernt: Ihm gab man keine leichten Aufgaben. Auch Pollinger nicht. Und in diesem Fall, fand Quercher, waren alle etwas zu sehr in Eile.
»Knochen einpacken. Das war’s«, murmelte er leise vor sich hin.
Das klang seltsam. Wenn es kein natürlicher Tod gewesen war, und das konnte man so schnell nun auch wieder nicht feststellen, dann hätten zwangsläufig weitere Ermittlungen eingeleitet werden müssen. Selbst gegen den Widerstand der Angehörigen. Wenn der Mann aber ›nur‹ verhungert oder verdurstet wäre, dann hätte seine Enkelin ihren Großvater auch vom örtlichen Bestatter in die USA bringen lassen können – ohne Hilfe der Abteilung Staatsschutz des Bayerischen Landeskriminalamtes.
Er sah sich die Bilder des Fundortes an, von der Leiche, die Straßberger ihm überlassen hatte. Warum sollte alles so schnell gehen? Quercher brauchte vier Flaschen Bier, um endlich mit gekrümmten Beinen in der muffigen Frotteebettwäsche einzuschlafen.