Kapitel 8

Tegernsee, Dienstag, 19. 12., 11.45 Uhr

»Du ziehst dir die Haut des Toten über. Damit bist du er und trägst auch seine Verantwortung.«

Dr. Lioba Handlanger sah die beiden Männer lächelnd an. Sie besaß das eigentümliche Talent, Rechtsfragen in harte, aber verständliche Bilder zu packen. Der liebe Gott und die Gene ihrer Vorfahren hatten ihr einen Überschuss an Klugheit und ein erhebliches Defizit an Attraktivität mitgegeben. Sie war am Tegernsee aufgewachsen, aber mit dem Wechsel an eine Universität hatte sie Bayern den Rücken gekehrt und war erst nach Promotion, erfolgreicher Karriere und gescheiterter Ehe mit einem Investmentbanker zurückgekommen. Ihr Schwerpunkt war Privat- und Gesellschaftsrecht. Und gerne hielt sie Monologe über die diffizilen Fälle, die sich aus Schenkung, Erbschaft, Kauf oder Leihe ergaben.

Ihre Kanzlei lag oberhalb des ehemaligen Klosters Tegernsee. Von ihrem Schreibtisch sah sie durch das Panoramafenster hinter den beiden Klienten, wie die fahle Sonne über den Wallberg wanderte. Lioba Handlanger hatte sich mit einem willigen Wanderführer für die Mittagszeit verabredet. Ihr Vermögen, das Scheitern der Ehe und das realistische Einschätzen ihrer optischen Qualität hatten ihr zu einer klaren Sicht auf ihre eigene Sexualität verholfen. Sie würde in ihrem Alter nie einen adäquaten Partner finden. Also kaufte sie sich das, was sie brauchte. Heute eben einen Wanderführer aus Bad Wiessee.

Aber vorher musste sie dem Handwerker und seinem Spezl, dem Bürgermeister Alois Stangassinger, die Welt des Erbrechts erklären. Während Stangassinger Luftblasen produzierte, die für sie nicht relevant waren, sinnierte sie über das ungleiche Duo, das da vor ihr saß. Mit beiden war sie in der Grundschule in eine Klasse gegangen. Beide waren zweifellos klug, hätten sicher wie sie das Gymnasium besuchen können. Aber die Familien hatten Wert darauf gelegt, dass die Jungen die elterlichen Betriebe übernahmen, und so beide in das Handwerk getrieben. Diesen Makel versuchte zumindest Schlickenrieder, mit einer auffallenden Neureichenattitüde zu überspielen. Er legte schon lange keine Strippen mehr, auf Baustellen sah ihn niemand. Seine äußerst attraktive Frau lehrte die reifen Damen vom See das Yoga. Seine Tochter war, wenn Lioba Handlanger sich richtig erinnerte, ein Ski-Ass. Das konnte man immer wieder der örtlichen Zeitung entnehmen. Und häufig sah man die Schlickenrieders im Kreise der zugezogenen Reichen. Nun wollte die Frau mehr, als nur Klimakterium-Kamasutra zu lehren, wie es Schlickenrieder höhnisch formulierte. Die Familie hatte den Zuschlag für den Bau einer Ayurvedaklinik erhalten. Das war außergewöhnlich, bedingte dies doch eine Veränderung des Baurechts. Und das war der Grund, warum Schlickenrieder heute hier mit dem Bürgermeister erschienen war, der mit einer Zweihundert-Betten-Klinik und den damit einhergehenden Einnahmen seinen Gemeindehaushalt auf Jahre sanieren wollte. Aber all diese Träume könnten sie nur mit dem Verkauf der Schlickenrieder’schen Grundstücke auf der anderen Seeseite in Bad Wiessee finanzieren, wie Dr. Handlanger langsam verstand. Dort sollte auch die Klinik entstehen. Der Wert des Grund und Bodens auf der Westseite des Sees war beträchtlich. Schlickenrieders Eltern waren bereits vor Jahren verstorben und sein Großvater lag dement und sterbend in einem Seniorenstift in Kreuth. Der hatte noch die Hand auf dem Besitz. Doch man wollte jetzt bauen. Zudem hatte Schlickenrieder erhebliche Mengen von Schwarzgeld, die er in Betongeld verwandeln wollte.

Lioba Handlanger sah ihn mit einem Schmunzeln an. Schlickenrieder besaß die für manche Frauen unwiderstehliche Mischung aus braun gebrannter Skilehrerattitüde und zupackendem Sex. In der Schule hatten die anderen Jungen ihn nicht ohne Grund den ›Schwengel‹ genannt. Meist verziehen ihm sowohl Mann als auch Frau jede Schweinerei.

Anders Stangassinger. Er hatte etwas Patriarchalisches, war fett und leise. Nie hatte man ihn schreien gehört. Liefen Ge-meinderatssitzungen nicht nach seinem Geschmack, konnte er schnell und für alle beängstigend an stille Vereinbarungen und Absprachen erinnern. Und er wusste die Lokalpresse zu instrumentalisieren. Dann wurden Pressemitteilungen geschrieben, groß aufgetrumpft und den biederen Gemeinderatskollegen Feuer unter dem Hintern gemacht. Er wollte wiedergewählt werden, würde er doch so in den Genuss einer Beamtenpension kommen.

Sie saßen in Dr. Handlangers geschmackvollem Büro, das ein Edeltischler aus dem Tal für viel Geld eingerichtet hatte.

»Josef, du musst dir vorstellen, dass du nicht nur ein Grundstück erbst. Du erbst alles, was damit verbunden ist.«

Schlickenrieder sah sie ungeduldig an. »Was heißt das, wenn das Erbe seinerzeit vom Erblasser nicht rechtmäßig erworben wurde, aus was für Gründen auch immer?«

Dr. Handlanger nickte. »Gut. Es gibt verschiedene Varianten: Stell dir vor, du leihst dem Alois dein Fahrrad. Der fährt damit nach Wiessee. Unterwegs trifft er einen Freund. Der will das Rad kaufen. Stangassinger verkauft es ihm. Dann gilt das Fahrrad als verkauft. Der neue Eigentümer muss es dir nicht wiedergeben. Du musst dir also den entstandenen Schaden von Stangassinger wiederholen. Das ist das sogenannte römische Recht. ›Suche deinen Glauben, wo du ihn gelassen hast.‹«

Die beiden Männer saßen ungläubig da.

»Anders verhält es sich mit folgendem Sachverhalt«, fuhr Dr. Handlanger fort. »Stangassinger klaut das Fahrrad aus deinem Schuppen, verkauft es dann. Damit ist es Hehlerware und der neue Eigentümer muss es dir zurückgeben. Und wenn jemand ein Grundstück aus unrechtmäßig erworbenem Geld kauft, dann kann das auch nicht rechtmäßig sein. Wenn du es erbst, trägst du also die Verantwortung für den vorhergehenden Erwerb – mit allen Konsequenzen. Also, hat jemand mit illegalen Geldern etwas anderes erworben, wird der neue Besitz unter Umständen rückwirkend verkauft und dem Geschädigten zufallen.« Sie bemerkte nicht, wie Schlickenrieder schwitzte. »Aber vielfach sind bestimmte Delikte auch verjährt.«

Stangassinger grinste böse. »So wird es hier auch sein.«

Dr. Handlanger lächelte ihn kühl an. Sie erhob sich, strich über ihren Rock, genoss für eine Sekunde den Blick der Männer und übersah den anschließenden Hohn in ihren Gesichtern. Nachdem sich Schlickenrieder und Stangassinger verabschiedet hatten, rief sie den Wanderführer an. Durch das Fenster sah sie, dass sich ihre Mandanten im Hof der Kanzlei heftig stritten. Sie sprühte sich etwas Parfum auf ihren mit kleinen Warzen bedeckten Hals und griff nach ihrem Autoschlüssel. Sie hatte Zeit. Der Wanderführer musste noch eine Leiche bergen.