Kapitel 22
Bad Wiessee, Mittwoch, 20. 12., 08.28 Uhr
Der Schnee knirschte unter den Reifen seines Mercedes’, als Quercher zum Haus seiner Schwester fuhr. Er war kurz versucht gewesen, den Weg von Andi Birmosers Werkstatt bis zum Gut Kaltenbrunn, wo er den Wagen zurückgelassen hatte, zu Fuß zu gehen. Dann hatte er sich doch ein Taxi gerufen und anschließend das Auto unter den erstaunten Blicken der Spaziergänger am See im Schneckentempo den Hang hinaufgefahren.
Sein Entschluss stand fest: Er würde hier weiter ermitteln. Es war eine müde Halsstarrigkeit und ein von Erfahrung und Ausbildung geprägtes Gefühl, das ihm sagte, dass der Fund der Wachsleiche ihn zu einer weitaus größeren Sauerei führte, als er bislang annahm.
In gewisser Weise, so spekulierte Quercher, waren der tote Kürten und Hannah eine Lebensversicherung für ihn. Nie würde sich ein staatliches Organ offen gegen ihn stellen, wenn es um die Interessen einer derart einflussreichen Person wie Hannah ging.
Er verscheuchte den Gedanken wieder, um im nächsten Moment erneut an ›seine‹ Insel denken zu müssen. Und diese Vorstellung würde ihn jetzt nur ablenken. Er musste sich auf diesen Ort und seine Menschen konzentrieren.
Schlickenrieder, Stangassinger und dieser Brunner. Wie ein Mantra sagte er die Namen still für sich auf. Nur Hans Kürten schien nie in Erscheinung getreten zu sein. Welche Rolle spielte dieser Kerl?
Lumpi sah aus dem Seitenfenster auf die schneeschaufelnden Pensionsbesitzer. Zu Weihnachten waren viele Gästehäuser wieder ausgebucht. Der Ort galt als halbwegs schneesicher, hatte wunderbare Loipen für Langläufer und bot zudem gemächliche Ruhe statt einer lauten Partyzone wie beispielsweise in österreichischen Skidörfern.
Querchers Smartphone brummte auf dem Armaturenbrett. Elli Schlickenrieder las er auf dem Display. »Quercher.«
»Hast du Zeit?«
»Hmmm.«
»Max, ich will nicht darum bitten müssen.«
»Wo?«
»Bayersäg, unser alter Platz.«
Quercher wusste sofort, welchen Ort sie meinte. Die Bayersäg war eine inoffizielle Badestelle am Ufer des Tegernsees, direkt neben der um den See führenden Bundesstraße. Sie lag auf halbem Weg zwischen Gmund und Bad Wiessee. Tatsächlich hatte hier einst ein altes Sägewerk gestanden.
Während ihrer Schulzeit hatten Quercher und Elli dort stundenlang gesessen und über ihre Ziele und Ängste gesprochen. Elli war in dieser Zeit für Quercher der einzige Mensch gewesen, dem er sich öffnen konnte.
Er drehte den Wagen in der Einfahrt eines Supermarktes und fuhr wieder Richtung Norden an der Spielbank des Ortes vorbei. Ein Räumfahrzeug zwang ihn, langsam zu fahren.
Der Parkplatz vor der Badestelle war leer. Quercher öffnete die Tür und ließ Lumpi hinaushüpfen, die sofort freudig jeden Baum beschnüffelte. Er rutschte einen kleinen Hang hinunter und sah sie dort auf den Resten eines Betonstegs sitzen.
Elli hatte schon einige Minuten dort gewartet und dem Knacken des Eises zugehört. Ihr Leben glitt ihr gerade aus den Händen.
Elli Schlickenrieder hatte viele Wandlungen durchgemacht. Von einer schüchternen Schülerin über eine junge Mutter zu einer sich selbst suchenden Frau in den mittleren Jahren, wie es ihre Therapeutin irgendwann einmal gesagt hatte. ›Frustriert und verbittert‹ hatte in dieser Aufzählung gefehlt. Sie war über vierzig Jahre alt und alles, wirklich alles war schiefgelaufen in ihrem Leben. Wenn sie nicht das Yoga für sich entdeckt hätte, wäre sie, davon war Elli überzeugt, längst nicht mehr am Leben.
Sie hatte ihren Mann schon in der Schule gekannt. Er war der Junge mit der größten Klappe. Ein Aufschneider, aber gut aussehend und ehrgeizig obendrein. Elli war eigentlich in den stillen, zurückgezogenen Maximilian Quercher verliebt. Aber seine Interessen, seine zuweilen verqueren Ansichten hatten sie damals überfordert. Und so richtig an ihn herangekommen war sie nie.
Es war die Geschichte von der Taube auf dem Dach und dem Spatz in der Hand. Elli war, wie sie fand, einfach einmal in ihrem Leben falsch abgebogen.
Sie schloss die Augen, ließ, wie es ihre Therapeutin ihr geraten hatte, die Stationen ihres Lebens an sich vorbeiziehen. Wie sie mit Josef lachend auf dem Waldfest in Kreuth tanzte. Sie, die aus der Bergarbeitersiedlung Marienstein, nicht weit von hier, stammte. Wie der Großvater vom Josef sie anschrie, sie als Erbschleicherin bezeichnete. Wie sie und Josef ihre erste Fünfzigquadratmeterwohnung bezogen. Wie er den Elektrobetrieb übernahm. Wie der Großvater immer noch kein Wort mit ihr redete. Wie sie das erste Mal bemerkte, dass Josef sie betrog. Wie sie das erste Kind verlor, weil er sich betrunken auf sie gewälzt hatte. Wie der Frauenarzt meinte, dass es jetzt schwierig werden würde mit einem Kind. Wie sie dann doch noch einmal schwanger wurde. Wie er am Tag der Entbindung in einem Puff eine Schlägerei angezettelt hatte, statt bei ihr zu sein. Wie er sie mit Tripper angesteckt hatte. Wie er einfach immer schlimmer wurde.
»Servus, Elli. Frierst du nicht?«
Sie drehte sich ruckartig um. »Max, lieb, dass du gekommen bist.«
Elli trug einen grünen Parka, der wie ein Zelt um ihren sehnigen Körper lag. Unter einer schwarzen Pudelmütze lugten ihre dunklen Haare, von weißen Strähnen durchwirkt, hervor. Ihre tiefblauen Augen, die in einem aparten Gegensatz zu ihrem dunklen Teint standen, hatten ihn damals schon fasziniert. Sie hatte eine Mischung aus tiefer Traurigkeit und trotzigem Optimismus ausgestrahlt. Jetzt lag in ihrem Gesicht nur noch Wut.
»Was ist passiert?«, fragte er.
»Ich wollte mit dir reden. Ich brauche deinen Rat.«
»Okay, ich bin allerdings ein schlechter Ratgeber.«
Sie lächelte. »Setz dich.« Sie zog einen Handschuh aus und strich ihm vorsichtig über die Wange.
Er wich zurück und setzte sich langsam auf den Steg. Sie erhob sich kurz, rückte ein wenig beiseite und setzte sich wieder hin.
Er konnte es nicht lassen, ihr auf den Po zu sehen. Denn der war seit ihrer gemeinsamen Jugend das Prunkstück im ganzen Tal. Ellis Po.
Allerdings waren solche Gedanken der momentanen Situation nicht angemessen, und so schloss er die Augen und vertrieb die Erinnerung aus seinem Kopf.
Sie hatte seinen Blick bemerkt und für einen kurzen Moment genossen.
»Sei nicht so bockig. Du warst und bist der einzige Mensch, dem ich vertraue.« Sie machte eine Pause, atmete tief durch, ehe sie fortfuhr. »Warum bist du damals weggegangen?«
Quercher zuckte mit den Schultern. »Ich wollte raus, die Welt sehen. Mir war es zu eng. Der immer gleiche Rhythmus. Ein Kurort mit Tausenden von Rentnern und Kranken im Sommer. Ich fühlte mich schon tot, als ich gerade erst anfing zu leben.«
Sie nickte. »Ich verstehe das. Aber ich hätte dich gern hier behalten.«
»Elli, das ist über zwanzig Jahre her …«
»Keine Angst, Max. Das ist nicht der Grund, weswegen ich dich sehen wollte. Zwischen uns ist alles geklärt. Ich werde weggehen. Ich halte es nicht mehr aus.«
Stille. Ein Entenpaar watschelte und rutschte vor ihnen über das Eis. Der Erpel lief laut schnatternd der braunen Dame hinterher.
»Warum? Wegen Josef?« Quercher konnte sich das Elend mit dem Elektriker gut vorstellen. Aber er wollte es von ihr hören.
Sie sah ihn nicht an. Er hätte sie gern in den Arm genommen. Aber die Geste kam ihm deplatziert vor.
Weiße Wolken quollen aus ihrem Mund. »Weißt du, Max, ich habe alles versucht. Ich habe geschrien, gestritten, gedroht. Ich habe mir seine Unverschämtheiten angetan, weil ich dachte, dass sie zu einer Ehe dazugehören. Du warst weggegangen. Und wir hatten das Geschäft. Anfangs war auch alles gut. Aber er wurde immer schlimmer. Wenn es nur ein Nebeneinanderleben wäre, käme ich damit klar. Aber ich ekle mich vor ihm. Er sitzt beim Essen und ich könnte ihm die Gabel in sein Gesicht stoßen. Sein Geruch, seine Gesten – alles ist abstoßend. Mein halbes Leben ist jetzt um. Ich will nicht bis zu meinem Tod einer verpassten Lebenschance hinterhertrauern. Nur weil ich der kleine Bauerntrampel aus Marienstein war …« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Quercher sah sie verstohlen von der Seite an, hob die Hand und fuhr vorsichtig an ihrem Ohr und ihrem Hals entlang. Mehr wollte er nicht zeigen. Mehr war nicht drin.
»Und deine Tochter?«, fragte er.
»Im nächsten Jahr macht sie ihr Abitur. Dann ist sie weg. Sie würde das verstehen. Du bist auch weg aus dem Tal. Du kannst es doch verstehen? Ich kann diese Scheinidylle hier nicht mehr ertragen. Alles ist Bilderbuch. Und schaust du dahinter, siehst du nur Dreck, Lüge und Intrige. Ob in den Familien oder in der Politik. Es ist nur Neid und Niedertracht. Die Reichen gegen die Armen und umgekehrt.«
Max rieb sich die Beine. Die Kälte kroch in seinen Körper. Aber das hier war er seiner ersten Liebe schuldig. »Wo willst du hin?«, fragte er sie.
»Ich habe einen Plan. Du musst dir keine Sorgen machen. Ich will nur von dir hören, dass du es verstehen kannst und dass du es genauso machen würdest.«
Er schwieg lange. Ausgerechnet er. »Schau, Elli. Wenn du hier aufwächst, ist alles außerhalb des Tals verlockend. Es ist bunter, schneller und geiler. Ich bin nach München gegangen und dann in einigen anderen Städten gewesen. Aber irgendwie glaube ich, dass einem die Heimat in den Knochen steckt. Ich bin wieder hier. Und ich kenne hier alles. Es hat seine Ordnung. Das klingt fad und resigniert. Aber wir stellen uns immer vor, dass sich mit einer Entscheidung, mit einem Abbiegen alles ändert. Das tut es aber nicht. Es ist so …«
Er stockte, weil er merkte, dass das nicht die Antwort war, die Elli erwartet hatte. Aber er empfand es so. In den letzten Tagen hatte sich die Heimat irgendwie an ihn herangeschlichen, war ihm in den Kopf gefahren. Es war ein warmes, bekanntes Gefühl. Sicher würde es bald wieder anders sein. Noch immer sehnte er sich nach Salina, nach der Wärme, dem Essen. Aber sein Wunsch, die Ermittlungen weiterzuführen, war auch aus diesem Heimatgefühl gespeist worden. Hier geschahen falsche Dinge. Und er hatte erstmals die Macht, sich dem entgegenzustellen. Das alles konnte er Elli natürlich nicht erzählen.
»Du meinst also, dass ich das alles aushalten soll mit ihm? Und mit den ganzen Scheißleuten hier?« Ihre Stimme wurde ein wenig lauter.
»Das weiß ich nicht. Weglaufen ist immer nur ein Mittel, kein Ziel. Verstehst du? Aber wenn du ein Ziel hast, dann geh.«
»Würdest du an meiner Stelle gehen?«
Er dachte nach. Sah den Windböen zu, die kleine Schneewirbel auf der Eisfläche in die Luft warfen. Er war hierhergekommen, um von Elli mehr über ihren Mann und seine Machenschaften zu erfahren. Jetzt saß er quasi in einem therapeutischen Gespräch. Er musste das hier abkürzen.
»Ja, ich würde gehen, aber wirklich nur, wenn du genug Rücklagen hast. Dein Mann scheint ja Reichtümer angehäuft zu haben. Schließlich engagiert er sich intensiv im Immobiliengeschäft.«
Elli schwieg.
Lumpi trottete zu ihnen, nachdem sie die ganze Umgebung beschnuppert hatte, und fiepte. Quercher griff in seine Jackentasche, holte ein Stück Trockenfutter hervor und warf es auf das Eis. Unsicher lief Lumpi auf die Fläche, rutschte mit ihren vier Pfoten zu dem Stück und futterte die Belohnung sofort auf.
»Max, du musst dich da raushalten. Ich habe schon gehört, dass dich die Leiche da oben an der Falzeralm interessiert. Aber glaub mir, dieses Projekt, in das Josef und seine Spezl investieren, wird von ganz oben gedeckt. Du machst dir damit keine Freunde.«
»Vielen Dank. Hat dein Mann eigentlich etwas mit dem jungen Birmoser zu tun gehabt?«
Sie schaute ihn nicht an. »Na ja, er ist, also er war der Sohn vom Birmoser senior. Der hat mit dem alten Brunner, dem Schlickenrieder und dem alten Kürten nach dem Krieg das Tal dominiert. Da wurden Grundstücke gekauft und wieder weiterverkauft.«
»Moment, der alte Kürten, sagst du?«
»Ja, die kannten sich alle aus dem Krieg. Und der Birmoser wusste schon, warum er genau da oben den Baum gefällt hat. Das scheint kein Zufall gewesen zu sein.«
Quercher bekam die Mosaiksteine noch nicht zusammen. Nach Christl Birmoser sprach nun auch Elli davon, dass Birmoser den Baum nicht zufällig gefällt hätte. Der Fund der Leiche schien also eine Bedeutung zu haben. Und das Fällen könnte das Todesurteil für den jungen Birmoser gewesen sein. Nur: Wer hatte das Urteil gesprochen? Und vor allem: Wer hatte es vollzogen?
Querchers Handy brummte. Er sah entschuldigend zu Elli, die kurz nickte. Er erhob sich und nahm das Gespräch an. Es war sein Freund Appel.
»Wann holst du deinen Wasser-Ötzi ab? Dem ist schon ganz kalt.« Dr. Appel hatte einen eigenartigen Humor.
»Bin schon unterwegs.« Er legte auf.
»Du musst weg?«, fragte Elli traurig.
»Ja, es ist dringend.«
Sie erhob sich, kam auf ihn zu und umarmte ihn. »Danke.«
Sie stapfte davon und Quercher meinte, dass sie trotz ihres Elends zwei oder drei Mal mit ihrem Po wackelte.
Dann pfiff er Lumpi zu sich und hastete eilig mit ihr zurück zum Auto.
Quercher verspürte eine leichte Nervosität. Wohin sollte er mit der Leiche, die es offiziell nicht gab? Straßberger hatte nach der Explosion des Wagens von einer restlosen Verbrennung aller Überreste der Leiche gesprochen.
Appel erwartete ihn vor seiner Haustür mit grimmigem Gesicht. Quercher grüßte, merkte aber sofort, dass Appel angespannt war. Der Arzt, wie Quercher hier geboren und aufgewachsen, hätte eine glänzende Karriere als Universitätsprofessor machen können. Er hatte sich aber aus privaten Gründen für seinen Heimatort entschieden: Appel lebte mit einer attraktiven, recht resoluten Frau zusammen, die er schon seit Schulzeiten kannte.
»Was ist los?«, fragte Quercher und legte seine Hand auf Appels Schulter.
»Komm rein, nicht hier draußen.«
Sie schritten in den warmen, nach Semmeln und Kaffee duftenden Flur und Quercher folgte dem Arzt mit knurrendem Magen in den Keller, wo sie vor einer Eisentür stehen blieben.
»Meinst du, du hast noch einen Kaffee für mich?«
»Warte ab. Ich bezweifle, dass du danach noch Nahrung zu dir nehmen möchtest.« Appel deutete auf die Tür. »Das ist meine Kühlkammer. Ich bin, wie du weißt, Jäger. Da hängt meistens mein Wild. Dank dir ist nun ein Mensch hinzugekommen.«
Er zog an dem Griff und wuchtete die Tür auf. Kälte schlug Quercher entgegen. Appel drückte auf den Lichtschalter und flackernd glimmten Neonröhren auf. Auf einem Edelstahltisch lag die Leiche in einer schon von Weitem riechenden Lache.
»Sie ist ein wenig aufgetaut. Ich habe ihr etwas Wärme zugeführt, damit ich besser daran arbeiten konnte. Ich muss dich nicht mit den Regeln der Leichenschau vertraut machen. Selbstverständlich habe ich ein festes Schema bei der Begutachtung eingehalten. Und so würde ich sie dir auch gern erklären. Wir fangen am Kopf an.«
Appel reichte Quercher einen Mundschutz, Gummihandschuhe und ein Töpfchen mit Tigerbalsam. Quercher nahm es dankend an und rieb sich etwas davon unter die Nase.
Ihm war die Begutachtung von Leichen nicht neu. Aber Wachsleichen waren ihm selten untergekommen. Hin und wieder, bei richterlich angeordneten Exhumierungen, stieß man auf dieses Phänomen. Das Grundwasser auf Friedhöfen stieg, ließ den Sauerstoff, der zur Zersetzung notwendig ist, nicht an die Särge heran, und so blieben die Körper Jahrzehnte, zuweilen sogar Jahrhunderte in einem mumifizierten Zustand konserviert. Einmal an der Luft, begann der Prozess der Verwesung aber sofort. Und genau das sah und roch Quercher gerade.
»Ich muss dir nicht sagen, dass meine Mittel hier natürlich amateurhaft sind«, begann Appel mit seinen Ausführungen. »Und dass das alles inoffiziell ist, dürfte auch klar sein. Ich will, dass der Körper noch heute verschwindet. Bis zum Mittag habe ich meine Termine abgesagt. Danach möchte ich mich aber gerne wieder meinen Patienten widmen. Denn so gerne ich dich mag, sosehr mir das Aufklären dieser Sache am Herzen liegt: Ich möchte nicht wegen so etwas meine Approbation verlieren.«
Quercher nickte, ohne auch nur die leiseste Ahnung zu haben, was er mit dem Körper machen sollte.
Appel las Notizen auf einem Klemmbrett ab. »Also, wir haben es hier mit einem männlichen Toten zu tun. Alter: nicht leicht festzustellen. Ich würde allerdings auf nicht jünger als dreißig Jahre, aber auch nicht älter als fünfzig schätzen.«
Appel nahm einen Kugelschreiber mit dem gelben Logo einer Pharmafirma aus seiner Brusttasche und ging um den Tisch herum an das Kopfende. Quercher sah in das verzerrte Gesicht des Toten. Die Augen waren grotesk geöffnet, nur ein Lid hing leicht über das rechte Auge, so als ob es Quercher zuzwinkern würde.
»An der Kopfhaut sind keinerlei Spuren von äußerer Einwirkung zu sehen«, fuhr Appel fort. »Halshaut, Augenlider und Bindehäute sind befundlos. Auch im Mundbereich konnte nichts Auffälliges entdeckt werden. Der Tote hat, und das stützt deine Theorie, eine Prothese im hinteren Zahnbereich, die erst deutlich nach dem Krieg eingesetzt wurde. Es sind keine äußeren Anzeichen von Hunger oder Erschöpfung, Folter oder anderen typischen Merkmalen einer Kriegsgefangenschaft zu erkennen. Am Rücken sowie im Bauchbereich sind Schürfspuren zu sehen, die aber wohl post mortem entstanden sind. Vermutlich hat sich der Körper im Zuge der Zeit und der Bewegung des Bachlaufs gedreht, ist über Gestein gezogen worden und hat diese Spuren bekommen. So lässt sich aber nicht ein Beckenbruch erklären, der nicht postmortal erfolgte. Dem scheint ein Sturz vorausgegangen zu sein. Äußerliche Einwirkung auch hier negativ. Am linken Arm, knapp fünfzehn Zentimeter über dem Ellenbogen, befindet sich eine wenige Milimeter große Tätowierung mit zwei Buchstaben. Das ist, so würde ich es als Arzt einschätzen, die Blutgruppe. Der feine Herr war im Krieg. Und damit nicht genug. Er war bei der SS.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Quercher, der sich mit solchen Details nicht auskannte.
»Die Waffen-SS und die Totenkopfverbände der SS haben sich im Krieg ihre Blutgruppe eintätowieren lassen. Das geschah, damit sie bei einer Transfusion die richtige Blutgruppe erhielten. Nach dem Krieg versuchten viele dieser SS-Mitglieder, die Tätowierung zu entfernen. Einige schossen sich in den Arm. Andere kratzten die Tätowierung weg. Der hier schien das nicht nötig zu haben.«
»Dann war Hannahs Großvater bei der SS. Schau an«, murmelte Quercher.
»Ich habe auf eine Öffnung des Körpers verzichtet. Mögliche Vergiftungen, Einnahmen von Medikamenten et cetera lassen sich nur mit Laboruntersuchungen durchführen. Das überschreitet meine Möglichkeiten.«
Trotz der Kälte hier unten begann Quercher zu schwitzen. »Was kannst du noch sagen?«
Appel runzelte die Stirn, ehe er fortfuhr. »Nun, der Gesamtzustand des Toten war zum Zeitpunkt des Todes gut. Um es in deiner Sprache zu formulieren: Er stand gut im Futter.«
»Also ist unser Mann hier nicht an Unterernährung als Folge des Krieges gestorben, sondern den friedlichen Tod eines Wohlstandsbürgers der Nachkriegszeit.«
Appel nickte. »Wahrscheinlich. Das können aber nur die Rechtsmedizin bei Öffnung des Körpers sowie großflächiger Laboruntersuchungen feststellen. Du musst den Körper hier wegschaffen. Am besten wieder auf Eis legen.«
Quercher sah ihn bittend an. »Nur noch ein paar Tage, bitte.«
Appel tippte an seinen Kopf. »Lass den Quatsch.«
Dann hatte Quercher eine Idee. »Hilf mir wenigstens beim Tragen.«
Nur wenige Menschen waren auf den verschneiten, glatten Straßen unterwegs. So sah keiner, wie der örtliche Arzt und ein leitender Beamter des Landeskriminalamtes einen großen Sack in einen Mercedes und anschließend in den Keller des allseits bekannten Schützenstüberl wuchteten.