Der Seher

Wir schreiben das Jahr 1980, es ist Frühling. Ein Mann liegt auf einer Couch im kühlen, dunklen Büro eines Tudor-Hauses in einer ruhigen Wohngegend am Stadtrand von Toronto, Ontario. Er ist fast siebzig Jahre alt. Er ist Linkshänder und heterosexuell. Er starrt an die Decke. Er ist weiß. Er trägt einen Pullover über einem Hemd mit Button-down-Kragen. Sein Name ist Marshall. Es ist schwer zu sagen, was Marshall durch den Kopf geht, denn mit ihm ist etwas geschehen. Er kann nicht mehr sprechen. Er kann nicht mehr lesen. Er kann nicht mehr schreiben. Das geht jetzt seit einem halben Jahr so, seit seinem Schlaganfall. Komischerweise versteht er sehr gut, was andere Menschen zu ihm sagen – er kann nur selbst keine Worte mehr bilden. Er kann Radio hören und fernsehen, und er versteht auch, was die Leute erzählen, aber sobald die Stimmen weg bleiben, sind auch die Worte in seinem Kopf weg. Was ist mit der Stimme in seinem Kopf – ist sie tot? Kann die innere Stimme überhaupt sterben? Und wenn ja, wie würde dieses Verstummen klingen? Wie hört es sich an, wenn keine Stimmen mehr da sind?

Marshall sieht eine Biene, die sich ins Zimmer verirrt hat und immer wieder gegen die Fensterscheibe fliegt. Tappa-tappa-bzzzt, tappa-tappa-bzzzt … Er steht auf, öffnet das Fenster und befreit die Biene, und während er das tut, sagt er boy-oh-boy-oh-boy – die beiden Wörter, die ihm nach diesem bösen Affront gegen sein Gehirn letzten Herbst noch geblieben sind, die Wörter, die er sagt, wenn er mit irgendetwas einverstanden ist. Die Luft draußen riecht nach gemähtem Gras und Pollen. In der Ferne bellt ein Hund. Marshall sieht sich in seinem Zimmer um: Auf den meisten Flächen stapeln sich wild durcheinander Bücher, es sieht fast so aus wie die Karikatur des Büros eines Uni-Profs. Es macht Marshall wahnsinnig, seine Bücher zu sehen und selbst nicht mal das Wort Buch aussprechen zu können. Er weiß, dass diese Bücher und Papiere sein Leben bedeuten.

Und dann plötzlich passiert etwas. In einem anderen Zimmer läuft im Radio ein protestantisches Kirchenlied, und obwohl er seit zweiundvierzig Jahren leidenschaftlicher Katholik ist, fängt er an, lauthals mitzusingen. Doch dann ist das Lied zu Ende und mit ihm Marshalls Gesang. Er kehrt zurück in die Welt der Geräusche und betrachtet weiter seine Bücher, von denen er viele selbst geschrieben hat und die er deswegen an ihrer Form und Farbe erkennt, nicht aber an ihren Titeln. Das Leben ist grausam und demütigend. Marshall weiß, dass er mal als einer der besten Redner der Welt galt. Er weiß, dass früher seine Ideen die Art, wie die Menschen die Welt und das Leben sahen, veränderten, und heute gibt er nur noch Geräusche von sich. Und er weiß, dass er mit Worten gespielt hat wie ein Gott. Dass er ein Meister der Anagramme und Doppeldeutigkeiten war und dass die Kernthemen seines Lebens sich darum drehten, wie wir miteinander kommunizieren, von Mensch zu Mensch, von Generation zu Generation, von einem Jahrhundert zum nächsten. Er weiß, dass er die Zukunft der Zukunft gesehen hat. Er weiß, dass er weltberühmt und weltweit beschimpft worden war, und jetzt kann er nicht mal mehr zu einer blöden Biene vernünftig Auf Wiedersehen und Alles Gute sagen.

Zeitweh

Wer eine Biographie schreibt, muss sich unter anderem fragen, warum sich jemand für die porträtierte Person interessieren sollte. 1989 erschien eine großartige Biographie über Herbert Marshall McLuhan und 1997 noch eine, genauso toll. Während dieser Jahre war Marshall in erster Linie ein kluger Kopf für ein kleines, aber feines Publikum, dessen Denkmuster ungefähr seinem entsprach – Akademiker und Leute, die beruflich auf irgendeine Weise mit Medien zu tun hatten.

Aber um 2003 herum veränderte sich die Struktur des Alltagslebens innerhalb der von den Medien beeinflussten westlichen Gesellschaften, und zwar so rasant, dass ein halbes Jahrzehnt später jedem, der im 20. Jahrhundert geboren wurde, klar ist, dass die Zeit nicht nur ganz offensichtlich schneller vergeht, sondern sich auch irgendwie komisch anfühlt. Jegliche Art von Warten wird nicht mehr toleriert. Wir wollen sämtliche Fakten und zwar sofort. Achtundvierzig Stunden ohne E-Mail können einen Nervenzusammenbruch auslösen. Wer auch nur ein einziges Mal das Tempo drosselt, ist zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Musik spielt heute eine größere Rolle, weil sie eine Konstante darstellt. Klassentreffen sind langweilig, weil wir schon wissen, was unsere ehemaligen Mitschüler inzwischen gemacht haben. Kinder verbringen mehr Zeit in Traumwelten und im Cyberspace als im wirklichen Leben. Und die Zeit rast davon.

Und dann brach plötzlich auf eine seltsame Art die Wirtschaft zusammen, was einem vorkam wie eine schwer erklärbare Mischung aus Google, der Webseite der New York Times, Pop-Up-Werbung für russische Pornoseiten und der Ausstrahlung von Menschen, die abends um viertel nach sechs im Supermarkt in der Frischeabteilung stehen und zu Hause anrufen, um zu fragen, ob sie Spinat mitbringen sollen. All diese Informationen haben ganz offen, osmotisch oder vielleicht unabsichtlich unser kollektives Zeitgefühl angekratzt, das seit der Industriellen Revolution und der Entstehung des Bürgertums vollkommen intakt war. Dieses »Zeitweh« hat wahrscheinlich der Wirtschaft den Todesstoß versetzt, und weiß Gott, was als Nächstes dran glauben muss. Wo man auch hinsieht, man wird überall verlinkt – auf Verschwörungs-, Porno- oder Klatschseiten, Seiten mit medizinischen und genetischen Daten, Seiten für Baseballfans und Tupperwaresammler, Seiten, auf denen man freien Zugang zu Kinofilmen und Fernsehen hat, sich mit verflossenen Lieben verabreden und über alte Feinde lustig machen kann –, und die Art und Weise, wie im 20. Jahrhundert der Tag strukturiert war und es um den Gemeinschaftssinn bestellt war, ist dabei verloren gegangen. Heutzutage teilen die Menschen zu jeder Tageszeit ihre tiefgründigsten Gedanken und entwickeln emotionsgeladene Beziehungen zu anderen rund um den Globus. Geografie spielt keine Rolle mehr. Unsere Online-Phantomwelt ist das neue Wir. Wir schaffen komplexe Informations- und Personennetzwerke, die jedoch wahnsinnig flüchtig und fragil sind. Die Zeit rast, bis sie irgendwann schrumpft. Jahre verstreichen in Minuten. Das Leben kommt einem vor wie bei diesem seltsamen Gefühl, wenn man über die Autobahn saust und plötzlich feststellt, dass man die letzte Viertelstunde gar nicht aufgepasst hat und trotzdem noch lebt und keinen Crash gebaut hat. Die Stimme im Kopf ist eine andere geworden. Früher war sie »du«. Jetzt ist sie die eines ewigen Nomaden, der durch eine zerfließende Landschaft irrt und von einem Tag auf den anderen lebt, auf alles und nichts gefasst.

Und deshalb ist Marshall McLuhan so wichtig, heute mehr denn je, weil er das alles schon vor langer Zeit hat kommen sehen und weil er die Ursachen dafür erkannt hat. Seine Ansichten waren damals so neu und unorthodox und speisten sich aus so unterschiedlichen Quellen, dass der Mann als Scharlatan, Clown und Wichtigtuer verspottet wurde. Aber jetzt, wo sowohl die Zeit als auch unsere innere Stimme beschädigt sind, sollten wir uns ansehen, was McLuhan sonst noch so gesagt hat, vielleicht finden wir dann heraus, was als Nächstes kommt. Denn in einem Punkt sind wir uns einig: Die Zukunft hat noch nie so schnell so viele Menschen auf so extreme Art erreicht. Und wir brauchen eine Stimme, die uns führt. Marshall hat die Krankheit erkannt und nach Lösungen gesucht, wie man mit ihr umgeht.

Um Ordnung in diesen aufgewirbelten Kosmos zu bringen,

muss der Mensch dessen Zentrum finden.

M. M.

Science Meets Fiction

1962 schrieb McLuhan:

Statt sich auf eine riesige alexandrinische Bibliothek hin zu bewegen, ist die Welt ein Computer geworden, ein elektronisches Gehirn, wie wir das in einem naiven Zukunftsroman lesen können. Und so wie unsere Sinne sich nach außen begeben haben, so dringt der Große Bruder in uns ein. Folglich werden wir, wenn wir uns dieser Dynamik nicht bewusst sind, schlagartig in eine Phase panischen Schreckens hineingeraten, was genau zu unserer kleinen, von Stammestrommeln widerhallenden Welt, zu unserer völligen Interdependenz und aufgezwungenen Koexistenz passt.

Mit einem Schlag nahm Marshall – vier Jahrzehnte im Voraus – das Internet vorweg, und nicht nur das. Der Mann war einundfünfzig, als er diese Sätze veröffentlichte, ein kanadischer Professor für Renaissancerhetorik, der immer wieder seine Abneigung und Verachtung gegenüber einem Großteil des elektronischen Zeitalters zum Ausdruck brachte und paradoxerweise gleichzeitig als sein größter Guru gilt.

Gestützt auf seine rätselhaften Studien früher englischer Prosodie und Rhetorik sowie auf eine Vielzahl antiker wie moderner Quellen, mitunter von erstaunlicher Obskurität, warnte McLuhan uns davor, ohne einen Schlüssel zum Verständnis dieses neuen Cyberspace-Universums der Gefahr der Verbreitung von Gerüchten, der Desinformation und der Überwachung gnadenlos ausgeliefert zu sein – Gefahren, die auf der Unfähigkeit einer neuen, globalen und im Wesentlichen oralen Kultur, zu differenzieren, zu überprüfen und zu nuancieren, basierten und die uns erst allmählich bewusst würden.

»Die Gefahr«, so McLuhan weiter,

ist der Normalzustand jeder mündlichen Gesellschaft, da in ihr alles alles zugleich betrifft. […] In unserem langen Bemühen, für die westliche Welt ein bisschen Einheit von Sensibilität und Denken zurückzubekommen, sind wir nicht mehr vorbereitet worden, die Konsequenzen eines Stammes zu akzeptieren, als wir bereit waren, die Fragmentierung der menschlichen Psyche durch die Druckkultur hinzunehmen.

Offensichtlich und doch nicht

Nun ja, mit einer genialen Idee ist es so: Sobald man sie äußert, heißt es: »Na ja, das ist doch offensichtlich.«

Oder die Leute behaupten: »Na ja, wenn ich mich hingesetzt und richtig darüber nachgedacht hätte, wäre ich auch darauf gekommen.« Aber das sind sie nicht – und hätten es auch nie gekonnt, selbst wenn sie es noch so sehr gewollt hätten. Um eine geniale Idee zu haben, muss eine Unmenge an biographischen Faktoren zusammenkommen, und wenn auch nur ein einziger davon fehlt, war es das mit der genialen Idee. Kein Mensch weiß, welche Faktoren das sind, oder bei wem sie eintreffen. Nehmen wir Bill Gates, der einer der reichsten Männer der Welt ist und mit den anderen reichsten Männern der Welt befreundet ist. Er ist außerdem mit den intelligentesten Menschen der Welt befreundet und/oder ihr Arbeitgeber. Bill Gates und all die anderen ziehen sich also in Schwitzhütten-Retreats und Davos-Foren zurück und versuchen herauszufinden, was als Nächstes passiert. Was als Nächstes passierte, war, dass sie dabei nicht an Google gedacht hatten. An soziale Netzwerke. Und an das iPhone. Ideen entstehen nicht dort, wo sie es sollen. Marshalls Karriere beweist das.

Umwelten sind unsichtbar. Ihre Grundregeln, ihre durchgängige

Struktur und umfassenden Muster entziehen sich einer

oberflächlichen Wahrnehmung.

M. M.

McLuhan: Die Marke

Insofern Geschichte an Menschen erinnert, nagelt sie sie auch fest. McLuhan wird auf zwei Aussagen festgenagelt, die irgendwann zu Klischees wurden: »Das Medium ist die Botschaft« und »das globale Dorf«. Er hat sehr viel mehr als das geleistet, aber diese Worte sind sozusagen sein Markenzeichen.

»Das Medium ist die Botschaft« bedeutet, dass der augenscheinliche Inhalt sämtlicher elektronischer Medien unerheblich ist und das Medium selbst die größere Auswirkung auf die Umwelt hat – eine Aussage, die durch die medizinisch inzwischen unbestreitbare Tatsache untermauert wird, dass die täglich genutzten Technologien nach einer Weile die Arbeitsweise unseres Gehirns verändern und damit auch die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen. Vergessen wir zum Beispiel mal den augenscheinlichen Inhalt einer Fernsehsendung. Was zählt, ist vor allem, dass man fernsieht, statt ein anderes Medium – etwa Bücher oder das Internet – zu nutzen. Je nachdem, mit welchen Medien wir unsere Zeit verbringen, verlagern wir das Gewicht auf einen anderen Sinn – Sehen vs. Hören vs. Tasten –, und zwar in einem Ausmaß und über so viele Jahrhunderte hinweg, dass es nach Marshalls Tod mindestens ein Jahrzehnt dauerte, bis man ihm Recht gab, nämlich mit dem Siegeszug des Internets.

Marshalls zweiter Klischee-Begriff »das globale Dorf« umschreibt die Idee, dass elektronische Technologien eine Ausweitung des menschlichen Zentralnervensystems sind und die kollektiven Nervenleitungen unseres Planeten eine einzige blubbernde, diffuse, quasi-fühlende, rund um die Uhr aktive Meta-Community bilden.

Und man muss bedenken, dass McLuhan weder in der NASA noch bei IBM saß, als er zu diesem Schluss kam, sondern indem er sich mit den Verfassern geheimer Reformationsflugschriften aus dem 16. Jahrhundert, dem Werk von James Joyce und den perspektivischen Zeichnungen der Renaissance beschäftigte. Er war ein Meister der Mustererkennung, ein Mann, der eine Trommel rührte, so groß, dass sie nur alle hundert Jahre gerührt wird.

Es gibt aber noch einen dritten Punkt, an den wir uns erinnern sollten: Der Mann in dem kühlen, ruhigen Büro, der gerade eine Biene gerettet hat, war ein Superstar gewesen. Ab einem bestimmten Zeitpunkt Mitte der Sechziger war er nicht mehr nur der kluge Akademiker aus Toronto. Er wurde zu einem Markennamen, so berühmt, künstlich, missverstanden und falsch zitiert wie sein Zeitgenosse, der Medienstar und Künstler Andy Warhol. Die Massenmedien liebten Marshall, weil seine komplizierten Theorien sie sowohl mystifizierten als auch umschmeichelten. So etwas wie Medienwissenschaftskurse gab es in den frühen Sechzigern nicht, Marshall hat sie förmlich erfunden. Und es gab – wie C. P. Snow in Die zwei Kulturen feststellte – bekanntermaßen keine Verbindung zwischen Hoch- und Popkultur oder zwischen Literatur und Kunst und Wissenschaft und Technik, die sich jeweils gegenseitig verachteten. Marshall jedoch betrachtete die Welt als komplett vernetzt und beharrte darauf, dass alle Formen von Kultur zusammengehörten – was wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass seine Thesen über seinen Tod 1980 hinaus bestehen geblieben sind, im Gegensatz zu anderen.

Zu Beginn seiner Karriere, als McLuhan erste Ansätze zum Verständnis der neuen Medien bot, wurde er vom Establishment regelmäßig verspottet, entweder für das, was er sagte, oder weil er es so formulierte, dass die Leute das Gefühl hatten, einen Übersetzer zu brauchen.2 Während der letzten zehn Jahre seines Lebens nahm sein Ruhm dann wieder ab, und in gewisser Hinsicht wurde er selbst zu seinem schlimmsten Feind, indem er seine Theorien zu sehr anpries und versuchte, sie verständlicher zu machen, wodurch sie so knapp und aphoristisch wurden, dass sie fast wie eine Geheimsprache wirkten.

Heutzutage haben die meisten Menschen, denen der Name McLuhan bekannt ist, deswegen nur eine verschwommene Vorstellung davon, was er gesagt und getan hat – und diese verschwommenen Vorstellungen stammen wiederum aus zweiter, dritter, vierter und x-ter Hand. Seine höchst eigenwillige Art zu denken und zu schreiben lässt sich leicht parodieren. Aber jede Parodie beweist vor allem, dass ein Stil so ausgeprägt ist, dass er sich überhaupt parodieren lässt. Eine Parodie ist ein indirektes Kompliment von Leuten, die sich über ihr vermeintliches Opfer lustig machen wollten.

In gewisser Hinsicht sind McLuhans Ideen wie ein Lied, von dem jeder die Melodie kennt, aber niemand den Text, also lesen wir hinein, was uns gerade einfällt. Vergesst die armen Komödianten und das Spreizen, das Leben im 21. Jahrhundert ist Karaoke – ein nicht enden wollender Versuch, die Würde zu bewahren, während ein unkontrollierbarer Datenwust über den Bildschirm flackert.

Bezeichnenderweise sind Marshalls Fans tendenziell Hardcorefans. Für sie ist er ein Freund und Ratgeber, jemand, der ihnen hilft, das Karaoke des modernen Lebens zu entschlüsseln, und das mit einer fiebrigen Intensität. Es ist diese Intensität, die mir sagt, dass der Mann in erster Linie Künstler war, jemand, der mit Ideen und Worten gearbeitet hat wie andere mit Farbe. Und wenn er vor seinen Studenten stand oder vor ratlosen AT&T-Angestellten oder irgendwelchen LSD-Freaks in San Francisco, dann war das immer auch Performancekunst allerhöchsten Kalibers.

So ungefähr haben wir über ihn gedacht. Aber was mag er über uns gedacht haben? Ich nehme an, er wäre entsetzt darüber gewesen, in so vieler Hinsicht so richtig gelegen zu haben, und auch wahnsinnig froh, in der Ewigkeit zu leben statt in unserer weltlichen Zukunft. Er hasste die moderne Welt und er hasste die Technik, aber das hielt ihn nicht davon ab, mit leidenschaftlichem Interesse zu beobachten, was sie hervorbrachten, und wie ein Besessener zu versuchen, es zu verstehen. Marshall war launisch und verworren und lebte wahrscheinlich zu sehr in seiner eigenen Welt, um wirklich liebenswert zu sein (wobei ich sicher bin, dass er sich um nichts weniger Gedanken machte). Aber Worte aneinander reihen, dass es einem heute wie großartige, verdichtete Poesie vorkommt, boy-oh-boy, das konnte er! Für ihn war die Welt ein von Gott erschaffenes Buch, und er glaubte, dass es darin nichts gebe, das man nicht verstehen könne – und dass es zu unserem eigenen Schaden sei, wenn wir es nicht versuchten.

Für den Stammesmenschen ist der Raum selbst der Feind, weil er voller magischer Bedrohung ist. Für ihn ist schön, was Unzerstörbarkeit und Unverwundbarkeit verspricht, wie für den vom Zeitdruck Verschlissenen die gebärmutterartige Sicherheit der Limousine wegen ihres Versprechens von pneumatischer Glückseligkeit schön ist.

M. M.

Überleben in der McLuhan-Ära

Ungefähr zur selben Zeit, als ich für dieses Buch recherchierte, arbeitete ich an einem Roman namens Generation A, einer Art Fortsetzung von Generation X (1991). Nachdem dieses erste Buch erschienen war, geriet ich in eine McLuhan-ähnliche Situation, indem ich durch eine kreative Arbeit, bei der es unter anderem um Mustererkennung ging, im Mittelpunkt eines unangenehmen Medienrummels landete. Bei Marshall nahm das viel größere Ausmaße an, aber es gibt bestimmte Parallelen zwischen uns. (Das will ich jetzt nicht weiter ausführen. Und ich bilde mir auch nichts darauf ein.)

Generation X war ein im Stil des Decamarone gehaltener Roman, der in der kalifornischen Wüste spielt und in dem junge Leute versuchen, eine »immer schneller werdende Kultur« zu begreifen, indem sie sich gegenseitig Geschichten erzählen. Dem Buch liegt die Idee zugrunde, dass, 1991 und dank der heutigen Technik, das Konzept der Generationen veraltet ist und wir ein Zeitalter betreten, in dem jedes Individuum eine eigene Generation darstellt. Und so folgte ein jahrelanger Generationsbenennungsirrsinn, der von vornherein zum Scheitern verurteilt war.

Die Figuren aus Generation A sind in einer ähnlichen Situation in naher Zukunft angesiedelt, auf den Queen Charlotte Islands in British Columbia, wo sie sich gezwungen sehen, Geschichten zu erzählen, um in einer Welt Frieden zu finden, in der seit zirka einem Jahrzehnt die »Retribalisierung« von Marshalls globalem Dorf im Gange ist. Ein immer wiederkehrendes Motiv ist »das Nachrichtenteam des dritten Programms«, eine Metapher für die innere Stimme, durch die wir einen Text hören, während wir ihn lesen. Ich habe die Nachrichtensprecher als Metapher benutzt, weil sie nicht nur aufgrund ihres glatten Aussehens ausgesucht werden, sondern auch wegen ihrer durchschnittlichen, wenn auch sonoren Stimmen – die darauf ausgerichtet sind, möglichst vielen Zuschauern und Zuhörern zu gefallen, indem sie der Stimme ihres inneren Erzählers möglichst ähneln. Haben wir nicht alle schon mal jemand auf einer Party getroffen und zu ihm gesagt: »Wow, mit deiner Stimme solltest du beim Radio oder Fernsehen sein.«3

Hier eine kurze Short Story aus Generation A, die sich ebenfalls aus dem apokalyptischen Denken schöpft, von dem Marshall in den letzten Lebensjahren bestimmt war.

Bartholomew erlebt das Morgengrauen der Sprache

Vor langer Zeit saßen ein paar Leute auf einem Baumstamm, starrten ins Lagerfeuer und wünschten sich, sie hätten eine Sprache, in der sie miteinander reden könnten. Grunzen wurde langweilig, und sie kannten jetzt das Feuer – sie hatten sich eine Sprache verdient. Sie waren so weit.

Natürlich dachten sie es nicht genau so – es waren eher dumpfe Empfindungen, die sie nicht benennen konnten, da ihnen die Bezeichnungen dafür fehlten. In dieser Sippe gab es nun einen Alphatypen, der sich für besonders kreativ hielt. Er zeigte erst auf sich und sagte: »Vlakk.« Dann hob er einen Stock auf, hielt ihn hoch, starrte ihn an, kniff die Augen zusammen und nannte ihn »Glink«. Alle wiederholten »Glink«, und von da an hießen Stöcke Glinks, und Vlakk war jetzt Vlakk.

Dann zeigte Vlakk auf das Feuer und erfand einen Laut: »Unk«, und von da an hieß Feuer Unk. Und so weiter. In einer einzigen Nacht ließ sich Vlakk Laute für Dutzende von Hauptwörtern und Verben einfallen – für Gazellen, Windpocken, Dornen und Gewalt gegen Ehefrauen –, und da es ein einziger Verstand war, der all diese neuen Wörter erfand, hatte die neu entstehende Sprache einen gewissen inneren Zusammenhalt – sie klang authentisch, wie Italienisch oder Japanisch zum Beispiel.

Vlakks Sprachschöpfungsprozess machte jedoch ein anderes Stammesmitglied wütend, dem Vlakk den Namen Glog gegeben hatte. Glog dachte: »Das ist verrückt! Man kann doch nicht hingehen und aus ein paar Soundeffekten eigenmächtig Wörter basteln!« Nur fehlte Glog die Sprache, um seinen Unmut darüber auszudrücken, mit welchem Elan Vlakk neue Wörter fabrizierte. Und es war auch nicht so, dass Glog etwa andere, bessere Ideen hatte, Dinge zu benennen; er war nur einer dieser geborenen Nörgler und Querulanten.

Vlakk und Glog und ihrem Stamm wurden viele Kinder geboren, von denen die meisten in jungen Jahren grässliche Tode starben, denn es war in uralter Vorzeit, wo die Menschen allgemein nicht sehr alt wurden. Immerhin überlebten genug von Vlakks Nachkommen, um neue Soundeffekte zu erzeugen, die zu neuen Wörtern wurden.

Glogs Nachkommen erbten natürlich sein Querulanten-Gen, und während die neue Sprache blühte und gedieh, stänkerten sie weiter dagegen an, dass Vlakks Nachkommen einfach wie wild neue Wörter für irgendwelche Dinge erfanden, »Mistkäfer« zum Beispiel oder »rituelle Pfählung neben dem Ameisenhaufen, auf eingepflanzten, zugespitzten Bambusstangen, die an Fleischspieße erinnern«. Während sich die Sprache über Tausende von Jahren weiterentwickelte, geriet in Vergessenheit, dass die Wörter ihren Anfang als willkürlich gewählte Laute genommen hatten. Wörter waren nun einfach Wörter, die ihren gegrunzten Ursprung längst hinter sich gelassen hatten.

Mit der Zeit wurde Vlakks und Glogs Kultur immer komplexer, und genauso erging es ihrer Sprache. Die Grammatik wurde erfunden, das Futur, das Geschlecht, das Konjugieren der Verben und so vieles andere mehr, das das Erlernen einer neuen Sprache zu einem echten Schmerz in la derrière macht.

Schließlich war die Sprache in der Gegenwart angekommen. Wenn Glog König gewesen wäre, wäre Bartholomew, sein weit entfernter Enkel, ihm auf den Thron gefolgt. Obwohl sie so viele Generationen trennte, hatte ihr Neokortex noch die gleiche Größe: Bartholomew war Glog mit einem anständigen Haarschnitt in einem teuren Anzug.

Bartholomew ereiferte sich mit Vorliebe über Wortneuschöpfungen, die ihn besonders empörten, wenn sie dazu beitrugen, dass die Sprache sich veränderte oder weiterentwickelte. Er war Korrekturleser für ein großes Wirtschaftsmagazin und verbrachte seine Mittagspausen und Wochenenden damit, vitriolgetränkte Hassbriefe an andere Zeitschriften zu schreiben, die es gewagt hatten, auch nur eine neue Vokabel aufzunehmen, die seit dem Anbruch der digitalen Kultur ihren Weg in die Sprache gefunden hatte. Sehen Sie denn gar nicht, wie Sie die Sprache verwässern, ja zersetzen! Was bitte schön soll ein JPEG sein? Was für ein übles, krankes und lächerliches Wort – es ist eigentlich gar kein Wort! Es ist ein Geräusch, eine groteske, glottale Missgeburt. Es ist ein Bastardwort, die bärtige Dame unter den Wörtern!

Bei seiner Zeitschrift hielten ihn die Leute für einen liebenswerten Spinner, aber sie waren immer darauf bedacht, ihn nicht zu kränken. Bartholomew war zwar nicht der Typ, der einem als durchgeknallten Ausdruck seiner Verachtung anonym einen toten Spatz in einer Milchtüte zuschickt, doch man hatte das vage Gefühl, er könne über subtilere, kaum nachweisbare Mittel verfügen, einen vermeintlichen Beleidiger abzustrafen, und fürchtete, dass er möglicherweise über alle Kollegen geheime Dossiers angelegt hatte. Jedes Jahr trank einer von ihnen auf der Weihnachtsfeier im Büro genug, um dann CSI zu spielen und Bartholomews Aktenschrank kriminaltechnisch zu untersuchen. Es wurde nie etwas gefunden, doch die Sekretärinnen scherzten immer über sein Rasierwasser. Sie tauften es »KGB«.

Glücklicherweise gab es Karen, die Bürobotin, die einen Sonnenstrahl in Bartholomews Welt fallen ließ. Jeden Morgen brachte sie ihm die Ausdrucke, die er am Tag Korrektur lesen musste, und das mit einem Lächeln, das Bartholomew veranlasste zurückzulächeln. Karen war die Flippige in der Firma. Sie trug eine Bettie-Page-Frisur, einen Nasenring und schwarze Kniestrümpfe, die sie in Tokio, in Shibuya, gekauft hatte. Die anderen Mädchen im Büro versammelten sich vor Bartholomews Tür, um sein Karen-Lächeln mit eigenen Augen zu erleben. Sie wussten, dass er Single war, und Carol aus der Grafik hatte ihn gesehen, als er sich am Kiosk drei Blocks vom Büro entfernt in der Ecke mit den Hetero-Pornos herumdrückte.

»Na schön«, sagte Karen, »er ist zwar kein großer Fang … aber definitiv eine große Herausforderung.«

Karen setzte erst auf ihre sexuellen Reize, kam aber schnell davon ab, weil sie intuitiv wusste, dass sie mit dieser Strategie nicht weiterkam. Diesen Fisch zu angeln war keine Leichtigkeit. Sie beschloss, Bartholomew per E-Mail zu erobern. Kurz. Süß. Keck. Frech. Unglücklicherweise fiel ihr Entschluss genau an jenem Umkipppunkt, von dem ab der menschliche Geist zum Sklaven tragbarer Elektronik wurde. Bartholomew grämte sich wirklich darüber, dass Sprache zu affenartigem Schnattern verkam. Die SMS seiner Kollegen überstiegen oft seine kryptographischen Fähigkeiten.

S(|-|i(k3 di3 4k73 | | im T4g3sv3rl4uf | |4(|-| T0ki0. 3i| |, si3 |-|4b3| | d0r7 k3i| |3 M4s(|-|i| |3| |, di3 wi3 S(|-|eißk47z3| | 4uss3|-|3| | u| |d Su? s|-|i m4(|-|3| |.

Er hielt von da an seine Bürotür verschlossen. Er ließ sich einen Bart wachsen und begann, seinen eigenen Urin zu trinken. Na gut, er ließ sich keinen Bart wachsen und fing auch nicht an, den eigenen Urin zu trinken, aber nur deshalb nicht, weil er so einen anderen Kodex verletzt hätte, von dem er sich in seinem Leben leiten ließ – den der Hygiene, der körperlichen Reinheit. Aber jedenfalls schottete er sich ab.

Unnötig, darauf hinzuweisen, dass der Siegeszug der PDAs für Bartholomew den Anfang vom Ende bedeutete. Na ja, vielleicht nicht direkt den Anfang, denn schließlich war er in der Familientradition der Glogs erzogen, für die jeder Moment des Lebens den Anfang vom Ende darstellte. Vielleicht kündigten ja diese neuerdings sich durchsetzenden PDAs in einem grundlegenderen Sinne das Ende der Sprache selbst an, die nun zu einem optischen Schrottplatz von Slashmarks, diakritischen Zeichen und sinnlos dazwischengestreuten numerischen Einsprengseln implodierte.

Eines Morgens war Karen in der U-Bahn unterwegs zur Arbeit und irgendwie komisch drauf, weil sie sich tatsächlich in Bartholomew zu verlieben begann. Obwohl sie wusste, dass es nicht unbedingt das Klügste war, schickte sie Bartholomew eine sehr schlüpfrige SMS:

W3| || | i(|-| gl3i(|-| im Bür0 bi| |, l4ss u| |s wild3| | S3x 4uf d3i| |3r Ri3?s3| |s4mmlu| |g g3lb3r K4| |zl3ib0g3| |blö(k3 h4b3| |. Spi7z s(|-|0| | m4l d3i| |3| | Bl3is7if7, Big B0y.

Bartholomew las das und dachte: »Oh mein Gott, die Sprache ist zu einer Aneinanderreihung von Wunschnummernschildern verkommen! Da mache ich nicht mit! Ich kann es einfach nicht!« Also hatte er für Karen, als sie auftauchte, nicht sein gewohntes Lächeln bereit. Karen war am Boden zerstört. Sie schickte ihm eine richtige E-Mail in einwandfreiem Englisch, in der stand:

Lieber Bartholomew,

ich habe Dir vorhin aus der U-Bahn eine ziemlich blöde Mail geschickt. Ich glaube, ich habe damit die »Grenzen des guten Geschmacks« übertreten, aber es sollte nur ein Scherz sein, und ich hoffe, Du denkst jetzt nicht schlecht von mir. Karen.

Das Problem ist, dass Bartholomew auch diese E-Mail ignorierte, denn er war verrückt, und das Problem mit verrückten Menschen ist, dass sie wirklich verrückt sind. Man kann mit ihnen durchaus eine Weile gut auskommen und beginnt, anderen zu beteuern: »Soundso ist überhaupt nicht verrückt«, doch dann legt Soundso plötzlich sein Irrsinnsverhalten an den Tag, und man sagt sich: »Hoppla!«, und geht auf Distanz – die Leute hatten recht: Der Typ ist wirklich irre.

Ihre Chefin Lydia sah Karen in der Kantine Trübsal blasen und sagte: »Süße, manchmal denke ich, es wäre höflicher, rund um die Uhr verrückt zu sein, dann verliebt sich wenigstens keiner in einen, und keiner kann irgendwas vermasseln.«

»Aber ich liebe ihn.«

»Aber ja doch, Herzchen. Gib mir mal die Diätsüße.«

Als Karen die Kantine verließ, sagte Lydia zu ihren Kolleginnen: »Anscheinend verlieben sich die Leute immer in dieser magischen Phase, bevor einer von beiden das ganz persönliche Irrsinnsverhalten des anderen mitbekommen hat. Arme Karen.«

Karens gebrochenes Herz heilte wieder, und keine zwei Jahre später war sie mit einem Mann verlobt, der Skulpturen aus Schuhkartons machte und damit zum Burning-Man-Festival in der Wüste von Nevada fuhr. Das Leben ging weiter. Bartholomew wurde älter und verrückter. Die Menschen hatten schließlich gar keine Festnetztelefone mehr. Alle benutzten PDAs, selbst hungernde Menschen in hungernden Ländern. Sämtliche Sprachen der Welt zerfielen und verkümmerten, und Bartholomews Untergangsszenario wurde Realität – die Sprache starb. Die Menschen begannen zu sprechen, wie sie ihre Textnachrichten schrieben, und noch bevor Bartholomew fünfzig wurde, war die Sprache wieder auf dem gleichen Niveau wie damals, als man auf dem Baumstamm am Lagerfeuer saß. Bartholomew fragte sich, warum er überhaupt noch zur Arbeit kam. Niemand legte mehr den geringsten Wert auf das, was er tat, aber er folgte dem Familienmotto der Glogs: »Irgendwer muss ja das Niveau wahren.«

Dann kam eines Tages Karen in Begleitung ihrer Tochter, mittlerweile ein Teenager, an Bartholomews Büro vorbei. Seine Tür stand offen, und er konnte hören, wie sie sich unterhielten – beide klangen wie der tasmanische Teufel aus Bugs Bunny. Sie blieben stehen und sprachen Bartholomew an: »Buuuga-buuga-uuga-uug?«

Sie fragten ihn, ob er mit ihnen zum Lunch gehen wolle, aber er verstand kein Wort. Er schüttelte verständnislos den Kopf. Die Redaktionsräume leerten sich. Die Mittagspause verstrich, aber keiner der Angestellten kam zurück. Bartholomew fand das eigenartig. Er verließ sein Büro und ging auf seiner Etage nachsehen. Niemand da. Hmm. Er ging nach unten in die Lobby, aber weder dort noch auf der Straße war jemand zu sehen. Er lief durch die ganze Stadt, doch überall begegnete ihm nur Stille. Er schaute auf die Fernsehbildschirme an öffentlichen Plätzen: Sie zeigten die leeren Stühle des Nachrichtenteams vom dritten Programm, verwaiste Fußballfelder, Verkehrsüberwachungskameras, die auf leere Straßen blickten.

Also ging er zurück ins Büro und ließ sich die Situation durch den Kopf gehen, die für ihn im Grunde die Erfüllung eines Wunschtraums war – keine nervtötenden Leute mehr, die die Sprache nur weiter verhunzten und entwerteten! Aber wo waren alle hin? Er schaute auf seinen Monitor, wo nun in einem Fenster in der Mitte das Nachrichtenteam vom dritten Programm erschien.

– Hi, Sie sehen das Nachrichtenteam vom dritten Programm. Mein Name ist Ed.

– Ich bin Connie.

– Und ich bin Frank. Wenn Sie diese aufgezeichnete Sendung sehen, wissen Sie, dass die Wiederkunft Christi endlich gekommen und das Gottesvolk in den Himmel aufgefahren ist – und Sie zurückgelassen wurden.

– Weißt du, Connie, die Menschen fragen sich vielleicht, warum wir so reden, wie wir es gerade tun.

– Du meinst in der Sprache, die Menschen zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts gesprochen haben und nicht in der modernen, auf SMS basierenden?

– Ganz recht, Connie.

– [Kichern] Das liegt daran, dass diese Sendung nur von Menschen gesehen wird, die die neue Sprache nie angenommen haben und am Jüngsten Tag zurückgelassen wurden.

– Die Sprache hat sich seitdem sehr verändert, Ed.

– Das kann man wohl sagen!

– In den alten Zeiten zerbrachen sich die Menschen den Kopf über Grammatik und Rechtschreibung.

– Die reinste Gehirnverschmutzung!

– Du sagst es, Frank. Nicht von der Art, wie man sie mit etwas Sprudelwasser und Rubbeln wegbekäme.

– [Alle kichern.]

– Aber nachdem die Menschen so schlau geworden waren, dass sie sprachen, wie sie simsten, und die Sprache auf ihr ursprüngliches Grunzen und Stöhnen hatten zurückschrumpfen lassen, wurden auch sie selbst ursprünglicher, elementarer …

Echter.

Das ist das Wort, nach dem ich gesucht habe, Connie. Echter. Authentischer.

– Und nachdem die Menschen erst mal authentischer geworden waren und lieber über Laute und Geräusche kommunizierten als durch Worte, änderte sich auch ihr ganzes Innenleben. Mit diesen endlosen, schlimmen, selbstsüchtigen Gedankenmonologen war endlich Schluss. Ein himmlischer Frieden breitete sich über ihre Existenz. So kamen sie ganz zufällig Gott näher.

– Und sitzen nun alle auf Gottes Schoß.

– Wo wir mittlerweile ebenfalls sind!

– Also, alles Gute aus der ewigen Seligkeit, Sie Nörgler, die Sie zurückbleiben mussten.

– Das Nachrichtenteam vom dritten Programm wünscht Ihnen eine angenehme Nachtruhe. Mein Name ist Ed.

– Ich bin Connie.

– Und ich bin Frank.

– [alle] Wir wünschen Ihnen noch viel Spaß im irdischen Jammertal!

Seltsames Blut

In Marshalls Gehirn gelangte frisches Blut durch nicht nur eine sondern gleich zwei Arterien, eine Besonderheit, die unter Säugetieren hauptsächlich bei Katzen vorkommt, bei Menschen dagegen so gut wie nie.4 Außerdem kamen in Marshalls Familie mehrmals tödliche Schlaganfälle vor. Marshall selbst erlitt in seinem Leben unzählige kleine Schlaganfälle – manchmal direkt vor seinen Studenten, wo sein Bewusstsein dann plötzlich für ein paar Minuten aussetzte und kurz darauf wieder da war.

Warum ich diese medizinische Information erwähne? Um von vornherein klarzustellen, dass Marshall nicht bloß anders, sondern sehr anders war, und nicht nur in seinem Denken. Vielmehr waren diese biologischen Mechanismen verantwortlich dafür, dass er so dachte und denken konnte. Wenn man die Unmengen von Faktoren betrachtet, die eine Identität ausmachen, spielt die soziale Umwelt natürlich eine wesentliche Rolle, aber da die kulturelle Persönlichkeitswahrnehmung in den letzten Jahren immer mehr medikalisiert wurde, sollten wir uns nicht nur mit Marshalls Familie und Herkunft, sondern auch mit seinem Körper befassen.

Ein Junge aus der Prärie

Marshalls Körper erblickte die Welt am 21. Juli 1911 in Edmonton, Alberta. 1911 war Edmonton nicht der schlechteste Platz auf Erden. Viele Menschen fühlten sich sehr wohl dort. Zum Beispiel seine Eltern – oder zumindest sein Vater. Bei Marshalls Mutter sah die Sache etwas anders aus.

Ein wenig Familiengeschichte: McLuhan hieß mit ganzem Namen Herbert Marshall McLuhan, wobei McLuhan ursprünglich McClughan geschrieben wurde. William McClughan, der dem Alkohol zugetane jüngere von zwei Söhnen, wanderte 1846 aus dem irischen County Down nach Kanada aus, zusammen mit seiner Frau Mary Edith Bradshaw und drei Kindern. Williams kanadisches Ozeanabenteuer war untypisch für die Zeit, zumal er und seine Familie nicht etwa auf einem der vor der Hungersnot fliehenden Seelenverkäufer in die Neue Welt kamen, sondern sogar etwas Geld besaßen – und zur nordirisch-protestantischen Siedlergemeinschaft von Grundeigentümern gehörten.

Aber nachdem sie sich in der Nähe von Barrie, Ontario, niedergelassen hatten, war das Geld schnell aufgebraucht. William und seine drei Söhne arbeiteten als Holzfäller. Einer von ihnen, James, Marshalls Großvater, zog weiter in das unchristliche Gewirr der Wälder im Nordwesten Ontarios, wo er schließlich an die hundert Morgen Land sein Eigen nannte und als eine Art Gemeindevorsitzender eine entscheidende Rolle bei der Errichtung der damaligen Kommunikationswege (Straßen und Telegrafenleitungen) spielte.

Zu jener Zeit bestand Kanada westlich von Quebec größtenteils aus schottischen, englischen und irischen Schafsköpfen, die gottesfürchtig, theoretisch abstinent, Kirchgänger und sparsam waren und so ziemlich jedes Klischee erfüllten, das es brauchte, um die unmenschliche, einsame Knochenarbeit der Besiedelung durchzustehen. Man kann sich kaum vorstellen, wie unerbittlich der Kontinent damals war. Nicht nur, dass die Siedler alles Vertraute und jeden Komfort hinter sich gelassen hatten, sie besiedelten außerdem ein Land, das kartografisch größtenteils noch nicht erfasst war und von Moskitoplagen heimgesucht wurde, um dann regelmäßig in grimmigen Wintern zuzufrieren.

Marshalls Großvater James heiratete 1874 ein Mädchen aus Edinburgh, Margaret Grieve. Sie war zehn Jahre jünger als er und überaus fromm. Sie hatten zusammen neun Kinder. Das vierte war Marshalls Vater: Herbert Ernest McLuhan.

James McLuhan wurde 1907 siebzig Jahre alt, was zu der Zeit nicht gerade häufig vorkam. Aber nicht nur das, er nutzte den Anlass, um noch mal von vorn anzufangen und mit seiner Familie nach Mannville, Alberta, zu ziehen, ein nicht mal zwei Jahre altes Nest in der wildesten Provinz. Das war ein Schritt, der nur Sorge und Ehrfurcht unter seinen Mitmenschen hervorrufen konnte. James war ein intelligenter und angesehener Mann. Er war lustig und gesellig, und er liebte Musik, Tanz und Astronomie. Er stirbt 1919 im Alter von zweiundachtzig Jahren.

In der Familie ist man sich offenbar einig, dass Marshall es von ihm geerbt haben muss, so gern vor vielen Leuten zu stehen, während James’ kirchentreue Frau Margaret im Allgemeinen für die hitzige Religiosität und Strenge verantwortlich gemacht wird, die sowohl Marshall als auch Herbert eigen waren. Auch dies ist vielleicht nicht nur eine Frage der Erziehung – die Frömmigkeit und der religiöse Impuls werden teilweise vom limbischen System des Gehirns gesteuert. Da es sich hierbei um einen neurostrukturalen Zusammenhang handelt, ist diese Eigenschaft vererbbar.

Marshalls Großeltern mütterlicherseits waren im 19. Jahrhundert aus dem englischen Bristol ausgewandert. Sein Großvater Henry Seldon Hall ließ sich in Nova Scotia nieder und versuchte erfolglos, Heu zu produzieren, bevor er die Familie nach Nord-Alberta verpflanzte, um dort neu anzufangen. Über Henry Seldon Hall lässt sich wohl eines klar sagen: Er war ein ziemlicher Mistkerl. Er las die Bibel und schlug seine Arbeiter. Er war ein Tyrann und ging brutal gegen jeden vor, der sich ihm widersetzte. Die Einzige, die sein wahres Wesen erkannte – und so lange gute Miene zum bösen Spiel machte, bis sie die Flucht ergriff –, war seine 1889 geborene Tochter Elsie Naomi Hall. Ihr war klar, dass ihr Vater ein Monster war. Sobald sie konnte, nämlich mit sechzehn, wurde sie Lehrerin an einer Baptistenschule und blieb in Nova Scotia, als ihre Eltern 1906 nach Alberta zogen. Elsies Ausbildung zur Lehrerin war richtungsweisend für ihre Zukunft – und die von Marshall –, insofern sie dabei lernte, vor anderen zu sprechen, eine Kunst, die in unserem Jahrhundert nur selten gelehrt wird. Es waren größtenteils Frauen – beziehungsweise Ladys –, denen beigebracht wurde, ihre Stimme und ihren Körper wirkungsvoll einzusetzen und damit große Werke der Literatur und Poesie zum Leben zu erwecken. Elsie war ein Naturtalent. Sie arbeitete wie eine Wahnsinnige an sich und war, soweit bekannt, sensationell gut.

Zwei Jahre später folgte Elsie, inzwischen achtzehn, aus nie geklärten Gründen ihrer Familie nach Alberta. 1909 redete man im englischsprachigen Kanada einfach nicht groß über solche Dinge. Tante Soundso »ist zu Bett gegangen«. Onkel Soundso war »in Sorge«. Gründe für einschneidende Ereignisse wurden weder geliefert noch erwartet. Und so nahm Elsies Karriere in Nova Scotia ein jähes Ende, und sie geriet erneut in den Einflussbereich ihres Horrorvaters, wenn auch im nahe gelegenen Mannville, wo sie als Lehrerin arbeitete und im Haus von (… Trommelwirbel) James Hilliard McLuhan wohnte.

James war der Vater von Herbert, und Herbert war ein Frauentyp, zehn Jahre älter als Elsie, wortgewandt und überall beliebt. Elsie konnte nur von Glück reden, einen Fang wie ihn gemacht zu haben, und für Herbert galt dasselbe. Sie heirateten am 31. Dezember 1909 und zogen noch im folgenden Jahr nach Edmonton, das gerade einen Landboom erlebte. Herbert stieg in den Immobilienhandel ein, es herrschte allgemeine Aufbruchsstimmung, und die McLuhans führten ein gutes Leben. In diese Welt wurde am 21. Juli 1911 ihr erstes Kind, Herbert Marshall, geboren, gefolgt von seinem einzigen Geschwister, Maurice, der zwei Jahre später kam.

Elsie, die kosmopolitische Kraft in Marshalls Leben, lebte nie wieder in einer Kleinstadt.

Wenn wir durch unsere Geburt in eine Familie eintreten, betreten wir eine Welt, die unermesslich ist, eine Welt, die ihre eigenen seltsamen Gesetze hat und die ebenso gut ohne uns auskäme, eine Welt, die wir nicht geschaffen haben. Mit anderen Worten, wenn wir in eine Familie eintreten, betreten wir ein Märchen.

G. K. Chesterton

Ein ungleiches Paar

Elsie und Herbert waren ein ungleiches Paar. Als sie jung waren, hatten sie ein paar gute Momente, aber je älter sie wurden, desto mehr wurde ihre Beziehung von persönlichen Differenzen überschattet. Elsie war eigensinnig, hatte gesellschaftliche Ambitionen, wollte sich kreativ ausdrücken und war wie ihr Vater ein emotionales Jo-Jo. Ob durch Anlage oder Erziehung, jedenfalls hatte sie seine urplötzlichen Stimmungsschwankungen und sein Temperament übernommen. Genau wie er hatte sie eine Abneigung gegenüber schwachen Männern, die nicht einstecken konnten. Der zehn Jahre ältere Herbert war ein fröhlicher, gebildeter Mensch, der sich gern durchs Leben treiben ließ und weder Elsies Energie noch ihre Neurosen teilte. Doch mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs machte seine Firma Ende des Jahres 1914 pleite. Er meldete sich bei der Armee, wurde aber dank der Nachwirkungen einer Grippe-Infektion bald wieder entlassen und bekam dann, nach einer kurzen Phase der Ungewissheit, 1915 in Winnipeg einen Job als Versicherungsverkäufer.

Peg, WinniPeg

Glanz und Stil sind relative Größen. Für Elsie war es ein Traum, von Edmonton ins feine Winnipeg zu ziehen, dazu besaß die Stadt noch einen weiteren Pluspunkt: die Alice Leone Mitchell School of Expression. Dort konnte Elsie ihre Studien wieder aufnehmen. Die McLuhans zogen in ein Haus in der hübsch gelegenen Gertrude Avenue, wo Marshall und Maurice wohnen blieben, bis sie junge Männer waren.

Winnipeg war die drittgrößte Stadt Kanadas, und als 1914 der Panamakanal in Betrieb genommen wurde, waren sowohl die Eisenbahn als auch Winnipeg schwer davon betroffen, woraufhin die Stadt allerdings die weise Entscheidung traf, ihre Wirtschaft durch Diversifikation zu stabilisieren, so dass sie besser als die meisten anderen auf die Weltwirtschaftskrise vorbereitet war. Und trotz ihrer Größe (sie war kleiner als die meisten nordamerikanischen Städte), ihrer asteroidenartigen Lage und den launischen Wintern war Winnipeg zu einem kulturellen Leitstern des Westens geworden, mit einem Ballett, einer Kunsthalle, einem Sinfonieorchester und diversen Theatern. Für Elsie war es der Himmel auf Erden, die Kinder jedoch begeisterten sich eher für die Prärie und deren unendlich weiten Himmel. Die Sommer verbrachten die Jungs mit der Familie auf einer Farm südlich der Stadt, wo sie Tiere und das Leben auf dem Land kennen lernten, statt mit Landstreichern und Polio in Berührung zu kommen.

1922, als Marshall elf war, begann Elsie als Sprecherzieherin in die entlegensten Ecken des Landes zu reisen, um Kurse in szenischem Lesen zu geben, die meistens in Gemeindesälen stattfanden und zu denen sie die Jungs manchmal im Zug mitnahm. Diese Reisen vermittelten dem jungen Marshall ein höchst nordamerikanisches Gefühl für Entfernungen, für die Unendlichkeit und unterschwellig auch dafür, warum es notwendig war, dass Menschen und Informationen die Weiten der Neuen Welt durchquerten. Das Funkwesen steckte in seinen kommerziellen Kinderschuhen. Telefonanrufe nach Sonnenuntergang bedeuteten schlechte Nachrichten, höchstwahrscheinlich Tod. Kommunikation war weitgehend schwierig und teuer – aber in dieser expansiven, einsamen Welt unentbehrlich. Elsies Beruf machte Marshall außerdem mit dem Knetgummi-Charakter von Worten vertraut, ihrer Wandlungsfähigkeit, der Art, wie sie auf der Zunge ihre Gestalt verändern.

Das Fehlen kosmopolitischer Zerstreuungen in seinem jungen Leben entsprach Marshalls Natur. Er war ein ruhiges Kind, und Maurice und er verbrachten die Nachmittage oft mit dem Vater, der eine (für die damalige Zeit) ungewöhnliche Freude daran hatte, vielleicht auch um Elsies zunehmend längere Abwesenheit von Zuhause auszugleichen.

Herbert und Elsie stritten häufig. Beziehungsweise war es eher Elsie, die stritt, während Herbert die Probleme herunterspielte, was Elsie wiederum auf die Palme brachte. Seine mangelnde Willensstärke brachte sie dazu, ihn auf eine Art zu tyrannisieren und zu verspotten, dass es für Marshall und Maurice, die oben im Bett lagen und die regelmäßigen Streitereien mit anhörten, schrecklich gewesen sein muss. Elsie hatte wie ihr Vater eine grausame Ader und keine Scheu, sie zu zeigen. Irgendwann fühlten die Jungs sich zu Hause wohler, wenn Elsie unterwegs war. Wenn sie wiederkam, ging das Chaos jedes Mal von vorne los.

Marshall und seine Mutter waren beide ausgemachte Sturköpfe und lieferten sich erbitterte verbale Schlagabtausche. Da Herbert als Gegner nicht geeignet war, freute sich Elsie, in ihrem Sohn einen würdigen Sparringspartner zu haben. Vielleicht stammt aus dieser Zeit Marshalls legendäre dicke Haut. Nach Elsies harter Schule konnten ihn anderer Leute Meinungen nicht mehr aus dem Gleichgewicht bringen.

Erstaunlicherweise war Marshall kein guter Grundschüler und wäre fast durch die sechste Klasse gefallen, wenn ihm Elsie (nicht Herbert) nicht zur Hilfe geeilt wäre und ihn durchgeboxt hätte. Aus welchen Gründen auch immer entwickelte Marshall genau zu diesem Zeitpunkt eine Liebe zur englischen Literatur. Elf Jahre lang war er Elsies Sprechkunstübungen ausgesetzt gewesen, aber egal ob nun Hormone, DNA oder ein Schlag auf den Kopf den Damm zum Einsturz brachten, erst dann wurde er zur Bücher verschlingenden Maschine, besessen von Wörtern und all ihren Aspekten: den historischen, grammatischen und idiosynkratischen, aber auch (und das ist das Besondere) den physischen – die Art, wie der Mund ein Wort formt, wie aus einem Wort Kunst wird. Für Elsie war Marshalls Hinwendung zur Literatur ein Geschenk des Himmels: Sie hatte in Marshall jetzt nicht mehr nur einen Sparringspartner, sondern plötzlich auch jemand, mit dem sie sich in der Kunst der Rhetorik austauschen konnte.

Quasi von einem Tag auf den anderen musste Marshall (größtenteils mit Freuden) weite Strecken englischer Literatur und Lyrik auswendig lernen – und nicht nur auswendig lernen, sondern auch mit Begeisterung vortragen: mit klarer Aussprache und präzisem Metrum und Ton, wie es die Alice Leone Mitchell School of Expression verlangte. In seinem späteren Leben als Akademiker und Dozent haute er die Leute damit reihenweise vom Hocker, vor allem seine Studienkollegen in Cambridge, die Marshall für einen Hinterwäldler gehalten hatten und stattdessen, wenn auch keinen Gelehrten, so doch jemanden, vor dem man besser nicht falsch zitierte, vor sich hatten.

Marshall war jedoch nicht nur gut im Zitieren, er war auch ein geborener Debattierer, der so gut wie jeden in seiner Umgebung in Grund und Boden reden konnte. Diese Fähigkeit musste teils vererbt und teils erlernt sein. Einige von Marshalls Vorfahren waren große Redner gewesen, aber dank seiner rhetorischen Fähigkeiten nach den Auseinandersetzungen mit Elsie hatte er mit seinen Lehrern und Klassenkameraden leichtes Spiel und scheute sich nicht, jeden zu verbessern, der einen Fehler machte. Man kann sich ausmalen, wie es im Lehrerzimmer aussah, wenn die Klassenlisten für das nächste Jahr aufgestellt wurden und Marshalls Name fiel.

Man fragt sich auch, wie Marshall als Teenager war. Aller Wahrscheinlichkeit nach war er ein ruhiger Junge, der in der Ecke saß und nicht viel redete, sich aber sofort auf einen stürzte, sobald man ein Wort falsch aussprach. Und vermutlich war er auch damals schon ein bisschen eingebildet, eine Eigenschaft, die er sein ganzes Leben lang behalten sollte. Jedenfalls stellte der junge Marshall schon früh fest, dass er seinen Freunden und seiner Familie intellektuell über den Kopf gewachsen war, vor allem seinem Vater, mit dem Marshall unzählige Diskussionen über Politik, Theologie und Zeitgeschehen führte – ernste Themen. Das mochte Marshall. Herbert war zwar intelligent, aber, wie Elsie, Autodidakt. Ihr Denken entsprach nicht den klassischen Mustern, wie es an den Universitäten gelehrt wurde, und ihre Argumente und Einwürfe konnten aus den unterschiedlichsten Richtungen kommen – ein gutes Training für jemanden, der damit seine Brötchen verdienen will. Marshalls spätere Neigung, erstmal draufloszureden und die Fußnoten nachzuliefern, entstammt wahrscheinlich dieser familiären Dynamik.

In jedem Fall stellte Marshall seine Highschool-Lehrer lange vor dem Abschluss intellektuell in den Schatten. Ihm war klar, dass der Stoff, nach dem sein Geist verlangte, nur an der richtigen Universität zu finden war.

Einverstanden mit dem Nichteinverstanden-sein

Im September 1929, einen Monat vor Beginn der Weltwirtschaftskrise, trat ein erschreckend magerer (68 Kilo, 1,83 m), bücherbesessener McLuhan nach einem einjährigen, seinem Vater zuliebe aufgenommenen Ingenieursstudium (für das er gänzlich ungeeignet war und von dem nur wenig auf Marshall abfärbte, der selbst Jahrzehnte später kaum Auto fahren konnte) ein vierjähriges Bachelor-of-Arts-Studium der Geisteswissenschaften an der University of Manitoba an – die eindeutig richtige Entscheidung für einen jungen Mann, der süchtig nach Büchern ist.

In seinen ersten beiden Jahren besuchte Marshall hauptsächlich allgemeine Kurse in Englisch, Geologie, Geschichte, Latein, Astronomie, Wirtschaftswissenschaften und Psychologie. Und obgleich sein Wissensdurst sich auf alle Bereiche erstreckte, gingen am Ende doch drei wesentliche Stränge daraus hervor: englische Literatur, Geschichte und Theologie.

Religion war Anfang des 20. Jahrhunderts von zentraler Bedeutung für die Kultur in der Prärie, für das Leben der dort ansässigen Familien und ihren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Frömmigkeit war noch weitgehend ein Flickenteppich europäischer Konfessionen: Unitarier, Methodisten, Baptisten, Presbyterianer, Lutheraner, Ukrainisch-Orthodoxe und Mennoniten. Es bedurfte einer Menge gottesfürchtiger Überzeugung, diese unberührte Neue Welt in eine riesige Nahrungsmittelfabrik zu verwandeln.

Der methodistisch erzogene Marshall hatte keine Probleme mit dem Christentum und seinen diversen Spielarten, auch wenn er später behauptete, an nichts geglaubt zu haben, bevor er 1937 zum Katholizismus konvertierte. Seine streng bibelgläubigen Großmütter brachten ihm sogar die apokalyptischen Seiten des Evangeliums näher. Elsie, die baptistisch erzogen war, entwickelte sich zur Gelegenheitsanhängerin der Christian Science-Bewegung, die ihren ungläubigen Gatten Herbert dafür geißelte, dass er sonntags nicht mit ihr und den Kindern in die Kirche ging. Marshall und sein Bruder waren so etwas wie religiöse Mischlinge. Christian Science war damals sicherlich weniger eine bibeltreue Glaubensgemeinschaft, als vielmehr eine fortschrittliche Lebensweise – bei der es vor allem um Wissen, Auseinandersetzung, Forschung, Kommunikation und Zweifel ging. Das war dem bequemen Herbert wahrscheinlich einfach zu anstrengend.

Während man sich in der Familie der McLuhans auf die Grundzüge des Christentums halbwegs einigen konnte, kam es, was die Details betraf, doch zu Streit, und in Marshall und Maurice (der später presbyterianischer Pfarrer wurde) keimte das Bedürfnis nach etwas Höherem – einer Art theologischem oder kosmischem Masterplan. Elsies Christian Science bekannte sich zur Existenz eines allumfassenden Weltbilds, vielleicht lässt sich Marshalls Streben in den folgenden Jahrzehnten auf ein ähnliches Bedürfnis zurückführen. Der Glaube an die Existenz eines Masterplans bildete weitgehend die Grundlage für Marshalls Denken und Verhalten, sowohl privat als auch in der Öffentlichkeit. Und seine mangelnde Bereitschaft, Spezialgebiete ihrem Ghettodasein zu überlassen, trug ihm sowohl öffentlichen Ruhm als auch akademischen Ärger ein.

Harmonie und Disharmonie

Marshalls erste Jahre auf dem College waren vielleicht die letzten, in denen man ihn noch als durchschnittlich bezeichnen konnte. Abgesehen von der Tatsache, dass er größer und dünner als die meisten seiner Kommilitonen war – und durch einen Hang zum Debattieren und diverse rhetorische Fähigkeiten auffiel –, war der junge Marshall ein ziemlich typischer B+/A-Student, wie man ihn damals auf jedem nordamerikanischen Campus finden konnte. Er beschloss, englische Literatur zu studieren.

Zur Zeit der Weltwirtschaftskrise in Winnipeg englische Literatur zu studieren war eine trockene, freudlose Angelegenheit. Im Fachbereich Englisch war man größtenteils weder informiert über eine neuen Betrachtungsweise von Literatur – ab 1941 als New Criticism bezeichnet –, die bereits in England populär geworden war, noch war man daran überhaupt interessiert. Marshall musste feststellen, dass in seiner Heimatstadt die literarische Ausbildung schlichtweg darin bestand, den Studenten durch die Lektüre »schöner Bücher« eine kleinbürgerliche Kultur zu vermitteln. Ein Literaturstudium war im Grunde nichts anderes als ein stark programmatisch angelegter, verkappter Buch-des-Monats-Club. Das Werk eines längst verstorbenen Autors aus einem neuen (oder das eines lebenden aus überhaupt irgendeinem) Blickwinkel zu betrachten, war nicht erwünscht.

Ärgerte Marshall das? Wahrscheinlich ganz schön. Auch wenn er bestimmt kein Freund der Moderne war, war er doch immer offen für eine Neuinterpretierung der Alten Welt, vor allem, wenn es um das Echo zwischen einem Schritt in Richtung Modernität (zum Beispiel der Erfindung des Buchdrucks) und dem nächsten (zum Beispiel der elektronischen Revolution) ging. Tatsächlich sehnte Marshall sich nach einer vormodernen, noch nicht technologisierten Zeit, als die Menschen miteinander redeten, statt fernzusehen (was er sich nie angewöhnte), und Bücher von Priestern in der Kirche vorgelesen wurden. Paradoxerweise verteufelten seine Kritiker ihn später vor allem deswegen, weil sie ihn für bücherfeindlich und technikfreundlich hielten.

Marshall hatte sicherlich nichts dagegen, dass die Universität sich auf einen streng konventionellen Kanon von Autoren konzentrierte. Er selbst spezialisierte sich irgendwann auf Schriftsteller aus dem 19. Jahrhundert. Was Marshall nicht mochte, war die Art, wie Literatur gelehrt wurde und wie die Studenten an sie herangeführt wurden. Er empfand die Literaturbetrachtung als veraltet und roboterhaft und vermisste die Vielfalt an Perspektiven, aus denen etwas Altes neu interpretiert werden konnte. Er war entschlossen, neue Linsen zu entdecken, durch die sich die Vergangenheit betrachten ließe – und neue Sichtweisen, um das menschliche Dasein in einer Art einheitlichen Theorie zusammenzufassen, die mit den bestehenden konventionellen Theorien wahrscheinlich nicht viel zu tun hatte. In diesem Sinne war er ganz er selbst, schon in jungen Jahren.

Und im Geiste sehen wir Marshall, wie er Michel Eyquem de Montaignes Essais in sich aufsaugt, an einem kalten Winterabend vor dem Kamin, fast genau im Mittelpunkt Nordamerikas in der dritten Dekade des 20. Jahrhundert.