Weiter, aber … anders

Um 1973 schien eine Menge los zu sein und gleichzeitig auch wieder nicht. Marshalls Zustand war nach der Gehirnoperation noch instabil. Seine Kollegen an der U of T hatten ihn nach Jahren kaum verhohlenen Missfallens fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel, und er verlor einen Großteil der intellektuellen Unterstützung, die er an der Universität noch genossen hatte. Es kamen zwar noch Studenten in seine Vorlesungen, aber die neugierigen Gasthörer blieben weg, und die Zwischenrufe waren nicht mehr feurig, sondern bösartig. Im Unterricht war Marshall eigenwillig und redselig wie immer, aber die Tage prickelnder Entdeckungen wurden weniger.

Das alles klingt nach einer deprimierenden, bitteren Zeit, die es für Marshall aber nicht unbedingt war. Bei dem Tempo, in dem er 1967 und 1968 lebte, hätte kaum jemand mithalten können. Irgendetwas musste da auf der Strecke bleiben, in diesem Fall sein Gehirn und seine Gesundheit. Sein sinkender Stern Anfang der Siebziger fühlte sich für ihn wahrscheinlich so an, als würde er nur eine kurze Verschnaufpause einlegen – und in den Siebzigern waren die meisten Leute ganz froh, wenn es ein bisschen ruhiger wurde. Die Menschen hatten keine Lust mehr auf Veränderungen. Die sechziger Jahre waren einfach zu anstrengend gewesen. Die frühen Siebziger waren dann so etwas wie das düstere Mittelalter in klein, 1973 demonstrativ vom wirtschaftlichen Zusammenbruch der westlichen Welt angekündigt. Im Fernsehen erlebte man das erniedrigende Ende des Vietnam-Krieges, von Öl verklebte Enten, Öl- und Benzinknappheit, eine steil ansteigende Inflation und die Drosselung des Apollo-Programms. Es war eine verwirrende, schwammige Zeit. Die Hippies waren passé, und Punk war noch nicht geboren. In den Großstädten herrschten Dekadenz und Verfall. Autos wurden größer, hässlicher und giftiger. Es gab keinen Plan. Es gibt nie einen Plan, aber in der Zeit zwischen Nixon und Reagan war es einfach offensichtlicher. An den Universitäten wimmelte es von Babyboom-Kindern, Universitäten wurden zusammengelegt, die Vorlesungen fanden in Containern statt, die Anzahl der Dozenten vervielfachte sich, und die Atmosphäre wurde immer anonymer.

1971 kam es bei Marshall zu einem erneuten gesundheitlichen Zwischenfall. Aus einem Angiogramm ging hervor, dass seine Halsschlagader verstopft war, und während dieser Entdeckung stellten die Ärzte fest, dass er den Blutkreislauf einer Katze besaß: Die äußere Halsschlagader (die der Versorgung des Kopfes dient) hatte Verbindungskanäle durch die linke Schädelbasis und innerhalb des Schädels gebildet. Ohne diese Vaskularisierung, die ein Mal in einer Milliarde Mal auftritt, wäre Marshalls Gehirn schon lange hinüber gewesen. Er empfand das als ein Wunder. Wer würde dem widersprechen?

Wenn du anfängst, die Zeit, in der du lebst, zu kritisieren, ist deine Zeit vorbei.29

Karl Lagerfeld

Der körperlose Mensch: Mensch ohne Fleisch

Nach 1970 fing Marshall an, sich für neue Themen zu interessieren. Eines davon war die Apokalypse, die seiner Meinung nach bevorstand. Dieses apokalyptische Denken zeugte von dem etwas prosaischeren Glauben, dass mit der Gesellschaft etwas im Argen lag. Marshall führte das auf sein Bild vom »körperlosen Menschen« zurück, das auf beunruhigende Weise der allgemeinen Malaise einer Gesellschaft zehn Jahrzehnte nach McLuhans Geburt 1911 ähnelt.

Der körperlose Mensch ist ein elektronischer Mensch, der sich von seinem Körper losgelöst hat (ein Prozess, den man auch Angelismus nennt) und der es gewohnt ist, mit Gesprächspartnern auf anderen Kontinenten zu telefonieren, während der Fernseher sein zentrales Nervensystem besiedelt. Der körperlose Mensch ist gern asynchron und außerdem überall und nirgendwo – er ist eine Abfolge von Informationen in einer von Bildern und Informationsmustern geprägten Cyberspacewelt.

Der körperlose Mensch lebt in »einer Welt zwischen Fantasie und Traum«, in der die Grenzen zwischen Bewusstem und Unbewusstem fallen. Es ist die Schattenseite des globalen Dorfes – der totale Verlust der Identität. Über diese »Kinder des Fernsehens« sagte Marshall: »Ich glaube, sie versinken in einer Welt, in der Befriedigungen erschreckend primitiv und dürftig ausfallen, verglichen mit dem, was wir vor dreißig Jahren für normal hielten. Der Kick liegt bei ihnen auf dem Niveau eines Sieben- oder Achtjährigen.« Seiner Meinung nach waren die Fernseh-Kinder ziellos, undiszipliniert, ungebildet und unpersönlich und bewegten sich mit physischer und psychischer Gewalt durchs Leben.

Ende der siebziger Jahre berief sich Marshall auf den katholischen Begriff des Naturrechts, demzufolge der Mensch aus Körper und Geist besteht, dem Materiellen und dem Immateriellen, die beide untrennbar miteinander verbunden sind. Weil Menschen ein Bewusstsein haben, sind sie in der Lage, Gut und Böse zu unterscheiden. In Marshalls Augen kennt der körperlose Mensch kein Naturrecht. Er hat keine Moral, was bedeutet, dass die Menschheit einer großen pseudoreligiösen, wahrscheinlich von Diabolik und Zerstörung geprägten Ära entgegensieht.

Es sei außerdem ein Zeitalter totaler Überwachung, in dem sämtliche Maße geeicht und analysiert würden. In den sechziger und siebziger Jahren waren damit Spionagesatelliten, Fernseheinschaltquoten und Kreditkartendaten gemeint. Heute betrifft es fast alles. An diesem Punkt seines Lebens verlor Marshall den Bezug zur Realität, oder sah er einfach seine schlimmsten Ängste in Erfüllung gehen und reagierte dementsprechend?