Marshalls Amerika

Im Sommer 1936 erwarb Marshall in Cambridge seinen zweiten Bachelor of Arts. Da er nur mit »gut« (second class) bestand, wurde sein Stipendium nicht verlängert, und er musste sich nach einem Job umsehen. Aber während der zwei Jahre in England hatte er dem engeren Kreis einer im Entstehen begriffenen literaturkritischen Theorie des 20. Jahrhunderts nahe gestanden. Er war vom Jüngling zum Mann geworden, hatte unzählige Bücher verschlungen und war in den Ferien durch Frankreich gereist. Er hatte die Alte Welt mit der Neuen verglichen und festgestellt, dass ihm die Alte sehr viel besser gefiel. Er hatte etwas zugenommen und sich einen Schnurrbart stehen lassen. Doch jetzt, da seine Zeit in Cambridge zu Ende war und er keine Aussicht auf eine Beschäftigung hatte, begann eine Phase der Entwurzelung und Verirrung, die fast jeder, der jemals eine Schule beendet hat, nur allzu gut kennt. Marshall wollte an ein College, das ihm Sicherheit und Zusammenhalt bot, was nach der Weltwirtschaftskrise nicht ganz einfach war. Er bewarb sich sogar als Dozent beim Feind, der University of Manitoba, was rein psychologisch einen großen Rückschritt bedeutet hätte, aber zum Glück erfolglos blieb. Schließlich landete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der University of Wisconsin in Madison, wo er monatlich $ 895 verdiente. Von seinem ersten Gehaltsscheck kaufte er sich eine Aktentasche und ein Steak.

Madison wurde zwar als Athens des Westens gepriesen, war aber weit entfernt von Cambridge, und diese räumliche Distanz zu den ihm bekannten Diskursmustern traf Marshall nach seinem Englandaufenthalt wie ein Schock. Vor dem Zweiten Weltkrieg unterschieden sich die USA und Kanada noch merklich voneinander. Kanada war als Dominion nach wie vor Großbritanniens oligarchischem System verbunden, und das Bildungssystem war quasi eine Kopie des britischen. Die US-amerikanische Kultur dagegen war, damals wie heute, eine Verbindung aus Turbokapitalismus, Massenmedien und wissenschaftlicher Forschung, die eine vom Ehrgeiz getriebene Zivilisation hervorbrachte: geldorientiert, auf Erfolg ausgerichtet, trendbewusst und, in Ermangelung eines besseren Ausdrucks, peppiger als Kanadas. Die weltlichen amerikanischen Universitäten, vor allem im Mittleren Westen, basierten auf einem »positivistischen« Modell, das man von den Deutschen und den Franzosen übernommen hatte und in dem es eher um den Austausch von Informationen als um die Vermittlung von Ideen ging. Sie waren pragmatisch und an wissenschaftlicher Wahrheit interessiert statt an moralischer oder theoretischer Debatte. Marshall war nur ein paar Jahre älter als seine Studenten, aber sie hätten genauso gut vom Alpha Centauri stammen können. Sie benutzten hauptsächlich Umgangssprache, hatten wenig Ahnung von Geschichte und so gut wie keine von vergangenen Kulturen. Offenbar lebten sie ausschließlich in der Gegenwart und sahen nichts Falsches darin.

Wie konnte eine prinzipiell ähnliche Kultur siebenhundert Meilen von Winnipeg entfernt diese völlig fremdartigen Studenten hervorgebracht haben? McLuhan hatte das Gefühl, nicht dieselbe Sprache wie sie zu sprechen, als käme er aus einer Welt, in der komplett andere Wertesysteme und Kräfte herrschten. In seiner Verzweiflung darüber radikalisierte er sein Denken und seinen Unterricht. Er beschloss, den Gedanken seines ehemaligen Lehrers F. R. Leavis aufzugreifen, demnach alle kulturellen Bereiche, nicht nur literarische Werke, theoretisch analysiert werden können. Also machte Marshall sich an die Dekonstruktion der Massenkultur. Anfangs war es nur der Versuch, eine ansonsten unüberwindbare Kluft zu überbrücken, aber während er seine Studenten beobachtete, interessierte es ihn gleichzeitig immer mehr herauszufinden, wie die Menschen lernen, ihre Welt wahrzunehmen. Er erkannte, wie die Medien eine Information erst unterschwellig manipulieren, um dann die Art und Weise, wie wir sie – und jede andere Information – aufnehmen, umzupolen.

Um beide Punkte besser zu verstehen, startete er eine Lesekampagne, die den Kern seiner zukünftigen Arbeit bildete: Joyce, Pound, Eliot sowie die philosophischen Schriften – vor allem das Werk von Alfred North Whitehead –, mit denen er in Cambridge in Berührung gekommen war.

Andererseits traf Marshall in Madison auch auf eine typische amerikanische Form von »bullshittiger« Kollegialität und Kameradschaft. Das Wort bullshit wurde zu einem seiner Lieblingswörter, außerdem gefiel ihm die Idee des bullshittings des lockeren Geplänkels, aus dem vielleicht neue Ideen entstanden. Nichtsdestotrotz war Marshall ein Fremder in einem fremden Land, und er war einsam. Er beteiligte sich an Diskussionen und Auseinandersetzungen, aber er fühlte sich allein.

Betrachtet eure Religion eher als eine Liebesaffäre und nicht so sehr als eine Theorie.

G. K. Chesterton

Die völlige Abwesenheit von Humor in der Bibel ist eines der erstaunlichsten Dinge in der Literatur.

Alfred North Whitehead

Gott und der Mensch

Und so saß ein einsamer junger Marshall in einer fremden Stadt und unterrichtete Studenten, die in seinen Augen Außerirdische waren. Er wusste, dass siebenhundert Meilen entfernt seine Familie kurz davor war, auseinanderzubrechen, und ob freiwillig oder weil es das Schicksal so wollte, er war immer noch Single und hatte niemanden, mit dem er sein Leben teilen konnte.

An diesem Punkt erreichte ihn ein Brief von Father Gerald Phelan, Präsident des Päpstlichen Instituts für Mediävistik am St. Michael’s College der Universität von Toronto. Phelan hatte in einem Universitäts-Vierteljahresheft einen Artikel von Marshall über Chesterton gelesen. Zwischen den beiden entspann sich ein Briefwechsel, und als er Weihnachten 1936 Elsie in Toronto besuchte, traf Marshall sich mit Phelan, der zufällig mit Elsie bekannt war. Ihr mütterlicher Geigerzähler muss heftig ausgeschlagen haben, als sie ihren religionsdurstigen Sohn in die Klauen der Katholiken fallen sah. Auf jeden Fall scheint das Treffen gut gelaufen zu sein. Der einsame junge Mann kehrte nach Amerika zurück und trat am Dienstag, dem 30. März 1937, in die Kirche ein.

Marshalls Konversion brachte die ehrgeizige Elsie völlig aus der Fassung, zumal sie seinen Schritt als »Karriereselbstmord« betrachtete. Sie gab Herberts Seite der Familie die Schuld und war todunglücklich. Das war vierundzwanzig Jahre, bevor John F. Kennedy zum Präsidenten gewählt wurde, und weniger als zehn Jahre, nachdem der Ku-Klux-Klan gegen den katholischen Gouverneur von New York, Al Smith, aufmarschiert war. Katholiken wurden immer noch als Schachfiguren des Vatikans angesehen, und auf einem weitgehend protestantischen Kontinent brachte man ihnen vor allem Misstrauen entgegen.

Wie die meisten Konvertiten wurde Marshall schnell zum Hardcore-Gläubigen. Bis zum Ende seines Lebens ging er fast täglich in die Kirche. Er betete den Rosenkranz und glaubte fest an die Hölle. Es regte ihn auf, wenn andere Katholiken nicht katholisch genug waren. Vor allem glaubte er, da Gott die Welt erschaffen hatte, sie letzten Endes begreifbar sein müsse, und dass ein Sinn für das Göttliche zum Verständnis des Weltlichen führen konnte. Er hatte den Eindruck, dass seine Religion tatsächlich ein Sinn war, eine Sinneswahrnehmung, die sein Leben genauso, wenn nicht sogar noch mehr bereicherte wie das Sehen, Schmecken, Tasten, Hören, Riechen und die Schwerkraft. Er hatte den Schlüssel zur Ewigkeit gefunden und konnte seine Aufmerksamkeit jetzt voll und ganz der »Zukunft« von Mensch und Gesellschaft widmen. Verglichen mit dem Himmel war die Zukunft profane Billigware, man konnte ihr ganz objektiv und leidenschaftslos begegnen, als betrachte man einen Ameisenhaufen, extrem aufmerksam und gleichzeitig selbstvergessen.

Marshall sprach in der Öffentlichkeit nicht über seine Religion. Er ging davon aus, dass Menschen, die sehen, das nicht an die große Glocke hängen. Sie sehen die Welt, und gut. So jedenfalls ging es ihm damit. Seine Weigerung, darüber zu sprechen, handelte ihm eine Menge Ärger ein. Manche Menschen empfanden das als Arroganz. Andere betrachteten es als Schwäche und Drückebergerei, oder als altmodisch und lächerlich. Und wieder andere sahen es als vertane Chance, weitere Anhänger zu rekrutieren.

Ich hätte es nicht gesehen, wenn ich es nicht geglaubt hätte.

M. M.

Die Gründung einer Clique

Genervt von den internen Machtkämpfen an der Universität, deprimiert von den mangelnden Geschichtskenntnissen der Studenten und begierig darauf, sein Leben katholischer zu gestalten, und zwar schnell, bewarb sich Marshall an der katholischen St. Louis University, wo der Leiter der literaturwissenschaftlichen Abteilung William McCabe ein ehemaliger Cambridge-Absolvent war und überraschend up to date, was den neuesten Stand auf dem Gebiet betraf. Marshall bekam eine Dozentenstelle und ein dreimal so hohes Gehalt wie in Wisconsin.

Kurz darauf, im Sommer 1937, verbrachte Marshall mit Elsie ein paar Wochen auf Vancouver Island. Am Ende der Reise fuhren sie gemeinsam mit dem Zug zurück in Richtung Osten – er bis Winnipeg, Elsie bis Toronto.

Nachdem Elsie und Herbert sich seit drei Jahren weder gesehen noch gesprochen hatten, verbrachten sie auf dem Bahnsteig in Winnipeg eine ganze höfliche Stunde miteinander. Danach stieg Elsie wieder in den Zug und verschwand.

Marshall verbrachte drei Wochen in seinem alten Zuhause, mit Herbert und ohne seinen Bruder, dann fuhr er weiter nach St. Louis.

Die St. Louis University war eine gute Wahl. Sie war 1818 gegründet worden und damit eine der ältesten Jesuitenhochschulen in Amerika. Ein etabliertes (wenn auch leicht baufälliges) Haus, das wunderbar zu Marshall passte: hundert Prozent männlich, rustikal und unmodisch. Sie folgte dem jesuitischen Ideal, demnach das Göttliche sich offenbaren kann (was später für Marshall von großer Bedeutung sein sollte) und die Doktrin der Kirche anhand von Sondierungen, Provokationen, offener Diskussion, Analysen, Debatten und Untersuchungen verbreitet werden darf – ungefähr das Gegenteil von Chestertons Ansicht, Religion müsse eine Liebesaffäre sein.

Schon bald lernte Marshall die Stadt und die Gesellschaft der anderen Lehrkräfte schätzen, von denen viele lebenslange Freunde und Mitstreiter wurden. Er fand eine Clique von Kollegen, mit denen er sich auf hohem intellektuellen Niveau und gleicher theologischer Ebene auseinandersetzen konnte. Neben Father William McCabe waren da Father Walter Ong, ein junger Jesuit und Schüler Marshalls, Bernard Muller-Thym, ein Philosophiedozent, der seinen Doktor am Päpstlichen Institut für Mediävistik der University of Toronto machte, und Felix Giovanelli, ein Sprachdozent, mit dem Marshall später zusammenarbeitete. Zusammen mit Tom Easterbrook, seinem alten Freund aus Manitoba, waren diese Männer die ersten Mitglieder von Marshalls Prototyp einer Warholschen Factory, und ihre Ideen spielten eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der Medientheorie, die 1962 zum Ausbruch kam.

49° nördliche Breite

Damals kamen Amerikaner und Kanadier noch ungehindert über die Grenze. In England umgab Marshall der Reiz des Neuen, in St. Louis war ein Kanadier nichts Besonderes. Er sagte einmal, der Präriehimmel seiner Jugend habe ihn in die Zukunft sehen lassen, aber dieser Blick war eher geografischer als geopolitischer Natur. Es ist dennoch hilfreich, wenn man verstehen will, wie der junge Marshall Raum wahrnahm, in einem Land, wo jeder weit entfernt von allen anderen lebte, wo für jeden Weg Wetter, Dauer und eventuelle Unannehmlichkeiten berücksichtigt werden mussten. Wie er sich fragte, wo seine Mutter war, weit weg in der unendlich weiten Ebene, hinter dem nie endenden Horizont. Elsie, die Briefe schrieb, die in Leinentaschen gesteckt, in Zugwaggons verfrachtet und Tage später zugestellt wurden, und Marshall, der darüber nachdachte, wo sie herkamen. Schlechte, knisternde Telefonverbindungen, kratziger, begrenzter Funkempfang … und sonst nichts.

Man stelle sich vor, wie Marshall und andere Menschen damals wohl dachten, zum Beispiel über das Verhältnis von Entfernung und Geschwindigkeit. Eine Familie wurzelloser religiöser Tölpel, die ständig ihre Zelte abbrachen und von einem gottverlassener Flecken platten Landes zum nächsten zogen, während Gott sich ins Fäustchen lachte. Wie es wohl war, aus einem Ort in der Mitte des Kontinents zu kommen, am Ende der Welt, und sich zu wünschen, man wäre irgendwo. Elsie, die im Zug aus dem Bahnhof von Winnipeg fuhr und am Horizont verschwand, wahrscheinlich froh, ihr einstündiges Treffen mit Herbert hinter sich gebracht zu haben, und vielleicht ein Liebessonett rezitierend, an niemand (oder vielleicht doch jemand) speziellen gerichtet. All das ist Teil von Marshalls Erziehung.

Der Marshall, den wir 1937 in St. Louis sehen, war ein dünner Kerl, der älter wirkte, als er war, von nichts anderem als Religion und Literatur redete, nicht zuhören konnte und einen wahrscheinlich nicht länger beachtete, sobald er festgestellt hatte, dass man kein bombastischer Redner war – ein Charakterzug, den Marshall unwiderstehlich fand, und der ihn womöglich dazu bringen konnte, innezuhalten und jemand anderem zuzuhören. Und das war der Guru, dessen Denken unsere Sicht auf das Universum revolutionierte?

Dann lesen wir einen Brief, den Marshall an seinen Bruder Maurice geschrieben hat, über sein Leben zu jener Zeit, und plötzlich entdecken wir in dem muffeligen Kauz einen glühenden Kern …

Was ich jetzt bin, bleibe ich mehr oder weniger für den Rest meines Lebens, und es ruft eine seltsame Hoffnungslosigkeit in mir hervor, wenn ich daran denke, dass all die großen Träume von den Möglichkeiten und Talenten, die ich damals hätte haben sollen, um die Menschen zu blenden und vielleicht auch den ›Himmel mit den erstaunlichsten Worten zu blenden‹, nichts als trügerische Leere sind. Ich empfinde keine Zuneigung für die Welt. Ich bin mir nicht sicher, ob meine derzeitige Gleichgültigkeit gegenüber ihren Zielen und Freuden wirklich der Liebe zu Gotte entspringt oder nur der Verzweiflung über mich selbst. Zumindest kann ich sagen, dass meine Unzufriedenheit so tief sitzt, dass ich mir keine historische Persönlichkeit oder sonst irgendjemanden vorstellen könnte, der ich lieber wäre (Heilige ausgenommen, denn die haben nicht versucht, etwas aus dem Leben zu ziehen).

… und spüren, dass er jetzt der war, der er werden sollte. Aus Marshall war McLuhan geworden.