Aufstieg und Fall des Faxes

An dieser Stelle verlasse ich, als Biograph, die Fußnoten und betrete den Haupttextteil, zumal Marshall seine Mitte verliert und sein Denken angesichts seines im Verfall begriffenen Gehirns in immer mehr Pixel zerfällt.

Als ich 1986 für eine Zeitschrift in Tokio arbeitete, hörte ich im Büro ein Surren. Ich ging nachsehen und entdeckte eine Art Fotokopierer, der eine handgezeichnete Straßenkarte ausspuckte. Auf meine Nachfrage erklärte man mir, das sei ein Faxgerät. Ein Faxgerät, dachte ich, was für eine originelle Idee. Warum gibt es das in Nordamerika noch nicht? Ich recherchierte ein bisschen und fand heraus, dass das Fax in Japan entwickelt worden war, um handgezeichnete Straßenkarten von einem Büro zum anderen zu schicken, da es in Japan keine richtigen Adressen gab, sondern nur eine ungefähre Umgebung. Hmmm … man könnte noch mehr als nur Straßenkarten damit verschicken … alle möglichen Unterlagen zum Beispiel!

Schnitt ins Jahr 1988 und 1989, als ich für ein inzwischen lange eingestelltes Wirtschaftsmagazin in Toronto arbeitete. Nachdem das Faxgerät in Europa bereits verbreitet war, erreichte es nun auch Nordamerika und besiegelte das Ende des Fernschreibers. Die Preise fingen bei $ 1500 an und gingen dann schnell in die Höhe. Ich erinnere mich an einen Anzeigenvertreter, der in unser Großraumbüro kam und sagte: »Faxe sind das neue Ding! Könnt ihr euch nicht irgendwas Cooles dafür ausdenken? Wir müssen Anzeigen verkaufen.«

Mein Job war es also, mir coole Ideen für Faxe auszudenken. Ich fand schnell heraus, dass es nicht einfach ist, ein Fax interessant zu machen. Schließlich versuchte ich es mit dem Celebrity Fax of the Month. Das erste war ein Kussmund des kanadischen Supermodels Linda Evangelista auf einem Briefpapierbogen des Hotel George V in Paris. Es sah toll aus, und wir ließen es in ganzer Größe allein durchlaufen. Das nächste Fax war eine Fotokopie von einem Eishockey-Puck mit dem Autogramm eines frisch gesignten sowjetischen NHL-Spielers. Es kam aus der kanadischen Botschaft in Moskau. Danach waren Pizzastücke von Wolfgang Puck aus Los Angeles dran. (»Letzten Monat gab es einen Eishockey-Puck. Diesmal bekommt ihr Wolfgang Puck.«)

Nach ein paar Monaten gingen uns allerdings allmählich die Ideen aus. Irgendwann hatte ich den Punkt erreicht, an dem ich den Bürgermeister von Halifax, Nova Scotia, bat, mir einen Brief zu faxen, in dem stand, wie stolz er sei, Bürgermeister »einer Stadt zu sein, deren Name das Wort ›Fax‹ enthält, das Tollste an Bürotechnik seit der Erfindung des Kopierers.« Der Bürgermeister war so liebenswürdig, mir den Brief zu schicken. Indessen wurde ich auf meiner Suche nach lustigen Faxideen immer verzweifelter. Dann hatte ich einen Einfall. An einem kalten, trüben Nachmittag im Januar 1989 fuhr ich erst eine Stunde mit der U-Bahn und dann noch ein Stück mit dem Bus zu einem katholischen Friedhof nördlich von Toronto. Die zugefrorene, schneefreie Erde und die Bäume sahen aus wie aus Zement, und der Wind pfiff schrill, wie er es nur in Kanada tut. Mir war eiskalt. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so kalt sein würde. Ich sprach mit dem Friedhofsverwalter, der mir einen Plan gab und mir erklärte, wie ich zu McLuhans Grab käme. Zwanzig Minuten später hatte ich es gefunden – unter zehntausend anderen, ganz bescheiden in einer unauffälligen Ecke. Auf dem Stein stand in Computerschrift:

Ich hatte Graphit und Papier dabei und machte mehrere Abdrücke, aber schon nach wenigen Minuten zwang mich der kanadische Winter wieder zu gehen. Mit meiner Ausbeute in der Hand lief ich zur Bushaltestelle. Meine Idee war es, den Abdruck über eine Reihe von Faxgeräten durch die ganze Welt zu schicken, und es funktionierte. Von Toronto sendete ich Marshalls Grabinschrift an die Internationale Fernmeldeunion in Genf. Die wiederum faxten sie weiter an die Redaktion von The Sydney Morning Herald in Australien. Von dort aus ging das zunehmend unleserliche Fax an das japanisch-amerikanische Institute of Management Science in Honolulu (meine Alma Mater), dann an das Utne Reader-Magazin in Minnesota und von dort aus zurück nach Toronto. Die Inschrift war immer noch zu erkennen, und darunter waren die Stationen der Reise angeheftet. Aber warum Marshall McLuhans Grabstein? Ganz einfach, weil ich dachte, er hätte seinen Spaß daran gehabt. Wie sehr ich mich doch irrte. Ich bin sicher, der Mann hätte Faxgeräte genauso verabscheut wie alles andere Neue.

Aus heutiger Sicht, zwei Jahrzehnte später, ist vielleicht entscheidender, dass die Fahrt zum Friedhof Unmengen von Zeit und Energie kostete. Das Wetter war grausig, ein typischer kanadischer Tag. Kanada ist ein kaltes Land, die Entfernungen sind enorm. Kommunikation ist harte Arbeit, und die Kanadier müssen sich mehr als andere anstrengen, um miteinander in Verbindung zu treten. Und wenn sie sich in ihrem trauten Heim verbunkern, geschützt vor dem eisigen Wind, fällt es Kanadiern auch schwerer, über die abstrakte Bedeutung von Kommunikation nachzudenken. Amerikanern, Russen und Skandinaviern ergeht es nicht unbedingt anders, aber was die Bevölkerungsdichte betrifft, liegen wir am weitesten auseinander und müssen am härtesten dafür arbeiten, und aufgrund unserer Geschichte haben wir kein übergeordnetes Glaubenssystem, das uns vorschreibt, was wir denken sollen. Wenn man also an einem kalten kanadischen Tag mit einem Schneeball beworfen wird, ist das Medium allerdings Teil der Botschaft. Dasselbe gilt für Rauchsignale, Kreidezeichen von Hobos und Anrufe aus einem Air Canada Flug acht Kilometer über Saskatoon. Warum sollte es bei einem Buch, einem Fernsehbildschirm oder einem Fax von einem Grabsteinabdruck etwas anderes sein?

Ein Loch in der Welt

Dem Jahrzehnt bis zu Marshalls Tod am 31. Dezember 1980 muss man sich mit innerer Größe nähern. Alt zu sein bedeutet unter anderem schlicht, nicht mehr jung zu sein, und was früher als anders und fortschrittlich an einem galt, kann sich später gegen einen wenden. Zu seinen wichtigsten Erkenntnissen kam Marshall in den frühen Sechzigern. Es folgten noch diverse kleinere Geistesblitze, aber mit den großen Themen war es vorbei. Marshalls Gehirn, das von Geburt an anders gewesen war, hatte über die Jahrzehnte diverse Traumata erlitten: Schlaganfälle, Absencen, einen riesigen Tumor, maximal-invasive Gehirnchirurgie sowie einen kurzen, durch einen Herzinfarkt ausgelösten Sauerstoffmangel. Der Mann musste einfach müde und verwirrt sein – nicht nur wegen der Zeit, in der er lebte (oder wegen seiner Reaktion auf sie), sondern wegen seines Körpers. Marshall trieb weder Sport noch achtete er auf seine Ernährung. Wir reden von einem Mann, der seinen ersten Job in Wisconsin damit feierte, dass er sich ein Steak kaufte.

Um 1975 war dann ein Punkt erreicht, an dem, hätte es Marshall McLuhan nicht gegeben, genug andere Leute da gewesen wären, die sein Gebiet beackerten. Das soll nicht sein Genie schmälern. Wäre Einstein nicht geboren worden, hätte jemand anders die Relativitätstheorie aufgestellt – vielleicht ein oder zwei Jahrzehnte später, aber entdeckt worden wäre sie.

Selbst im Vollbesitz seiner Kräfte wäre Marshall aufgrund seines Lebens und seiner Erfahrungen vielleicht nicht in der Lage gewesen, weltliche Kulturtheorien wie die der Franzosen zu entwickeln: Derrida, Foucault, Lacan, Baudrillard – die Marshall mit ihrem Denken quasi überholten. Seine Bedeutung für die Gesellschaft verblasste.

Aber man kann das auch von einem anderen Blickwinkel aus betrachten, vom Standpunkt der Kunst aus. Wären Marcel Duchamp oder Andy Warhol nicht geboren worden, wäre die Welt um Einiges ärmer. Ohne Picasso hätten vielleicht ein paar Leute ein paar Bilder mit irgendwelchen würfelartigen Figuren gemalt, aber wahrscheinlich hätte es keinen Kubismus in all seiner Mannigfaltigkeit gegeben. Da wäre ein Loch in der Welt. Wenn man einen bestimmten Aspekt im Leben betrachtet, der einem langweilig erscheint, kann man sich im Allgemeinen fragen, Wer war das wohl, der da nie geboren wurde?

Anatomiestunde

Ein tiefer Einschnitt trennt das menschliche Gehirn in zwei Hälften (Hemisphären), die durch einen Nervenstrang, den Corpus callosum, miteinander verbunden sind. Die Populär-Psychologie trifft häufig grobe, pseudowissenschaftliche Verallgemeinerungen über die Aufteilung bestimmter Funktionen (z.B. Logik, Kreativität) auf die rechte und linke Gehirnhälfte. Forscher kritisieren dies, da die Funktionen oft auf beide Seiten verteilt sind.

Die Lateralisation der Gehirnfunktionen zeigt sich im Phänomen der Rechts- oder Linkshändigkeit und dem bevorzugten Hören auf dem rechten oder linken Ohr, wobei die Händigkeit nicht darauf hinweist, in welcher Hälfte eine Gehirnfunktion ausgeführt wird. Obwohl sich bei rund 95 % der Rechtshänder eine Dominanz der Sprachproduktion in der linken Gehirnhälfte feststellen lässt, liegt sie nur bei 18,8 der Linkshänder in der rechten Hälfte. Darüber hinaus ist bei 19,8 % der Linkshänder die Sprachfunktion auf beide Gehirnhälften verteilt. Selbst innerhalb bestimmter Sprachfunktionen (z.B. Semantik, Syntax, Prosodie) können sich Grad der Dominanz und auch die Zuordnung selbst unterscheiden.

Links, Rechts, Links, Rechts …

Vielleicht aufgrund seiner eigenen neurologischen Probleme widmete sich Marshall Mitte bis Ende der siebziger Jahre der Hemisphärentheorie – der Lateralisation der Gehirnfunktionen – kurz gesagt, linke Hälfte versus rechte Hälfte.

LINKS = VISUELL

RECHTS = AKUSTISCH

LINKS = RAUM

RECHTS = SEQUENZEN

Das Hemisphärenmodell war in den siebziger Jahren neu, es war der Zeitpunkt in der Geschichte der Neuroanatomie, als die Gehirnwissenschaftler aus dem Wasser kamen, aufs Land krabbelten, atmen lernten und sich entwickelten. Die Lobotomie war erst seit kurzem geächtet, aber Prozac war noch ein Jahrzehnt weit entfernt. Neue nicht-invasive Methoden der Gehirnforschung wurden entwickelt, bei denen das Gehirn weder klein gehackt noch zu Forschungs-Smoothies verarbeitet wurde.

Marshall gefiel die scheinbare Aufgeräumtheit der Hemisphärentheorie. Häufig zog er einen Torontoer Arzt namens Marcel Kinsbourne zu Rate, der ihm so gut es ging seine Fragen beantwortete. Kinsbourne stellte irgendwann fest, dass Marshall sich fast nur für die Punkte interessierte, die mit seinen eigenen Theorien übereinstimmten. Kinsbourne war geradezu beeindruckt von Marshalls berüchtigtem Selbstschutz, seiner Meinung nach war er einer der am linearsten denkenden Menschen, denen er je begegnet war – was zu dem übermäßigen Blutfluss in seine linke (lineare) Gehirnhälfte passt.

Tagträumereien

Marshall wurde während dieser Jahre immer noch von den Medien verfolgt, aber weit weniger als zuvor. Zumindest reagierten die Leute nicht mehr so, als hätten sie einen seltenen Vogel entdeckt. Das Massenbewusstsein für die Auswirkungen der Medien hatte abgenommen, und Marshalls Stimme war nur noch eine von vielen.

Magere Zeiten brachen an. Buchprojekte wurden in Angriff genommen, aber nie verwirklicht. Geschäftsideen kamen und gingen. Marshall und sein Sohn Eric überarbeiteten Understanding Media. Die Jahre vergingen.

Anfang 1976 nahm Marshall eine Rolle als er selbst in Woody Allens Film Der Stadtneurotiker an. Gedreht wurde in New York. Die Szene ist so ziemlich das Erste, was den Menschen einfällt, wenn der Name McLuhan fällt. Woody Allen und Diane Keaton stehen in einer Kinoschlange, und hinter ihnen steht ein »Langweiler«, der irgendetwas von McLuhans Medientheorien schwafelt. Was folgt, ist eine typisch woodyalleneske Tagträumerei. Marshall hat seine Rolle fantastisch gespielt.

WOODY ALLEN: Wie kommen Sie dazu, über Marshall McLuhan zu reden? Sie haben doch überhaupt keine Ahnung von Marshall McLuhan und seinem Werk.

LANGWEILER: Das will ich Ihnen sagen. Weil ich nämlich Vorlesungen an der Columbia Universität halte, über Fernsehen, Medien und Kultur, und ich glaube, ich interpretiere Mister McLuhans Standpunkt präzise bis ins letzte Detail.

WOODY ALLEN: So, glauben Sie?

LANGWEILER: Ja.

WOODY ALLEN: Na, da bin ich aber gespannt, ich habe nämlich Mister McLuhan zufälligerweise gerade hier. Darf ich bitten, Mr. McLuhan? Kommen Sie her.

LANGWEILER: Oh.

WOODY ALLEN: Sagen Sie’s ihm.

MARSHALL McLUHAN: Ich, äh, ich habe gehört, was Sie gesagt haben. Sie haben keine Ahnung von meiner Philosophie. Sie legen mich absolut diametral aus. Wie Sie überhaupt an eine Universität gekommen sind, ist mir völlig schleierhaft.

WOODY ALLEN: Wenn es doch einmal so im Leben wäre.

Schweigen

Zurück in Toronto erlitt Marshall, inzwischen Mitte sechzig, erneut einen Schlaganfall. Im Herbst hatte er eine schwere Grippe, gefolgt von einem Herzinfarkt. 1977 unterrichtete er, schrieb mehrere Artikel, reiste ein wenig und schlug weitere Buchprojekte vor, die bis auf eines nicht zu Stande kamen. Die Lektoren verlangten von Marshall, seine Texte verständlicher und linearer zu gestalten, aber Marshall weigerte sich, sie zu überarbeiten. Umfang und Bandbreite der laufenden Projekte überforderten ihn bereits, und dann sollte er sie auch noch umschreiben. Die einzige Veröffentlichung aus jener Zeit war ein Schulbuch, City as Classroom, eine Zusammenarbeit mit der Lehrerin Kathryn Hutchon und seinem Sohn Eric. Eric hatte das Projekt seit Mitte der Siebziger vorangetrieben, und seiner Entschlossenheit ist es zu verdanken, dass das Buch tatsächlich erschien.