Ein Ruf durch weites Land

Harold Adams Innis (der von The Fur Trade in Canada) war ein Pionier auf dem Gebiet der Medienanalyse und der Riese, auf dessen Schultern Marshall stehen konnte. Innis war eine große Nummer. 1946 wurde er zum Präsidenten der Royal Society of Canada gewählt, der kanadischen Akademie der Wissenschaften. 1947 wurde er Dekan der University of Toronto. Er hielt viel von Marshall – immerhin setzte er Die mechanische Braut auf die Literaturliste seiner Studenten –, und dass beide Kanadier waren und am Ende die Bücher über Medientheorie schrieben, ist mehr als ein Zufall. Ihre Fähigkeit, weite Distanzen ohne ein vorgefasstes, imperialistisches ›Programm‹ zu betrachten, verschaffte beiden eine intellektuelle Freiheit, wie es auch bei anderen Köpfen der Fall war, die zur selben Zeit in Toronto arbeiteten. Nebenbei war es für Marshall eine Genugtuung gegenüber seinen Kontrahenten, jemanden auf seiner Seite zu haben, der in der Nahrungskette der Universität ganz weit oben stand.

Innis’ und McLuhans Gedanken zu den elektronischen Medien überschnitten sich teilweise, gingen an anderen Stellen aber auch auseinander. Innis interessierte sich dafür, wie verschiedene Medien Raum und Zeit zum Einsturz bringen (oder neu gestalten), McLuhan konzentrierte sich darauf, wie die Medien darauf Einfluss nehmen, in welchem Maße eine Gesellschaft dem Sehen oder dem Hören zuspricht. Innis’ letztes Buch, The Bias of Communication (1951), beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Schriftkultur und ihrer Technologien auf die Zivilisation. McLuhan trug die Fackel weiter und ging sehr viel radikaler auf das Thema ein, als er 1962 Die Gutenberg-Galaxis veröffentlichte.

Aber vor allem griff McLuhan Innis’ Idee auf, dass bei der Untersuchung von Kommunikationsmedien die Form wichtiger sei als der tatsächliche Inhalt. Der Biograph Paul Heyer schrieb, dass Innis’ Konzept der »Verzerrung« durch ein Medium als »weniger flamboyanter Vorläufer zu McLuhans legendärem Satz ›Das Medium ist die Botschaft‹ gesehen werden kann.« Wäre Innis nicht 1952 an Prostatakrebs gestorben, wer weiß, was aus weiteren Reibereien zwischen ihm und McLuhan entstanden wäre?

Innis wäre mit Sicherheit fasziniert gewesen (und hätte sich darin bestätigt gefühlt) zu sehen, welche Auswirkungen Fernsehen und Radio im Quebec der fünfziger und sechziger Jahre hatten und inwieweit sie die »Stille Revolution« mit auslösten. Im Laufe eines Jahrzehnts befreiten sich Unmengen von Quebecern aus den Fängen der Kirche und dem Joch des Stalins Nordamerikas, Maurice Duplessis, dem Schöpfer der »Großen Finsternis«. Innerhalb dieser zehn Jahre wurde Quebec sowohl elektrisch verkabelt als auch weitgehend säkularisiert. Darüber hinaus strebte es nach Unabhängigkeit und fing in den siebziger Jahren an auszuloten, inwieweit eine eigenständige Gemeinschaft innerhalb einer demokratischen Gesellschaft existieren konnte.

Enthemmt!

Marshall war ein großartiger Dozent, und es fällt nicht schwer, ihn sich in seiner Blütezeit vorzustellen, wie er seine Studenten unter Wasserfällen von Ideen begrub – die er nicht selten erst im selben Moment entwickelte. Seine Kurse platzten aus allen Nähten. Er war kein Exhibitionist. Es war nur so, dass gewisse Wesenszüge und Denkmechanismen erst vor einem Publikum zur Entfaltung kamen. Laut und in Echtzeit zu denken, vor einem Publikum oder einer Gruppe von Studenten als Katalysator, spornte ihn an. Konversation nannte er das.20

Nach einer Weile stellten die Studenten fest, dass Marshalls Unterricht eine spezielle Herangehensweise erforderte. Am besten war es, man ging einfach hin, hörte ihm zu und ließ sich von seinen Worten inspirieren. Es gab keinen offiziellen Themenkatalog, den man abhaken konnte. Der Schlüssel zum Verständnis dieses Mannes lag darin, offen und unvoreingenommen zu sein – locker zu lassen – und sich ganz auf seine Gedankenwelt einzulassen. Man musste nicht allem zustimmen, man musste nicht mal alles verstehen (einiges ist vielleicht tatsächlich gar nicht nachvollziehbar), die Hauptsache war, dass durch seinen seltsam bürokratischen Rhythmus und seine Überpräzision das eigene Denken entfacht wurde.

Der Wendepunkt

1952 wurde Marshalls sechstes und letztes Kind geboren, ein Junge. Marshall übernahm außerdem einen Lehrstuhl an der University of Toronto. Während dieser Zeit war er besessen von der Idee, Geheimbünde hätten sich gegen ihn verschworen, um seine Publikationen zu verhindern und so seinen Erfolg zu unterbinden. Diesem Glauben wurde der Boden entzogen, als er 1953 von der Abteilung für Verhaltensforschung der Ford Foundation ein Stipendium erhielt. Marshall und sein geistiger Sparringspartner, der etwas deftige Anthropologe Edmund »Ted« Carpenter, bekamen $ 44250 – damals eine beachtliche Summe.

Moment – ein Anthropologe und ein Englischprofessor? Genau. Ihre Aufgabe bestand darin, eine Reihe von interdisziplinären Kommunikationsseminaren abzuhalten. Heutzutage finden solche Seminare an jeder Volkshochschule statt, aber 1953 galten fachübergreifende Studien als gewagt und fragwürdig. Im Amerika der Nachkriegszeit ging es darum, das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Technologie neu auszuhandeln. Spezialisierung lautete das Zauberwort. Warum Gedankenwelten kreuzen? Warum den Fokus erweitern, wenn überall das Gegenteil gewünscht war?

McLuhan und Carpenter hatten vor, auf Innis’ Vorstellungen davon aufzubauen, wie ein Medium die Umgebung beeinflusst, in der es agiert. Wie bereits erwähnt hatte das Fernsehen seinen Siegeszug angetreten, und die Menschen spürten den Wandel förmlich in der Luft knistern, aber es gab weder Worte noch Theorien, um ihn zu beschreiben oder zu analysieren. Die Ford Foundation wollte neue Methoden entwickeln, diese neue Welt zu bestimmen, und Marshall kam da gerade richtig.

Als interdisziplinäre Partner wählte er seinen Freund Tom Easterbrook, mit dem er zusammen in England gewesen war und der inzwischen Professor für Wirtschaftslehre der U of T war, den Psychologieprofessor Carl Williams und eine Architekturprofessorin und Stadtplanerin namens Jacqueline Tyrwhitt – eine Freundin von Sigfried Giedion und eine der wenigen Frauen, die Zutritt zu Marshalls akademischem Universum hatten.21

Die Seminare schlugen sofort ein, mit ihnen begann Marshalls Aufstieg zum Super-Marshall der Sechziger. Er hatte ein wissbegieriges, aufgewecktes Publikum, mit dem er seine Ideen weiterentwickeln konnte. An der Universität bekam man allmählich mit, dass dort etwas vor sich ging. Kollegen von anderen Fakultäten kamen in seine Seminare. Innis’ Werk wurde unter die Lupe genommen, und Marshall und andere Seminarteilnehmer erforschten auf neuen Wegen, wie unterschiedliche Medien unsere Sinne auf unterschiedliche Weise beeinflussten. Vor allem aber konzentrierte sich Marshall auf die Verlagerung des Fokus zwischen visuellem und akustischem Raum – das war schließlich der Startschuss zu seinem 1962 veröffentlichten Erfolgsbuch The Gutenberg Galaxy.

Das Aufregende an den Ford-Seminaren war, dass eine Entdeckung die nächste auslöste. Plötzlich konnte man die gesamte Kultur (oder auch alle Kulturen) als technisches Medium begreifen: Fernsehen, Radio, Film sowie sämtliche Formen von gedruckten Informationen – Karten, Bibeln, Sprachen, Manuskripte – alles. Voilá! In jenem Jahr 1953 entstand in Toronto eine Mediensprache, die später als Torontoer Schule für Kommunikationstheorie bezeichnet wurde, ausgelöst durch die Einführung des Fernsehens. Die Menschheit erlebte gemeinsam einen weltweiten psychischen Bruch – so heftig wie später durch die Entwicklung des Internets.22

Die Seminare führten Marshall außerdem in eine neue Richtung. Statt sich auf die Auswirkungen englischer Literatur auf den Leser zu konzentrieren, interessierte er sich immer mehr für Technologie und deren Effekte auf das Individuum – wie es auch der New Criticism verlangt hatte. In gewisser Hinsicht wandte Marshall einfach die Prämissen des New Criticism auf alles an. Plötzlich gab es da also im Fachbereich Englisch der U of T einen relativen Newcomer, der sich allmählich einen Namen machte (richtig berühmt war er noch nicht, das kam erst 1962) und sich offenbar nicht mehr so sehr für die englische Sprache interessierte, wie er es früher einmal getan hatte. Was den Leuten noch mehr zu schaffen machte, war das nagende Gefühl, dieser McLuhan könne nicht nur Recht haben mit dem, was er sagte, sondern womöglich auch noch eine zukünftige Marschrichtung vorgeben, auf die sie nicht vorbereitet waren.

Darüber hinaus stieß Marshall auf eine Reaktion, die ihn sein restliches Leben über verfolgen sollte: die falsche Annahme, dass ihm diese neue Welt, die er beschrieb, gefiel. Tatsächlich schrieb er dem Ganzen keinerlei moralische oder wertende Dimension zu – er wies lediglich weiter auf die Auswirkungen der neuen Medien auf das Individuum hin. Und was ihn heute immer noch frisch und relevant erscheinen lässt, ist die Tatsache, dass er (anders als so viele andere neue Denkrichtungen aus jener Zeit) sich stets auf das Individuum innerhalb der Gesellschaft konzentrierte, statt auf die Gesellschaft als Ganzes. Dieses poetische wie künstlerische, äußerst menschliche Bekenntnis ermöglichte es dem Leser (damals wie heute), sein Universum zu betreten. Marshalls Erkenntnisse haben vielleicht keinen praktischen politischen, religiösen oder finanziellen Nutzen. Man könnte sogar dafür plädieren, sie als leicht verstiegenes, eigenständiges Artefakt zu betrachten, ein kompliziertes, fantastisch ausgeschmücktes Kunstwerk, das seine eigene Sprache erfindet und dann daraus Poesie macht. Und was wäre falsch daran? Kunst ist Kunst. Und ein Künstler ist Marshall zufolge jemand, der an den Grenzen der Wahrnehmung steht und den Informationsüberfluss mit dem Ziel betrachtet, Muster zu erkennen, etwas zu sehen, das vor ihm noch niemand gesehen hat.

Explorations

Neben den Seminaren arbeiteten Marshall McLuhan und Ted Carpenter an einer Zeitschrift namens Explorations, die in den ersten zwei Jahren sechs Mal erschien.23 Sinn und Zweck von Explorations war es, die Erkenntnisse aus den Ford-Seminaren widerzuspiegeln und als Hausorgan für Marshall und seinen Klüngel zu fungieren, mit dem sie neue Ideen der Öffentlichkeit vorstellen konnten. Das Heft war ein wunderbarer Eintopf aus Diamanten, Strass, Fabergé-Eiern und merde, und die Fragen, die dort erörtert wurden, sind immer noch aktuell und so einfach wie: Was ist Zeit? Was ist das Selbst? Was ist die Medienwelt, und inwiefern verändert sie uns? Explorations wurde zu Marshalls Visitenkarte in der ganzen Welt. Sie verschaffte ihm intellektuelles Vertrauen und eine breitere Basis für seine Recherchen und Untersuchungen. Und wie bei fast allem, was Marshall in die Hand nahm, alarmierte ihre Existenz jene Kollegen, die noch immer in ihren spezialisierten technikverliebten Bunkern eines Kalten Krieges saßen.

Es braucht einen ungewöhnlichen Geist, das Offensichtliche zu analysieren.

Alfred North Whitehead