Ist der Typ echt?

Mit zunehmendem Alter traten Marshalls Exzentrizitäten immer häufiger und deutlicher zutage. Er hatte ein gewaltiges Repertoire an Witzen und Cartoons auf Lager und schöpfte daraus bei so gut wieder jeder Gelegenheit – vergleichbar mit den abgedroschenen Kalauern, die einem die Eltern mailen, nachdem sie schon zigmal weitergeleitet wurden. Marshall begann seinen Unterricht und seine Vorträge mit Witzen und schlechten Wortspielen, weil er einerseits schon gar nicht mehr anders konnte und andererseits die Zuhörer verunsichern wollte. Wer ist der Typ? Ist der echt? Ist der auf Drogen? Du lieber Gott, das sind die schlechtesten Witze, die ich je gehört habe. Dieses Wortspiel eben war ja grauenhaft. Der Typ hat sie nicht alle. Und dann ließ er einen Schwall von Gedanken auf sie los, überschwemmte sie mit seinen »Sondierungen«, zwang sie, grundlegende Annahmen in Frage zu stellen, stieß sie immer wieder vor den Kopf und hinterließ jedes Mal eine Menge Gesprächsstoff für den Abendbrottisch.

Fast jeder, der seine Seminare besuchte oder zu einem seiner Vorträge ging, wird bestätigen, dass Marshall schnell anfing, ins Blaue hinein zu reden. Er war sprunghaft, widersprach sich selbst und konnte einen ganz schön auf die Palme bringen. Unter dem Deckmantel der Zerstreutheit prallte das alles von ihm ab. Er wollte die Leute zum Denken anregen, dazu, eigene Ideen zu entwickeln, und dabei selbst als Katalysator wirken. Wenn sie sich zu lange mit Einzelheiten aufhielten, bedeutete das, dass sie den Blick für das große Ganze verloren hatten. Er hatte fast so etwas wie Mitleid, wenn jemand ihn falsch verstand.

Dass Marshalls Macken und exzentrische Anwandlungen immer öfter auftraten, hatte biologische Ursachen. In den frühen sechziger Jahren begann er, in der Öffentlichkeit, sowohl im Unterricht als auch bei gesellschaftlichen Anlässen, plötzlich zu erstarren, um es mal so zu nennen. Mitten im Gespräch hörte er auf zu reden. Dann starrte er eine Weile ins Leere und machte ein oder zwei Minuten später da weiter, wo er aufgehört hatte. Das war irritierend und beunruhigend für die Menschen, die ihm nahe standen. Aus medizinischer Sicht gab es dafür drei potenzielle Ursachen: Entweder waren es Mini-Schlaganfälle oder Absencen (kleinere epileptische Anfälle), oder aber es hatte mit dem zitronengroßen gutartigen Gehirntumor zu tun, den man ein paar Jahre darauf bei ihm fand. Mit jedem Mal wurde Marshall ein Stück weit mehr zum Gefangenen seines Gehirns. Biologie ist kein Schicksal, aber sie setzt gewisse Grenzen.

Die Massage

Die Jahre 1967 und 1968 waren mit Abstand die stürmischsten, glamourösesten und anstrengendsten in Marshalls Leben. 1967 erschien The Medium is the Massage. In den drei Jahren seit 1964 war sein berühmtester Satz »the medium is the message« zum Klischee geworden, und indem er mit seinem eigenen Klischee spielte, erklärte er es zu seinem Eigentum. Marshall liebte es, mit anderen zusammenzuarbeiten, und bei Massage bestand seine einzige Aufgabe darin, den Text und die Layouts abzusegnen und den Titel zu liefern. Geschrieben wurde es (wie bei Warhol) in Wirklichkeit von einem McLuhan-Fan, einem Autor namens Jerome Agel, und das Artwork stammt von Quentin Fiore, einem Buchdrucker und Designer.

Es ist das Buch, das die meisten jungen Menschen an McLuhan heranführte, zumal es eine schrittweise Einführung in die wesentlichen Untersuchungen bietet, die Marshall und sein Zentrum seit 1963 unternommen hatten. Es ist die grafische Verkörperung der optimistischen Seite der Hippiezeit, und es lässt sich schnell weglesen – ein perfekter McLuhan für Anfänger. The Medium is the Message (oder eben auch: Massage) machte McLuhan von einer Bekanntheit zum Popstar und verkaufte sich, Klischee hin oder her, eine Million Mal.

Die Bronx

Die wichtigste Neuigkeit des Jahres 1967 war im Januar Marshalls Berufung zum Albert Schweitzer Professor der Geisteswissenschaften an New Yorks führender katholischer Hochschule, der Fordham University. Das einjährige Engagement war mit einer Zahlung von $ 100 000 verbunden, von denen $ 60 000 für Personal und Ausstattung gedacht waren. Diese traumhafte Summe gewährte Marshall die Freiheit und das Budget, zu unternehmen, was immer ihm vorschwebte. Erstaunlicherweise hatte Marshall zuerst nicht unbedingt vor zuzusagen. Er war es zwar gewohnt, vierzig bis fünfzig Mal im Jahr ins Flugzeug zu steigen, aber das waren Reisen. Marshall war eher der häusliche Typ, der Gedanke, ein Jahr weg von zu Hause und seiner Familie zu sein, gefiel ihm überhaupt nicht. Da jedoch der größte Teil der Familie mit ihm kommen würde und er seine alten Kumpel Ted Carpenter und Harley Parker und dazu noch seinen Sohn Eric anheuern konnte, nahm Marshall das einmalige Angebot an.

Anfang September bezog die Familie ein großes Haus in einer netten Gegend in der Bronx, und am 18. September hielt Marshall seinen ersten Vortrag vor zirka zweihundert Studenten und Kollegen. Es ging darum, dass der Krieg eine Form von Erziehung darstelle, indem er die Menschen lehrte, inwieweit neue Medien unsere Welt und die Art, wie wir uns selbst wahrnehmen, verändert haben. Zwischen maßvoller Kühnheit und verquerem Denken, Verrücktheiten und unverhohlenen Angriffen, wurde unter anderem die These erörtert, Fernseher seien in gewisser Hinsicht Röntgenapparate, und dass die Geschwindigkeit der Kommunikation die Welt in ein globales Dorf verwandelt habe. Weiterhin ging es um seine Theorie, nach der Neuerungen bei den Kommunikationsmedien eine neue, unsichtbare Umgebung schufen, die immense Auswirkungen auf die Welt habe. Er traf die erstaunliche Feststellung, dass »Menschen nicht sonderlich an Erziehung interessiert sind. Der Krieg wurde also falsch eingestuft. In Wirklichkeit ist er eine Lehrmaschine.« Wenige Minuten später erklärte er: »Der Neger wird durch die Elektrizität mit einbezogen. Der angestammte Bildungsbegriff hat den Neger nie mit einbezogen, weil er ihn abgelehnt und degradiert hat, aber die Elektrizität bezieht ihn mit ein und akzeptiert ihn als vollständiges menschliches Wesen.«26

Ein böser Affront gegen das Gehirn

Als die Studenten aus Marshalls Vortrag kamen, tanzten Tausende kleiner Fragezeichen über ihren Köpfen. Und die blieben dort den ganzen Herbst über stehen, denn Marshalls Auftreten wurde immer seltsamer, während in seinem Gehirn ein Tumor heranwuchs. Eines Abends hielt er auf einer Museumsgala eine Rede, in der er Feuerwehrwagen für die Entstehung von Ghettos verantwortlich machte. Allen Ernstes! Diese Blackouts kamen erschreckend häufig vor, aber Marshall wollte sich auf keinen Fall auch nur die geringste Schwäche anmerken lassen. Ende 1967 brachen Corinne und die Familie endlich sein Leugnen und drängten ihn, Hilfe zu suchen. Am Morgen des 25. Novembers begab er sich in Behandlung. Der Gehirnchirurg machte sich mit äußerster Vorsicht an die bis dato längste neurologische Operation in der Geschichte der Medizin.

Corinne und die Kinder machten sich auf das Schlimmste gefasst (Lähmung, schwerer Gedächtnisverlust, geistige Behinderung etc.). Als Marshall eine Stunde nach der Operation aufwachte und der Arzt ihn fragte, wie er sich fühle, antwortete er, das käme darauf an, wie man »fühlen« definiere. Er war wieder der Alte – puh! –, wenn auch nicht ganz in alter Form. Teile seines Gedächtnisses waren tatsächlich verloren gegangen, zum Beispiel konnte er sich an Bücher nicht erinnern, die er mehrmals gelesen hatte. Monate lang litt er unter heftigen Schmerzen, und es gelang ihm immer weniger, seinen Kollegen und Studenten gegenüber höflich zu sein. Stattdessen nahm seine Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen noch zu.